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GEGENWIND/362: Ausbildung für alle! - Neues System statt Warteschleife


Gegenwind Nr. 246 - März 2009
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Kampagne Ausbildung für alle!
Neues System statt Warteschleife

Von Karl-Martin Hentschel


Der Wirtschaftsminister, die IHK und die Bundesagentur haben im letzten Herbst lauthals verkündet, alle Jugendlichen in Schleswig-Holstein würden untergebracht. Die Wirklichkeit sieht anders aus.


Die Hamburger Illustrierte "Stern" hat in der Ausgabe 3 dieses Jahres nachgewiesen, dass die Zahlen der Arbeitsagentur systematisch frisiert werden. In der Stellungnahme der Bundesagentur dazu werden die Zahlen des "Stern" bestätigt - lediglich die Schlussfolgerung, die Bundesagentur hätte die Zahlen manipuliert, sei falsch. Man hätte die Wahrheit schon immer erkennen können, wenn man die Statistik richtig gelesen hätte.

Wohl wahr - schon der Nationale Bildungsbericht 2008 von Ministerin Schavan legte offen, dass über ein Drittel aller Jugendlichen nach der Schule im so genannten Übergangssystem landen. In diesem System befanden sich 2007 über 500.000 Jugendliche und es kostete den Staat über 3,4 Mrd. Euro.

Viele Jugendliche werden dabei durch Maßnahmen der Bundesagentur aufgefangen. Andere absolvieren eine Berufsfachklasse, oder sie landen im Berufsvorbereitungsjahr. Und die, die dann noch übrig bleiben, kommen dann in die BEK - die Berufseingangsklassen - die früher mal Arbeitslosenklassen hießen.

Es gibt aber auch weiterhin zahlreiche Jugendliche, die nirgends landen. Denn meistens wird nicht einmal kontrolliert, ob sie der Schulpflicht überhaupt genügen.

Manche von ihnen machen Hilfsarbeiten in Kleinbetrieben, oder sie arbeiten für 400 Euro an der Kasse im Supermarkt. Manche liegen zu hause auf dem Sofa und tauchen erst mit 20 bei der Arbeitsagentur auf, wenn sie vom Hotel Mama rausgeschmissen werden. Und Mädchen - aber auch Jungs aus Einwandererfamilien werden oft verheiratet ohne eine Ausbildung zu haben.

15 Prozent der Jugendlichen bekommen keine Ausbildung, bei den Jugendlichen mit türkischer Herkunft erhalten mittlerweile fast 75 Prozent keine Berufsausbildung. Diese Jugendlichen haben später kaum eine Chance, jemals einen qualifizierten Job zu bekommen.

Der Bericht der Bundesministerin Schavan benennt deshalb den Abbau von Umwegen beim Übergang von den Schulen in die Ausbildung als eine der zentralen Herausforderungen für die Bildungspolitik der kommenden Jahre.

Auch in Schleswig-Holstein ist die Situation nicht besser. Nach dem Bildungsbericht landeten in Schleswig-Holstein sogar 42,8 Prozent aller Jugendlichen - das sind über 11.000 Jugendliche jährlich - im Übergangssystem. Lediglich 42,7 Prozent bekamen einen Ausbildungsplatz in der hoch gelobten dualen Ausbildung.

Und es traf nicht nur Hauptschüler. Von den im letzten Herbst unversorgten Schulabgängern hatten 40 Prozent einen Realschulabschluss und 11 Prozent sogar eine Fachhochschulreife oder Hochschulreife.

An dieser Stelle möchte ich einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Auch ich bin der Auffassung, dass das duale Ausbildungssystem eine hohe Qualität hat. Das gilt ganz besonders für die Integration der Auszubildenden in den ersten Arbeitsmarkt. Dies möchte ich ausdrücklich loben und mich bei den dahinter stehenden Akquisiteuren und Betrieben bedanken.

Ich begrüße auch das Handlungskonzept Schule und Arbeitswelt der Landesregierung, um den Übergang der Jugendlichen von der Schule in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern.

Aber angesichts der Problemlage reicht das alles nicht aus.

Anstatt weiter mit Programmen, Fördermaßnahmen und Handlungskonzepten an den Symptomen herum zu doktern, sollte dIe Politik endlich eine grundlegende, systematische Verbesserung des Ausbildungssystems vornehmen.

Dazu hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im letzten Jahr einen Vorschlag erarbeitet, den wir seitdem mit zahlreichen LehrerInnen und anderen im Berufsbildungssystem Tätigen diskutiert und konkretisiert haben.


Eckpunkte für eine Reform

Ziel unseres Vorschlags ist ein Gesamtsystem, das sicherstellt, dass alle Jugendlichen eine Berufsausbildung bekommen. Dafür sollen folgende Eckpunkte gelten:

Alle Jugendlichen machen entweder Abitur oder eine Berufsausbildung.

Die Schulpflicht wird bis zum Abschluss einer Berufsausbildung oder bis zum Abitur ausgeweitet. Das muss durch einen Abgleich der Meldedaten auch tatsächlich kontrolliert werden, was in Schleswig-Holstein bislang nur im Kreis Schleswig-Flensburg geschieht.

Die Berufsausbildung soll grundsätzlich nach dem 10. Schuljahr beginnen. Die Vorstellung, dass Hauptschüler schon nach 9 Schuljahren eine Berufsausbildung beginnen können, ist nicht mehr realistisch. Das 10. Schuljahr soll aber als Berufsvorbereitendes Jahr mit Theorie und Praktika auch an der Berufsschule absolviert werden können.

Ausbildung und Schule sollen modularisiert werden. Die praktischen, theoretischen und allgemein bildenden Module sollen gesondert testiert und bei einem Wechsel der Ausbildung oder der Schule angerechnet werden.

- Es soll in Zukunft fünf Formen der Sekundarstufe II geben:

1. Eine Betriebliche Ausbildung im dualen System;

2. Eine staatlich anerkannte Ausbildung an privaten oder staatlichen Einrichtungen wie z. B. Krankenpflegeausbildung, Verwaltungsdienst oder ErzieherInnenausbildung;

3. Eine Ausbildung an einer Berufs- oder Produktionsschule mit vergleichbaren Praxisanteilen in Betrieben und den überbetrieblichen Ausbildungszentren der Kammern. Die Grundlage dafür wurde bereits 2005 durch die Änderung des Paragraph 43 des BBiG geschaffen. Erste Versuche laufen ja auch schon in Schleswig-Holstein.

4. Eine Gymnasiale Oberstufe an einem Gymnasium, Fachgymnasium oder einer Gemeinschaftsschule mit dem Abschluss Abitur oder Fachhochschulreife.

5. Eine mehrwertige (polyvalente) 4-jährige Oberstufe mit dualer Berufsausbildung, die sowohl zum Abitur wie zu einem Berufsabschluss führt. Dies bietet sich besonders für die Berufe an, in denen heute regelmäßig überwiegend Abiturienten als Auszubildende eingestellt werden wie für Versicherungs- und Bankkaufleute oder Informatiker. Sie vermeidet den heutigen Zeitverlust, der entsteht, wenn Abiturienten erst eine Ausbildung machen und dann studieren.

Um dieses System zu finanzieren, können die zahlreichen Warteschleifenprogramme gegen gerechnet werden. Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft können sogar erhebliche Gelder eingespart werden.

Es sollte aber auch geprüft werden, ob nach dem Modell der Bauwirtschaft Betriebe in den Branchen, in denen unter Bedarf ausgebildet wird, durch eine Abgabe herangezogen werden können, wenn sie selbst nicht ausbilden.

Fazit: Die Probleme des Übergangs von der Schule in die Berufsausbildung sind ungelöst. Wir brauchen dringend eine Reform und Erweiterung des Berufsbildungssystems.

In der Landtagsdebatte war es erneut erschreckend, wie gering das Problembewusstsein der großen Koalition war. Obwohl ihre eigene Ministerin Erdsiek-Rave sie indirekt dazu aufforderte, den grünen Antrag im Ausschuss zu behandeln und eine Anhörung der Fachleute durchzuführen, lehnten SPD und CDU die Überweisung ab - ein parlamentarisch völlig unübliches Verfahren. Alles nach dem Motto: Was nicht sein kann, das nicht sein darf.

Wir werden nun den Antrag erneut direkt in den Ausschuss einbringen und erneut auf eine Anhörung drängen.


Karl-Martin Hentschel, Vorsitzender der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen


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Quelle:
Gegenwind Nr. 246 - März 2009, Seite 17-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2009