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GLEICHHEIT/3601: Bis zu 150 Menschen nach Bootshavarie im Mittelmeer ertrunken


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bis zu 150 Menschen nach Bootshavarie im Mittelmeer ertrunken

Von Stefan Steinberg
12. April 2011


Wie die italienische Küstenwache berichtete, hat sich auf dem offenen Meer zwischen Lampedusa und Nordafrika erneut eine schwere Tragödie ereignet: In stürmischer See kenterte ein überladenes Flüchtlingsschiff, und sehr viele Menschen sind offenbar ertrunken.

An Bord des Schiffs sollen bis zu 200 afrikanische Flüchtlinge gewesen sein, die versucht haben, den Kämpfen in Libyen und den Bombenangriffen der Nato-Kriegsflugzeuge zu entkommen. Angehörige der Küstenwache sagten den Medien, das Schiff sei höchstwahrscheinlich vor zwei Tagen von der westlibyschen Stadt Zuwarah aus in See gestochen.

Bisher konnte die Küstenwache fünfzig Menschen retten, von denen viele völlig unterkühlt waren. Die Chance, weitere Überlebende zu finden, sei indessen gering, besonders da auf dem Schiff wohl keine Rettungswesten vorhanden waren. Dutzende Leichen wurden im Meer schwimmend entdeckt, und Angehörige der Rettungswacht in Lampedusa erklärten: "Wir müssen befürchten, dass viele Menschen ertrunken sind."

Überlebende berichteten, auf dem etwa dreizehn Meter langen Schiff seien etwa 200 Personen eingepfercht gewesen, darunter viele Frauen und etwa ein Dutzend Kinder. Das würde bedeuten, dass bis zu 150 Menschen verschwunden und höchstwahrscheinlich ertrunken sind.

Seit einigen Jahren ist Lampedusa Anlaufstelle für Zehntausende junger Afrikaner, die dem Schicksal in ihren Ländern entfliehen möchten und versuchen, in Europa bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Diese jungen Männer, auch Frauen und Kinder, zahlen den Schleusern tausende Dollars und besteigen oftmals seeuntüchtige Kähne, um die etwa 150 km zwischen der Küste Tunesiens, bzw. andern nordafrikanischen Ländern, und Lampedusas zu überwinden.

In den letzten Jahren sind Tausende auf dieser abenteuerlichen Überfahrt nach Europa ums Leben gekommen. Allein von Juli 2008 bis Juli 2009 haben sich über 20.000 Migranten auf die gefährliche Überfahrt von Tunesien nach Lampedusa gewagt, und Hunderte haben das Ziel nie erreicht. In letzter Zeit ging die Zahl wegen der Rückführungspolitik des italienischen Premierministers Silvio Berlusconi deutlich zurück.

In den letzten Wochen, seit den jüngsten Aufständen im Maghreb und dem Nato-Krieg gegen Libyen, ist der Migrantenstrom jedoch wieder angeschwollen. Seit dem Sturz der tunesischen Regierung Mitte Januar haben bisher schätzungsweise rund 20.000 Nordafrikaner versucht, den afrikanischen Kontinent in Richtung Europa zu verlassen.

Die gleichen europäischen Regierungen, welche der Nato ihre Flugzeuge und Raketen für einen Aggressionskrieg gegen die frühere Kolonie Libyen zur Verfügung stellen, befürworten jetzt drakonische Maßnahmen, um die Migranten am Verlassen ihrer Länder zu hindern. Sollten diese Menschen es geschafft haben, europäischen Boden zu betreten, unterstützen die europäischen Regierungen ihre brutale Rückführung.

Aus Angst, die Revolte gegen das Gaddafi-Regime könnte eine neue Flüchtlingswelle auslösen, haben die europäischen Regierungen unmittelbar reagiert und Helikopter, Schnellboote und Kriegsschiffe in die Mittelmeerregion geschickt, um die mit Flüchtlingen beladenen Kähne zu stoppen und zum Umkehren zu zwingen. Auch lassen sie schnelle Eingreiftruppen der Frontex-Grenzbehörde vor der libyschen und tunesischen Küste kreuzen, um Menschen an der Überfahrt nach Europa zu hindern.

Auf der politischen Ebene hat der italienische Innenminister Roberto Maroni, ein Führungsmitglied der rassistischen Lega Nord, am Dienstag in Tunesien mit der tunesischen Übergangsregierung ein Protokoll unterzeichnet, um den Migrantenstrom zu stoppen. Im Einzelnen hat Maroni volle Zusammenarbeit der Polizei versprochen, um Immigranten zurückzuhalten und zu repatriieren.

Maroni appellierte an die anderen europäischen Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, die sich bereits auf italienischem Boden befinden. Die EU-Politiker ignorierten jedoch Maronis Forderung, während sie seine Politik der Rückführung voll und ganz unterstützen.

Die EU-Kommissare für innere Angelegenheiten, Cecilia Malmström und Stefan Füle, erklärten in Brüssel, alle, die kein Aufenthaltsrecht in Europa hätten, müssten in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden. Die EU-Definition "Aufenthaltsrecht" schließt praktisch alle Flüchtlinge aus, die aus Nordafrika nach Lampedusa gelangen.

Die EU-Politiker weigern sich stur, Verantwortung für die Konsequenzen ihrer eigenen Politik, besonders für ihren Krieg gegen Libyen, zu übernehmen. So legt der wachsende Flüchtlingsstrom erneut die Differenzen im Innern der Europäischen Union bloß.

Gegen Ende Februar brach ein heftiger Konflikt unter europäischen Ländern aus, als 6.000 Flüchtlinge aus Tunesien in Lampedusa ankamen. Die Mittelmeeranrainer Italien, Malta, Spanien, Griechenland und Frankreich forderten, dass die auf der Insel Gestrandeten nach festen Quoten auf alle EU-Staaten verteilt werden müssten. Sofort widersetzten sich die nördlichen EU-Mitgliedstaaten Großbritannien, Schweden, Österreich und insbesondere Deutschland diesem Vorschlag.

Innenminister Maroni reagierte, indem er auf Lampedusa den Notstand ausrief und vor einem "Exodus [afrikanischer Migranten] von biblischen Ausmaßen" warnte. Gleichzeitig weigerte er sich, Aufnahmelager für die Flüchtlinge auf Lampedusa zu öffnen.

Infolgedessen müssen tausende Flüchtlinge, die in Lampedusa ankommen, unter freiem Himmel schlafen und haben nicht mal Zugang zu Toiletten. Laut einem Bericht der Menschenrechtsgruppe Amnesty International vom 30. März sind die Bedingungen für Flüchtlinge auf Lampedusa "erschreckend". Vielen Flüchtlingen fehle es an so elementaren Dingen wie einem Dach über dem Kopf, Matratzen, Decken, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung.

Die ausländerfeindliche "Festung Europa"-Politik der Europäischen Union steht in scharfem Kontrast zur Reaktion der Inselbewohner von Lampedusa.

Die italienische Zeitung La Stampa berichtet in ihrer Ausgabe vom 14. Februar: "Der Bürgermeister hat auf der Insel sämtliche Minibusse des öffentlichen Verkehrs requiriert, er lässt die Tunesier aus dem Hafen evakuieren und bringt sie in alle erdenklichen Quartiere, die er auftreiben konnte. Große Kräne und Trucks, die normalerweise die Fischerboote auf die Insel schleppen, sind jetzt im Einsatz, um die altersschwachen Kähne der Tunesier aus dem Wasser zu heben und im Landesinneren auf offenen Deponien abzulagern. Die Bäcker sind rund um die Uhr an der Arbeit, um die Tausenden unerwarteten Gäste zu verpflegen. Und als weiteres Zeichen von Großzügigkeit werden Zigaretten umsonst verteilt."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.04.2011
Bis zu 150 Menschen nach Bootshavarie im Mittelmeer ertrunken
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2011