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DAS BLÄTTCHEN/960: Einen Toast auf Rapallo


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 8/2009 - 13. April 2009

Einen Toast auf Rapallo

Von Wolfgang Schwarz


Deutschland und Rußland - auf dem internationalen Parkett in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg waren sie die Parias: Deutschland als Initiator und Verlierer des Ersten Weltkriegs, Rußland wegen des Versuchs der Bolschewiki, der in den bürgerlichen Demokratien des Westens bestehenden privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung eine ausbeutungsfreie Alternative gegenüberzustellen. Den internationalen Boykott aufzubrechen gelang beiden Staaten erst, als sie über ihre antagonistischen zwischenstaatlichen Gegensätze hinweg - immerhin hatte das kaiserliche Deutschland noch kurz vor seinem Untergang mit dem Frieden von Brest-Litowsk Rußland zeitweilig große Territorien entrissen - am 16. April 1922 mit dem Vertrag von Rapallo eine Brücke zueinander geschlagen hatten.

Mit diesem Vertrag nahmen beide Länder ihre durch den Krieg und die Ausweisung der sowjetrussische Botschaft im Oktober 1918 unterbrochenen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder auf Profitiert haben davon beide Seiten. Für die Weimarer Republik, deren Waren von den ehemaligen Kriegsgegnern in Westeuropa und Nordamerika boykottiert wurden, öffnete sich der russische Markt, und Sowjetrußland, das vergleichbaren ökonomischen Restriktionen ausgesetzt war, erhielt Zugang nach Deutschland.

Und die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands, denen auch eine gemeinsame prinzipielle Feindschaft gegen Sowjetrußland eigen war - fast alle hatten sie von 1918 bis 1920 aktiv an den Interventionskriegen zum Roll back der gesellschaftlichen Veränderungen im Lande teilgenommen - zogen es in den Folgejahren vor, ihre Beziehungen zu den Rapallo-Partnern schrittweise zu normalisieren, statt diese in ein immer engeres Verhältnis zu einander zu treiben.

Die Phobie vor einem engen deutsch-russischen Verhältnis ist seit 1922 mit dem Namen Rapallo verknüpft, und noch in den siebziger Jahren diente der Verweis auf den Vertrag den Konservativen in der Bundesrepublik, aber auch Politikern und Publizisten in anderen westlichen Ländern zur Diffamierung der neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. Die stand bekanntlich unter dem von Egon Bahr "erfundenen" Leitgedanken "Wandel durch Annäherung" und dürfte - wenn man den Ausgang des Kalten Krieges vor Augen hat, eines der erfolgreichsten außenpolitischen Langzeitkonzepte der neueren Geschichte überhaupt sein.

Der Rapallo-Vertrag selbst war in Deutschland zum Zeitpunkt seines Abschlusses höchst umstritten und diente insbesondere der extremen Rechten als Zielscheibe übelster Angriffe, eingeschlossen den Mord an einem seiner geistigen Väter, dem damaligen Außenminister Walther Rathenau, der zwei Monate nach Vertragsabschluß erfolgte.

Allerdings Gab es in Deutschland - und keineswegs nur beschränkt auf die kommunistische Linke - auch gesellschaftliche Kräfte, die das friedensstabilisierenden Potential einer deutsch-russischen Annäherung erkannten und ihren Beitrag dazu leisten wollten. Eines der herausragendsten, heute weitgehend vergessenen Beispiele dafür war die "Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland", die am 1. Juni 1923 in Berlin von vornehmlich bürgerlichen Intellektuellen, Unternehmern, hochrangigen Beamten und Künstlern gegründet wurde. Zu ihren namhaftesten Mitgliedern in den zehn Jahren ihres Bestehens - die Gesellschaft wurde nach der Machtübergabe an die Nazis noch 1933 verboten - gehörten der Reichstagspräsident Paul Löbe, der Physiker Albert Einstein, der Architekt Bruno Taut, die Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann sowie Oskar-Maria Graf, um nur einige zu nennen. Der Verein leistete Pionierarbeit beim Aufbau und der Entwicklung völkerverbindender Beziehungen zwischen beiden Ländern. Das Hauptaugenmerk wurde dabei auf die Vermittlung von Kenntnissen über das damals noch weitestgehend unbekannte Land im Osten, seine Wirtschaft und Ressourcen, seine Wissenschaft und Kultur, seine Menschen gelegt. Oder um es mit den Worten des Vorstandes der Gesellschaft in der ersten Ausgabe der Zeitschrift "Das neue Rußland" aus dem Jahre 1924 zu sagen: "Es geht ... um Aufklärung und Belehrung auf bisher noch zu wenig bekannten Gebieten. Die neuen Wirtschafts- und Lebensformen, die neuen künstlerischen und literarischen Erscheinungen des großen Rußland mit seinen unerschöpflichen Naturschätzen, mit seiner breiten Aufnahmefähigkeit für industrielle und kulturelle Erzeugnisse sollen zwecks gegenseitiger Durchdringung hier gebührend gewürdigt werden. Wir glauben hierbei auf die Teilnahme breitester Schichten deutscher Geistesarbeiter und wirtschaftlicher Pioniere rechnen zu dürfen."

Heute haben wir ein durchaus facettenreicheres, wenn auch nach wie vor unvollständiges und nicht selten tendenziöses Bild von Rußland, und die Beziehungen sind noch immer deutlich von den Nachwirkungen jahrzehntelanger Systemkonfrontation geprägt. Der russische Präsident Dimitri Medwedjew unterstrich bei seinem Antrittsbesuch Anfang Juni 2008 in Berlin, daß Rußland nach fast einem Jahrhundert der Isolation und Selbstisolation entschlossen sei, in die Weltpolitik und -wirtschaft zurückzukehren. Er verwies in diesem Zusammenhang auch darauf, daß Europas Architektur noch den Stempel der Vergangenheit trage.

Dem ist nicht zu widersprechen. Andererseits liegt ein nachhaltig stabiles politisches, wirtschaftliches und geistig-kulturelles Beziehungsgefüge zwischen dem Westen, speziell Westeuropa, und Rußland im strategischen, ja existentiellen Interesse Deutschlands mit seiner Brückenlage im Herzen des Kontinents. Denn Sicherheit in Europa, so sagt es Egon Bahr, ist nicht ohne und nicht gegen, sondern nur mit Rußland zu erlangen. Leider gehört diese Erkenntnis noch keineswegs zu den durchgängig prägenden Konstanten deutscher Politik.

Vor diesem Hintergrund ist es um so mehr zu begrüßen, daß die Tradition der "Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland" nunmehr eine Renaissance erlebt: Im November vergangenen Jahres hat in Berlin ein Initiatorenkreis aus Wirtschaft und Kultur die Gesellschaft mit direktem Bezug auf Anliegen und Agieren der historischen Vorgängerin neu gegründet. Man wolle, so Geschäftsführer Steffen Bayer zu den aktuellen Zielen, "mittelständischen Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen, Sportverbänden, Schriftstellern und Künstlern sowie interessierten Personen den Zugang zu potentiellen Partnern im jeweils anderen Land ebnen".

Zur Beförderung dieser Ziele ist auch wieder eine eigene Zeitschrift ins Auge gefaßt, mit der Akkreditierung der Gesellschaft beim russischen Außenministerium ist - laut Bayer - in Kürze zu rechnen. Und über jeden Interessenten und neuen Mitstreiter für dieses Projekt freue man sich schon jetzt.

Weitere Informationen im Internet (www.freundedesneuenrussland.com).


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 8, 12. Jg., 13. April 2009, S. 20-23
Herausgegeben vom Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2009