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GEGENWIND/654: 2015 - Schleswig-Holstein wird wieder zum Flüchtlingsland


Gegenwind Nr. 329 - Februar 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

FLUCHT UND ASYL
2015: Schleswig-Holstein wird wieder zum Flüchtlingsland

Von Reinhard Pohl


"Flüchtlinge" war das alles beherrschende Thema im Jahre 2015. Doch der Eindruck täuscht: Kamen von März bis Juni 1945 rund 700.000 Flüchtlinge in Schleswig-Holstein an, wurden im gesamten Jahr 2015 nur 35.096 Flüchtlinge hier aufgenommen. Zwar kamen rund 52.000 Flüchtlinge hier an, davon wurden aber über 15.000 in andere Bundesländer geschickt. 22.095 Flüchtlinge kamen aus Syrien, Irak, Iran oder Eritrea, das waren also fast zwei Drittel, die eine gute Chance auf ein Bleiberecht haben. 4.305 und damit wenig mehr als 12 Prozent kamen aus den sechs Ländern des Westbalkan, sie werden fast immer abgelehnt. Allerdings schob das "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" Anfang Januar noch 3.500 Asylanträge aus diesen sechs Ländern vor sich her.


Erstaufnahme

Zu Beginn des Jahres 2015 gab es eine Erstaufnahme für Flüchtlinge in Neumünster, die über 400 Plätze verfügte. Am Jahresende gab es 13 Erstaufnahmen und Landesunterkünfte mit zusammen 14.750 Plätzen, und drei weitere waren so weit im Aufbau, dass sie im Januar oder Februar in Betrieb genommen werden.

Das lief nicht ganz reibungslos ab. Zunächst hat das Land aus der Zeit des Kalten Krieges eine Menge jetzt leer stehender Kasernen, darauf wird in Boostedt, Glückstadt, Rendsburg, Albersdorf, Kellinghusen, Lütjenburg, Putlos und Seeth zurückgegriffen. Dann gibt es Containerdörfer in Eggebek, Kiel, Itzehoe und Lübeck, auch werden Landesunterkünfte in Kasernengebäuden teils durch benachbarte Wohncontainer erweitert, so in Neumünster, Seeth, Glückstadt oder Rendsburg.

Im September und Oktober agierte das Innenministerium und das für die Aufnahme zuständige Landesamt für Ausländerangelegenheiten sehr hektisch: Um Obdachlosigkeit zu vermeiden, wurden Quartiere in Betrieb genommen, bevor das Personal eingestellt war. So kamen Flüchtlinge nach Seeth und Albersdorf, dort wurden sie von ehrenamtlichen HelferInnen versorgt.


Kapazität und Belegung

Das Innenministerium plante und plant die Einrichtung von 25.000 Plätzen. Sobald die Einrichtungen in Eggebek, Leck und Husum in Betrieb sind, sollen nicht nur weitere Standorte gesucht werden, sondern es geht auch darum, bestehende Standorte eventuell aufzustocken.

So gab es über Weihnachten rund 15.000 Plätze, von denen aber durch schnellere Verteilung an die Kreise im November und Dezember nur rund 8.000 Plätze belegt waren. Im Januar wurden dann in der zweiten und dritten Woche mehr Flüchtlinge weiter verteilt als neue ankamen.

So bleibt die Situation in den einzelnen Landesunterkünften einigermaßen entspannt.

Zeitweise war die Erstaufnahme in Neumünster, bisher offiziell die einzige Erstaufnahmestelle, stark überbelegt - auf rund 1.900 Plätzen waren teils über 6.000 Flüchtlinge untergebracht, Flure und Gerneinschaftsräume mit Matratzen belegt. Hier sollen in der ersten Jahreshälfte 2016 deutlich weniger Flüchtlinge untergebracht werden, auch um nach und nach die alten Kasernengebäude zu renovieren. Die Erstaufnahme, die mit der Registrierung der Flüchtlinge verbunden ist, soll auf mehrere Stellen (voraussichtlich Rendsburg und Glückstadt) verteilt werden.

Die Registrierung bedeutet, dass der Asylantrag dann in Deutschland gestellt werden soll, allerdings entscheidet das EASY-Verfahren darüber, in welchem Bundesland. Außerdem wird (in der Regel erst viel später) nochmal geguckt, ob ein Zurückschicken in ein anderes europäisches Land möglich ist. Dieses Dublin-III-Verfahren betrifft vor allem Flüchtlinge, die über Italien eingereist sind.

Ein neues Thema beschäftigt die Landesregierung jetzt: Die Landesregierung in Hamburg hat sich zu spät auf die Kriege der Welt eingestellt. Außerdem gibt es dort weniger Entlastung durch "Weiterverteilung auf Kreise", weil die Stadt ja an sich selbst verteilt, in eine Folgeunterbringung nach der Erstunterbringung. Zudem sind ein paar Management-Fehler passiert, so wurden Container angeschafft, in denen dann doch keine Menschen untergebracht werden dürfen.

Jetzt hat die Hamburger Landesregierung bei den Kolleginnen und Kollegen in Kiel angefragt, ob man nicht "eigene" Flüchtlinge in schleswig-holsteinischen Einrichtungen unterbringen darf. "Im Prinzip ja", meint die Kieler Landesregierung. Das bedeutet: Man will jetzt über den Preis und die Kündigungsfrist reden.

Es kann aber dadurch passieren, dass angekündigte Termine für die Inbetriebnahme von Unterkünften oder die Mitte Januar entspannte Situation sich schnell wieder ändern können - das ist eben auch vom Kriegsverlauf im Jemen oder Syrien und vom Grenzmanagement in Mazedonien oder Österreich abhängig.


Konzepte und Qualität

Untergegangen ist in dieser Ausbauphase das Konzept, das Anfang des Jahres entstand und beim Flüchtlingskongress im Mai vorgestellt wurde.

Danach sollte die Zeit in der Erstaufnahme auf sechs bis zwölf Wochen verlängert werden. In dieser Zeit sollte allen erwachsenen Flüchtlingen ein "Willkommenskurs" mit den ersten Schritten in der deutschen Sprache, gefolgt von einer kleinen Landeskunde, angeboten werden. In dieser Zeit sollten sie einen Asylantrag stellen, so dass sie zunächst die Aufenthaltsgestattung erhalten, erst danach sollten alle auf die Kreise verteilt werden.

Die Größe der Unterkünfte wollte die Landesregierung auf 600 bis 800 beschränken, auch sollten neue Unterkünfte mit intelligenterem Grundriss in Flensburg, Kiel und Lübeck gebaut werden. Hier sollte es nicht, wie in den Kasernen, 8-Bett- oder 10-Bett-Zimmer geben, sondern Wohneinheiten mit vier oder fünf Zimmern für jeweils zwei Personen.

Die Unterkünfte sollten auf dem Uni-Gelände oder in Uni-Nähe liegen, um den vielen jungen und oft gut gebildeten Flüchtlingen gleich eine Perspektive und auch erste Kontakte zu ermöglichen.

Jetzt gibt es Unterkünfte mit bis zu 2.000 Plätzen in teils sehr kleinen Dörfern, weit weg von Beratungsstellen oder auch AnwältInnen - und zu einem großen Teil auch ohne ausreichende Verkehrsanbindung.

Allerdings bemüht sich das Innenministerium, überall Schulunterricht und Sprachunterricht für Erwachsene einzurichten, teils allerdings mit Hilfe von ehrenamtlichen Laien-Lehrern. Außerdem wird in der Unterkunft Kellinghusen ein "Geburtshaus" eingerichtet, in das Schwangere ab dem 7. Monat einziehen sollen, um dort dann auch später die ersten Wochen mit dem Baby zu leben. Dort gibt es Räume für Ehepaare, auch "Appartments" für größere Familien, außerdem mehrere Gemeinschaftsräume, in denen Eltern und Baby auch mal alleine sein können.

Aber es gab auch deutliche Fehlgriffe: In Itzehoe wurde der Druckraum einer in Konkurs gegangenen Druckerei zum "Flüchtlingswohnsaal" umgebaut. Abgesehen davon, dass das auf Dauer wegen der fehlenden Notausgänge nicht geht, führt eine solche Konstruktion auch zu vielen Spannungen. Diese 1000-Plätze-Unterkunft wurde im Dezember komplett geräumt, jetzt sollen Container auf dem Außengelände aufgestellt werden, die Halle als Essenraum und für sportliche Aktivitäten hergerichtet werden.

So gibt es Unterkünfte, die innen akzeptabel sind, denen aber die Verkehrsanbindung fehlt. Andere liegen etwas zentraler, haben aber nicht die richtige Architektur. Im Jahre 2015 war die Eile, mit der Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf brauchten, eine akzeptable Entschuldigung dafür.

Jetzt wäre es wichtig, nicht vordringlich Container auf das verlassene Flugfeld in Leck zu stellen, sondern die angedachten Unterkünfte in Flensburg, Kiel und Lübeck zügig zu bauen und sich zusätzlich nach Möglichkeiten in gut erschlossenen Städten mit ausreichender Verkehrsanbindung, z.B. in Bad Segeberg oder im Kreis Pinneberg, umzusehen.

Aber auch das Asylverfahren selbst, das nach dem Wunsch des Kieler Innenministers während der ersten Wochen in der Erstaufnahme stattfinden soll, zumindest mit der Anhörung starten soll, funktioniert nach wie vor überhaupt nicht. Nur eine Minderheit der Flüchtlinge, die im Jahre 2015 eingetroffen ist, bekam überhaupt Gelegenheit, den Asylantrag zu stellen und weit weniger wurden zu den Gründen angehört. Für das nächste Jahr stehen so viele Flüchtlinge aus dem Jahre 2015 in der Warteschlange, dass für die 2016 eintreffenden Flüchtlinge noch nicht absehbar ist, ob sie überhaupt innerhalb von 12 Monaten einen Asylantrag stellen dürfen - das Ziel, dies innerhalb von 12 Wochen zu schaffen, liegt noch in sehr weiter Ferne.

Kurz nach dem Inkrafttreten des "Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes" Ende Oktober, das nichts beschleunigt, nur die Rechte von Flüchtlinge einschränkt, hat überdies die Innenministerkonferenz beschlossen, das "beschleunigte Verfahren" für Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und die meisten Flüchtlinge aus dem Irak abzuschaffen und zum langsamen Asylverfahren für alle zurückzukehren. Für die meisten wird das eine um sechs Monate verlängerte Wartezeit für ihren Asylantrag bedeuten - und damit hohe Kosten für Bund, Länder und Gemeinden, die die Flüchtlinge unterbringen und versorgen, ohne dass diese einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten und damit in Sprachkurse und Arbeitsmarkt einsteigen können.

Von den Entscheidungen 2015 wurden immerhin 71 % in "beschleunigten Verfahren" getroffen und nur 29 % in normalen Verfahren.


Flüchtlinge 2015

Die Flüchtlinge kamen im Jahre 2015 vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak, Albanien, Eritrea und Iran. Die Zusammensetzung nach Herkunftsländern weicht in allen Bundesländern, so auch in Schleswig-Holstein, von der Zusammensetzung bundesweit ab, weil regional bestimmte Gruppen Landsleuten helfen. Außerdem werden bestimmte Herkunftsländer, aus denen weniger Flüchtlinge kommen, nur in bestimmten Bundesländern angehört.

So gibt es in Schleswig-Holstein, untypisch für andere Bundesländer, relativ viele Flüchtlinge aus Armenien und aus dem Jemen. Der Jemen wird bisher nur in Schleswig-Holstein bearbeitet, so dass hier alle Flüchtlinge aus diesem Herkunftsland in den echten Norden weitergeschickt werden. Die Zahl hat sich in den letzten zwei Jahren mindestens verzehnfacht, ist allerdings noch immer sehr niedrig.

Die Zahl der alleinreisenden Männer, die meisten kommen aus Ländern, in denen vor allem junge Männer zu staatlichen Streitkräften oder Milizen eingezogen und sofort in einen Konflikt geworfen werden, ist von rund zwei Drittel Anfang des Jahres bis zum Jahresende etwas zurückgegangen - zur Zeit kommen mehr Familien mit Kindern als noch vor Monaten. Das kann ein Anzeichen dafür sein, dass die Situation in Herkunftsländern und grenznahen Flüchtlingslagern sich verschärft hat, es kann ebenso sein, dass sich die erheblichen Verzögerungen der Asylverfahren und geplante Verschärfungen herumsprechen. Der Familiennachzug ist erst nach einer Anerkennung möglich, und auch nach der Anerkennung können noch ein- bis eineinhalb Jahre vergehen, bis Termine zur Antragstellung zur Verfügung stehen und notwendige Papiere besorgt und überprüft sind. Außerdem will die Berliner Regierung den Familiennachzug einschränken.


Stimmung 2016

Obwohl Anfang 2016 mehr als doppelt soviele Flüchtlinge kommen wie Anfang 2015, gibt es darüber keine Diskussion. Diskussionen werden außerhalb der Helfer-Szene geführt: Wer noch nie in einem Flüchtlingsheim geholfen hat, weiß jetzt nach der Berichterstattung über Sylvester in Köln ganz genau, wie es innerhalb der Unterkunft aussehen muss - und findet damit gleich die Bestätigung, dass jede Unterstützung von Flüchtlingen falsch ist, insbesondere die mit einem eigenen Einsatz.

Diejenigen, die schon lange persönlichen Kontakt mit Flüchtlingen haben, kennen dagegen die Mischung: Viele Flüchtlinge haben große Strapazen und auch Lebensgefahr auf sich genommen, um ein Land zu erreichen, in dem sie eine neue Zukunft aufbauen können, und warten ungeduldig auf die Bearbeitung ihres Antrages und erste Möglichkeiten, die Sprache zu lernen. Andere erkennen, dass ihre Hoffnung trog und sie hier keine neue Chance erhalten, einige davon lassen ihren Frust an Einrichtungsgegenständen im Wohnheim und, seltener, an anderen Menschen aus. Soweit die Polizei eingreifen muss, findet sie häufig Flüchtlinge ebenso als Opfer wie als Täter, weil sich Diebstähle und Schlägereien meistens innerhalb der Unterkünfte abspielen.

Und wer Flüchtlinge näher kennt, weiß seit spätestens dem 4. Januar, dass Menschen aus Syrien oder Afghanistan genauso angeekelt sind von sexuellen Übergriffen wie Menschen aus Holland oder Dänemark.


Ethnische Zuschreibungen

Im Jahre 2015 gab es eine auffallend hohe Zahl von Versuchen, die große Zahl der Flüchtlinge in "gute Flüchtlinge" und "schlechte Flüchtlinge" einzuteilen. Dieses geschah vor allem im Zusammenhang mit sich anschließenden Forderungen oder Versprechen, mit einer bestimmten "Gruppe von Flüchtlingen" schneller fertig zu werden.

Im Großen und Ganzen positiv wurden die syrischen Flüchtlinge dargestellt, weil sie aus einem Krieg kommen, der fast täglich im Fernsehen gezeigt wird. Sie galten überwiegend als "echte" Flüchtlinge - hier gab es auch am meisten Forderungen, sie ohne große Bürokratie anzuerkennen und zu integrieren, z.B. durch Sprachkurse. Das gelang teilweise durch die schriftlichen Verfahren und durch die Vorab-Zulassung in die Integrationskurse, auch wenn wegen der fehlenden Plätze nur wenige davon profitieren konnten. Das Bild wurde gestört durch die Kampagne von Innenminister Thomas de Maiziere gegen "falsche Syrer": Er unterstellte zeitweise rund 30 Prozent der Flüchtlinge, mit gefälschter Identität hier zu sein, es würde sich bei ihnen in Wirklichkeit um Antragsteller aus Nachbarländern handeln. Zwar gab das BKA bekannt, es gäbe vom BAMF gemeldete 119 "Verdachtsfälle", was eben nicht 30 %, sondern 0,07 % sind - solche Feinheiten haben den Innenminister aber noch nie beeindrucken können.

Negativ war das Bild der "Balkan-Flüchtlinge": Zunächst ist anzumerken, dass es sich vor allem um Angehörige diskriminierter Minderheiten handelt, aber aus Staaten, die teils "Beitrittskandidaten" der EU sind, teils in nächster Zeit dazu werden sollen. Da stört eine anerkannte Verfolgung das Bild. So wurde ihnen entweder etwas zurückhanltend eine "Diskriminierung unterhalb der Schwelle zur Verfolgung" attestiert, teilweise wurden sie einfach als "Wirtschaftsflüchtlinge" abgetan. Immerhin führte die Kampagne ebenso wie die tatsächlichen Ablehnungszahlen dazu, dass kaum noch neue Flüchtlinge aus den sechs Ländern kommen. Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass der Begriff "Jugoslawien-Flüchtlinge" aus den 90er Jahren jetzt zu "Balkan-Flüchtlingen" wurde: "Balkan" klingt einfach weniger respektvoll.

Interessant der Umgang mit Afghanistan: Seit dem Herbst 2015 kam mehrfach die Idee auf, man könnte hier doch die Organisation von Abschiebungen angehen. Zwar gibt es vergleichsweise wenig Flüchtlinge, die wirklich abgelehnt sind und keine andere Bleibeperspektive haben. Insofern war es eine Kampagne für das Publikum, um Handlungsfähigkeit angesichts großer Zahlen vorzutäuschen. Afghanische Flüchtlinge selbst wurden allerdings ganz massiv verunsichert und in Panik versetzt. Übrigens: Wenn man die Dublin-Fälle aus der Gesamtzahl der Entscheidungen rausrechnet, werden rund 80 % der Flüchtlinge aus Afghanistan vom Bundesamt anerkannt, und von den Abgelehnten erhalten viele nach einer Klage zumindest noch einen Abschiebungsschutz und damit zumindest einen Einstieg in ein Bleiberecht.

Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es lustig: Auch in Griechenland und Mazedonien gibt es eine solche Ethnisierung, eine pauschale Aufspaltung der Flüchtlinge in gute und schlechte. Nur umgekehrt: Flüchtlinge aus dem Iran, die in Deutschland als "echte" Flüchtlinge schon während des Asylverfahrens in Integrationskurse dürfen, werden dort als "Wirtschaftsflüchtlinge" an der Grenze gestoppt und müssen sich abseits der Straßen rüberschleichen. Dagegen gelten Afghanen, denen in Deutschland zumindest medial die mögliche Abschiebung angekündigt wird, dort als "echte" Flüchtlinge, die ganz offiziell von Griechenland nach Mazedonien dürfen, wenn sie angeben, in Österreich, Deutschland oder Schweden Asyl beantragen zu wollen.

Allerdings ist auch diese Diskussion eine, die im Wesentlichen diejenigen führen, die keinen persönlichen Kontakt zu Flüchtlingen haben. Wer selbst einzelne Flüchtlinge oder Familien aus Albanien, Syrien, Afghanistan oder Tschetschenien kennt, bemerkt sofort, dass Klischees im Alltag nicht anwendbar sind und nicht weiterhelfen.


Abschiebungen

Mit der Zahl der Flüchtlinge ist auch die Zahl der Abschiebungen erheblich gestiegen.

Bundesweit sind die Länder Kosovo, Serbien, Mazedonien, Albanien, Bosnien und Russland die Hauptzielländer der Abschiebungen. Dabei geht das grün regierte Baden-Württemberg am härtesten vor: 7,1 Abschiebungen auf 100 Asylanträge im ersten Halbjahr 2015. Schleswig- Holstein schob dagegen in diesem Zeitraum nur 1,8 Menschen auf 100 Asylanträge ab, im gesamten Jahr 2015 waren das 322 Personen. Dazu reisten wohl über 1.000 AsylbewerberInnen selbst aus, entweder nach Ablehnung oder nach der Erkenntnis, dass die Chancen gleich Null sind - genau weiß es niemand, weil es im Schengen-Raum keine Ausreisekontrollen gibt.

Diese Zahl sollte eigentlich 2016 steigen, so der erklärte Wille von Bund und Ländern. Allerdings hat die CSU den Innenpolitikern einen Strich durch die Rechnung gemacht: Seit dem Oktober 2015 ("Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz") sollen oder dürfen Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden. Erhielten in Schleswig-Holstein bisher solche, die sich mutmaßlich fügen, einen Brief, der sie aufforderte am Tag der Abschiebung im Landesamt in Neumünster oder am Flughafen Hamburg zu erscheinen, müssen jetzt alle einzeln von der Polizei überrascht und zu Hause abgeholt werden. Das dürfte die Zahl der Abschiebungen doch eher senken, zumindest sind größere Aktionen nur möglich, wenn andere Bereiche gekürzt werden. So hat die Landespolizei schon den letzten "Blitz-Marathon" abgesagt.

Für die meisten Abschiebungen stellt sich ohnehin die Organisation der Papiere als größtes Problem für die Verwaltung heraus. Länder wie Russland, Armenien oder Marokko reagieren auf viele Wünsche von Ausländerbehörden einfach nicht, auch weil große Teile der Familien auf die Rücküberweisungen hier lebender meist junger Männer angewiesen sind und der Staat einige Devisen dabei abschöpft.


Härtefallkommision

Die Härtefallkommission mit ihrer Geschäftsstelle im Innenministerium kann in Einzelfällen Menschen, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, zu einer Aufenthaltserlaubnis verhelfen. Sie sieht sich einzelne Personen oder Familien an und stellt, wenn sie lange hier leben und gut integriert sind, einen Antrag beim Innenminister. Dieser hat mehrfach, zuletzt Mitte Januar 2016 versichert, dass er diesen Anträgen hundertprozentig folgt.

Im Jahre 2014 wandten sich 18 Personen (15 Fälle) an die Kommission, in 11 Fällen (13 Personen) stellte sie einen Härtefallantrag an den Innenminister, denen dieser folgte.

Im Jahre 2015 bearbeitete die Kommission 25 Fälle (33 Personen), in 20 Fällen (24 Personen) stellte die Kornmission den Antrag, der Innenminister gab allen 24 Personen ein Aufenthaltsrecht.

Im Jahre 2016 liegen, obwohl der Januar kaum vorbei ist, schon 35 neue Anfragen bei der Härtefallkommission vor. Es wird also ein arbeitsreiches Jahr für das Gremium, dem Wohlfahrtsverbände, der Flüchtlingsrat, aber auch Ausländerbehörden angehören.


Perspektive 2016

Im Januar 2016 kamen, wie gesagt, ungefähr so viele Flüchtlinge, wie es dem Durchschnitt 2015 entsprach: rund 100 pro Tag. Das sind aber mehr als doppelt so viele wie im Januar 2015. Doch es hat sich gerade 2015 gezeigt, dass es keine sichere Möglichkeit einer Prognose gibt. Festhalten kann man nur, dass Land, Kreise und Gemeinden weitaus besser auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet sind als im Januar 2015, weshalb auch die Aufnahme und Unterbringung relativ geräuschlos funktioniert.

Mitte Januar äußerte Ministerpräsident Torsten Albig, Schleswig-Holstein müsste sich auf eine Verdoppelung der Flüchtlingszahlen einstellen. Das hieße, dass rund 2 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, rund 70.000 nach Schleswig-Holstein. 2015 sind ja auch viele nach Skandinavien weitergereist, was vermutlich in diesem Ausmaß nicht mehr möglich ist.

Schaut man auf die Herkunftsländer, ist diese Prognose realistisch:

In Syrien fliehen nach wie vor die meisten Menschen vor der Luftwaffe der Regierung. Diese schien im Sommer 2015 an Stärke zu verlieren, die Armee war zu Operationen überhaupt nicht mehr in der Lage. Durch die russische Unterstützung ist die Regierung und ihre Truppen wieder handlungsfähig geworden. Flüchtlinge in den Nachbarländern verlieren dadurch mehr und mehr die Hoffnung, es könnte in absehbarer Zukunft eine Lösung geben, die nicht nur zu einem Schweigen der Waffen, sondern auch zum Wiederaufbau von notwendigen Strukturen bei der Gesundheitsversorgung und Bildung führt. So verlassen jetzt viele Menschen nicht nur ihren Heimatort oder ihr Heimatland, sondern auch die Region.

Im Irak gibt es keine Aussichten, dass die schiitischen, sunnitischen und kurdischen Landesteile wieder zu einem Staat zusammenwachsen. Wo kurdische Truppen Land vom IS zurückgewinnen, werden arabische Flüchtlinge an der Rückkehr gehindert. Wo Regierungstruppen Land vom IS zurückgewinnen, richten sich die Racheakte schiitischer Milizen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung. Insbesondere Angehörigen von Minderheiten bleibt nichts als die Flucht, mangels Alternativen vor allem nach Europa.

In Afghanistan verstärkt sich der Krieg, nachdem die internationalen Truppen abgezogen sind und "nur" ein Ausbildungseinsatz bleibt. Aber auch viele Betriebe hingen von den Aufträgen der internationalen Truppen ab, es gibt nicht nur Kriegsopfer, sondern auch Hunderttausende neuer Arbeitsloser. Die hohe Anerkennungsquote im Asylverfahren in Deutschland zeigt, dass diese Einschätzung rechtlich zweifelsfrei ist - nur medial wird versucht, den Bundeswehr-Einsatz nachträglich zu retten.

Im Iran ist die Situation nicht klar. Die Aufhebung der Sanktionen wird bei vielen, denen es zur Zeit wirtschaftlich schlecht geht, die Hoffnung nähren, es könnte im Land zumindest wirtschaftlich bergauf gehen. Aber wenn ein solcher Aufschwung tatsächlich passieren sollte, werden gerade Jugendliche auch mehr pesönliche Freiheiten fordern - oder eben doch wieder versuchen, das Land zu verlassen.

Im Jemen dauert der Krieg an. Der kurze Waffenstillstand im Dezember wurde nach den Massenhinrichtungen in Saudi-Arabien von einer neuen Konfrontation zwischen dieser selbsternannten Führungsmacht des sunnitischen Islam mit dem Iran abgelöst. Während dieser Konflikt diplomatisch, mit dem Abbruch der Beziehungen, ausgetragen wurde, wird er in Syrien, aber vor allem im Jemen sofort wieder zum heißen Krieg. Das Land wird bombardiert und durch die Seeblockade ausgehungert. Die Bevölkerung scheint zu arm, um in großer Zahl nach Europa fliehen zu können - aber je länger der Krieg dauert, je weniger Perspektiven für eine Zukunft es gibt, desto mehr Menschen werden Mittel und Wege finden.

In Eritrea ist keine Änderung der Diktatur in Sicht. Zwar ist die teilweise Lockerung der lebenslangen Dienstpflicht angekündigt, aber vielen fehlt der Glaube. Und je mehr Flüchtlinge Deutschland erreichen und hier Schutz finden, und die Anerkennungsquote ist angesichts der Situation in Eritrea bei nahezu 100 Prozent angelangt, desto mehr Nachrichten darüber verbreiten sich auch in Eritrea oder den Transitländern Äthiopien, Sudan oder Ägypten, wo sich Flüchtlinge aus Eritrea nur begrenzte Zeit durchschlagen können. Immer mehr hoffen, in Deutschland auf bereits hilfreiche Landsleute zu treffen, die die ersten Schritte im fremden Land unterstützen. Und so soll es ja auch sein.

Somalia wird auf absehbare Zeit keine staatliche Ordnung erreichen, die große Mehrheit der Bevölkerung hat auf längere Sicht nur die Wahl zwischen Tod und Flucht. Hier zeigt sich seit Jahren, dass die zweifellos verbreitete Armut eine Flucht nach Europa zwar schwer, aber nicht unmöglich macht. Wem das Leben nichts anderes zu bieten hat als einen baldigen Tod, fürchtet auch die Überfahrt über das Mittelmeer nicht, selbst wenn die eigenen Mittel nur für den billigsten Seelenverkäufer reichen. Auffällig ist, wie aufmerksam die hiesige Exilszene jede Nachricht von Rettungsaktionen der Bundesmarine verfolgt. Man ahnt nicht nur, man weiß, dass das für viele die einzige realistische Chance ist.

In Armenien ist die Enttäuschung über die gescheiterte Assoziierung mit der EU groß, von der sich viele das spätere visumfreie Reisen versprochen hatten. Dass Russland das gleichzeitig mit der entsprechenden Einflussnahme auf die Ukraine erzwungen hat, wird weitaus weniger als in der Ukraine kritisiert. Dort führte es zum Regierungssturz, in Armenien nur zu schwachen Protesten. Denn Armenien ist offiziell im Kriegszustand mit dem achtfach überlegenen Nachbarn Aserbaidschan und kann es sich nicht erlauben, auf den militärischen Schutz Russlands zu verzichten - auch wenn die Kosten hoch sind. So suchen sich viele individuell eine Zukunft in Europa. Der Asylantrag führt selten zum Erfolg, höchstens zu einem Abschiebungsschutz. Zur Zeit ändert der Präsident die Verfassung relativ willkürlich, um die eigene Macht durch Umgehung des Wiederwahlverbots zu erhalten - Demokratie fühlt sich anders an.

Die sechs Staaten zwischen Kroatien und Griechenland haben seit dem 1. Januar ein neues Angebot: Staatsangehörige aus Serbien, Mazedonien, Albanien, Bosnien und Montenegro dürfen sich hier als Besucher einen Arbeitsplatz suchen, um nach der Rückkehr nach Hause ein Visum zu beantragen. Kosovaren haben es nicht so leicht, sie sind die einzigen, die auch für die Arbeitsplatzsuche ein Visum brauchen und von der deutschen Botschaft auf die Online-Suche verwiesen werden. Ob diese Möglichkeit als Ventil funktioniert, um Asylanträge zu verhindern, muss sich erst noch herausstellen. Falls viele Anträge auf eine Arbeitserlaubnis und ein Visum abgelehnt werden, werden viele zur "1. Möglichkeit" zurückkehren. Für diese ist die Nachricht, dass das Bundesamt nicht nur Monate, sondern teils Jahre für eine Entscheidung braucht, eher eine gute Nachricht.

Wenn man sich darüber hinaus die Situation in der Türkei, vor allem dem Südosten, in Russland, vor allem im Nordkaukasus, in Nigeria, China, Ägypten und so weiter ansieht, dann spricht wenig dafür, dass die Zahl der Flüchtlinge abnimmt, dagegen viel dafür, dass sie weiter zunimmt. Ob mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, hängt dann wieder vom "Grenzmanagement" ab. Dabei täuschen sich die Befürworter von Grenzkontrollen allerdings über die wirklichen Wirkungen: Flüchtlinge lassen sich davon nicht abhalten, aber der Binnenhandel kann erheblich teurer werden. Dennoch ist zu befürchten, dass die Ideologie die Entscheidungen mehr prägen wird als Vernunft, haben wir doch zwei Wahljahre vor uns.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 329 - Februar 2016, Seite 4-11
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2016

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