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EXPRESS/721: "Equal Pay" - Unendliche Geschichte, leider


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 4/2013

Unendliche Geschichte, leider

Andreas Bachmann diskutiert Equal Pay gegen Tarifverträge



Werden ArbeitnehmerInnen von einem Unternehmen an ein anderes ausgeliehen, so gilt der Grundsatz »Equal Pay« - gleiche Bezahlung für die Verliehenen wie für die Stammbeschäftigten des Entleihbetriebes. So will es das »Arbeitnehmerüberlassungsgesetz«. Keine Regel ohne Ausnahme: Abgewichen werden darf vom Equal Pay-Prinzip, wenn für das Verleihunternehmen ein gesonderter Tarifvertrag gilt oder wenn auf diesen Tarifvertrag arbeitgebervertraglich Bezug genommen wird. In der deutschen Leih- und Zeitarbeit ist das gängige Praxis. Für die Branche gelten Tariflöhne, die deutlich unter den Standards der Entleihbetriebe liegen. In Kürze werden die vom DGB selbst geschlossenen Tarifverträge auslaufen. Hurra, sagen die einen, sollen sie doch! Danach gilt das Prinzip der Gleichbehandlung, und damit stehen die LeiharbeiterInnen besser da als mit eigenem Tarifvertrag. Obacht, sagen die anderen, gibt es keinen neuen Vertrag, wirkt der alte nach, und die Beschäftigten würden nicht einmal die kleine Lohnerhöhung zu sehen bekommen, die in neuen Verhandlungen durchgesetzt werden könnte. Andreas Bachmann erklärt, warum die erste Position richtig ist, und warum an den entscheidenden Stellen im DGB trotzdem die zweite verfochten wird. Zusätzlich dokumentieren wir einen offenen Brief an den DGB-Bundesvorstand, der eine Kursänderung einfordert - die Zeit läuft, denn schon Ende April will der DGB zur Tat schreiten...


Es sieht so aus, als würden die einzig auf dem Markt verbliebenen Leiharbeitstarife des DGB zwar gekündigt, aber nicht mit dem Ziel, das Kapitel der Tarifregelungen gegen Equal Pay zu beenden, sondern um diese Tarifverträge neu zu sortieren.

Wirklich überraschend ist es nicht, dass die DGB-Gewerkschaften die Tarifverträge zur Leiharbeit, die das Equal-Pay-Gebot des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) und der entsprechenden EU-Richtlinie suspendieren, fortsetzen möchten. Das Ganze läuft jetzt unter der Fahne von 8,50 Euro Mindestlohn. Eine strategische Umkehr, die immer noch möglich ist, würde eine nüchterne Bilanzierung der Tarif- und Betriebspolitik von Betriebsräten und Gewerkschaften zur Leiharbeit voraussetzen. Das ist nicht geschehen - nicht nur weil die Alltagsroutinen solche selbstkritischen Auseinandersetzungen nicht begünstigen. Es ist wohl auch die Furcht, dass einem die eigenen Legendenbildungen und Lebenslügen zur Leiharbeit schmerzhaft auf die Füße fallen.

Es sind eben nicht nur die Gefälligkeitstarife von den gelben »Christlichen« Gewerkschaften, die die Dumpinglöhne in der Leiharbeit abgesichert haben. In den immer wiederholten Deutungen und Erklärungen der DGB-Gewerkschaften zu dem unterirdischen Niveau der DGB-Leiharbeitstarifverträge mit den beiden Dachverbänden BZA und IGZ wird der sehr enge Gestaltungskorridor durch die konkurrierenden und älteren gelben Tarifverträge als die wesentliche Ursache für das Elend der Leiharbeit betont. Dabei wurde und wird ausgeblendet, dass es nicht nur in Großbetrieben eine mehr oder weniger große Toleranz bei vielen Betriebsräten und Beschäftigten in den Belegschaftskernen gegenüber dem Kosten- und »Flexibilitätspuffern« Leiharbeit und befristete Arbeitsverträge gibt. Diese Flexibilitätspuffer führen zu einer Risikominimierung bei den Belegschaftskernen in Phasen von Umsatz- und Beschäftigungseinbrüchen oder Umstrukturierungen.

Gleichzeitig gibt es bei denselben Beschäftigten und betrieblichen Funktionsträgern ein großes Unbehagen wegen der moralischen Folgekosten dieser tolerierten sozialen Spaltung und Befürchtungen, dass sich die Prekarität der Leiharbeit in dieser Dosierung in die Beschäftigten- und Belegschaftskerne hineinfrisst. Dieses Unbehagen und die Beobachtung, dass die Differenz von Leih- zur Stammarbeit geradezu obszöne - in dieser Ausprägung nicht gewollte und auch für alle Beschäftigten destabilisierende - Auswirkungen hat, führte schließlich zu den Initiativen der Branchenzuschläge auf die Entgelte der Leiharbeitstarife per sektoralem Tarifvertrag, um die Spanne von Einkommen und sonstigen Arbeitsbedingungen zu verkleinern. Dieser Vorstoß war durchaus erfolgreich und hat insbesondere der IGM zu Mitgliederzuwächsen verholfen. Sachlogische Voraussetzung für diese tarifliche Teillösung ist aber in der Tat die Einkommensdifferenz zwischen Leiharbeit und Stammarbeit. Die konstitutionelle Voraussetzung für die Abweichung vom europarechtlichen Gebot des Equal Pay und Equal Treatment ist ein primärer Tarifvertrag bzw. die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen solchen primären diskriminierenden Tarifvertrag.

Die Vorstöße mit den Branchenzuschlägen, die ein beträchtliches organisationspolitisches Gewicht bekommen haben, sind m.E. ein (nicht das einzige) Motiv dafür, die alten DGB-Tarifverträge nicht ersatzlos zu kündigen, sondern sofort Anschlussverhandlungen über neue, modifizierte, aber immer noch diskriminierende Tarifverträge aufzunehmen.


Nachwirkung?

Wenig überzeugend ist das Argument, dass schon die Nachwirkung der alten BZA/IGZ-Tarifverträge zu einer Fortschreibung und Verbesserung der Non-Equal-Pay-Tarifverträge zwingen würde.

Zum einen ist die Nachwirkung nach herrschender Rechtsauffassung und Rechtspraxis nicht für neu begründete Arbeitsverhältnisse wirksam. Und angesichts der Fluktuation in der Arbeitnehmerüberlassung ist die Nachwirkung für bestehende Arbeitsverhältnisse ein zeitlich ohnehin überschaubares Problem. Wenn denn die Nachwirkung überhaupt ein relevantes Problem ist.

Viel naheliegender ist die Auffassung, dass die gesetzlichen Equal Pay-Bestimmungen durch Tarifverträge, die sich in der Nachwirkungsfrist befinden, gar nicht außer Kraft gesetzt werden können, sondern nur durch intakte Tarifverträge innerhalb der regulären Laufzeit.

Rechtssystematisch wird die Nachwirkung von Tarifverträgen als Schutzfunktion für die ArbeitnehmerInnen eingeordnet, die hier aber ohne Nachwirkung nicht schlechter, sondern besser geschützt wären.

Selbst die Bundesregierung geht nicht von einer weitreichenden Nachwirkung aus: »Abgelaufene Tarifverträge, die keine Branchenzuschläge vorsehen, befinden sich grundsätzlich in der Nachwirkung und können vom Zeitarbeitsunternehmen nicht mehr zur Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz herangezogen werden, wenn der Abschluss eines neuen Tarifvertrages nicht mehr in Aussicht steht.«

(Drs. 17/11738 vom 29. November 2012 / Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen)


Die gelbe Gefahr?

Ein weiteres denkbares Hilfsargument für einen Tarifvertrag jenseits von Equal Pay ist - wie man sich anhand der Vorgeschichte leicht vorstellen kann - die geäußerte Sorge, dass gelbe Gewerkschaften erneut reingrätschen und Dumpinglöhne auf eine neue Grundlage stellen könnten. Bei allen bitteren Erfahrungen mit Gefälligkeitstarifen gelber Gewerkschaften (z.B. bei Genossenschaftsbanken) ist wiederum bei der Leiharbeit das Restrisiko, dass gelbe Gewerkschaften mit ähnlicher Reichweite wie in den letzten Jahren Leiharbeit tarifieren, übersichtlich. Für die Arbeitgeber (Entleiher und vor allem Verleiher) war das Einkassieren der »christlichen« Leiharbeitstarife (wenn auch vorwiegend aus statuarischen Gründen) mit allen Rückforderungs- und Rechtsrisiken eine traumatisierende Erfahrung, die man erst mal nicht wiederholen möchte.

Auch das Argument, dass man einen Mindestlohnleiharbeitstarif (nach dem § 3a AÜG) auf jeden Fall braucht, um grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung zu regeln, halte ich für überspannt.

Denn nach dem Entsendegesetz (§ 2) greifen auf jeden Fall die gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen am Einsatzort, also auch das gesetzliche Equal Pay-Gebot im Verhältnis zu den vergleichbaren ArbeitnehmerInnen im Entleihbetrieb. Im Unterschied zu anderen Entsendesituationen und anderen Branchen gibt es in der Leiharbeit auch außerhalb allgemeinverbindlicher Tarifverträge eine ordentliche gesetzliche Regelung der Entgelte.

Überhaupt nicht aufbereitet - politisch und rechtlich - ist die Grenzüberschreitung durch die »christlichen«, aber auch die DGB/BZA/IGZ-Tarifverträge zur Leiharbeit. Tarifautonomie hin oder her - die Befugnis der Tarifparteien, gesetzliche Standards zu ändern, kann nicht so weit gehen, dass sich das gesetzliche Leitbild (»Equal Pay«) durch den Tarifvertrag mit Lohnunterschieden von mehr als 40 Prozent zum vergleichbaren Stammarbeitnehmer im Entleihbetrieb in sein völliges Gegenteil verkehrt. (Vgl. hierzu auch das Interview von Kirsten Huckenbeck und Andreas Bachmann mit Wolfgang Däubler in express, Nr. 2/2012)

Diese eingeschränkte Befugnis der Tarifparteien, gesetzliche Schutznormen zu modifizieren, wäre eine Barriere für erneute Versuche gelber Gewerkschaften, Leiharbeit als krasses Dumpingmodell zu tarifieren. Die bekannten Differenztarife zur Leiharbeit haben im Übrigen den europarechtlich geforderten »Gesamtschutz« der LeiharbeiterInnen nicht berücksichtigt.

Mit den DGB-Tarifwerken (und erst recht mit den gelben Tarifverträgen) wurde die übliche praktische und rechtliche Funktion von Tarifverträgen ausgehebelt. Tarifverträge setzen Maßstäbe und Haltelinien für Mindestarbeitsbedingungen, auf die nach dem Günstigkeitsprinzip bessere individuelle Konditionen aufsetzen können. In der Leiharbeit haben Tarifverträge in einem Kernbereich des Arbeitsverhältnisses die Wirkung schlicht umgedreht. Ein gesetzlicher Standard wurde durch Tarifverträge, die noch nicht einmal eine Mitgliedsbasis hatten, zerstört und abgesenkt. Wenn Tarifautonomie nicht zu einem inhaltsleeren Begriff werden soll, ist dieser letztgenannte Effekt als eine ernsthafte Beschädigung der Tarifautonomie zu kritisieren. Neustart oder Update?

Der organisationspolitische Elan, der in den Tarifverträgen zu den Branchenzuschlägen spürbar wurde, kann in sinnvolle Bahnen gelenkt werden.

Es gibt eine Reihe von Interessenlagen und Problemen, die unter Wahrung des Equal Pay-Grundsatzes im konkreten Entleihbetrieb angepackt werden können und müssen: die Mindestvergütung für die verleihfreien Zeiten (hier greift Equal Pay nicht), die hohe Flexibilität und Mobilität der LeiharbeiterInnen, die besonderen Aufwendungen bei wechselnden Einsatzorten, der spezifische Qualifizierungsbedarf, die besondere Gemengelage bei der betrieblichen Altersversorgung wären Felder einer neuen Tarifpolitik zur Leiharbeit. Unter diesen Vorzeichen könnten wir dann ergebnisoffen die bestmögliche Rollenverteilung zwischen den Branchengewerkschaften (Entleiherebene), dem DGB-Tarifverbund und ver.di als Fachgewerkschaft der LeiharbeiterInnen ausloten.

Die Zeiten für solch eine Wende in der Tarif- und Arbeitsmarktpolitik zur Leiharbeit waren schon mal schlechter. Bis in das Regierungslager gibt es eine Verunsicherung über die destruktiven Effekte der Leiharbeit. Die höchste Rechtssprechung hat die Gefälligkeitstarife der »Christen« erst einmal ausgeschaltet. Die Skandalisierung der Leiharbeitsexzesse ist im Mainstream und im Alltagsbewusstsein angekommen. Höhere Instanzgerichte stellen verstärkt den Missbrauch der Dauerleihe in Frage, bejahen ein Zustimmungsverweigerungsrecht der Betriebsräte nach § 99 BetrVG und sehen bei der missbräuchlichen Dauerleihe ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeiter auf der Tagesordnung, da Gesetz und EU-Richtlinie Leiharbeit als eine »vorübergehende« Angelegenheit ausweisen.(1)

Jetzt braucht es eine offene und selbstkritische innergewerkschaftliche Diskussion zur tariflichen Einordnung der Leiharbeit und Abstinenz bei der tariflichen Suspendierung von Equal Pay - dann käme Bewegung in die Sache.


Anmerkung

(1) LAG Berlin Brandenburg 15 Sa 1635/12; LAG Berlin Brandenburg 4 TaBV 1163/12

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express 4/2013 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • »Ebay für Arbeitskräfte«, ver.di-Positionspapier zu Gefahren für Gesellschaft und ArbeitnehmerInnen durch Crowdsourcing und Cloudworking
  • Andreas Bachmann: »Unendliche Geschichte, leider: Tarifverträge gegen Equal Pay«
  • Oliver Brüchert: »Angestellt und angeschmiert« - zur Tarifrunde 2013 im öffentlichen Dienst der Länder
  • »Gleich bezahlen, jetzt!«, Offener Brief gegen einen neuen Tarifvertrag in der Zeitarbeit
  • »Widerstand im Herzen ... des europäischen Krisenregimes«, Blockupy blockt wieder
  • »Was zählt, ist auf'm Platz«, auch GewerkschafterInnen rufen auf zu Blockupy 2013
Betriebsspiegel
  • Herbert Rehm: »Im Weltauktionshaus. Crowdsourcing und der globale Wettbewerb um Arbeit - das Beispiel IBM«
  • Anna Leder/Sandra Stern: »Mehr als ein Packerl Luft!?«, zum Spitalsstreik in der Alpenrepublik
  • Raewyn Connell: »Warum ich heute gestreikt habe«, Offener Brief an die Leitung der Universität Sydney
Internationales
  • »Im Zweifel für den Ankläger«, Petition zur Verteidigung der Unschuldsvermutung in Griechenland
  • Willi Hajek: »Chronik eines angekündigten Todes. Drei Monate Streik gegenWerksschließung bei PSA-Peugeot Aulnay«
  • Willi Hajek: »Die Lohnarbeitsanstalt sprengen«, Nachruf auf Jean Raguénès, Arbeiterpriester und Lip-Aktivist
  • Jane Slaughter: »Keine Schraube verlässtdas Gelände«, zur (Erfolgs-)Geschichte der Arbeiterkooperative Tradoc in Mexiko
Rezension
  • »Verflucht interessante Zeiten«, zwischen Warten und Erwartung - Wolfgang Völker über Peter Birke/Max Henninger (Hg.): »Krisen Proteste«
  • Marcus Schwarzbach: »Kein Randgruppenthema«, über ein neu aufgelegtes Handbuch für die Jugend- und Auszubildendenvertretung
  • Gaston Kirsche: »Kämpfen gegen den Kollaps. Das bulgarische Gesundheitswesen durch die Windschutzscheibe eines Rettungswagens betrachtet«, über den Dokumentarfilm »Sofia's Last Ambulance«

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Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 4/2013, 51. Jahrgang, Seite 3-4
Herausgeber: AFP e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2013