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DAS BLÄTTCHEN/1384: Big Data und die politischen Folgen


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Big Data und die politischen Folgen

von Stephan Wohanka



Wenn über den Abhörskandal der NSA und anderer Dienste geschrieben wird, dann vor allem aus Sicht der Einschränkung respektive Aushöhlung der Grund- und Bürgerrechte. Die deutsche Politik nahm diese Beschädigung der Demokratie erst wirklich ernst, nachdem auch Merkels Handy ausgespäht wurde. Schlimm genug!

Eine andere Dimension der ungebremsten Datensammlung kommt dagegen erst zögerlich zur Sprache - und besteht in einem direkten Angriff auf Politik und Demokratie. Infrage gestellt werden die (bisherige) Funktionsweise politischer Strukturen und deren Inhalte, wie sie sich über Jahrhunderte herausgebildet haben und uns heute (noch) geläufig sind. Mit anderen Worten - der Angriff richtet sich gegen die menschlich betriebene, vernunftgeneigte und widersprüchliche Art und Weise, Politik zu gestalten.

Hier kommt Big Data ins Spiel - die mit hoher Geschwindigkeit erfolgende maschinelle Sammlung und Verarbeitung exorbitanter Datenmengen aus vielfältigen Quellen zur - ursprünglich - wirtschaftlichen Nutzung. Heute rückt der politische Nutzen oder besser Missbrauch immer stärker in den Mittelpunkt, ohne erstere zu vernachlässigen. Es geht dabei neben Erfassung und Speicherung um Verteilung, statistische Analyse und vor allem das Korrelieren dieser Datenberge, deren Volumen heute in Zettabyte (gleich 1021 Byte gleich 1.000.000.000.000.000.000.000 Byte) beziffert wird. Bei diesen Daten sind nicht, wie man meinen könnte, primär die Inhalte der abgesaugten Meldungen von Interesse, sondern die Verbindungs- oder sogenannten Metadaten - also beispielsweise Telefonnummern, IP-Adressen von Computern und Verbindungszeiten. Wer die Metadaten besitzt, weiß, wer wann mit wem kommuniziert hat. Zum Zielobjekt kann jede Person aufgrund des eigenen Facebook-Profils, eigener oder fremder (!) E-Mails und Telefonate werden.

Worin liegt das Neue, das Gegenläufige zum bisherigen Politikbetrieb? Tradierte Politik ist die genuin menschliche Fähigkeit, sich sozialer, ökonomischer, politischer Phänomene über das umfassende, vernunftbasierte, diskursive Denken und Reflektieren sowie das nachfolgende Handeln anzunehmen. Big Data enthebt, und zwar durch rein quantitatives Herangehen die handelnden Politiker der Verantwortung, noch Politik in der bisherigen Bedeutung des Wortes machen zu müssen! Statt ideelle und materielle Ressourcen auf die Frage nach dem "Warum?" zu verwenden, also zu verstehen, weshalb beispielsweise Menschen zu Terroristen werden, konzentriert sich dieses Herangehen auf die durch Big Data ermöglichte Prognose des "Wer" und "Wann"; also auf das vorsorgliche, mindestens rechtzeitige Eingreifen. Der analytische Unterbau "guter", auch vorausschauender Politik wird vernachlässigt zugunsten eines (vor)schnellen, häufig sogar präventiven Eingreifens! So müssen Verantwortliche nicht (mehr) wissen, was - um bei dem Beispiel zu bleiben - Menschen bewegt, Terroristen zu werden. Es genügt, wenn diese - auch vermeintlich, nur dem falschen Scheine nach - wie (mögliche) Terroristen agieren. Sobald jemand - nach den Kriterien des Suchenden (!) - als Verdächtiger identifiziert wurde, werden er und auch sein gesamtes Umfeld ins Visier genommen. Es ist daher zugleich sinnvoll und zwingend, einfach alles zu sammeln; man weiß nie, wozu es einmal gut sein kann.

Wie gesagt - politisches Handeln gründet auf der Untersuchung und dem Verstehen sozialer, wirtschaftlicher, juristischer und natürlich auch sicherheitsrelevanter Probleme. Und das bei Teilhabe und "Mitnahme" der Menschen, der Staatsbürger, denn jede demokratisch-emanzipatorische Politik basiert neben der Gleichheit (vor dem Gesetz) auf der Machtbeschränkung durch Partizipation und Kontrolle als Gegengewicht zur ausübenden Gewalt. Verzichtet die "Gewalt" auf dieses sich Hinterfragen (lassen), auf die sie beschränkenden Momente, wird sie auf eine Exekutive der Macher - und das in einem umfassenden Sinne - geschrumpft. Es zählt die Effektivität des Momentes vor nachhaltiger Entfaltung des politischen Systems. Ins Absurde gewendet, könnte völlig auf den Politikapparat einschließlich Parlament verzichtet werden - nur eine "schlagkräftige" Exekutive wäre noch nötig: Das Ausspähen ausländischer Spitzenpolitiker sei das Kernziel von Spionage, erklärte US-Geheimdienstdirektor James Clapper in einer Anhörung. "Und wenn es also alle machen [...], "schlussfolgerte die Mitteldeutsche Zeitung, "dann brauchen die USA auch kein Außenministerium mehr. Das Geschäft der klassischen Diplomatie ist überflüssig."

Die Demokratie wird in die Zange genommen - einmal durch die eingangs erwähnte Einschränkung respektive Aushöhlung der Grund- und Bürgerrechte und zum anderen durch das eben beschriebene "präemptive Regieren", wie es der Internet- und Cyberexperte Evgeny Morozov nennt. Dank der Möglichkeiten der neuen technologischen Infrastruktur und der aus ihnen folgenden "Empfehlungen" werden Unwägbarkeiten im Voraus beseitigt. So, wie die US-Geheimdienste Terroristen ausfindig machen und ausschalten wollen, bevor sie Terroranschläge begehen, so gehen Behörden nach der gleichen Logik vor: Prävention gestützt auf Informationsanalysen beispielsweise von Krankenakten oder Behördenarchiven; Probleme entschärfen, bevor es welche werden. "Politik für die Menschen", indem man diese, ihre Daten sammelnd und auswertend, "gläsern" macht! Die Folge: Menschen werden nicht (mehr) am Politikbetrieb beteiligt, Politik wird ihnen nicht (mehr) erklärt. Im Ergebnis werden Menschen entwöhnt, sich über die Ursachen von (politischen) Ereignissen und Vorhaben Gedanken zu machen, und stattdessen daran gewöhnt, sofort deren Folgen und Konsequenzen unhinterfragt zu akzeptieren

Einmal gesammelt, erzwingen die Daten geradezu, auch genutzt zu werden, wobei es nicht darum geht, sie zu "verstehen". Zweck des Sammelns und des Korrelierens von Wahrscheinlichkeiten ist es vielmehr, ohne (Fach)Wissen und (politische) Abwägungen nützliche Muster zu generieren; Muster, die nur mittels Maschinen überhaupt erkennbar gemacht werden können. Wobei immer die Gefahr besteht, dann auch dort Muster zu vermuten oder gar wahrzunehmen, wo "objektiv" gar keine sind. Wem das zu abstrakt klingt, der schaue sich Steven Spielbergs Streifen "Minority Report" an, um einen Blich in solch gruselige, technisch schon recht nahe Zukunft zu werfen.

Die USA sind, wie häufig, auch hier Vorreiter. Sie sind heute schon ein datengetriebenes Land; kaum eine politische Sendung ohne Tortendiagramme, Charts und Tabellen zur "richtigen politischen Deutung". Selbst Obamas Reden werden in Diagrammen aufbereitet. Und es nur noch eine Frage der (kurzen) Zeit, dann werden Aussagen von Politikern auf ihre Fakten hin in Echtzeit überprüft; aktuell ist die Software noch in der Testphase. Aber kann solch ein Faktencheck, können Daten und Zahlen die Politik wirklich beflügeln? Natürlich nicht. Denn letztlich können derartige Instrumente nur simple, leicht zu beweisende Lügen entlarven; politisch relevante Zusammenhänge ergeben sich vor allem aus der Interpretation der Fakten. Und dazu ist wohl weiterhin nur der widerstreitende Mensch in der Lage ...

Big Data kann man letztlich mit Überwachungskameras vergleichen. Dieses Instrument kann dazu beitragen, Störungen in Systemen zu erkennen und durch Gegensteuern zu minimieren. Es kann aber auch blind dafür machen, dass die Störungen im System mit Herumdoktern an Symptomen nicht zu beheben sind, sondern einer grundsätzliche Lösung bedürfen.

Fazit: Nicht das Digitale passt sich der (politischen) Welt an - nein; letztere unterwirft sich, passen wir nicht auf, zunehmend Big Data!

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 8/2014 vom 14. April 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2014