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GEGENWIND/746: Buchvorstellung - "Balkan" oder Südosteuropa?


Gegenwind Nr. 354 - März 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Buchvorstellung
"Balkan" oder Südosteuropa?

von Reinhard Pohl


Allein 13 Seiten umfasst das Inhaltsverzeichnis dieses umfangreichen Buches über Südosteuropa, auch "Balkan" genannt. Dabei werden die letzten 1000 Jahre behandelt. Es geht um den Raum zwischen Ungarn und Rumänien / Moldavien und der Küste, zwischen Slowenien und Griechenland. Die heutigen Staaten gibt es erst seit kaum 20 Jahren, die meiste Zeit gehörten die dort lebenden Menschen zu Großreichen wie Österreich-Ungarn, dem Reich von Byzanz und später dem Osmanischen Reich, nach dem ersten Weltkrieg wurden alle mit anderen Grenzen als heute selbstständig, teils waren sie es schon vorher.


Das Buch behandelt die Ereignisse und die Gesellschaftsstrukturen in Dutzenden von Kapiteln, die von verschiedenen Historikern mehrerer Universitäten geschrieben wurden, die das Werk gemeinsam herausgeben. Unterbrechen werden die Darstellungen einzelner Länder, Völker und Epochen von "Querschnitten": Die Querschnitte nehmen die Situation im gesamten Raum im Jahre 900, 1200, 1500, 1800 und 2008 auf, um immer wieder eine allgemeine Übersicht über Machtverhältnisse, Herrschaft und Bevölkerungsentwicklung zu ermöglichen.

Die Geschichte ist hoch umstritten, mündete immer wieder in Kriege und Aufstände. Immer wieder gab es auch Vertreibungen und Massenflucht, Migration und Bevölkerungsaustausch. Dabei wurden aber die Zugehörigkeiten der Menschen in den verschiedenen Jahrhunderten auch sehr verschieden definiert. Heute wird von Ungarn, Kroaten, Serben, Griechen, Albanern, Bulgaren, Mazedoniern, Rumänen und so weiter gesprochen. In früheren Jahrhunderten war von Vlachen, Römern und Lateinern, Orthodoxen und Muslimen die Rede - und "Türken" und "Griechen" waren anders als national definiert. Mal gab die Religion den Ausschlag, mal die Sprache, mal die Abstammung.

Heute legen die meisten Nationen und ihre historischen Einrichtungen Wert darauf, wer "früher" und wer "später" in irgend einem Gebiet siedelte, wer die "ursprüngliche" und wer die "eingewanderte" Bevölkerung ist. Das Grundproblem ist, dass es erstens niemand weiß, zweitens haben sich die Definitionen grundlegend geändert.

Besonderes Interesse widmen die Autoren der (fiktiven) Grenze zwischen dem "westlichen" und dem "östlichen" Einfluss: Rom und Byzanz teilte das römische Reich quer durch Südosteuropa, ungefähr auf der Linie, wo sich heute auch die slawischen Einwanderer in (katholische) Kroaten und (orthodoxe) Serben unterscheiden. In diesem Raum verlief später die Grenze zwischen Österreich und Osmanischem Reich, die zwei verschiedene Systeme darstellten. Hier verläuft heute auch die Grenze zwischen EU-Mitgliedern und EU-Beitrittskandidaten, eine Ausnahme ist das heutige Griechenland, das sich relativ früh aus dem Osmanischen Reich gelöst hat.

Es war nie eine feste Grenze, aber die Einflüsse aus Wien und Konstantinopel sorgten für sehr unterschiedliche Einflüsse, unterschiedliche Staatsgliederungen und unterschiedliche Bildungssysteme. So entstanden allgemeinbildende Schulen im Osmanischen Reich sehr spät, im Wesentlichen erst als Reaktion auf die Schulen, die fremde Mächte im Osmanischen Reich für die eigenen Einwohner und Minderheiten gründeten und später für Kinder der osmanischen Oberschicht öffnete. Die Autoren dieses Sammelwerkes veröffentlichen verschiedene Statistiken zu relativ hohen Analphabetenraten zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Norden und Süden des Balkan, die bis heute dafür sorgen, dass die südlichen Länder ab der Grenze Serbien - Montenegro es schwerer haben, mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung Zentraleuropas Schritt zu halten.

Die Autoren beschreiben aber auch ausführlich die Einflüsse von Großmächten und anderen Ländern auf die Völker und entstehenden Staaten des Balkan. Als die Bindungskraft von Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich schwächer wurden, mischten sich erst Russland als "Schutzmacht" der orthodoxen Bevölkerung, später Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und andere ein. Fast alle heute bestehenden Grenzen wurden nicht von Repräsentanten der dort lebenden Bevölkerung, Repräsentantinnen schon gar nicht gezogen, sondern von fremden Mächten - größtenteils offen über die Köpfe der dort lebenden Völker und Regierungen hinweg. Stellvertretend dafür steht hier die "Berliner Konferenz" 1878. Dort wurde auch darüber diskutiert, welche Völker überhaupt wirklich existieren, das war keineswegs klar (und ist bis heute eine Konstruktion). Rumänen beriefen sich auf Vlachen, das war aber im Osmanischen Reich kein Volk, sondern eine Steuerklasse für Hirten. Die Griechen beriefen sich auf die Antike, die Bevölkerung Griechenlands war aber durch mehrere Seuchen (vor allem die Pest) fast völlig ausgestorben und bestand aus Einwanderern, meist albanisch oder slawisch, die seit der Unabhängigkeit griechisch gelernt hatten und zum orthodoxen Christentum bekehrt worden waren. Ob es Albaner gab, war umstritten: In Istanbul gab es eine albanische Nationalbewegung, auf dem Balkan nicht, hier gab es nur Bewegungen von Tosken und Gegen (die heute als "Albaner" bezeichnet werden), außerdem existierte die Selbstbezeichnung "Skipetaren", in Deutschland bekannt durch Karl May. Die Existenz von Bosniern wurde damals nicht diskutiert, das geschah erst achtzig Jahre später im Jugoslawien von Tito.

Die von ausländischen Mächten festgelegten Grenzen, die Einsetzung von "Königen" in den neu geschaffenen Staaten, vor allem aus Deutschland, und darauf folgende Kriege führten nicht nur zur Korrektur zahlreicher Grenzen, sondern auch zu großen Vertreibungen von Bevölkerung, die als "eingewandert" definiert wurde. Bis in die heutige Zeit werden bulgarische Muslime als "Türken" und serbische Muslime wahlweise als "Türken", "Albaner" oder "Bosnier" bezeichnet, es gibt bis heute einflussreiche Gruppen, die anderen Gruppen ein Recht auf bestimmte Gebiete absprechen.

Wer die über 800 Seiten schafft, hat aber einen deutlich besseren Durchblick auch bei heutigen Streitthemen, so zwischen Serbien und Kosova, Albanien und Mazedonien, Bulgarien und Türkei, Griechenland und Mazedonien und vielen mehr.


Konrad Clewing, Oliver Jens Schmitt (Hg.):
Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart.

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2011, 839 Seiten, 39,95 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 354 - März 2018, Seite 70 - 71
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2018

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