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GEGENWIND/453: Wikileaks - "The end of diplomacy as we know it?"


Gegenwind Nr. 268 - Januar 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

The end of diplomacy as we know it?
Information wants to be free

Von York-Simon Johannsen


Viele Blogs und Artikel stellen in diesen Tagen angesichts der neuesten von der Plattform Wikileaks veröffentlichten Dokumente die Frage "The end of diplomacy as we know it?" Nun, das Anfertigen von solchen Dossiers ist in allen Ländern und schon seit langer Zeit gängige Praxis. Und immer wieder kommt es vor, dass solche Dokumente von investigativen Journalisten veröffentlicht werden. Neu ist bestenfalls, dass es dafür eine Plattform im Internet gibt, die solche Lecks ("leaks") dokumentiert.


Die Implikationen des Mediums Internet entziehen sich dem Verständnis eines Großteils unserer Politiker. Deswegen wird es fast notwendigerweise als Gefahr empfunden und nicht als Chance wahrgenommen. Als Chance für die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Bildung und letztlich auch für unsere Demokratie.

Die Brisanz des aktuellen Leaks wird ganz bewusst durch die politische Ebene dramatischer dargestellt, als sie es wirklich ist.

Es wird (absichtlich?) übersehen, dass parallel zu Wikileaks auch Printmedien wie in Deutschland "Der SPIEGEL" und in dem britischen "Guardian" Teile dieser Dokumente veröffentlichen. Würde man nur in diesen und anderen Magazinen davon lesen, wäre der Sturm der Entrüstung sicherlich geringer ausgefallen, da den etablierten Medien Pressefreiheit eingeräumt wird.

Das amerikanische Außenministerium hat auf die Veröffentlichungen mit blindem Aktionismus reagiert. Anstatt sich vordringlich um die Aufspürung und Schließung der Sicherheitslücken zu kümmern, war man besorgt um den eigenen Ruf. Dadurch erfährt Amerika derzeit einen enormen öffentlichen Vertrauensschwund. Viele Europäer fragen sich jetzt, ob sensible, persönliche Daten über den innereuropäischen Zahlungsverkehr, geregelt im SWIFT-Abkommen, die an die USA weiter gegeben werden, sicher vor Missbrauch sind.

Es ist uns Piraten bewusst, dass Leaks gesetzlich verboten sind. Das hat die Presse in der Form des Investigativjournalismus jedoch nie davon abgehalten, auf solche Informationen zurück zu greifen. Rechtliche Sanktionen sind die Ausnahme, von Vielen - auch Politikern - wird die Presse manchmal gar als "vierte Gewalt im Staate" angesehen. Der gesellschaftliche Diskurs darüber, ob im Kommunikationsmedium Internet angesiedelte Anwendungen und Plattformen wie Wikileaks dieselben Rechte bekommen können und gar sollen, steht immer noch am Anfang. Nach Meinung der Piraten ist es aber wünschenswert, diesen Weg weiter zu gehen.

Eine unserer zentralen Forderungen ist die nach dem "transparenten Staat". Solange der Staat seiner Verpflichtung nach Transparenz nicht ausreichend nachkommt, sind Leaks der wohl einzige Weg, so lange sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Ob diese Grenzen bei der aktuellen Veröffentlichung von Wikileaks erreicht oder überschritten werden, bleibt abzuwarten. Bisher sind erst ca. 2 Prozent des Materials veröffentlicht.

Zu diskutieren ist die Motivation von Wikileaks. Nach Aussage des Wikileaks-Kopfes Assange wurde die Plattform quasi aus Notwehr gegründet, um das enorm defizitäre Transparenzverhalten der Staaten zu kompensieren, wie auch deren wahre Absichten aufzudecken. Inzwischen ist aus Wikileaks selbst ein Machtfaktor geworden. Das zeigen z.B. die Kursabstürze der Aktien von US-Großbanken auf die bloße Ankündigung hin, Anfang des nächsten Jahres eine Serie von Dokumenten aus der Bankenwelt zu veröffentlichen. Im aktuellen Fall wird das Verhalten von Wikileaks von manchen als PR-Maßnahme gewertet. Dass dahinter auch finanzielle Interessen der Betreiber stehen, darf nicht verwundern. Schließlich ist es auch Ziel der etablierten Medien, mit hohen Auflagen und Einschaltquoten wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen.

Wirtschaftliche Interessen spielen bei den eigentlichen und ursprünglichen "Whistleblowern" keine Rolle. Ihre Motivation ist es, auf Missstände oder Gefahren hinzuweisen. Ohne das mutige Handeln von Menschen, die Informationen weitergereicht haben, wären weitreichende Informationen über Themen wie ACTA (Link) oder INDECT (Link) nie aus den politischen Hinterzimmern an die Öffentlichkeit gelangt.

Whistleblowing kann also auch als Kontrollinstrument betrachtet werden. Deswegen hat sich die Piratenpartei auf ihrem Bundesparteitag 2010 in Chemnitz dazu entschlossen, den Schutz von Whistleblowern in ihr Grundsatzprogramm aufzunehmen.

Das deckt sich auch mit einer Forderung der G20 anlässlich ihrer Tagung in Seoul, die dort im Rahmen des Aktionsplans zur Korruptionsbekämpfung eine klare Zielvorgabe für gesetzlichen Whistleblowerschutz formuliert: "Bis Ende 2012 werden die G20-Staaten Regelungen zum Whistleblowerschutz erlassen und umsetzen."

Die Frage "Wie weit dürfen Enthüllungen im Internet gehen?" betrifft jedoch nicht nur Wirtschaft und Politik, sie betrifft auch jeden Einzelnen. Womit wir zu einer weiteren Kernforderung der Piratenpartei kommen: der informationellen Selbstbestimmung, also das Recht des Einzelnen, die Nutzung seiner persönlichen Daten zu kontrollieren.

Heute ist eine Generation herangewachsen, die sich dieses Rechts zum Teil bewusst ist und es dann auch für sich in Anspruch nimmt. Plattformen wie Facebook, StudiVZ und ähnliche sind nur deshalb in Verruf geraten, weil sie mit den Daten der Benutzer nicht verantwortungsvoll umgehen, sondern wirtschaftlichen Interessen Vorrang geben. Die meisten Plattformen fordern mehr persönliche Angaben bei der Anmeldung, als für die sichere Benutzung der Plattform erforderlich wären. In ihren AGBs formulierte Nutzungsbedingungen zielen vorrangig auf eigene Interessen der Betreiber ab. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird damit ausgehöhlt. Hier ist die Politik in hohem Maße gefordert, ihrer Verpflichtung nach zu kommen und den Betreibern bei dieser Vorgehensweise Einhalt zu gebieten, sowie die Medienkompetenz der Benutzer zu fördern.

Eine Grenze für Enthüllungen im Internet sind also die persönlichen Daten, da ein Betrieb der Plattformen stets auch ohne die Veröffentlichung und Verknüpfung der Datensätze ihrer Benutzer funktioniert. Technische Grenzen gibt es bei den Veröffentlichungen nicht. Es gilt neue gesellschaftliche Vereinbarungen zu treffen und diese bei Bedarf gesetzlich zu verankern. Angesichts des weltumspannenden Netzwerkes wird in dieser Diskussion auch ein internationaler Konsens gesucht werden müssen.

Bei der Bewertung von "Enthüllungen" scheinen Regierende mit zweierlei Maß zu messen. Bei vielen Veröffentlichungen im Internet wird kritisiert, dass diese "geklaut" worden seien. Das mutet paradox an, wenn man sich an die Steuer-CDs erinnert. In der Hoffnung auf hohe zusätzliche Steuereinnahmen heiligt der Zweck die Mittel.

Die Qualität von Internet-Inhalten, wie auch deren Authentizität, wird häufig kritisiert. Es findet sich viel Schrott auf Blogs und Foren. Wer sich gedanklich in eine gut sortierte Bahnhofsbuchhandlung versetzt, wird bestätigen können, dass es dort ebenso ist. Die Verantwortung, hochwertige Inhalte auszuwählen und zu konsumieren, liegt beim Bürger und nicht bei den Medien oder dem Staat.

Die absolute Verfügbarkeit der Informationen für jedermann ist ein weiteres Novum für Politik und Medien. Wurden früher Informationen exklusiv verkauft oder zugesteckt, schwindet heute der persönliche Informationsvorsprung drastisch. Wenn Wissen Macht ist, nagt damit das Internet auch an der Stellung der Machthaber.

Das hat wohl auch die Politik dazu verleitet, sich in blinder Datensammelwut auszuleben. Straftaten können angeblich nur verhindert werden, wenn an jeder Straßenecke eine Kamera installiert ist und wenn auf Telefondaten von mehreren Monaten zurück gegriffen werden kann. Übersehen wird dabei, dass eine Kamera kein Verbrechen verhindern kann und eine Überwachung Verdächtiger auch ohne Vorratsdatenspeicherung möglich und rechtens ist. Dieses paranoide Verhalten führt uns zielsicher in Richtung eines Polizei- bzw. Überwachungsstaates.

Heiner Geissler, ehemaliger Bundesminister und Generalsekretär der CDU, sagte vor ein paar Tagen - wenn auch in einem anderen Zusammenhang: "Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei." Ebenso vorbei ist die Zeit der Geheimpolitik, in der ein Staat in einander widersprechenden Geheimverträgen nach Bismarckschem Vorbild seine Position gegenüber anderen bestimmen kann. Der Zeit, in der den Staat die Meinung seiner Bürger nicht interessiert, in der mit Instrumenten wie Angsterzeugung, Überwachung und Beeinflussung der Medien gearbeitet wird, muss entschieden entgegengewirkt werden.

Das zu begreifen und die globale Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts aufzubauen, ist die Herausforderung, der wir alle uns stellen müssen.


York-Simon Johannsen ist Beisitzer im Vorstand der PiratenPartei Schleswig-Holstein


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Quelle:
Gegenwind Nr. 268 - Januar 2011, Seite 19-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2011