Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


DAS BLÄTTCHEN/1997: Die Pandemie und Indiens Wanderarbeiter


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Die Pandemie und Indiens Wanderarbeiter

von Edgar Benkwitz


Würden Sie einem Neugeborenen den Namen "Corona" oder "Lockdown" geben? Ganz bestimmt nicht, von vielen würde das als makaber oder gar pietätlos angesehen werden. Indische Medien berichten jedoch über derartige Namensgebungen in ihrem Land. Ein Ehepaar in der Stadt Raipur nannte ihre neugeborenen Zwillinge Corona und Covid. Befragt warum, hieß es, das würde sie immer an die schwere Zeit der Epidemie erinnern. Im Süden Indiens gaben zwei Frauen ihren Kindern die Namen Corona Kumar und Corona Kumari. Es geschah auf eine Bitte des Klinikarztes, der damit ein Zeichen gegen die Stigmatisierung Corona-Kranker oder -Verdächtiger setzen will. Und schließlich gab ein Ehepaar seinem Kind den Namen Lockdown. Beide sind Wanderarbeiter, stammen aus dem Osten des Landes und arbeiteten Tausende Kilometer entfernt im westlich gelegenen Gujarat. Nachdem ihr Betrieb geschlossen und es keine Transportmöglichkeiten mehr gab, machten sie sich wie viele andere auf den Weg in ihr weit entferntes Heimatdorf. Nach einigen hundert Kilometern endete ihre Reise in Rajasthan mit der Geburt eines Sohnes. "Wir nannten ihn Lockdown, das wird uns immer an all die Probleme erinnern, denen wir in dieser harten Zeit ausgesetzt waren", sagte der Vater.

Auch in Indien bestimmt die Pandemie das öffentliche Leben. Manches gleicht der Lage in anderen Ländern, es gibt aber auch Besonderheiten. Das Land mit seiner Milliardenbevölkerung, seinen riesigen Ballungszentren und den großen Slums sowie den oft unzureichenden sanitären und hygienischen Bedingungen gilt für das Virus als besonders anfällig. Regierung und Behörden handelten dementsprechend, sie legten das Hauptaugenmerk auf die Einschränkung der Kontakte. Nachdem Anfang März zunächst größere Ansammlungen verboten, dann Schulen und Universitäten und schließlich Restaurants und Geschäfte geschlossen wurden, erfolgte am 24.März der Shutdown. Das strenge Ausgehverbot wurde lediglich vier Stunden vor seinem Inkrafttreten bekannt gegeben und überraschte das ganze Land. Damit wurde zwar auf die drohende Gefahr entschlossen reagiert, doch das Riesenland wurde mit einem Schlag lahmgelegt.

Der Flug-, Eisenbahn- und Busverkehr ruht mit wenigen Ausnahmen bis heute. Fabriken produzieren nicht mehr, die mittlerweile fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt steht weitgehend still. Schätzungen zufolge verloren über 100 Millionen Arbeiter ihren Job. Besonders hart traf es die sogenannten Wanderarbeiter. Sie kommen meist aus den übervölkerten Bundesstaaten in der Gangesebene oder den Stammesgebieten und arbeiten als billige Arbeitskräfte in den Metropolen des Landes und den großen Industriegebieten. Der neueste Wirtschaftsbericht der Regierung gibt ihre Zahl mit 139 Millionen an, aktuell betroffen sind 42 Millionen. Oft werden sie als das Rückgrat der Wirtschaft bezeichnet. Von einem Tag auf den anderen standen viele der Wanderarbeiter plötzlich auf der Straße, meist ohne Geld und Unterkunft. Kein Arbeitgeber und keine Behörde kümmerte sich um sie. Panik breitete sich aus und Zehntausende machten sich zu Fuß auf, um in ihre Dörfer zurück zu kehren. Keiner wusste, ob sie das Virus mit sich schleppten und so für seine schnelle Verbreitung sorgten.

Die Märsche auf den Landstraßen forderten sofort ihre Opfer - Kranke und Tote, erschütternde Schicksale werden geschildert. Viele Ortschaften wehrten sich gegen die Wanderarbeiter. Städte wurden abgeriegelt, Straßen aufgerissen, die Kolonnen der Heimkehrer mit LKW-Ladungen von Desinfektionsmitteln überschüttet. Obwohl die Behörden eingriffen und Tausende von Sammellagern schufen, in denen es Verpflegung und Unterkunft gab, ist das Problem bis heute nicht gelöst. Jetzt, wo langsam die wirtschaftliche Belebung einsetzt, fehlen die Wanderarbeiter. Schon bitten Offizielle aus den Industriezentren Bengaluru und Hyderabad die Arbeiter, zu bleiben oder zurückzukehren. Plötzlich wird versprochen, ihre Interessen wahrzunehmen und Lohnfortzahlungen zu gewähren.

Die Epidemie legte auch in Indien die Schwachstellen der Gesellschaft bloß. "Es bedarf der Pandemie, um die Armen zurück ins Rampenlicht und in die Nachrichten zu bringen", schreibt bezeichnenderweise dazu die Times of India und sagt voraus, dass Millionen von Menschen von noch größerer Armut und dem Kampf ums Überleben betroffen sein werden. Auch Zahlen werden wieder genannt, die das Ausmaß der Armut illustrieren. Ein Gutachten von 2017 für das Oberste Gericht in Delhi spricht davon, dass 49 Prozent der Einwohner des Unionsterritoriums Delhi in Slums, nichtautorisierten Kolonien und sogenannten jhuggi-jhopri clustern (illegale Siedler auf öffentlichem Land) leben. In einem der größten Slums der Welt, Dharavi in Mumbai, leben auf zwei Quadratkilometern gar mehr als eine Million Menschen - ohne regelmäßige Wasserversorgung und angemessene sanitäre Anlagen. Die Volkszählung von 2011 ergab, dass 17 Prozent der städtischen Haushalte Indiens in City Slums angesiedelt sind, in denen etwa 64 Millionen Menschen leben. Der Bericht schätzt dazu ein, dass der Slum "ein für Wohnzwecke ungeeignetes Gebiet ist".

Die Pandemie hat neben den riesigen sozialen Auswirkungen auch Folgen für den Zusammenhalt des ohnehin fragilen Zustandes der indischen Gesellschaft. Die angesehene Journalistin Sakaria Ghose spricht von einem zweiten Virus, dem "kommunalen Virus", das durch die Corona-Krise gestärkt wird und wieder sein Haupt erhebt. Sie bezieht sich damit auf die im Land immer wieder aufflammenden, oft bewusst geschürten Spannungen und Zusammenstöße zwischen Kasten, Ethnien und Religionsgemeinschaften. Aktuell geht es wieder einmal um das scheinbar unversöhnliche Verhältnis von Hindus und Muslimen. Extreme Gruppierungen aus beiden Lagern beschuldigen sich gegenseitig, für die Epidemie im Land verantwortlich zu sein. Dank der strengen Ausgangsregeln und des sofortigen Reagierens der Behörden konnten zwar bisher größere Zusammenstöße vermieden werden, doch der Funke glimmt. Einer der Auslöser für Hassattacken und Gewalt war diesmal die Versammlung einer religiösen Sekte Anfang April in Nizamuddin, einem muslimischen Stadtteil Delhis. Obwohl zu diesem Zeitpunkt Zusammenkünfte von höchstens 50 Personen erlaubt waren - landesweit wurde sogar das hinduistische "Holy-Fest" verboten -, versammelten sich Presseberichten zufolge für mehrere Tage 3000 Anhänger der "Tablighi Jamaat" (Gruppe der Prediger), unter ihnen 800 Ausländer, in einer Moschee. Nachdem die Behörden eingriffen, verbarrikadierte sich ein Teil der Versammelten, andere reisten unerkannt ins Land, um die Lehren der Sekte zu verbreiten. Viele Teilnehmer waren jedoch durch das Corona-Virus infiziert, das ergaben Tests. Sie hatten das Virus aus Thailand, Malaysia und Indonesien eingeschleppt. Der Führer der Gruppierung war nicht mehr auffindbar. Aus seinem Versteck rief er seine Anhänger zum Widerstand auf und beschuldigte die Regierung, antimuslimisch zu handeln. Bei der Tablighi Jamaat handelt es sich übrigens um eine weltweit agierende Missionsgesellschaft, die die Muslime zu den ursprünglichen Lehren des Koran und des Propheten zurückführen will. Darüber hinaus wird über andere Aktivitäten berichtet, die auch den deutschen Verfassungsschutz in der Vergangenheit beschäftigten.

Natürlich waren diese Vorfälle, von denen sich muslimische Religionsführer in Indien distanzierten, Wasser auf die Mühlen hinduchauvinistischer Kreise. Sie behaupteten beispielsweise, dass bis zu 70 Prozent der Corona-Fälle im Land auf das Konto der Sekte gehen. Vereinzelt kam es auch zu Gewalt gegen unbescholtene Muslime. Wie ernst die Lage war, zeigt das Eingreifen des Nationalen Sicherheitsberaters Ajit Doval - eines Vertrauten von Premier Modi - der mehrmals am Ort des Geschehens war, um die Lage zu entschärfen.

Corona, Covid, Corona Kumari und Lockdown - eine Namensgebung, die auf keinen Fall eine wunderliche Marotte oder irgendwelchen Launen entsprungen ist. Die Namensgeber verbinden mit diesen prägenden Begriffe aus der Pandemie persönliche Erfahrungen, die sie, aber auch künftige Generationen, immer an die schwere Zeit der Epidemie erinnern werden. Zugleich dürften die ungewöhnlichen Namen der Neugeborenen auch Hoffnung und Zuversicht vermitteln.

*

Quelle:
Das Blättchen Nr. 10/2020 vom 11. Mai 2020, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang