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GLEICHHEIT/2476: DGB-Chef warnt vor sozialen Unruhen in Deutschland


Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

DGB-Chef warnt vor sozialen Unruhen in Deutschland

Von Dietmar Henning
24. April 2009


Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Michael Sommer, hat in den vergangenen Tagen in mehreren Interviews vor "sozialen Unruhen" gewarnt. Sollte es angesichts der weiter anwachsenden Krise zu Massenentlassungen kommen, sei das eine "Kampfansage an die Belegschaften und die Gewerkschaften", sagte er der Nordwest-Zeitung. "Dann kann ich soziale Unruhen auch in Deutschland nicht mehr ausschließen."

In der ARD erklärte er am Mittwoch, die Wirtschaftskrise erfasse bereits jetzt nicht mehr nur "Randbereiche der Gesellschaft, sondern auch die klassischen Kernbereiche der Arbeiter, Angestellten und den Mittelstand". Die Gefahr, dass die Krise zu einer Radikalisierung führe, dürfe nicht weggeredet werden. Das prognostizierte Schrumpfen der Wirtschaft um "bis zu sechs Prozent" sei vergleichbar mit den Zahlen aus den Jahren der Wirtschaftskrise 1930, 1931 und 1932. Damals habe es die "bekannten Folgen" gegeben, betonte der DGB-Chef in Anspielung auf den Zusammenbruch der Weimarer Republik. Möglicherweise würden sich Menschen auch jetzt von der Politik abwenden oder radikalisieren. Daher müssten "wir alles tun, um die Beschäftigung zu sichern".

Sommers Warnungen richteten sich an die Wirtschaftsverbände und die Bundesregierung, mit denen die Gewerkschaften und Sommer persönlich seit Wochen eng zusammenarbeiten, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. Am Mittwoch trafen sie sich erneut zu einem so genannten "Krisengipfel" im Kanzleramt.

Sommers Interviews, die er vor und nach diesem Treffen gab, sollten der Regierung und den Wirtschaftsverbänden signalisieren, dass die Fähigkeit der Gewerkschaften, den Unmut in den Betrieben unter Kontrolle zu halten, beschränkt ist. Sie waren ein Appell, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften weiter zu vertiefen.

So behauptete Sommer am Donnerstag im rbb-Inforadio, die ersten Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft, die mit Hilfe der Gewerkschaften ergriffen worden seien, zeigten ihre Wirkung,. Er erwarte jetzt aber auch eine Gegenleistung aus der Wirtschaft. Bleibe sie aus, befürchte er soziale Unruhen. "Sie wissen, wie Menschen reagieren, wenn sie ihre Existenz verlieren."

Wenige Tage vorher hatte die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar unter der Überschrift "Die dritte Phase der Krise" davor gewarnt, dass "die Gelassenheit der Deutschen" angesichts "immer schlechteren Konjunkturdaten" und "finsterer Prognosen" zu Ende gehe. "Mit der Ruhe wird es bald vorbei sein", heißt es in dem Artikel. "Denn die Krise erreicht in den kommenden Monaten ihre dritte Phase: Die sozialen Sicherungssysteme geraten ins Wanken." Das werde die Menschen stärker erschüttern als alle bisherigen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Am Donnerstagfrüh, als Sommers Äußerungen in den Medien kommentiert wurden, versammelten sich mehrere Tausend Beschäftigte des Reifenherstellers Continental am Hauptbahnhof Hannover, um ihre Kollegen aus Frankreich zu begrüßen, die mit einem Sonderzug aus dem nordfranzösischen Clairoix angereist waren. Gemeinsam zogen sie zum Congress-Centrum, um auf der Hauptversammlung von Conti gegen die geplanten Werksschließungen in beiden Ländern zu demonstrieren.

Am Vorabend hatten wütende Conti-Mitarbeiter in Clairoix die Fenster der Empfangshalle im französischen Werk zertrümmert und das Mobiliar teilweise demoliert, nachdem sie erfahren hatten, dass ein Gericht die Klage der Belegschaft gegen die Werksschließung abgeschmettert hat. In Südfrankreich war Anfang der Woche die bislang neunte Geiselnahme von leitenden Angestellten binnen fünf Wochen zu Ende gegangen.

DGB-Chef Sommer und andere Gewerkschaftsführer befürchten, der wachsende Widerstand der französischen Arbeiter könnte auf Deutschland übergreifen.

Auf dem Krisengipfel im Kanzleramt hatte der DGB-Vorsitzende das "Verantwortungsbewusstsein" der Gewerkschaften betont. Diese hatten in der Vergangenheit immer wieder ihre Bereitschaft bewiesen, soziale Konflikte unter Kontrolle zu halten und die bürgerliche Ordnung zu stärken. So wäre ohne die aktive Unterstützung der Gewerkschaften weder die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder in der Lage gewesen, die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze durchzusetzen, noch hätte die Große Koalition unter Merkel und Müntefering die Rentenerhöhung auf 67 Jahre und weiter Sozialkürzungen verwirklichen können.

Die Gewerkschaften sind eng mit der SPD verbunden und Teil eines Machtkartells aus Wirtschaft und Politik. Sommer selbst ist seit 28 Jahren SPD-Mitglied und nimmt regelmäßig an den Sitzungen der sozialdemokratischen Führungsgremien teil. Die meisten der 45 SPD-Vorstandsmitglieder sind gleichzeitig Gewerkschaftsmitglieder.

Darüber hinaus sitzen viele Gewerkschaftsfunktionäre in den Aufsichtsräten der großen Konzerne und arbeiten als Co-Manager mit den Konzernleitungen Hand in Hand. In vielen Fällen stimmen sie als Arbeitnehmervertreter so genannten Sanierungsmaßnahmen zu, wohl wissend, dass damit massiver Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen und gravierende soziale Verschlechterungen für die Beschäftigten verbunden sind.

Jüngstes Beispiel dieser gängigen Praxis ist der Aufsichtsrat von ThyssenKrupp in Duisburg, der mit den Stimmen der Gewerkschafter den radikalsten Konzernumbau seit der Fusion der beiden Stahlkonzerne vor zehn Jahren beschloss. Konzernvorstand, Betriebsräte und IG Metall stimmten überein, zusätzlich zu einem bereits laufenden Sparprogramm im Umfang von einer Milliarde Euro jährlich 500 Millionen Euro vorwiegend an Lohn- und Sozialkosten einzusparen.

Die Politik der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung, die in kaum einem andern Land derart entwickelt und juristisch verankert ist wie in Deutschland, spielte in den vergangenen Jahrzehnten eine wichtige Rolle dabei, den Klassenkampf zu dämpfen und soziale Konflikte unter Kontrolle zu halten.

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise entzieht dieser Politik die Grundlage, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens trifft die rapide Entwicklung der weltweiten Rezession die deutsche Exportindustrie mit voller Wucht. Das dramatische Ansteigen der Kurzarbeit in den vergangenen Wochen reicht nicht mehr aus, dies aufzufangen. In vielen Betrieben, aber auch in Verwaltungen und im öffentlichen Dienst werden Massenentlassungen in bisher nie da gewesenem Ausmaß vorbereitet. Die gewerkschaftliche Politik der Zugeständnisse und Kompromisse ermutigt die Konzerne zu immer schärferen Angriffen.

Zweitens wird der Klassencharakter der Gesellschaft deutlich sichtbar. Dieselben Politiker, die noch vor kurzem behaupteten, die Staatskassen seien leer, stellen nun hunderte Milliarden Euro für die Rettung der Banken und Spekulanten zur Verfügung. Pleite-Manager setzen Millionenabfindungen und Boni durch und verlangen die Einhaltung von Zusagen und Verträgen, während gleichzeitig Tausende von Arbeitsverträgen mit einem einzigen Federstrich annulliert werden.

DGB-Chef Sommers Warnung vor sozialen Unruhen richtet sich an die Herrschenden. Sie beinhaltet nicht nur die Aufforderung zur engeren Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, sondern ist auch ein Appell an Regierung und Staat, sich auf große Klassenkämpfe vorzubereiten.

Siehe auch:
Ségolène Royal befürchtet Rückkehr des "Klassenkampfs"
(21. April 2009)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.04.2009
DGB-Chef warnt vor sozialen Unruhen in Deutschland
http://wsws.org/de/2009/apr2009/somm-a24.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2009