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GEGENWIND/750: Buchvorstellung - Botschafterin der Frauen


Gegenwind Nr. 355 - April 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Buchvorstellung
Botschafterin der Frauen

von Reinhard Pohl


Im August 2014 griff der "Islamische Staat" von Mossul aus die Provinz Sindschar im Norden des Irak an. Das erklärte Ziel war die Ausrottung der Jesiden. Zehntausende starben, etliche tausend Frauen wurden entführt und versklavt. Unter ihnen war auch Nadia Murad, die hier ihre Erlebnisse schildert.


Es passiert leider nicht oft, aber manchmal wählt eine Regierung in Deutschland die einfachste und zugleich die beste Lösung. Im Falle der entführten jesidischen Frauen war es die Landesregierung Baden-Württemberg, die entschied, tausend befreite und entkommene Frauen aufzunehmen. Sie musste sich nicht erst einen Platz im Schlauchboot erkaufen, sondern wurden mit Charterflugzeugen abgeholt.

Unter diesen Frauen war Nadia Murad. Und ihr weiteres Leben in Deutschland verlief erstaunlich, so wie ihr Leben vorher in eine Katastrophe gemündet war.

Nadia Murad lebte in Kocho, einem Ort südlich von Sindschar, umgeben von arabisch bewohnten Orten. Sie bekam relativ wenig mit von der Welt, eine Fahrt auf der Ladefläche eines LKW in die Stadt Sindschar gehörte zu den Höhepunkten der ersten 19 Jahre. Eigentlich lebte sie immer in Kocho und meinte auch, ihr gesamten Leben dort zu verbringen. In den ersten Kapiteln des Buches schildert sie ihr Leben im Ort als jüngste Tochter ihres Vaters, der sich später von der Mutter trennte, um eine, jüngere Frau zu heiraten, aber wenige Häuser entfernt mit seiner neuen Familie einzog. Ein älterer Bruder versuchte schon mal, nach Deutschland zu kommen, landete aber als Abgeschobener ohne Geld wieder in Kocho. Man wusste also, dass anderswo auf der Welt das Leben besser sein konnte, hatte aber selbst keine Möglichkeiten.

Die Ankunft des "Islamischen Staates" erst in Mossul, dann in der Nachbarschaft schildert sie so, wie sie es damals erlebte. Es war bedrohlich. Aber man hatte zu den arabischen Nachbarorten ein gutes Verhältnis. Man hörte von den Verbrechen der Miliz, glaubte aber, einem selbst würde sicherlich schon nichts passieren. Auch waren KDP-Peshmerga im Ort, die zu? sicherten, Kocho wäre sicher und würde weder von den kurdischen Streitkräften noch von den Verbündeten aus den USA im Stich gelassen.

Und dann, mit dem 3. August 2014, waren die IS-Milizen plötzlich da. Bei den Jesiden gilt dieser Tag als Tag des Genozids, aber in Kocho geschah - nichts. Die IS-Miliz patrouillierte durch die Straßen, die Menschen blieben im Haus, die Familien sammelten sich. Wer Strom fürs Handy hatte, hörte von Massakern, von der Versklavung von Frauen, Von Zehntausenden Flüchtlingen im Gebirge. Aber man redete sich gegenseitig gut zu: Uns Wird nichts passieren. Die Peshmerga waren über Nacht abgehauen, man suchte also per Telefon Hilfe bei den arabischen Nachbarn, die aber ablehnten.

Und dann gab es eine Versammlung: Der IS-Kommandant wollte eine Entscheidung. Konversion zum Islam, oder Deportation ins Gebirge. Das Dorf entschied sich für die Deportation ins Gebirge. Sie wurden getrennt, Männer auf den ersten LKW, Frauen und Kinder dahinter, und in eine Schule gebracht. Dort waren die Frauen mit den Kindern alleine, und hörten Gewehr-Salven. Eigentlich wussten alle Bescheid, dennoch hoffen sie, es habe andere getroffen. Die Autorin schreibt aber klar: Es waren ihre Väter, ihre Brüder, die dort starben, alle Männer aus Kocho waren innerhalb weniger Minuten tot.

Die Frauen wurden dann Richtung Mossul transportiert, vorher sortiert und getrennt: Die älteren wurden abgetrennt - wie Nadia Murad später erfuhr, dann auch getötet, darunter war ihre Mutter. Nur die jüngeren und vor allem die schönen wurden nach Mossul gebracht. Auf dem Weg, die jungen Frauen saßen im Bus, erfuhren sie ganz direkt, wer sie jetzt waren: Der Milizionär, der sie bewachte, ging im Bus auf und ab, griff dieser zwischen die Beine, jener an die Brüste. Als Nadia sich wehrt, ist sie fällig: Jetzt fasst er ihre Brüste beim Auf- und Abgehen jedes Mal an, wenn er bei ihr vorbeikommt. Und als sie sich bei einem Halt beschwert, wird sie verprügelt.

Später landet sie in einem Lager für Sklavinnen in Mossul, wird besichtigt und verkauft, später weiter verkauft Zeitweise wird sie in einem Kontrollposten für vorbeikommende Milizen bereit gehalten, dann wieder ist sie in einem privaten Haushalt. Zwischendurch trifft sie andere, erfährt etwas über Freundinnen und Familienmitglieder - größtenteils nur Gerüchte, sie wären tot, sie wären in Syrien, sie wären auch in Mossul.

Nur in Andeutungen beschreibt sie die täglichen Vergewaltigungen. Ausführlicher beschreibt sie ihr Verhalten: Die Anpassung an die Herren und Aufseher, ihren Gehorsam sich verführerisch anzuziehen und zu schminken, während andere sich selbst verletzten oder von Dach sprangen.

Festgehalten wird sie eigentlich kaum, oft wird nur die Haustür abgeschlossen. Festgehalten wird sie einerseits durch Drohungen: Wenn eine Sklavin wegläuft, bekommen alle Kontrollpunkte ein Foto, halten sie fest und liefern sie zur Bestrafung zurück. Und festgehalten wird sie von der Angst: Schiiten und Christen sind aus der Stadt geflohen, Jesiden lebten dort kaum - an wen soll sie sich wenden? Sie trifft auch Sklavinnen, die entkommen sind und dann von irgendwelchen Passanten festgehalten wurden, bis jemand von der IS-Miliz vorbeikam. Was soll sie also tun?

Schließlich nutzt sie doch eine Gelegenheit, als ihr neuer Herr weg ist, klettert aus dem Fenster. Im schwarzen Umhang, der nur die Augen frei lässt, ist sie in den Straßen nicht erkennbar und nicht von anderen Frauen, vor allem einheimischen sunnitischen Frauen zu unterscheiden. Doch scheint die Flucht aussichtslos, denn sie ist alleine (was im "Islamischen Staat" allen Frauen verboten ist), und sie kennt niemanden. Außerdem kennt sie sich in der zweitgrößten Stadt des Irak nicht aus. Nach langem Herumirren klopft sie schließlich an irgendeine Tür irgendeiner Wohnung und bittet um Hilfe. Und siehe da: Sie darf hereinkommen. Und die Familie entschließt sich, ihr zu helfen. Unter Gefahr für das eigene Leben organisiert der Sohn einen falschen Pass und bringt sie als eigene Ehefrau nach Kirkuk, damals kurdisch und von PUK-Peshmerga kontrolliert. Der Taxifahrer ist ahnungslos, die Kontrollen werden mehr oder weniger gefahrfrei passiert. Direkt an der Front, kurz vor Kirkuk, muss das Taxi umkehren, und sie gehen zu Fuß vom IS-Kontrollpunkt zum PUK-Kontrollpunkt. Dort kommen sie nicht mit den falschen Papieren, aber durch telefonische Fürsprache eines kurdischen Freundes aus Dohnk rüber.

Erst nach einigen Tagen wenden sie sich an die PUK-Verantwortlichen und erzählen die Wahrheit: Ein sunnitischer Araber hat gerade einer jesidischen Sklavin geholfen, dem "Islamischen Staat" zu entkommen. Die PUK-Verantwortlichen sind elektrisiert, sofort werden beide zur Führung gebracht, um alles haarklein zu erzählen - vor einer Fernsehkamera, aber nur zum internen Gebrauch für den kurdischen Geheimdienst. Tage später der Schock: Das Video ist im Internet, nur der arabische Fluchthelfer ist verpixelt - und dennoch in Lebensgefahr, denn er will unbedingt zu seiner Familie nach Mossul zurück. Er riskiert es auch.

Nadia Murad selbst wird in den Norden gebracht, wo sie einen überlebenden Bruder und einige andere Verwandte im Flüchtlingslager wieder findet - aber auch Gewissheit, dass der größte Teil der Familie tot ist, der nächst größere Teil in Gefangenschaft oder verschollen.

Und sie stößt auf eine der besten Ideen aus Deutschland, die es in den letzten Jahren gab: Sie bekommt das Angebot, nach Baden-Württemberg gebracht zu werden. Sie und eine Schwester nehmen das Angebot an, andere aus der Familie lehnen ab, weil sie in der Nähe der übrigen Jesiden bleiben wollen. Und damit beginnt die Karriere: In Deutschland lernt sie, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und wird innerhalb kurzer Zeit weltweit bekannt. Amal Clooney, die bekannte Rechtsanwältin aus dem Libanon, übernimmt die rechtliche Vertretung, und gemeinsam kämpfen sie dafür, dass alle Verantwortlichen des "Islamischen Staates" als Verantwortliche für den Genozid vor Gericht kommen sollen. Zwar ist das bis heute nicht geschehen, aber immerhin gewann Nadia Murad die Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

"Ich bin Eure Stimme" ist auch ein Versprechen, das die Autorin mit diesem Buch allen Jesiden gibt. Wie eine junge Frau diese Erlebnisse und das Sprechen drüber überstehen kann, weiß noch niemand. Zu hoffen ist, dass sie gut auf sich aufpasst, damit sie ihre Mission noch lange erfüllen kann.

Nadia Murad: Ich bin Eure Stimme.
Original in den USA 2017: "The last Girl".

Knaur Verlag, München 2017, 363 Seiten, 19,99 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 355 - April 2018, Seite 65 - 65
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2018

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