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GLEICHHEIT/2998: 60. Berlinale, Februar 2010 - Teil 7


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

60. Berlinale - Teil 7
"Boxhagener Platz" von Matti Geschonneck

Von Bernd Reinhardt
27. März 2010


Der 1952 geborene Regisseur Matti Geschonneck verließ 1978 die DDR. Er war aus der SED ausgeschlossen worden, weil er die Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann 1976 nicht unterstützt hatte. Der Sohn des populären DDR-Schauspielers Erwin Geschonneck ist heute durch diverse Fernsehfilme bekannt. Seine Tragikomödie Boxhagener Platz entstand nach dem gleichnamigen Roman von Torsten Schulz.


Boxhagener Platz

7. Oktober 1968 in Ostberlin: Republikgeburtstag. Pioniere und FDJler von den staatlichen Jugendorganisationen der DDR rühren die Trommel, Fanfaren schmettern. An der Oberfläche herrscht Einheit mit dem SED-Staat. Aber im Schulalltag wird der zwölfjährige Holger als "Bullensohn" beschimpft. Sein Vater sorgt für Ruhe und Ordnung am Boxhagener Platz, einer alten Arbeitergegend.

Auch Holgers Großmutter Otti wohnt hier, die schon mehrere politische Systeme und mehrere Ehemänner überlebt hat. Den sechsten pflegt sie gerade, und ein neuer Verehrer bemüht sich erfolglos, der "olle Karpfenkopp", der Fischhändler um die Ecke.

Otti verliebt sich in Karl, einen Kneipenbruder ihres Mannes, der ihr auf dem Friedhof einen Gedichtband schenkt. Der Rentner ist ein aktiver Typ, mit einem Hang fürs Abenteuerliche, der, weil er nach Westberlin reisen kann, von dort nicht nur einen schönen Weihnachtsbaum mitbringt, der, kaum im Osten, prompt alle Nadeln verliert, sondern auch das politische Magazin "Stern" hineinschmuggelt. Und irgendwann zeigt er Holger geheimnisvoll ein "echtes Flugblatt" mit der Forderung: "Russen raus aus Prag!"

Holger erfährt von ihm Dinge, die im Gegensatz zur offiziellen DDR stehen: Fisch-Winkler sei ein alter Nazi und Walter Ulbricht kein wirklicher Kommunist. Der hätte früher auf einer Tribüne mit dem späteren Nazi-Propagandachef Goebbels gestanden. Dann sei er zu Stalin gegangen, der massenweise ehrliche Kommunisten umbrachte, Leute wie Karl, ein alter Spartakuskämpfer, Teilnehmer der Revolution von 1918. Heute seien die Studenten, die in Westberlin gegen Nazis kämpften, die echten Kommunisten.

Als der Fischhändler erschlagen aufgefunden wird, taucht das Bekennerschreiben einer antifaschistischen Studenten-Kommune aus Westberlin auf. Dann wird jedoch Karl als Verfasser verhaftet. Im Gefängnis stirbt der alte Revolutionär, der in letzter Zeit über Emigration nachdachte und darüber, warum die Arbeiterbewegung eigentlich immer verloren hat. Als auf dem Friedhof die Bäume rauschen, weiß die abergläubische Otti, dass Karl sich zurückgemeldet hat. Mit ihm die vielen anderen einer inzwischen versunkenen Zeit.

Das Hauptaugenmerk des Films liegt auf der einfühlsamen Gestaltung der beiden Hauptfiguren Otti und Karl. Otti kämpft zeitlebens selbstbewusst mit Humor und harten Bandagen um die Existenz ihrer Familie, rät pragmatisch der Tochter einen Polizisten zu heiraten, bewahrt sich in der DDR aber immer eine gewisse Distanz gegenüber der SED und dem Staatsapparat.

Der alte Kommunist Karl sagt freimütig seine Meinung, ist gewohnt, sich einzumischen. Ohne Berührungsängste singt er Holger auf der Straße das SA-Lied des Fischmanns vor. Aber Holger lernt von ihm auch ein altes Arbeiterlied, das nicht in der Schule gesungen wird und dessen deutscher Text von Rosa Luxemburg stammt.

Karl ist jemand, der sich die Degeneration der kommunistischen Bewegung letztlich nicht erklären kann. Wahre Kommunisten sind für ihn aktive, ehrliche und opferbereite Kämpfer, die Stalinisten dagegen eigennützige, opportunistische "Bonzen", die sogar mit den Nazis paktieren. Wie viele mögen wie er im Alter enttäuscht und resigniert in der Kneipe gesessen haben, bevor er Otti kennenlernte? Diese Ratlosigkeit macht ihre große Tragik aus, die der Film gut rüberbringt.

Der Film scheint diese Ratlosigkeit aber auch zu teilen. Insgesamt vermittelt er die Auffassung, Stalinismus sei eine von Stalin ausgegangene Art moralischen Fehlverhaltens. Dies sei kein Sozialismus mehr, entfährt es Holgers Vater, als die Staatsmacht brutal auf seinen Sohn losgeht. Karl stellt mehrfach fest, dass die Methoden denen der Nazis ähneln.

Ein Schulkamerad Holgers, der seinen gewalttätigen Vater als Staatsfeind denunziert und von einer Kripo-Karriere träumt, soll offenbar demonstrieren, wie persönlicher Hass auf den Unterdrücker in Machtgier umschlägt, was dazu prädestiniert, zukünftig selbst zu unterdrücken. Sozialismus und Diktatur scheinen nicht weit entfernt. Zum Schluss trägt der Jugendliche selbstbewusst eine Glatze, was auch Assoziationen an Neonazis weckt.

Wirklich originell ist das Bekennerschreiben Karls, das die wahren Antifaschisten im Lager des Kapitalismus ansiedelt (undenkbar für die offizielle DDR), von wo sie ihren Kampf gegen Nazis über die Berliner Mauer hinweg Richtung Osten fortsetzen, ausgerechnet im "DDR-Sozialismus", wo der Faschismus angeblich "historisch überwunden" ist. Ist das die Idee eines wirklichen Internationalisten, der weiß, dass kommunistischer Antifaschismus nicht mit der Existenz der Berliner Mauer vereinbar ist? Der Aha-Effekt relativiert sich schnell, man erinnert sich, dass die Idee lediglich auf eine naive Frage Holgers zurückgeht.

Boxhagener Platz zeigt große Sympathie für die "kleinen" Leute, die nie im öffentlichen Rampenlicht stehen. Gedeckte, bräunliche Farbtöne geben einem das Gefühl, immer irgendwie in der Nähe von Ottis Wohnstube zu sein. Die Würde der Figuren stellt sich durch die hervorragenden Schauspieler Gudrun Ritter und Michael Gwisdek sowie das Bemühen um geschichtliche Akzente her, was den Charakteren mehr Tiefe verleiht.

Der Alltagsfilm erinnert an jene Arbeitergeneration, die die stalinistischen Verbrechen der zwanziger und dreißiger Jahre auch nach der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee nicht vergessen hatte. In der DDR, die aus diesen Verbrechen hervorging, wurden Leute wie Karl und Otti nie heimisch.


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60. Berlinale - Teil 7
Ich wollte an die verheimlichten Kommunisten erinnern

Von Bernd Reinhardt
27. März 2010


Auf der 60. Berlinale hatte die WSWS Gelegenheit, mit dem Matti Geschonneck, dem Regisseur von "Boxhagener Platz", über Aspekte seines Films zu sprechen.

WSWS: Was hat Sie gereizt, den Roman Boxhagener Platz zu verfilmen?

Matti Geschonneck: Die Figuren, die da beschrieben wurden, waren mir alle sehr vertraut. (...) Ich bin am Boxhagener Platz großgeworden. (...) Außerdem gibt es wenig Stoffe, die mit dieser Herzlichkeit, mit so einer originellen, humorvollen Authentizität von Berlin berichten. (...) Für einen Regisseur war diese Berlin-Geschichte, die Atmosphäre, die da geschildert wurde, ein Geschenk. Einen Berlin-Film wollte ich schon immer machen.

WSWS: Die Figuren sind nicht einfach Berliner mit "Herz und Schnauze" sondern Vertreter einer bestimmen Generation.

Matti Geschonneck: Die Gefahr ist immer, dass man ins Sentimentale, in die Berliner Folklore abrutscht. Das war nicht meine Absicht, auch nicht irgendeine Ostalgie. (...) Natürlich ist diese Liebesgeschichte sehr originell und humorvoll, aber darüber hinaus bekommt der Film fast nebenbei auch eine politische Dimension durch diese Figur des Altspartakisten Karl. Dieser Karl ist für mich eigentlich die Schlüsselfigur des ganzen Projektes, ein Kommunist, der aber seine Schwierigkeiten mit den Herrschenden in der DDR hatte Er steht für mich, was er ja auch selber sagt, als ehrlicher wahrer Kommunist für den Sturz und für den Fall der DDR. Das ist für mich eine sehr erzählenswerte und wichtige Schlüsselfigur des Romans und des Films, und bei der Besetzung mit Gwisdek habe ich bewusst so einen Komödianten genommen, weil er auch dieses abenteuerliche, Verwegene reinbringt, was mir für die Figur des Karl des Kommunarden, des roten Cowboys genau richtig erschien.

WSWS: Neben Komik gibt es echte Tragik. Besonders hat mich die Szene bewegt, in der Karl resümiert: Die Arbeiterbewegung hat eigentlich immer verloren. Diese Tragik hat noch kein Film über die DDR thematisiert.

Matti Geschonneck: Das hat noch keiner gesagt, und diese Szene ist erst ziemlich am Schluss entstanden. Der Autor und ich hatten gedacht, diese Figur müsste noch einen Abschluss finden, bevor sie scheitert, denn er scheitert ja, wie das System auch gescheitert ist. Das ist eine beeindruckende Szene für mich, was der Gwisdek rührend fast einsam darstellt: Es ist eigentlich alles immer schief gegangen, eigentlich immer. Das hat eine Wehmut und eine Voraussehung für ihn selbst, denn kurz darauf wird er ja auch verhaftet und stirbt. Woran? Vielleicht an gebrochenem Herzen, vielleicht eines natürlichen Todes, das habe ich bewusst offengelassen. Aber eigentlich ist immer alles schiefgegangen. (...) Mich hat das sehr beeindruckt und sehr bewegt.

WSWS: Ihr Vater, der in der DDR populäre Schauspieler Erwin Geschonneck, war selbst seit 1929 Mitglied der KPD, später trat er in die SED ein. Erfuhren Sie von ihm etwas über jene Kommunisten, die Gegner des Stalinismus waren?

Matti Geschonneck: Während der Schulzeit wurde darüber geschwiegen, auch in meinem Elternhaus. Ich hab erst viel später darüber erfahren, habe Leute kennengelernt, die in der Sowjetunion gesessen haben, die Kommunisten waren, von den eigenen Leuten verraten, ohne dass sie überhaupt wussten, warum sie inhaftiert wurden. Ich hab auch erst mit Anfang zwanzig vom Hotel Lux gehört, von den Millionen, die umgebracht wurden. In meiner Schulzeit wusste ich davon nichts. (...) Mein Vater hat mehr gewusst, aber darüber nicht gesprochen. Vielleicht war das, ich kann es nur vermuten, ein Ausdruck seiner Parteidisziplin, dass er über diese Dinge, durch die er auch selbst zum Opfer wurde, durch die er auch selbst zu Schaden kam, geschwiegen hat - jedenfalls solange es die DDR gab. (...) Unser Karl ist auch noch aus diesem Holz geschnitzt auch jemand, der (...) aktiv ist, sich auf einmal einmischt, Bekennerschreiben verfertigt, und dem man ja dann schließlich auch auf die Spur kommt.

(...) Ich wollte mit der Figur des Karl an diese verheimlichten, verschwiegenen Kommunisten erinnern, denn es gab in der DDR solche Leute. (...) Das war nicht Thema des Films aber mir ein Bedürfnis. Mich erreichten auch schon Reaktionen. Leute, die überhaupt wenig von der DDR wussten, haben sich gefragt: Wie kommt das? Wieso? Der ist Kommunist aber - ist der in der Partei gewesen? Ich sage: Nein, der war nicht in der Partei. Aber wieso, der war doch in der DDR? (...)

Deshalb spricht Karl ja von den wahren, von den echten Kommunisten, spricht sich gegen den Stalinismus aus, gegen Ulbricht. Das wird im Film zugespitzt durch eine Sache, die historisch belegt ist, dass Ulbricht und Goebbels zusammen auf einer Tribüne standen, eigentlich ein Absurdum. 1932 war auch dieser große BVG-Streik in Berlin, wo SA und Rot-Front-Kämpferbund in der Treptower Elsenstraße gemeinsam Streikposten standen. Da gibt es Fotos.

WSWS: Haben Sie sich mit Trotzki befasst, der viel schrieb über den entstehenden Faschismus in Deutschland und der vor der Endkonsequenz des Stalinismus warnte, die Wiedereinführung von Kapitalismus?

Matti Geschonneck: Ich weiß nicht eingehend über Trotzki Bescheid, da war die Rote Armee, und dass er als Konkurrent Stalin unterlag. Theoretische Schriften habe ich nicht von ihm gelesen. Ich versuche mir aber zu erklären, worauf das alles zurückzuführen ist. Es hat natürlich mit Macht zu tun, mit Machtmissbrauch und mit unglaublicher Angst auch um die eigene Macht, denn wie kann man es erklären. Ich habe über den Alltag im Kreml gelesen, wo Leute, das muss unerträglich gewesen sein, nicht wussten, ob sie den morgigen Tag überleben. Aber das waren nicht Leute, die niedere Dienste verrichteten, sondern hohe Ämter bekleideten und die wirklich nicht wussten, ob sie und ihrer Familien den nächsten Tag überleben, die der Gunst, der Willkür, der Laune Stalins ausgeliefert waren. Abgesehen von den 20 Millionen, die umgebracht wurden, das ist jetzt aber ein weiter Weg vom Boxhagener Platz.

WSWS: Verstehen Sie die unbeantwortete Frage Karls als Aufforderung an die heutige Zeit?

Matti Geschonneck: Ich finde es sehr wichtig sich Gedanken zu machen eben auch mit so einem Film. Es ist aber jetzt nicht unser Ziel, einen politischen Film zu drehen. Es ist für mich absolut wichtig, denn nur so kann man bestimmte Dinge verstehen, Ich kann nur aus der Vergangenheit - die Zusammenhänge, die Geschehnisse, die Verrate, die Zusammenbrüche, die Enttäuschungen - auch Gegenwart verstehen und letztlich auch, was sich jetzt ereignet, Kapitalismus verstehen.

WSWS: Wie aus der SED die PDS werden konnte?

Matti Geschonneck: Aus der SED die PDS und jetzt DIE LINKE, wie sich da plötzlich Gregor Gysi und Lafontaine verbünden, wo ich sage, das ist mir alles sehr suspekt. Wie da auf einmal Zweckgemeinschaften entstehen in einer rasanten Geschwindigkeit. Ich möchte mal wissen, wie die Altstalinisten mit Gysi und Lafontaine klarkommen..., wie das funktioniert, das ist für mich alles ein Buch mit sieben Siegeln.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.03.2010
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"Boxhagener Platz" von Matti Geschonneck
http://wsws.org/de/2010/mar2010/box-m27.shtml und
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Ich wollte an die verheimlichten Kommunisten erinnern
http://wsws.org/de/2010/mar2010/int-m27.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2010