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GLEICHHEIT/2590: Robert S. McNamara stirbt im Alter von 93 Jahren


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Robert S. McNamara stirbt im Alter von 93 Jahren

Von Patrick Martin
16. Juli 2009
aus dem Englischen (8. Juli 2009)


Robert S. McNamara (1916-2009), einer der maßgeblichen Architekten des US-Kriegs in Vietnam, starb am 6. Juli im Alter von 93 Jahren. Gleich nach Präsident Lyndon B. Johnson war er der Hauptverantwortliche während der ersten Hälfte des Krieges, als die amerikanische Militärpräsenz von ein paar Tausend Beratern zu einer fast 600.000 Mann starken Armee aufgebläht wurde.

Als Verteidigungsminister (Januar 1961 - Februar 1968) war McNamara länger Chef des Pentagon als jeder seiner Amtsvorgänger. Nur Donald Rumsfeld kam auf eine längere Dienstzeit, addiert man seine beiden Amtszeiten unter Präsident Gerald Ford (1975-77) und 25 Jahre später unter George W. Bush (2001-2006). In den Geschichtsbüchern wird McNamara, wie Rumsfeld, für immer in einem Atemzug mit einem militärischen Debakel genannt werden, und zwar mit einem, das die amerikanische herrschende Klasse bis heute nicht ruhig schlafen lässt.

Für alle, die während des Vietnamkriegs (1961-1975) ins Erwachsenenalter kamen, steht der Name McNamara für schreckliche Verbrechen gegen die Menschheit - die Flächenbombardements der B-52-Bomber, der Einsatz chemischer Waffen wie Napalm und Agent Orange, der Tod einer Million Vietnamesen und 16.000 amerikanischer Soldaten in einem Aggressionskrieg. 1975, bei Kriegsende, hatten etwa drei Millionen Vietnamesen und 58.000 Amerikaner, die meisten von ihnen Wehrpflichtige, ihr Leben verloren.

McNamara steht auch für Desinformationen und Lügen, die im Vergleich zu den massiven Desinformationskampagnen der Medien heutzutage vielleicht verblassen, seinerzeit aber die US-Regierung in den Augen der Welt und des amerikanischen Volkes schließlich diskreditierten. McNamara und seine Mitarbeiter setzten die Lüge über den Zwischenfall im Golf von Tonkin in die Welt (der "Angriff" vietnamesischer Patrouillenboote im August 1964 auf amerikanische Kriegsschiffe, der später als Lügenmärchen entlarvt wurde), verkündeten mit jeder Aufstockung der amerikanischen Militärpräsenz und verstärkten Bombardements "Licht am Ende des Tunnels" zu sehen, bezeichneten die vietnamesischen nationalen Befreiungskämpfer als "Terroristen" und stellten das südvietnamesische Marionettenregime aus Generälen und Kriegsgewinnlern als gefährdete "Demokratie" dar.

Die ausführlichen Nachrufe in den großen amerikanischen Tageszeitungen ließen kaum erkennen, wie verhasst McNamara zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Amt in der amerikanischen Bevölkerung war. Im Frühjahr 1967 war er zu der Auffassung gelangt, der Krieg sei ein Irrtum, und hatte vergeblich versucht, Präsident Johnson zu einem Kurswechsel zu bewegen. Sein Vorgehen richtete sich nicht gegen militärische Aggression, sondern war darauf gerichtet, aus dem gewaltigen Einsatz der militärischen und ökonomischen Ressourcen Amerikas in Südostasien noch einen Nutzen zu ziehen.

Insgesamt zeichnen die Pressenachrufe McNamara selbst als Opfer des Krieges, dessen Folgen er nicht entkommen konnte, und der sein öffentliches wie privates Leben beschädigte. Doch das ist nur ein Aspekt der Wahrheit, und obendrein kein wirklich wichtiger. Dass einen Kriegsverbrecher Gewissensbisse plagen, ist psychologisch vielleicht von gewissem Interesse, ändert jedoch nichts an den Folgen seiner Verbrechen für die Millionen Menschen, die getötet oder verstümmelt wurden, und die zig Millionen, die darunter leiden.

Die Nachrufe versuchen die Schuld der herrschenden Schicht Amerikas als Ganzer dem verstorbenen Pentagon-Chef aufzubürden, indem sie den Krieg in Vietnam als monströsen Fehler, als falsche Einschätzung darstellen, nicht als ein Verbrechen, das die strategischen Interessen einer ganz bestimmten Klasse verfolgte - derselben Klasse, die heute für zwei neuerliche imperialistische Kriege im Irak und in Afghanistan-Pakistan verantwortlich ist.

Nach seiner Entlassung als Verteidigungsminister wurde McNamara von Johnson zum Präsidenten der Weltbank ernannt. Die meisten Nachrufe beschreiben die Rolle, die er als Chef dieser Institution von 1968 bis 1981 spielte, als von dem Bemühen geprägt, seine Schuldgefühle wegen seiner Vietnam-Verstrickung durch "gute Arbeit" auf dem Feld wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung zu kompensieren. Nüchtern betrachtet, stellt sich allerdings heraus, dass McNamara seinem Herrn, dem amerikanischen Imperialismus, treu blieb und dieselben Opfer, die Massen in den früheren Kolonialländern, weiterhin peinigte, wenn auch auf weniger gewalttätige Weise.

Die Weltbank zählt zu den wichtigsten Institutionen, die die globale Herrschaft des Finanzkapitals sichern. Der Internationale Währungsfonds (IWF) kontrolliert die Umsetzung drakonischer "Anpassungs"-Programme für Schuldnerländer der Dritten Welt, durch Kürzungen der öffentlichen Leistungen und Senkung des Lebensstandards der großen Mehrheit der Menschheit. Die Weltbank vergibt Darlehen für Infrastrukturprojekte an diese Länder, angeblich zum Nutzen der Empfänger; allerdings sind alle Maßnahmen so angelegt, dass sie diese verarmten Länder zunehmend der Herrschaft des Weltmarkts unterwerfen. In McNamaras Zeit als Präsident der Weltbank war dieser von amerikanischen, europäischen und japanischen Firmen beherrscht.

Mehr als zehn Jahre nach seinem Ausscheiden bei der Weltbank brach McNamara, der damals auf die achtzig zuging, sein langjähriges Schweigen und versuchte, den Krieg zu verarbeiten. Er schrieb ein Buch, In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam (dt.: Vietnam - Trauma einer Weltmacht) und arbeitete später an einem 2003 erschienenen Dokumentarfilm, The Fog of War: Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara, unter der Regie von Errol Morris mit. Der Autor dieser Zeilen rezensierte das 1995 erschienene Buch McNamaras im International Workers Bulletin, dem Vorläuferorgan der World Socialist Web Site, und kommentierte kritisch McNamaras Geschichte und seine Version seiner Rolle im Krieg.

The Fog of War ist inhaltlich aufschlussreicher als das Buch, obwohl McNamara und Morris dem Film in verschiedenster Hinsicht Beschränkungen auferlegten. Der vielleicht bemerkenswerteste Teil des Films behandelt gar nicht den Vietnamkrieg, sondern McNamaras Rolle bei den Brandbombenangriffen auf japanische Städte während des Zweiten Weltkrieges. Diese grausamen Taten, die der US-General Curtis E. LeMay befehligte, töteten etwa eine Million Zivilisten in Feuerstürmen, die gezielt durch eine bestimmte Technik des Bombardements entfacht wurden, die US-Militärplaner entwickelt hatten. McNamara war entscheidend daran beteiligt.

Im Anschluss an den japanischen Angriff auf Pearl Harbor hatte sich McNamara als Freiwilliger für das US-Militär gemeldet, fiel jedoch bei der Sehprüfung durch. Er diente als ziviler Berater und bildete Offiziere aus, mathematische Analysen über militärische Logistik durchzuführen. 1943 erhielt er als Oberstleutnant bei der Statistischen Kontrollabteilung der Air Force den Auftrag, mithilfe dieser statistischen Methoden den Erfolg von Bombenangriffen zu messen und effizientere - d.h., zu mehr Opfern führende - Methoden der Bombardierung auszuarbeiten.

"100.000 japanische Zivilisten starben in Tokio im Flammenmeer unserer Brandbomben - Männer, Frauen, Kinder", berichtet McNamara im Film. "LeMay sagte, 'Hätten wir den Krieg verloren, wären wir alle als Kriegsverbrecher angeklagt worden'. Ich glaube, er hat recht. Er - und ich meine, auch ich - haben Kriegsverbrechen begangen." Dann stellte er die Frage, ohne sie zu beantworten: "Warum ist etwas amoralisch, wenn du der Verlierer bist, und nicht amoralisch, wenn du Sieger bleibst?"

Obwohl die USA den Krieg gegen Vietnam verloren, mussten sich die Verantwortlichen und Befehlshaber des Aggressionskriegs - Kennedy, Johnson, McNamara, Rusk, Rostow, Nixon, Kissinger, Laird - natürlich niemals vor einem Gericht verantworten, ebenso wenig die Generäle und Admirale, die ihre Befehle ausführten, noch die CIA-Größen, die Folter und Massenmord systematisch organisierten (der Operation Phoenix allein fielen 20.000 Vietnamesen zum Opfer).

McNamara spielte auch bei anderen Verbrechen des US-Imperialismus während seiner mehr als sieben Jahre als Pentagon-Chef eine gewichtige Rolle, darunter bei der Invasion in der Schweinebucht 1961 in Kuba und bei der Invasion und Besetzung der Dominikanischen Republik 1965. Er war verantwortlich für den Einsatz von Truppen auch innerhalb der USA im Sommer 1967 zur Unterdrückung innerstädtischer Unruhen, insbesondere in Detroit.

Die New York Times brachte 1995 aus Anlass der Veröffentlichung von McNamaras Memoiren einen Leitartikel, in dem sie McNamara anklagte: "McNamara darf der fortdauernden moralischen Verurteilung seiner Landsleute nicht entkommen...In jedem ruhigen und sorglosen Moment wird er die nicht verstummen wollenden Stimmen der bedauernswerten jungen Infanteristen hören, die, Trupp für Trupp, sinnlos im hohen Gras ihr Leben lassen. Was er ihnen raubte, kann nicht durch Entschuldigungen zur besten Sendezeit und durch Krokodilstränen drei Jahrzehnte danach zurückgegeben werden."

Das ist typisch für die Falschheit des amerikanischen Liberalismus. McNamara wird zurecht verurteilt, weil er Zehntausende amerikanischer Soldaten in den Tod schickte. Für die Millionen Vietnamesen, die die amerikanische Militärmaschinerie unter McNamaras Verantwortung vernichtete, erfährt er keine Verurteilung. Und selbst für die amerikanischen Opfer wird er verurteilt, weil sie "sinnlos" waren. Anders gesagt, die Times-Herausgeber greifen McNamara nicht an, weil er ein Kriegsverbrecher ist, sondern weil es ihm nicht gelang, den militärischen Sieg in Vietnam zu erringen.

Die Niederlage des amerikanischen Imperialismus in Vietnam und der Sieg des nationalen Befreiungskampfes waren ein Meilenstein in der Weltgeschichte. Sie lieferten erneut den Beweis - wie schon zuvor die damit im Zusammenhang stehende ökonomische Entwicklung, die 1971 das Scheitern der in Bretton Woods vereinbarten Goldkonvertibilität des Dollars bewirkt hatte -, dass auch die stärkste imperialistische Macht die Widersprüche des kapitalistischen Systems nicht überwinden konnte.

Der Krieg in Vietnam erschöpfte nicht nur die ökonomischen und militärischen Ressourcen der Vereinigten Staaten, er destabilisierte das Land auch politisch. Die Massenbewegung gegen den Krieg, begonnen von Jugendlichen und Studenten, schufen zusammen mit den Aufständen in den Ghettos und einer Lohnoffensive der Industriearbeiterklasse eine noch nicht dagewesene politische Krise. Diese Krise war es, noch mehr als der anhaltende Widerstand des vietnamesischen Volkes, die die amerikanische herrschende Klasse zwang, die militärische Unterwerfung Vietnams aufzugeben.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.07.2009
Robert S. McNamara stirbt im Alter von 93 Jahren
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2009