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GEGENWIND/399: DTP-Verbot in der Türkei - Schwierige Situation der Demokratie


Gegenwind Nr. 257 - Februar 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

DTP-Verbot in der Türkei:
Schwierige Situation der Demokratie

Von Reinhard Pohl


Als Sebahat Tuncel 2007 für das türkische Parlament, die Große Nationalversammlung, kandidierte, war das aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Eine Frau, Kurdin, erst 32 Jahre alt, ledig - das ist ungewöhnlich genug. Auch kandidierte sie nicht in Kurdistan, sondern in Istanbul. Und: Als sie Parlamentsabgeordnete werden wollte, saß sie wie so viele kurdische Politikerinnen und Politiker im Gefängnis. Dennoch erhielt sie 93.000 Stimmen, sie musste wegen der damit verbundenen Immunität aus der Haft entlassen werden und zog als jüngste Parlamentsabgeordnete der Geschichte in die Große Nationalversammlung ein.


Am 12. Januar besuchte die junge Abgeordnete Kiel. Sie traf mit hier lebenden Kurdinnen und Kurden zusammen und führte im Landeshaus Gespräche mit Abgeordneten der Linken und des SSW. Ihre Partei, die DTP, war am 11. Dezember in der Türkei verboten worden - die einzige kurdische Partei in der Türkei war mit 2,5 Millionen Stimmen und 21 Abgeordneten ins Parlament gewählt worden. Alle waren als Einzelkandidaten angetreten und hatten sich erst im Parlament zusammengeschlossen, die gegen eine kurdische Präsenz im Parlament erlassene 10-Prozent-Hürde hätte es sonst unmöglich gemacht.

Mit dem Verbot der DTP ist das sechste Mal nacheinander die kurdische Partei verboten worden. Inzwischen haben sich alle Abgeordneten der neugegründeten Partei "Freiheit und Demokratie" (BDP) angeschlossen.

In ihrer Stellungnahme bezeichnete Sebahat Tuncel das Parteienverbot als Ausdruck der schwierigen Situation der Demokratie in der Türkei. Die DTP war angetreten, um eine demokratische Lösung für die Minderheit der 20 Millionen Kurdinnen und Kurden zu finden. Sie trat ein für die Menschenrechte, die Rechte der Frauen und für die Ökologie. In mehr als einhundert Kommunen bekam sie bei den letzten Kommunalwahlen die Mehrheit, stellt Bürgermeister und Stadträte.

Die gegenwärtige Regierung leugnet Probleme der Minderheitenpolitik, Probleme der kurdischen Minderheit. Sie spricht von einem Terrorismus-Problem und beruft sich darauf, dass auch in Spanien die baskische Partei verboten wurde.

Zur PKK sagt Sebahat Tuncel, dass die Unterdrückung der Kurdinnen und Kurden in der Türkei ein Problem der letzten 200 Jahre sei. Die PKK, so sagt sie, ist nicht die Ursache dafür, die PKK ist ein Produkt dieses Problems. Forderungen der türkischen Regierung, die DTP solle sich von der PKK distanzieren, kontert sie mit dem Angebot, die DTP hätte in dem Konflikt zwischen türkischer Regierung und PKK vermitteln können.

Nach dem Verbot wurden zwei Abgeordnete verhaftet, ihnen wurde das Mandat aberkannt. Das geschah wohl vor allem deshalb, um die Gruppe von 21 auf 19 Mitglieder zu reduzieren - eine Fraktion muss aus mindestens 20 Abgeordneten bestehen. Die verbleibenden 19 Abgeordneten, jetzt der neuen kurdischen Partei BDP zugehörig, haben sich inzwischen mit linken türkischen Abgeordneten zusammengetan, um wieder auf Fraktionsgröße zu kommen.


Konflikte und ihre Lösung

Angesprochen auf Möglichkeiten für Lösungen weist Sebahat Tuncel darauf hin, dass es in der Türkei noch viele andere Konflikte gibt, die sich nicht entlang der Linie Türken / Kurden entzünden. Gerade die Weltwirtschaftskrise oder Bankenkrise 2008/2009 hat auch in der Türkei zu Massenentlassungen geführt, es gibt viele Arbeitskonflikte, die von der Regierung auch gewalttätig ausgetragen werden.

Zur Perspektive eines EU-Beitritts meint sie, dass die kurdischen Politikerinnen und Politiker den Beitritt zur EU befürworten - natürlich auch, weil die Türkei dadurch gezwungen ist, der Minderheit der Kurdinnen und Kurden, aber auch allen anderen Minderheiten entsprechende Rechte zu geben. Sebahat Tuncel fügt aber ausdrücklich hinzu, dass sie hofft, dass die EU-Perspektive nicht der einzige Grund sein wird, in der Türkei die Menschenrechte einzuhalten. Sie hofft, in der Türkei auch unabhängig von der EU die politischen Voraussetzungen schaffen zu können, Menschenrechte einzuhalten.

Für sich selbst rechnet Sebahat Tuncel jederzeit mit einer Verhaftung. Und dazu trägt ihr Besuch in Deutschland sicherlich bei. Auf ihrer Rundreise in der zweiten Januar-Woche traf sie Politikerinnen und Politiker in Bremen, Hamburg, Kiel, Hannover und Göttingen und machte mehrere öffentliche Veranstaltungen, dazu sprach sie mit Journalisten.

Andererseits wies sie darauf hin, dass mehr als 3000 Kurdinnen und Kurden zur Zeit als politische Gefangene in Gefängnissen der Türkei sitzen.

Von Freiheit und Demokratie ist die Türkei sicherlich noch weit entfernt.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 257 - Februar 2010, Seite 26-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2010