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GLEICHHEIT/3359: Anzeichen einer neuen Schuldenkrise in Europa


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Anzeichen einer neuen Schuldenkrise in Europa

Von Stefan Steinberg
17. November 2010


Es gibt in mehreren europäischen Ländern zunehmende Anzeichen für eine neue Schuldenkrise. Die Zinsen für Staatsanleihen sind wieder auf Rekordniveau, und das Wirtschaftswachstum in Europa stagniert.

In einer ungewöhnlichen Aktion nutzten die Chefs der führenden europäischen Länder das G-20-Treffen in Seoul für eine öffentliche Verlautbarung. Sie ließen wissen, die Europäische Union habe Vertrauen, dass die irische Führung verantwortungsvoll mit ihrem Haushaltsdefizit umgehen werde. Gleichzeitig erklärten führende Politiker Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Großbritanniens, dass die EU bis mindestens 2013 keine neuen Rettungsaktionen für europäische Länder plane.

Die Anleihezinsen sind hochgeschossen, zum Teil als Reaktion auf die Forderung Deutschlands, den Bailout-Mechanismus zu erneuern, um private Investoren stärker an den Kosten zu beteiligen. Dies lehnen andere europäische Regierungen dagegen ab. Um die Märkte zu beruhigen, betonten europäische Führer am Freitag, der vorgesehene, neue Bailout-Mechanismus beziehe sich "nicht auf schon existierende Schuldverschreibungen".

Einen Tag vor dem Kommuniqué in Seoul hatten irische Regierungsquellen und der Vorsitzende der Eurozonenländer, Jean-Claude Juncker, bestritten, dass Irland einen Antrag auf Nothilfe der EU vorbereite.

In der Finanzpresse wurde letzte Woche eifrig darüber spekuliert. Viele meinten, ein Bailout für Irland und andere europäische Krisenländer sei die einzige Möglichkeit, ihre unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen.

Die Zinsen auf irische Staatsschulden sind auf den höchsten Stand seit der Einführung des Euro 1999 gestiegen, obwohl die Europäische Zentralbank mit umfangreichen Käufen von Staatspapieren zugunsten Irlands interveniert haben soll.

Großinvestoren in Staatsanleihen handeln irische Anleihen mit dem gleichen Risikozuschlag wie die griechischen Papiere im Frühjahr, ehe der massive Rettungsschirm der EU-Staaten über 440 Milliarden Euro gespannt wurde. Der Europäische Finanzstabilisierungsfond (EFSF) wurde durch sechzig Milliarden Euro der Europäischen Kommission und durch 250 Milliarden Euro des IWF ergänzt. Vor dem Rettungsfond ESEF hatte Griechenland im Mai schon ein separates Rettungspaket über 110 Milliarden Euro erhalten.

Die Nervosität der Märkte über Irlands Finanzlage nahm vergangene Woche noch zu, als der Gouverneur der irischen Zentralbank, Patrick Honohan, andeutete, die Regierung plane, sich an den IWF zu wenden.

Die irische Regierung reagiert auf den Druck der globalen Märkte mit scharfen Angriffen auf die Arbeiterklasse. Sie kündigte kürzlich ein fünfzehn Milliarden Euro Sparpaket über vier Jahre an. Allerdings geht in Finanzkreisen die Sorge um, dass es der unpopulären Koalitionsregierung aus Fianna Fail und Grünen nicht gelingen könnte, ihre geplanten Haushaltskürzungen gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen.

Andere Länder hatten vergangene Woche ähnliche Probleme wie Irland an den internationalen Finanzmärkten. Die ebenfalls auf Rekordniveau steigenden Zinsen für Staatsanleihen dreier weiterer Länder, - Spanien, Portugal und Italien -, wurden in mehreren Medienberichten als "eine grassierende Seuche" bezeichnet. Die Zinssätze in Griechenland sind schon wieder auf das Krisenniveau von vor Mai diesen Jahres gestiegen. Auch die Zinsen für belgische Staatsanleihen sind auf ein Rekordniveau gestiegen.

Wirtschaftsdaten von letzter Woche zeigten eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat stieg das Bruttoinlandsprodukt in den sechzehn Ländern der Eurozone im dritten Quartal nur um 0,4 Prozent. Das ist gegenüber dem einprozentigen Wachstum im zweiten Quartal eine klare Abkühlung der wirtschaftlichen Tätigkeit. Die durchschnittliche Wachstumsrate der Eurozone wurde noch durch das überdurchschnittliche Wachstum in Deutschland (0,7 Prozent in diesem Quartal) verzerrt. Mehrere Länder verzeichnen eine Stagnation oder sogar einen Rückgang.

Am Donnerstag berichtete das spanische Amt für Statistik, dass die Wirtschaft im dritten Quartal nicht gewachsen sei. Einige Sparmaßnahmen der spanischen Regierung haben bisher noch keine Wirkung gezeigt. Das bedeutet, dass wirtschaftliche Stagnation oder sogar ein Rückgang der Wirtschaftsleistung in der nahen Zukunft wahrscheinlich sind.

Spanien ist ein wichtiger Markt für das benachbarte Portugal. Daher verschlechtert die andauernde Krise im Nachbarland auch die Chancen Portugals, sein Haushaltsdefizit zu überwinden. Portugals Defizit ist das vierthöchste in der EU hinter Irland, Griechenland und Spanien.

Die sozialistische Regierung in Portugal hat kürzlich einen Haushalt verabschiedet, der eine Reduzierung der Lohnsumme um fünf Prozent von Beschäftigten im öffentlichen Dienst vorsieht, die mehr als 1.500 Euro im Monat verdienen, außerdem einen Einstellungsstopp und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei auf 23 Prozent.

Trotz dieses umfangreichsten Kürzungsprogramms seit 1978 gab das portugiesische Finanzministerium letzte Woche bekannt, dass die gesamtstaatliche Verschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt nächstes Jahr wahrscheinlich trotzdem steigen werde.

Der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou gestand Anfang letzter Woche ein, dass seine Regierung ihre staatlichen Schuldenziele für dieses Jahr wahrscheinlich nicht erreichen werde, obwohl die Regierung drakonische Sparmaßnahmen durchsetze.

Diese Entwicklung belegt den systembedingten Charakter der gegenwärtigen Krise in Europa. Ein neuer Bericht der Royal Bank of Scotland geht auf die Gefahren ein, die ganz Europa infolge des Schicksals Irlands, Griechenlands und Portugals drohen: "Wenn jetzt drei Länder der Eurozone praktisch keinen Zugang zu den Kapitalmärkten mehr haben, dann könnte die Krise für die ganze Region wieder sytemischen Charakter annehmen."

Als nächstes wendet sich die Aufmerksamkeit dem regulären Monatstreffen der Finanzminister der Eurozone am Dienstag in Brüssel zu, wo die Lage der peripheren europäischen Länder wieder ganz oben auf der Tagesordnung stehen wird.

Die europäische Wirtschaftskrise ist die Folge der Politik, die breiten Bevölkerungsmassen für die riesigen Banken-Bailouts nach dem Finanzkrach 2008 zur Kasse zu bitten. Erst wurden Hunderte Milliarden Euro in die Tresore der Banken gepumpt, und jetzt setzen die europäischen Regierungen brutale Sparmaßnahmen auf dem ganzen Kontinent durch und stürzen Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut.

Diese Sparmaßnahmen haben das bestehende ökonomische Ungleichgewicht in Europa weiter verschärft und drohen nun ganze Länder in den Bankrott zu reißen. Trotz der katastrophalen Ergebnisse dieser Politik betonen Führer der Europäischen Union ihre Entschlossenheit, gegen den Widerstand der Bevölkerung damit fortzufahren.

Am 9. November lobte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in Berlin den "Mut" der EU-Politiker: "Ich für meinen Teil war von dem Mut Ihrer Regierungen im vergangenen Jahr wirklich beeindruckt. Alle ergreifen zutiefst unpopuläre Maßnahmen, um ihre Wirtschaft und ihren Haushalt zu reformieren, und das zu einer Zeit, in der der Populismus wächst."

Er schloss mit den Worten: "Einige Regierungschefs haben mit Opposition im Parlament, mit Protesten auf der Straße, mit Streiks in den Betrieben - oder mit allem gleichzeitig zu tun, und sie wissen, dass sie ihnen eine Wahlniederlage droht. Und doch machen sie weiter. Wenn das kein politischer Mut ist, was ist es dann?"


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Quelle:
World Socialist Web Site, 17.11.2010
Anzeichen einer neuen Schuldenkrise in Europa
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2010