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DAS BLÄTTCHEN/1351: Großangriff auf das amerikanische Bildungssystem


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Großangriff auf das amerikanische Bildungssystem

von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.



Die jüngste Geschichte scheint Marx wieder einmal Recht zu geben mit seinem Befund, dass der real-existierende Kapitalismus neben anderen Pathologien zugleich auch hochgradig selbstzerstörerisch ist. Dies dürfte niemandem entgangen sein, der die kürzlich gerade noch einmal vertagte Zahlungsunfähigkeit des amerikanischen Staates zur Kenntnis nahm. Nicht nur langfristige soziale und ökologische Probleme unterminieren die Fundamente des gegenwärtigen amerikanischen Systems, sondern auch bittere Grabenkämpfe innerhalb der herrschenden Schichten. Michael Lind und andere intelligente Beobachter des amerikanischen Politikgeschäfts betonen immer wieder, wie sich ideologische, sozial-kulturelle, wirtschaftliche, religiöse, ethnische und nicht zuletzt regionale Probleme überschneiden und zu ernsthaften Konflikten innerhalb des Systems bündeln. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die der politisch herbeigeführten US-Haushaltskrise von den marktbeherrschenden Medien auf beiden Seiten des Atlantiks entgegengebracht wird, werden andere und für das Allgemeinwohl nicht minder gefährliche Entwicklungen von eben diesen Medien entweder bagatellisiert oder völlig ignoriert. Dies trifft besonders auf die akute Krise des amerikanischen Bildungssystems zu.

In den vergangen drei Jahrzehnten ist das öffentliche Bildungssystem in den USA immer mehr ausgehöhlt worden, angefangen vom Kindergarten bis hin zum College- und Universitätsstudium. Unter dem Schleier der Zauberworte "Reform", "freier Markt" und "Entscheidungsfreiheit" hat sich eine bestens organisierte und finanzierte Allianz aus Privatwirtschaft und ihrer politischen Helfershelfer darauf spezialisiert, das öffentliche, allgemein zugängliche Bildungssystem bewusst zu zerschlagen und durch zunehmende Privatisierungen jedweder demokratischen Kontrolle zu entziehen. Beiderseits des Atlantiks können die Schlagworte "Reform" und "Privatisierung" längst nicht mehr mit positiven Entwicklungen assoziiert werden - sie bedeuten erfahrungsgemäß Qualitätsverlust, Kostenexplosion und Demokratieabbau.

Die von den Großkonzernen gesteuerten Medien und Stiftungen propagieren die teils offene und teils verdeckte Privatisierung mit immer aggressiveren Marketing-Tricks. So investiert die Bill & Melinda Gates Foundation seit Jahren hunderte Millionen Dollar, um das amerikanische Bildungssystem im Interesse der Großkonzerne umzustrukturieren. Ihr corporate business model soll Schüler und Studenten in Bildungskunden umwandeln. Einseitige und oft fragwürdige Effizienzkriterien ersetzen eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten, während Spontaneität und auch unabhängig-kreatives sowie kritisches Denken zunehmend unerwünscht sind. Nicht sofort quantifizierbaren und damit in Kapitalverwertungskategorien erfassbaren Bildungsbereichen wie Kunst und Kultur wird das Wasser durch drastische Mittelkürzungen und Stellenabbau abgegraben. Bildung im herkömmlichen Sinne mutiert so zur einer bloßen Ware und zu einer ausschließlich auf die Bedürfnisse der Konzerne orientierten Ausbildung. Am Ende dieses Prozesses soll nicht mehr der mündige, gut informierte und zu kritischem Urteil fähige Citoyen stehen, sondern der angepasste, unkritische, unpolitische, aber auf seinem Arbeitsplatz effiziente Mensch. Das ist nicht nur ein Abgesang auf die Bildungsideale Goethes und Humboldts, sondern auch auf die Demokratie, die ohne vielseitig gebildete und zu kritischem Urteil fähige Bürger nicht funktionieren kann.

Lehrer, Schüler, Eltern wie auch Studenten und Dozenten verlieren in diesem Privatisierungsschub immer mehr an Einfluss zugunsten von zunehmend hierarchischen und zentralisierten Verwaltungsstrukturen. Die erschreckend aggressiv expandierende Education Technology Industry etabliert sich als neuer Profitbereich mit schon jetzt über acht Milliarden Dollar Jahresumsatz.

In Propagandafeldzügen spielen die Schlüsselbegriffe School Vouchers, Charter Schools und Standardized Testing eine besonders destruktive Rolle. Mit diesem Thema beschäftigt sich Diane Ravitchs The Death and Life of the Great American School System. Die Autorin, gegenwärtig Professorin an der zur New York University gehörenden Steinhardt School of Culture, Education, and Human Development hat sich mit ihrer empirisch belegten und im Untertitel dieses Buches prägnant formulierten Diagnose einen Namen gemacht: How Testing and Choice Are Undermining Education. Vor Jahren war Ravitch selbst überzeugte Parteigängerin von Privatisierung und an der Konzernwelt orientierten Effizienzsteigerung im öffentlichen Schulsystem, so als Staatssekretärin für Bildungsfragen unter George H. Bush zwischen 1991 und 1993. Doch nach detaillierten Untersuchungen der tatsächlichen Auswirkungen solcher "Reformen" sah sich Ravitch gezwungen, ihre alte ideologische Sichtweise zu überdenken. Die inzwischen von Ravitch kritisierte Argumentationskette ist allerdings leider nach wie vor das pädagogische Evangelium in den oberen Etagen der politischen und privatwirtschaftlichen Führungsriege. Extremistische Republikaner und auch Obamas Demokraten propagieren immer aggressiver die Privatisierung des Schulsystems. Obamas Bildungsminister Arne Duncen hat sich dabei in den letzten Jahren besonders hervorgetan.

Ravitch kritisiert in The Death and the Life of the Great American School System und in ihrem neuesten Buch Reign of Error: The Hoax of the Privatization Movement and the Danger to America's Public Schools die Reorganisierung des amerikanischen öffentlichen Bildungssystems durch Mechanismen der Marktwirtschaft als Allheilmittel für die Bildungsmisere. Angeblich ist das seit längerem schlechte Abschneiden amerikanischer Schüler in international vergleichenden Untersuchungen in erster Linie die Schuld von unfähigen Lehrern und Schulleitern. Daher sollen die Lehrergewerkschaften vollständig entmachtet und die beschämend unterbezahlten Lehrer nur dann weiterbeschäftigt werden, wenn ihre Schüler bei den angeblich objektiven und von den Bildungskonzernen entwickelten Standardized Tests deutlich besser abschneiden. Öffentliche Schulen, in denen Schüler bei diesen standardisierten Prüfungen in größerer Zahl weiterhin schlecht abschneiden, sollen baldigst geschlossen und durch private Schulen ersetzt werden. Die Rhetorik ist dabei von interessierter Seite manipulativ auf die traditionell amerikanischen Werte von Freiheit, Eigeninitiative und Staatsskepsis abgestimmt. In der Praxis werden derartige Lösungsansätze die Bildungskrise jedoch nur verschlimmern. Die von den Großkonzernen im "Bildungsgeschäft" immer geschickter vermarktete Diagnose der Bildungsmisere ist dabei ebenso kontraproduktiv wie ihr deutlich eigennütziger Therapievorschlag.

Das Schulsystem ist in erster Linie ein Spiegel der amerikanischen Gesellschaft. Die Verarmung immer weiterer Bevölkerungsschichten bei gleichzeitig immer obszönerem Reichtum einer winzigen Schicht von Milliardären, verbunden mit immer extremeren Mittelkürzungen im öffentlichen Bildungssystem haben zur Bildungskrise viel mehr beigetragen als angeblich unfähige Lehrer und Schulleiter, die es natürlich auch gibt. Dass man mit demagogischen Seitenhieben auf Pädagogen leider nicht nur im Stammtischmilieu erfolgreich fischen kann, hat vor Jahren schon der hannoveranische Genosse der Bosse mit seiner faulen-Säcke-Bemerkung gezeigt.

Diane Ravitch hat aus ihren Fehlern gelernt und weiß heute nur zu gut, wie die Transferierung öffentlicher Gelder hin zu privatwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen und Management nicht nur das öffentliche Schulsystem zunehmend zerstückelt, sondern zugleich eine große Anzahl von unregulierten Privatschulen schuf. Die Schultore wurden weit für ausbeuterische und betrügerische Geschäftspraktiken geöffnet. Empirische Untersuchungen haben wieder und wieder bewiesen, dass die Überführung von ehemals öffentlichen Schulen in private Trägerschaft zwar die Koffer der Bildungskonzerne mit beträchtlichen Umsätzen füllt, aber in den meisten Fällen keineswegs zu besseren Leistungen der Schüler führt.

Wer die Schulleistungen gerade der sozial schwachen Bevölkerungsschichten wirklich verbessern möchte, sollte sich in erster Linie für eine größere Chancengleichheit einsetzen. Und diese Chancengleichheit ist mit privatwirtschaftlichen Mitteln ganz und gar nicht zu haben.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 25/2013 vom 9. Dezember 2013, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2013