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GLEICHHEIT/3592: Kein Ende in Sicht in Japans Atomkrise


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Kein Ende in Sicht in Japans Atomkrise

Von Chris Talbot
5. April 2011


Die nukleare Krise in Fukushima dauert nun bereits seit drei Wochen an und es ist noch kein Ende in Sicht. Nuklear-Experten warnen, dass sich diese Krise möglicherweise über mehrere Jahre hinziehen werde. Hironobu Unesaki, Professor für Kerntechnik an der Universität von Kyoto sagte, dass der Prozess der Stilllegung Fukushimas länger dauern werde als beim Reaktorunfall auf Three Mile Island.

Ingenieure stoßen dabei auf ganz neue Probleme. Einige Experten schätzen, dass es 30 Jahre dauern könnte, um Fukushima sicher zu machen.

"Das ist Neuland, es müssen viele neue Technologien entwickelt werden, um mit diesen Reaktoren umzugehen. Der ähnlichste Vorfall den es bis jetzt gab, ist die partielle Kernschmelze im Reaktor von Three Mile Island, bei der so weit ich weiß etwa 40 Prozent des Kerns geschmolzen sind. Die Aufräumarbeiten dauerten von 1979 bis 1993, also fast 15 Jahre, und kosteten 1,13 Milliarden Euro. Das waren 1,13 Mrd. Euro im Jahr 1993, also entspricht dies heute inflationsbereinigt viel mehr", erzählte Malcolm Grimston, ein Energie-Spezialist beim britischen Think-Tank Chatham House gegenüber Channel 4 News.

"Zudem sind heute vier Reaktoren beschädigt, nicht nur ein einziger wie in Three Mile Island und als erschwerender Faktor kommt noch die Ungewissheit über den Zustand der abgebrannten Brennelemente in den Abklingbecken hinzu. Im Moment gibt es große Unsicherheiten, aber egal was passiert, die Maßnahmen werden lange dauern und teuer sein".

Drei Wochen nach Beginn der Krise gibt es immer noch kein Anzeichen, dass die Reaktoren unter Kontrolle gebracht werden konnten. Die Kontaminierungswerte deuten darauf hin, dass sich die Situation von Tag zu Tag verschlechtert. Wasser, das sich in unterirdischen Tunneln unter dem Reaktor 2 sammelt, ist angeblich über 10.000-mal radioaktiver als Normal. Wasserproben aus der Nähe von Reaktor 1 ergaben, dass auch dort erhöhte Werte an Radioaktivität bestehen.

Die radioaktive Strahlung im Meerwasser in der Nähe der Anlage lag am Mittwoch um das 4.385-fache über dem gesetzlichen Grenzwert. Am Dienstag lag die Strahlung 3.355-mal höher als erlaubt und am vergangenen Wochenende stieg sie vom 1.250-fache auf das 1.850-fache des gesetzlichen Grenzwertes. Dieser rapide Anstieg rührt von den Tonnen von Wasser her, die von Helikoptern auf die Anlage geschüttet und mittels Schläuchen in die Anlage gepumpt wurden. Der Abfluss kann nicht verhindert werden.

"Es gibt nun definitiv einen Konflikt zwischen dem Versuch die Reaktoren zu kühlen und der Verhinderung des Auslaufens von kontaminiertem Abwasser, das bei dieser Aktion erzeugt wird", sagte Ed Lyman von der Vereinigung Besorgter Wissenschaftler (Union of Concerned Scientists).

Die Kontaminierung der Umgebungsluft breitet sich aus. Die Internationale Atomenergie-Aufsichtsbehörde hat Tokio empfohlen, die Evakuierungszone zu erweitern, nachdem im Dorf Iitate, 40 Kilometer vom Werk entfernt, ein Anstieg der Strahlung auf ein schädliches Niveau bekannt wurde.

Dorfbürgermeister Norio Kanno sagte, er sei "sehr besorgt", als er von der Kontamination erfuhr. "Aber die Regierung informierte uns unverzüglich, dass keine unmittelbare Gefahr für die menschliche Gesundheit bestünde, so dass ich erleichtert war." Solche Zusicherungen sind von zweifelhaftem Wert.

Die offizielle Evakuierungszone hat einen Radius von nur 20 Kilometern. Bisher hat die Regierung nicht die Absicht, die Zone zu erweitern. Die USA haben ihren Bürgern jedoch empfohlen, sich mindestens 80 km von der Anlage zu entfernen.

Schätzungsweise 1.000 Leichen von Menschen, die von dem Tsunami getötet wurden, bleiben innerhalb der Evakuierungszone. Sie können wegen der Gefahr durch die Strahlung nicht geborgen werden und stellen eine zunehmende Gefahr für die Gesundheit dar.

Wegen starker Regenfälle in der Region dürften die Probleme zunehmen. Sie verhinderten den Einsatz eines Roboters zum versprühen von Harz, womit eine Reduktion der Verbreitung von radioaktivem Material erhofft wird. Der Regen wird die in das Meer abfließende Wassermenge unmittelbar erhöhen. Viele der Tunnel und Kanäle sollen bereits lediglich wenige Zentimeter vor dem Überlaufen stehen. Ein zusätzlicher Nebeneffekt wird sein, dass sich das radioaktive Material aus der Luft vermehrt auf den Boden niederschlägt, mit der Folge, dass weidende Tiere, Gemüse und die Wasser-Vorräte in der Nähe der Anlage zusätzlich verseucht werden.

Die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter im Kraftwerk werden zunehmend gefährlicher. Die Medien haben wenig oder keinen Zugang zu ihnen. Aber durch E-Mails ist durchgesickert, dass einige von ihnen in der Anlage übernachten. In einigen Fällen haben sie Bleidecken, worauf sie schlafen können. Aber nicht alle Arbeiter haben eine Bleidecke. Sie übernachten in Konferenzräumen und Büros. Ihre Mahlzeiten werden auf zwei pro Tag begrenzt und bestehen aus Fertig-Reis und Keksen.

Ein Zeichen für die Verbreitung der internationalen Auswirkungen der nuklearen Krise ist der Besuch von Präsident Nicholas Sarkozy in Tokio, bei dem er sich mit Ministerpräsident Naoto Kan traf. Sarkozy äußerte Frankreichs Solidarität mit Japan und sagte, er werde die Frage der nuklearen Krise in Fukushima beim nächsten G-8-Gipfel ansprechen.

Sarkozys Anliegen ist jedoch keineswegs uneigennützig. Frankreich deckt 80 Prozent seines Elektrizitätsbedarfs mit Kernenergie, so viel wie sonst kein anderes Land. Premierminister Francois Fillon hat eine Sicherheitsüberprüfung in allen 58 Kernkraftwerken in Frankreich angewiesen. Diejenigen Kraftwerke, die sich in dicht besiedelten Gebieten wie beispielsweise Dunkerque befinden, werden besonders genauen Kontrollen unterzogen.

André-Claude Lacoste, Chef der französischen Behörde für nukleare Sicherheit, schreckte die Französischen Parlamentarier auf, als er gestand: "Niemand kann garantieren, dass es nie einen nuklearen Unfall in Frankreich geben wird".

Lacoste gestand bei einer parlamentarischen Anhörung, dass mögliche Naturkatastrophen von der Französischen Nuklear-Behörde bei der Sicherheitsplanung bisher nicht berücksichtigt wurden. Es gab jedoch in den letzten 1.000 Jahren 1.700 spürbare Erdbeben in Frankreich.

Der Klimawandel müsste bei jeder Risikobewertung berücksichtigt werden, sagte Lacoste, da dieser die Gefahr von Überschwemmungen erhöhe. "Seismische Gefahren, Tsunamis oder Überschwemmungen .... Wir müssen zurück (in die Kraftwerke) gehen, nachdem was in Japan passiert ist".

Nur vier Französische Kernkraftwerke befinden sich an der Küste, der Rest bezieht das Kühlwasser aus Flüssen. Lacoste versucht die Französischen Abgeordneten zu beschwichtigen, dass die nukleare Sicherheitsbehörde die Risiken berücksichtigen werde, die jetzt bekannt wurden.

"Denkbar wäre die Einrichtung von Bereichen mit Notstromdieselaggregaten bei allen Kernkraftwerken in Frankreich (oder dass) bei Kraftwerken entlang der Küste die Dieselgeneratoren an der Spitze der Klippen, anstatt direkt an der Küste gebaut werden. Das könnte äußerst rudimentär erscheinen, aber dies sind in der Regel die Art von Fragen, die gestellt werden müssen".

Die Atomindustrie in Frankreich wird von den drei weitgehend staatlichen Unternehmen Areva, GDF Suez und Electricité de France geführt. Die Tatsache, dass diese großen Unternehmen nicht schon früher solche grundlegenden Maßnahmen ergriffen haben, obschon die Notkühlung bereits vor über 30 Jahren als ein wesentliches Problem bei Atomkraftwerken identifiziert worden ist, ist erstaunlich. Es legt die Tatsache offen, dass diese Unternehmen für Frankreichs Exportgeschäft von großer Bedeutung sind.

Auf Frankreich entfallen sechzehn Prozent der weltweiten Produktion von Kernenergie. Die USA machen 30 Prozent der weltweit aus Kernenergie erzeugten Elektrizität aus und generieren 20 Prozent ihres Stroms aus dieser Quelle. Großbritannien gewinnt 20 Prozent seines Stroms aus Kernkraftwerken. Deutschland ist für 25 Prozent seines Stroms auf Atomkraft angewiesen. Japan bezieht 30 Prozent seines Stroms aus 50 Atomkraftwerken.

Hinter diesem Netzwerk nuklearer Stromerzeugung steht eine massive finanzielle Infrastruktur. Die Fukushima Krise stellt ein erhebliches finanzielles Risiko dar. Die Bank of America Merrill Lynch erwartet, dass die Aktionäre der Tokyo Electric Power Company durch die Kosten von Fukushima ausgelöscht werden. Derzeit belaufen sich die Gesamtkosten auf geschätzte 93 Milliarden Euro (¥ 11 Billionen). Dieser Betrag wird wahrscheinlich noch steigen, wenn das wirkliche Ausmaß der Katastrophe deutlich wird. Der gegenwärtige Betrag, der mehr als viermal das Eigenkapital der Gesellschaft beträgt, treibt das Unternehmen bereits jetzt in den Bankrott. Tepco Aktien sind um mehr als 70 Prozent gefallen, und 58 Prozent des Unternehmenswerts sind verloren gegangen. Das Unternehmen wurde vor dem 11. März mit 3.5 Billionen ¥ (30 Mrd. Euro) bewertet; sein Wert ist jetzt ¥ 800 Milliarden (6,7 Mrd. Euro). Merrill geht davon aus, dass die japanische Regierung mit einer Rettungsaktion für Tepco eingreifen wird, wenn ein Konkurs droht.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 05.04.2011
Kein Ende in Sicht in Japans Atomkrise
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011