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GEGENWIND/501: Buchbesprechung - "Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte"


Gegenwind Nr. 282 - März 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Libyen
Scheitern und Zerstörung eines ursprünglich revolutionären und antikolonialistischen Projekts

von Klaus Peters



Das von Fritz Erdinger noch vor dem Ende des Bürgerkriegs herausgegebene Buch "Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte" ist bisher eines der ganz wenigen Bücher, das sich mit der jüngeren Geschichte und der aktuellen Entwicklung in Libyen befasst. Erdinger, Generalsekretär der Österreichisch-Arabischen Gesellschaft, hatte bereits 2009 zusammen mit Erwin Ruprechtsberger das Buch "Libyen. Geschichte-Landschaft-Gesellschaft-Politik" veröffentlicht. In dem neuen Buch beschreiben 11 Autoren, Wissenschaftler oder Journalisten, die Hintergründe der Machtkämpfe, die unterschiedlichen Interessen, die jüngste Entwicklung in Libyen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung.

Da die westlichen Medien sich in den letzten Jahrzehnten kaum mit der Situation in Libyen befasst hatten, wenn überhaupt, dann nur mit kurzen Berichten über Auftritte von Muammar al Gaddafi oder mit ihm und seiner Familie in Verbindung stehenden Aktionen, ist die Öffentlichkeit ohne besondere Vorkenntnisse mit Informationen über den Bürgerkrieg und die NATO-Militäraktionen mit vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung in Libyen konfrontiert worden. Diese Informationen waren wie üblich als NATO-Propaganda einzuordnen. Nur wenige Medien, wie die "junge Welt" oder Experten, wie der Völkerrechtler Norman Peach oder der Freidenkerverband, haben versucht, ein realistisches Bild zu zeichnen.

Einige der Autoren des hier vorgestellten Buches kennen das Land, stammen aus dem arabischen Raum und waren auch beruflich in Libyen tätig. Der Journalist Gerd Bedszent nennt seinen Beitrag "42 Jahre Volks-Dschamahirija, Eine Analyse aus sozioökonomischer Sicht". Er beschreibt umfassend die Schwierigkeiten in der Entwicklung des Landes, die letztlich zum Bürgerkrieg geführt haben. Er beginnt mit der kolonialen Geschichte des Landes, beschreibt die von Gaddafi angeführte Revolution gegen den König Idris I und die Probleme bei der Umsetzung der von Gaddafi in seinem "Grünen Buch" beschriebenen "Dritten Universaltheorie". Sozialistische Ideen sollten mit der Tradition, religiösen Elementen und den Stammesstrukturen in Übereinstimmung gebracht werden. Einen Kern der angestrebten Gesellschaftsform sollten "Volkskomitees" bilden. Bedszent kommt zu dem Schluss, dass der Zusammenbruch des Landes letztlich mit dem "Krieg um das Öl", durch die damit verbundenen Auseinandersetzungen über die Verteilung der Geldmittel zu begründen ist. Er prognostiziert einen dauerhaften Konflikt zwischen islamistischen Gruppen und abtrünnigen Wirtschaftsfunktionären der Gaddafi-Ära.

Der als Lehrbeauftragter tätige Konrad Schliephake untersucht in seinem Beitrag "Demographie und Arbeitsmarkt im Rentier-Staat" die Bevölkerungszusammensetzung und die ökonomische Entwicklung. Das Land und die Situation der 6,5 Millionen Einwohner sind durch zwei wesentliche Tatsachen geprägt, dadurch, dass 97 % des Landes aus Wüste besteht und eine große Abhängigkeit vom Öl vorhanden ist. Stammes-Rivalitäten werden als Ursachen für eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Arbeit erkannt.

Der Ethnologe und Volkswirt Thomas Hüskens setzt sich in seinem Beitrag mit der politischen Kultur und der Revolution auseinander. Die österreichische Sozialanthropologin Ines Kohl untersucht die Rolle der über die Landesgrenzen hinaus siedelnden Tuareg. Kohl und der an der Universität Boston tätige, aus Libyen stammende Rami Salem, befassen sich mit dem anderen großen in Libyen vertretenen Stamm, den Berbern. Awni S. Al-Ami, in Deutschland ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, für internationale Organisationen u.a. in Libyen tätig, beschreibt die Entwicklung Libyens als Tochter der UNO. Fritz Erdinger beleuchtet im nachfolgenden Beitrag die Begegnungen einiger europäischer Linker, von Grünen und Rechtspopulisten mit Gaddafi. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler und Mitglied der AG Friedensforschung, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, untersucht die Rolle und die Motive der NATO, der UNO und des ICC (Internationaler Gerichtshof in Den Haag). Stefan Brocza, Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Salzburg, erläutert das Scheitern der EU-Mittelmeerpolitik. Karin Leukefeld, Korrespondentin mit Schwerpunkt Mittlerer Osten, setzt sich abschließend mit der Rolle der Medien auseinander.

Das Aufbegehren gegen ein ursprünglich revolutionäres, antikolonialistisches Projekt, das letztlich durch einige Mitgliedsstaaten der NATO, offensichtlich unter Führung des französischen Staatschefs Sarkozy, zum Zusammenbruch gebracht worden ist, muss alle, die an friedlichen Konfliktlösungen und fortschrittliche Entwicklungen interessiert sind, verunsichert und tief betroffen gemacht haben. Vertrauen ist in vielfältiger Weise zerstört worden. Viele Fragen zum Geschehen bleiben offen. Mithilfe beim Wiederaufbau ist nötig, doch einfach zur Tagesordnung überzugehen, wäre völlig unangemessen. Die Perspektiven des Landes bleiben im Unklaren, neue Kämpfe sind aufgeflammt. Libyen ist ein Land mit großem kulturellem Potenzial, wie eindrucksvoll ein Besuch des hoffentlich noch erhaltenen Nationalmuseums in Tripolis zeigt.

Es sind eklatante Versäumnisse von Politik und auch Medien festzustellen. Eine frühzeitige Aufklärung über die Verhältnisse und Schwierigkeiten im Lande hat nicht stattgefunden. Konkrete, uneigennützige Hilfen, etwa im Bildungsbereich oder im humanitären Bereich wären nötig gewesen und sind auch jetzt notwendig. Die Medien - und auch Politiker - müssten endlich ihren Auftrag begreifen, die Menschen unabhängig, objektiv, kritisch und umfassend aufzuklären. Das von Fritz Erdinger herausgegebene Buch erfüllt diesen Auftrag.

Das vom Promedia-Verlag veröffentlichte Buch enthält einen Anhang mit einer Zeittafel, die UN-Resolutionen 289 aus dem Jahr 1949, die Resolution 1973 aus dem Jahr 2011 und ein Memorandum zur UN-Resolution 1973.


Fritz Erdinger (Hrsg.): Libyen, Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien (2011), 207 Seiten, 15,90 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 282 - März 2012, Seite 69
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2012