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DAS BLÄTTCHEN/1752: Mystische Prozeduren


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2017

Mystische Prozeduren

von Frank-Rainer Schurich


Erst seit dem 15. Jahrhundert war unseren Vorfahren der Begriff Aberglaube geläufig. Im Spätmittelhochdeutschen nannte man das Phänomen schon vereinzelt abergloube. Im Norddeutschen hieß es Hühnerglaube - ein als irrig angesehener Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte. Unsinn also, ein Irrglaube oder eine trügerische Einbildung.

Erstaunliches und Mysteriöses zu diesem Thema wurde 1914 von Gerichtsassessor Dr. Albert Hellwig aus Berlin-Friedenau veröffentlicht, und zwar im berühmten Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik des Begründers der wissenschaftlichen Kriminalistik Hans Groß. Der Autor geht in dem Beitrag über mystische Prozeduren auf abergläubische Bräuche und Anschauungen ein, die als Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten bei allen modernen Kulturvölkern nachweisbar waren und eine große Rolle im sozialen Leben sowie bei der Kriminalitätsvorbeugung und Bestrafung der Verbrecher spielten.

Hellwig nennt drei Kategorien: mystische Prozeduren, um sich vor Diebstahl zu schützen, um den unbekannten Dieb zu entlarven oder den bekannten oder unbekannten Dieb zu bestrafen. Und der Verfasser gesteht, dass diese drei Kategorien wie im wahren Leben dann doch teilweise ineinander übergeben, wie die folgenden Fälle beweisen.

Auch die immer fortschrittliche und tonangebende europäische Wertegemeinschaft war zu eben dieser Zeit noch stark vom Aberglauben heimgesucht. In Schleswig-Holstein wurde einem Schmied einmal ein Bienenkorb gestohlen. Offenbar verrichtete der gemeine Dieb seine Notdurft am Tatort, denn der Schmied verfütterte die Exkremente, jedenfalls einen Teil davon, an eine schwarze Henne, die sogleich vergraben wurde, um damit den Missetäter zu töten. In Serbien war es zur damaligen Zeit üblich, Exkremente eines Diebes, falls man sie findet, in den Schornstein zu hängen, um dadurch dem Verbrecher zu schaden. In Ungarn wurde der Bienenkorbklau ebenfalls sehr mystisch bestraft. Wenn man dort nur eine der gestohlenen Bienen gefangen hatte, legte man sie zu einer Leiche in Grab, und der Dieb starb ebenfalls.

In Oldenburg nahm eine Frau, der Kartoffeln gestohlen worden waren, das "Maß der Fußspuren des Diebes" und kochte es zusammen mit einigen von ihm verlorenen Kartoffeln morgens vor Sonnenaufgang. Als nach drei Tagen ein in der Nachbarschaft wohnender Mensch an einem Darmleiden starb, war für die Frau klar gewesen, wer der Kartoffeldieb sei. Wie man das "Maß der Fußspuren des Diebes" kocht, konnte allerdings bislang nicht ermittelt werden.

Auf Island begnügte man sich nicht dem Kochen des Fußspurenmaßes, man ging blutiger vor. Der Bestohlene malte mit dem eigenen Blut ein Gesicht auf ein Stück Papier, setzte dann einen Nagel auf ein Auge und sprach: "Dem, der von mir gestohlen hat, mache ich ein böses Auge." Dieselbe Prozedur war übrigens auch in Schleswig-Holstein zu finden.

Ein Ritual bei den Einheimischen in Togo eröffnet den Reigen der Prozeduren bei den "Naturvölkern", wie Hellwig sie, dem Zeitgeist folgend, bezeichnet. Ein Bestohlener ließ sich vom Priester Babuyabu ein Pulver geben, dass er auf den in das Dorf führenden Weg streute. Tritt nun der Dieb auf dieses Pulver, so glaubte man, wird er krank und stirbt.

Und weiter: Die "Sulka auf Neu-Pommern" steckten einen Menschenknochen an die Stelle, an der Früchte gestohlen waren. Sie glaubten fest daran, dass der Dieb dann abmagere und sterbe. Wer jetzt aber denkt, dass Neu-Pommern in unserem Pommern liegt, hat sich geirrt. Die Insel Neubritannien (englisch New Britain) hieß früher Neu-Pommern und liegt im Bismarck-Archipel, gehört heute politisch zu Papua-Neuguinea. Auf diesem Bismarck-Archipel im westlichen Pazifik schnitt man Katzen immer die Schwanzspitze ab und verwahrte das Stück sorgfältig - als Prävention vor Tierdiebstahl. Wurde das Tier dann doch gestohlen, vergrub man die geliebte Schwanzspitze und glaubte fest daran, dass der Dieb nun erkranke.

Das Pondoland (synonym Mpondoland) war damals ein Gebiet im britischen Protektorat Kapland; heute gehört es zur südafrikanischen Provinz Ostkap. Dort konnte man sich an einem Dieb, der eine Kuh gestohlen hatte, dadurch rächen, indem man ein Stück von dem Strick, mit dem die Kuh befestigt war, an einen Baum hängt und diesen Fetzen dort vermodern ließ. Sobald dies geschah, war auch die Kuh tot, was heißt, dass der Dieb nichts von seiner Beute hatte. Wollte man im Pondoland einen Dieb töten, kam eine andere Methode zur Anwendung. Ein Zauberer gab dem Opfer ein Horn, das mit einem Zaubertrank aus Öl und verschiedenen Teilen von Tieren angefüllt war. Dann wurde ein Stück Holz ausgehöhlt und der Zaubertrunk sowie Blutstropfen von der Zehe eines Huhnes hineingegossen; das arme Huhn wurde lebendig begraben, in das Grab Bambusrohr gesteckt und durch dieses etwas von dem Zaubertrank auf das Huhn gegossen. Legte man dann das Holzstück mit dem Zaubertrank auf das Grab und quirlte solange, bis Rauch aufstieg, so musste der Dieb sterben.

Auf Neukaledonien, einer zu Frankreich gehörende Inselgruppe im südlichen Pazifik, gab es "zwei Steine der Auszehrung". Hatte ein Dieb beispielsweise Kokosnüsse gestohlen, verzehrt und am Tatort einige Schalen zurückgelassen, wurden diese zwischen die beiden Steine gelegt und mit Wasser begossen. Dann rief der Zauberpriester die Geister an, den Dieb an Auszehrung zugrunde gehen zu lassen. Wie wirksam all diese Verfahren und Prozeduren waren, ist leider nicht überliefert.

Am Anfang seiner Abhandlung weist Albert Hellwig richtig darauf hin, dass der Aberglaube im sozialen Leben der heutigen Zeit "eine nicht zu unterschätzende günstige Wirkung gezeigt hat, eine Wirkung, die wir bei den analogen Anschauungen, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert erhalten haben, auch heute noch konstatieren können".

Und wie sieht es bei den "Naturvölkern" im modernen Mpondoland Deutschland aus? Die Gurus, Schamanen und Zauberpriester haben etwas von ihrer Macht verloren, so dass raue Sitten übers Land gekommen sind. Man will den gegnerischen Stamm jetzt "jagen" und deren Häuptlingen "in die Fresse hauen". Und wenn dies alles nichts nützt? Wird dann auch das Gesicht des Gegners mit Eigenblut aufs Papier gemalt, um ein Auge auszustechen und ihm Böses zu wünschen?

Das ist gut möglich. Die mystische Prozedur mit den Exkrementen soll hier aber nicht weiter ausgeschmückt werden. Zum Schluss nur die Enthüllung, dass die sogenannten Wirtschaftsweisen zurzeit darüber orakeln, ob man das "Maß der Fußspuren des Diebes" propagandistisch, das heißt mystisch verwerten kann.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 25/2017 vom 4. Dezember 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2017

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