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DAS BLÄTTCHEN/1296: Die Schlacht bei Kursk


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

Die Schlacht bei Kursk

von Johnny Norden



Im Juli 1943 trafen im Kursker Bogen die Rote Armee und die deutsche Wehrmacht zur größten Einzelschlacht des 2. Weltkriegs aufeinander. Es war der Versuch Hitlers und des deutschen Oberkommandos, nach der Niederlage bei Stalingrad die strategische Initiative zurückzuerobern. Diese Möglichkeit war für die deutsche Führung verlockend: Zwischen den Städtchen Orel und Belgorod hatte sich ein für die Rote Armee gefährlicher Frontbogen herausgebildet. Das Ziel des deutschen Angriffs war es, diese fast 200 Kilometer große Ausbuchtung der sowjetischen Front abzuschnüren, die dort konzentrierten Armeeverbände der Roten Armee einzukesseln, sie zu vernichten und dann einen neuen Vorstoß Richtung Moskau einzuleiten. Am 5. Juli startete die Wehrmacht ihre Offensive. Sie endete nach zwei Wochen erbitterter Kämpfe mit einer katastrophalen Niederlage für die deutschen Truppen. Ende Juli ging die Rote Armee zum Gegenangriff über und befreite Orel und Charkow. In Moskau wurde am 5. August zum ersten Mal Siegessalut geschossen.

Wie konnte es zu diesem Umschwung kommen? Wie war es möglich, dass die Rote Armee die Wehrmacht so vor sich her trieb, wie es diese vor gerade noch zwei Jahren mit den sowjetischen Truppen getan hatte? Hitler fand in den deutschen Generälen seine Sündenböcke und setzte die Armeeführung ab.

Natürlich hatte das deutsche Desaster im Kursker Bogen nichts mit dem Versagen einzelner Heerführer zu tun. Die Ursachen für das Ergebnis dieser Schlacht liegen tiefer. Seit 70 Jahren streiten Historiker, Militärwissenschaftler, Publizisten über die Schlacht bei Kursk und die Ursachen für die unerwartete Niederlage der Wehrmacht. Um diese Vorgänge im Sommer 1943 besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die historischen Rahmenbedingungen.

Was war das für ein Krieg zwischen der Sowjetunion und Deutschland 1941 - 1945? Es war das erste und vorläufig einzige Mal in der Weltgeschichte, dass ein hochgerüsteter kapitalistischer und ein sozialistischer Staat gegeneinander Krieg führten. Und dabei erwies sich das sowjetische System als kräftiger, elastischer, lebensfähiger.

Warum?

Der Sowjetunion war es gelungen, in den vergangenen zwei Fünfjahrplänen in einem von Krieg und Bürgerkrieg verwüsteten Land eine moderne Schwerindustrie und eine leistungsfähige Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen: Grundlage für die Rüstungsindustrie und eine schlagkräftige Armee. Es ist ein historischer Irrtum, dies als Ergebnis eines Zwangssystems und des Gulags zu vermuten. Natürlich hat es Zwangsarbeit und Gulag gegeben. Damit konnte man zwar einen Belomorkanal graben, aber keine Produktionsstätten für die Panzer T 34 und die legendären "Katjuschas" errichten. Die moderne Industrie und die kampfstarke Armee waren das schöpferische Werk hunderttausender Fachkräfte, einer neuen Generation von Ingenieuren, Wissenschaftlern, Betriebsleitern, Facharbeitern, Offizieren - ihrer Herkunft nach Kinder von Arbeitern und Bauern, ehemalige Kämpfer der Roten im Bürgerkrieg. Zirka fünf Prozent der unteren Offiziersdienstgrade der Roten Armee im Jahre 1943 waren ehemalige "Besprisornije", also durch den Bürgerkrieg verwahrloste Kinder ohne Eltern, von denen viele auf Kadettenanstalten geschickt wurden: ein Fakt von beeindruckender Symbolkraft.

Eine Probe besonderer Art bestand das ganze Gesellschaftssystem ab Juni 1941 mit der Evakuierung der Schwerindustrie aus den Westgebieten und ihrem Neuaufbau am Ural und in Sibirien. Bereits Ende 1942 lief die Produktion auf vollen Touren und versorgte die Armee mit dem Nötigen. Eine ungewöhnliche Leistung, die bisher kaum beschrieben und analysiert worden ist. Sie war nur möglich mit hoher Professionalität und einem extrem selbst bestimmten Engagement der Menschen. Selbstverständlich hat es dabei auch schwere Strafen bei Nichterfüllung von Aufgaben gegeben, wie denn sonst unter Kriegsbedingungen?!

Ein besonderer Aspekt dieser systemischen Überlegenheit scheint beim Offizierskorps der Roten Armee zu liegen. Die Mehrheit der Offiziere und Generale lernte schnell aus den Niederlagen von 1941/42. Ein Ergebnis des langfristigen klugen Aufbaus der Armee durch Marschall Tuchatschewski (jener Mann, den Stalin 1937 erschießen ließ, weil er in ihm einen politischen Rivalen vermutete). Und Stalin hielt sich ab August 1942 mit operativen Eingriffen in die Armeeführung zurück. Er ließ einer neuen Generation von Befehlshabern, wie Schukow, Wassilewski, Rokossowski große Spielräume, akzeptierte auch deren Widersprüche gegen eigene Pläne. In letzter Instanz waren die sowjetischen Offiziere dem hochprofessionellen und kriegserfahrenen Offizierskorps der Wehrmacht nicht nur gleichwertig, sondern überlegen, was sich spätestens bei Kursk zeigte.

Nach dem panikartigen Zurückweichen der sowjetischen Truppen 1941 gelang es offensichtlich in großen Teilen der Roten Armee die Überzeugung zu verbreiten, in einem Volkskrieg zu stehen. Dieser Stimmungswechsel in der Armee vollzog sich allmählich, offensichtlich kam der Umschwung im Herbst 1942. Ich meine damit auch den Befehl 227 des Oberkommandierenden Stalin vom 28. Juli 1942 als Ausdruck einer neuen Grundstimmung im Land und insbesondere in der Armee. In ihm wurde befohlen, keinen Schritt weiter zurückzuweichen und den Feind um jeden Preis zum Stehen zu bringen. In der Literatur wird dieser Befehl meistens lediglich im Zusammenhang mit seinen drastischen Maßnahmen bei Nichterfüllung kommentiert. In Wirklichkeit bestand seine Bedeutung darin, dass Stalin die verzweifelte Lage offen darlegte, in welche das Land geraten war und aufzeigte, vor welchem Abgrund die Völker der Sowjetunion standen. So etwas hatte es bisher noch nie gegeben: Die Führung sprach zu den Menschen offen über die tatsächliche Situation und verbreitete gleichzeitig die Überzeugung, dass der Feind geschlagen werden kann. Und, was auch einzigartig war: Der Befehl musste in allen Einheiten öffentlich verlesen werden. Die Politkommissare wurden angewiesen, ihn jedem Militärangehörigen zur Kenntnis zu bringen (seltsamerweise wurde der Befehl 227 nach dem Krieg als geheim eingestuft und erst 1988 wieder veröffentlicht). Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Stalingrad in Sachen Kampfmoral der Roten Armee einen tief greifenden Wendepunkt markierte.

In zunehmendem Maße gelang es, in der ideologischen Arbeit unter den Soldaten Gefühle von Hass und Rache zu entwickeln. Konstantin Simonow hatte mit seinem Gedicht "Töte ihn!" im Juni 1942 - also noch vor dem Befehl 227 und in einer besonders verzweifelten Lage, als die Wehrmacht zur Wolga und zum Kaukasus durchbrach - an eine allgemeine Stimmung angeknüpft: Die deutsche Armee hatte so viel Leid über die sowjetischen Familien gebracht, dass es leicht war, die Wut der Soldaten auf den Feind anzufachen.

Letztlich ist die faschistische Führung in ihrem Feldzug gegen die Sowjetunion auch Opfer ihres Größenwahns geworden. Adolf Hitler und seine Generäle glaubten, mit einem Blitzkrieg die Sowjetunion zerschlagen zu können. Sie hielten die UdSSR tatsächlich für einen Koloss auf tönernen Füßen. Damit scheiterten sie 1941 vor Moskau sowie1942 in Stalingrad.

Und auch 1943 im Kursker Bogen. In den ersten Julitagen 1943 tönten deutsche Zeitungen, die neuen Panzer "Tiger", "Panther" und das gewaltige Sturmgeschütz "Ferdinand" würden die sowjetischen Truppen mit ihrem überraschenden Angriff niederwalzen. Die faschistische Führung hatte keine Ahnung, dass die Rote Armee sie in einer tiefgestaffelten Verteidigung erwartete und überlegene Kräfte zum Gegenangriff bereithielt. Sie wusste auch nicht, dass die sowjetische Seite exakte Informationen über den Zeitpunkt der deutschen Offensive und die Stärke der angreifenden Truppen besaß: Ergebnis einer aufopferungsvollen Tätigkeit sowjetischer Aufklärer. Das waren auch dutzende Patrioten im deutschen Hinterland, sowie John Caincross von der Cambridge-Gruppe in Großbritannien und die Gruppe von Sandor Rado in der Schweiz.

Die Niederlage in der Schlacht von Kurst und das Scheitern des deutschen Aggressionkrieges gegen die Sowjetunion erklären sich aus der völligen Unterschätzung der Lebenskraft eines sozialistischen Systems, welches trotz aller Mängel und bitteren Irrwege eine Lebenskraft entwickelt hatte, welche der Kraft der mächtigsten Militärmacht der Welt überlegen war.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 12/2013 vom 10. Juni 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2013