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GEHEIM/290: Baskenland - Hoffnungen für die politischen Gefangenen


GEHEIM Nr. 2/2011 - 9. August 2011

BASKENLAND
Hoffnungen für die politischen Gefangenen
Wahlerfolg der linken Parteienkoalition Bildu stärkt Verfechter einer Verhandlungslösung

Von Ingo Niebel


Neben Griechenland zeigt auch das Baskenland tagtäglich, dass es eine Alternative zur vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung gibt. Der Preis für dieses Engagement ist nach wie vor hoch: In spanischen und franzÖsischen Gefängnissen sitzen immer noch über 700 politische Gefangene, Familienangehörige müssen weiterhin Hunderte Kilometer, wenn nicht gar Tausende von Kilometern zurücklegen, um die "Presoak" besuchen zu können und Madrid denkt über neue Repressionsmassnahmen nach. Die postfranquistische Volkspartei (PP) verlangt weitere Parteiverbote und auch der sozialdemokratische Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba macht sich Gedanken darüber, wie er verlorenes politisches Terrain mit polizeilichen und juristischen Mitteln zurückerobern kann.


Massendemonstration für Verhandlungslösung

Trotz dieser drohenden Repressionswelle zeigen sich mehrere Tausend Baskinnen und Basken beiderseits der Pyrenäengrenze, dass sie nicht mehr bereit sind, sich dem Diktat aus Madrid und Paris zu beugen. Am ersten Juli-Samstag demonstrierten in der südbaskischen Küstenmetropole Donostia (San Sebastián) 12.000 Menschen für die Einstellung aller politischen Prozesse und für eine Verhandlungslösung des politischen Konflikts. Im nordbaskischen Teil schützen seit mehreren Wochen breite Teile der dortigen Gesellschaft die Baskin Aurore Martin vor der Auslieferung an den spanischen Staat. Die Madrider Justiz will die französische Staatsangehörige wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei Batasuna den Prozess machen. Die Formation ist in Spanien seit 2003 verboten, aber in Frankreich legal. Als vor kurzem französische Polizisten Martin im Haus ihrer Schwester abholten, um sie nach einem Gerichtsurteil in Auslieferungshaft zu nehmen, sahen sie sich plötzlich mehreren Dutzend Bürgern umzingelt, die ihnen die Politikerin entrissen und ihr zur Flucht verhalfen. Seitdem lebt die Baskin wieder im Untergrund, zeigt sich aber regelmäßig in der Öffentlichkeit, wo sie auch bürgerliche Senatoren, Bürgermeister und Parteipolitiker vor der Polizei beschützen.

Aber nicht nur Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat Probleme die Euskaldunak seiner Staatsräson unterzuordnen, seinem spanischen Amtskollegen José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE) geht es nicht anders. Zuerst kassierte das Madrider Verfassungsgericht das Verbot der linken Parteienkoalition Bildu und verursachte so ein politisches Erdbeben bei den Kommunalwahlen in der Autonomen Baskischen Gemeinschaft (CAV/EAE) und den gleichzeitig stattfindenden Landtagswahlen in der baskischen Nachbarprovinz Nafarroa (span. Navarra). Aus dem Stand eroberte Bildu am 22. Mai 2011 die meisten Rathäuser der CAV/EAE und den Kreistag der Provinz Gipuzkoa. 313.000 Stimmen machten sie zur zweitstärksten Kraft auf kommunaler Ebene direkt hinter der christdemokratischen Baskischen Nationalpartei (PNV) und vor der PSOE.

In Madrid schwollen PSOE und PP der Kamm, als es der Allianz aus ehemaligen Sozialdemokraten der Eusko Alkaratsuna (EA), Ex-Mitgliedern des baskischen Landesverbandes der Vereinigten Linken und unabhängigen Angehörigen der baskischen Linken gelang, das prestigeträchtige Bürgermeisteramt von Donostia zu übernehmen. Schluss mit lustig war, als die EU die Stadt zu ihrer Kulturhauptstadt 2016 erkor, "weil das auch dem Frieden dienen kann". Regierung und Opposition verbaten sich eine derartige Stellungnahme, die sie als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Spaniens betrachteten. Vernichtender konnte ihre Anti-Bildu-Strategie nicht scheitern.


Staatsräson

Die PSOE reagierte wie gewohnt, indem sie sich in Nafarroa der Staatsräson beugte und wie schon 2007 die postfranquistische Unión del Pueblo Navarro (UPN) weiter an der Macht hielt. Die Alternative wäre gewesen, mit baskischen Parteien - unter ihnen Bildu - den Politikwechsel einzuläuten. Die PP zog es vor, nach mehr Repression zu schreien. Dabei macht die Partei von Mariano Rajoy auch nicht vor dem Verfassungsgericht halt. Am Abend der Legalisierung von Bildu durfte ein Rechtsprofessor auf dem PP-kontrollierten TV-Sender Telemadrid zur Richterschelte ausholen. Dort forderte er allen Ernstes, dass die Politik die Entscheidung des höchsten Gerichts ignorieren sollte, weil das vorherige Verbotsurteil des Obersten Gerichts besser begründet gewesen sei. Mit ihrem Verhalten beweisen beide "Volks"-Parteien dass sie unwillens und unfähig sind, angemessen auf die politische Entwicklung im Baskenland zu reagieren. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in ihrer Bereitschaft, wesentliche Werte der bürgerlichen Demokratie - wie zum Beispiel die Unantastbarkeit des Verfasssungsgerichts - dem Diktat der Exekutive und parteipolitischen Interessen zu opfern.


Friedenssucher vor Gericht

Ob die richterliche Gewalt sich dem unterordnen wird, zeigt sich zur Zeit in Madrid. Die Brisanz des Bateragune-Prozesses liegt darin, dass ein möglicher Schuldspruch einen Präzedenzfall für ein Verbot von Bildu schaffen könnte. Die Anklage vertritt die Ansicht, dass der Sprecher der verbotenen Batasuna, Arnaldo Otegi, und der ehemalige Generalsekretär der linken Gewerkschaft LAB, Rafa Díez Usabiaga, neben fünf weiteren Angeklagten die Partei unter dem Namen Bateragune fortgeführt hätten. Das sei im Übrigen auf Befehl der Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, Baskenland und Freiheit) geschehen.

Die erste Verhandlungswoche offenbarte erneut die Willkür von Polizei und Justiz, da der Staatsanwalt keine Beweise für die obengenannten Anklagepunkte vorlegen konnte. Trotz der umfangreichen Razzien gegen die ETA seit 2009 fand sich kein Dokument, das die Behauptungen stützt. Mehr noch: Polizisten gaben zu, dass sie Usabiaga und eine weitere Person festnahmen, obwohl keine Haftbefehle gegen sie vorlagen. Der Untersuchungsrichter an der Audiencia Nacional, dem Sondergericht für Terror- und Drogendelikte, Baltasar Garzón, habe das am Tag der Polizeiaktion, dem 13. Oktober 2009, kurzfristig entschieden. Ebenso fehlen Hinweise, die erklären, was Bateragune eigentlich war und wer diesem Gremium konkret angehörte. Das Auftreten der ersten Belastungszeugen legt den Verdacht nahe, dass die Polizei wie schon im Fall der illegal geschlossenen Zeitungen Egin (1998) und Egunkaria (2003) nicht nur ihre Kompetenzen überschritt, sondern politisch genehme Operationen durchführte, die jeglicher Beweise entbehrten. Rückendeckung erhielt sie dabei vom willfährigen Sonderrichter Garzón und der Anklagevertretung seiner Audiencia Nacional. Der Ausgang des Verfahrens ist offen, da ihm die Richter Angela Murillo vorsitzt, die Otegi in einem anderen Prozess verurteilt hat. In zweiter Instanz hob das Oberste Gericht ihr Urteil später auf.


Paradigmenwechsel

Wichtiger als der Ausgang des Verfahrens ist, dass in seinem bisherigen Verlauf deutlich wurde, wie kontrovers und doch konstruktiv die baskische Linke in den Jahren 2007-2010 ihren Strategiewechsel diskutiert hat. Das Resultat manifestiert sich einerseits in dem überragenden Wahlsieg von Bildu, andererseits in den anhaltenden Massendemonstrationen zugunsten der Gefangenen und einer politischen Lösung des Konflikts. Letztere erscheint auf einer immer fester werdenden Basis zustehen, da die akuellen Erfolge auch der ETA beweisen, dass die neue Strategie Früchte trägt. Der weit und tiefgehend diskutierte Paradigmenwechsel sieht vor, dass breite gesellschaftliche Mobilisationen das Feld für Verhandlungen bereiten sollen und nicht mehr der bewaffnete Kampf. Dass die linke Unabhängigkeitsbewegung des Baskenlandes diesen Weg überhaupt beschritten hat, ist unter anderem Otegi und den anderen Angeklagten zu verdanken, die den persönlichen und politischen Mut aufbrachten, dieses Wagnis einzugehen.


Mehr Terrorismus-Verfahren

Die jüngste Entwicklung weckt Hoffnungen bei denjenigen, die auf die eine oder andere Weise die Repression durch spanischen Staat erleiden. Wie hemmungslos mittlerweile die Polizei versucht, ihre unhaltbaren Thesen bar jeglicher Beweise durch Verhaftungsaktionen zu kaschieren, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht der Staatsanwaltschaft an der Audiencia Nacional. Demnach stieg 2010 die Anzahl der wegen "Terrorismus" geführten Verfahren an dem Sondergericht um 81,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an. 49 von 78 Fällen endeten mit Freispruch. 2009 war das nur bei 27 von 86 Angeklagten der Fall gewesen. Während der letzten fünf Jahre verurteilte es 481 von 786 Angeklagten, so die Tageszeitung Gara. Der Jahresbericht der Fiscalía drückt besonders den politischen Charakter dieses Sondergerichts aus, weil er ausdrücklich hervorhebt, dass zwecks "Auslöschung des Terrorismus" 2006 - im Jahr des vorletzten ETA-Waffenstillstands - 102 Anklageschriften verfasst wurden, die sich gegen 227 Menschen richteten. Das war "die höchste Zahl der letzten fünf Jahre, wenn nicht gar der Geschichte", bekennt die Audiencia Nacional. Etwa 20 Prozent der Angeklagten zählten nicht zur ETA, sondern wurden ihrem von Madrid so genannten "politisch-institutionellen Rahmen" zugeordnet. Das heißt, sie gehörten einer verbotenen Partei, Organisation oder Zeitung an. Im Zeitraum 2006-2011 beging die ETA 77 Attentate, bei denen 12 Personen starben. Gleichzeitig nahm die Polizei insgesamt 615 Basken in Spanien, Frankreich, Europa und Amerika fest.


Politik der Zerstreuung

Eine Facette der Repression ist die gesetzeswidrige Verteilung der politischen Gefangenen auf Haftanstalten, die weit entfernt vom Baskenland liegen. Auf den vielfach über Tausend Kilometer zählenden Fahrten dorthin, kommt es immer wieder zu schweren Verkehrsunfällen. Die letzten beiden ereigneten sich Mitte Juni, teilte die Gefangenenhilfsorganisation Etxerat (Nach Hause) mit. In den vergangenen 22 Jahren gab es 350 Unfälle, bei denen 16 Familienangehörige starben. Deshalb fordert ein großer Teil der baskischen Gesellschaft, Madrid möge die Gefangenen zumindest in heimatnahe Vollzugsanstalten verlegen, so wie es das Gesetz vorschreibt.

Mit den Wahlerfolgen von Bildu können die Familienangehörigen darauf hoffen, dass das eine oder andere Rathaus ihnen neben den wichtigen politischen Gesten auch wieder materiell unter die Arme greift. Nach Berechnungen von Gefangenenhilfsorganisationen muss die Familie eines jeden politischen Gefangenen ca. 1500 Euro monatlich aufbringen, um ihren Angehörigen besuchen zu können. Die Summe entspricht vielfach einem Monatsgehalt und das in einem Staat, der eine Arbeitslosigkeit von 21 Prozent verzeichnet.

Den Blick auf die Zukunft gerichtet, bleibt Bildu und den gesellschaftlichen Kräften, die sie unterstützen, maximal Zeit bis zu den spanischen Parlamentswahlen im Frühjahr 2012 plus sechs Monate, um sich gegen die zu erwartenden spanischen Angriffe zu wappnen. Da die PP zurzeit mit zehn Punkten vor der regierenden PSOE liegt, scheint ihr Wahlsieg angesichts der Wirtschaftslage und der Schwäche der Regierung Zapatero sicher zu sein. Während im spanischen Staat die Bewegung der "Empörten" noch im Selbstfindungsprozess steckt, hat sich im Baskenland mit Bildu eine Kraft etabliert, die eine Alternative zu den herrschenden Verhältnissen verkörpert und bereit ist, sie mit politischen Mitteln umzusetzen.


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Quelle:
GEHEIM-Magazin Nr. 2/2011 - 9. August 2011, Seite 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2011