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GLEICHHEIT/3786: Tödliche Polizeikugel löst Unruhen im Norden Londons aus


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Tödliche Polizeikugel löst Unruhen im Norden Londons aus

Von Julie Hyland
9. August 2011


Samstagnacht brachen in Tottenham im Norden Londons nach Protesten gegen die Erschießung von Mark Duggan Unruhen aus. Der 29-jährige Vater von vier Kindern war am Donnerstag von der Polizei getötet worden.

Duggan war am frühen Abend in einem Taxi auf dem Weg zu seiner Verlobten gewesen, als er von der Polizei angehalten wurde. Es handelte sich um Angehörige einer Einheit zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen (Anti Firearms Unit), die vom Kommando der Specialist Firearms (CO19) begleitet wurden. Die Operation wurde als eine "geplante Aktion" bezeichnet.

Über die folgenden Ereignisse gibt es widersprüchliche Aussagen. Die Polizei behauptet, Duggan habe das Feuer eröffnet und einen Polizisten nur knapp verfehlt und sei dann in Selbstverteidigung erschossen worden. Augenzeugen geben dagegen an, dass Duggan am Boden liegend erschossen worden sei. Er war sofort tot.

Duggans Verlobte Semone Wilson sagte, sie habe noch eine SMS von ihm erhalten, kurz bevor er erschossen wurde. "Um ungefähr 18 Uhr schickte er von seinem Blackberry eine Nachricht mit der Bemerkung ab: 'Die Bullen folgen mir', und das war's. Das war das letzte, was ich von ihm gehört habe."

Sein Bruder Shaun Hall sagte, dass Mark ein "Familienmensch" gewesen sei, und nannte die Vorstellung, dass er das Feuer auf die Polizei eröffnet haben sollte "Unsinn. So einer war Mark nicht. Er war nicht so dumm, auf Polizisten zu schießen, das ist lächerlich."

Die Familie erklärt, dass sie noch keine Erklärung seitens der Polizei erhalten habe, warum Duggan erschossen worden sei. Der Fall wurde der unabhängigen Kommission für Beschwerden gegen die Polizei (Independent Police Complaints Commission (IPCC)), übergeben. Das ist ein zahnloses Organ, dessen Hauptzweck die Verschleierung von Polizeibrutalität ist.

Am Samstagnachmittag protestierten die Familie und Freunde Duggans vor dem Polizeirevier von Tottenham. Über 200 überwiegend Jugendliche nahmen an der Demonstration unter der Forderung "Gerechtigkeit für Mark Duggan" teil.

Die Polizei bestätigt, dass der Protest friedlich verlief. Sie behauptet allerdings, dass nach mehreren Stunden eine Gruppe Jugendlicher gegen 20.30 Uhr begonnen habe, auf der Straße parkende Polizeifahrzeuge anzugreifen.

Andere Stimmen sagen, dass die Probleme begonnen hätten, als eine junge Demonstrantin von einem Polizisten mit dem Schlagstock niedergeschlagen wurde.

Eine Frau sagte zu Journalisten: "Es begann als friedliche Demonstration. Die Polizei hat hier vorige Woche einen Mann erschossen und hat über die Umstände gelogen. Sie sagen, er habe eine Pistole gezogen, aber das hätte er angesichts bewaffneter Polizisten nie getan. Sie haben ihn so brutal erschossen, dass seine Mutter ihn nicht wiedererkannte."

Etwa 500 vor allem jugendliche Personen waren dann in Zusammenstöße mit der Polizei verwickelt, die sich auf die Hauptstraße von Tottenham konzentrierten.

Die Polizei sagt, sie sei trotz der angespannten Stimmung nach der Erschießung Duggans völlig unvorbereitet auf das gewesen, was dann folgte.

Diese Darstellung wird durch die Tatsache widerlegt, dass die berüchtigte Sondereinheit Territorial Support Group (TSG) als Teil der Vorbereitung auf den Eventualfall schon in Bereitschaft stand. TSG-Beamte waren auch in den Angriff auf Ian Tomlinson während der Proteste gegen den G-20 Gipfel in London im April 2009 verwickelt. Tomlinson war nur ein harmloser Zuschauer. Er starb kurz darauf. Einem weiteren Angehörigen der TSG-Einheit wurde durch eine Videoaufnahme auf der gleichen Demonstration ein unprovozierter Angriff auf die Demonstrantin Nicola Fisher nachgewiesen. Trotz des Videobeweises lehnte die Staatsanwaltschaft die Eröffnung eines Verfahrens ab.

Außerdem war die Metropolitan Police so weit vorbereitet, dass sie schon am frühen Abend eine sogenannte Gold Kommandostruktur bildete, die nur bei großen Aktionen, darunter vermuteten Terrorfällen zum Einsatz kommt.

Hunderte Bereitschaftspolizisten und Personentransporter waren alsbald in der Gegend, die von Polizeitruppen auf Pferden begleitet wurden. Ein Hubschrauber der Polizei beobachtete die Szenerie aus der Luft.

Immer mehr Demonstranten sammelten sich und riefen der Polizei entgegen. "Wir wollen Antworten" und "Wessen Straßen, unsere Straßen".

Es gibt mehrere Berichte über Attacken berittener Polizisten auf Zuschauer, die in Panik flohen. Ähnliche Bilder hatte es in London bei den Studentenprotesten Anfang des Jahres gegeben.

Die Unruhen zogen sich bis in den frühen Sonntagmorgen hin. Polizeiautos, ein Bus und Läden gingen dabei in Flammen auf und die Polizei wurde mit Steinen, Eiern und Flaschen beworfen.

48 Personen wurden festgenommen und 29 verletzt.

Viele Kommentatoren haben Parallelen zu den Unruhen gezogen, die im Oktober 1985 in Tottenham ausgebrochen waren. Damals wie heute war der unmittelbare Anlass Polizeibrutalität. Am 5. Oktober 1985 hatte die Polizei in Tottenham den 24-jährigen schwarzen Jugendlichen Floyd Jarrett festgenommen, weil er ein Auto gestohlen haben sollte.

Danach führte die Polizei eine Durchsuchung bei Floyds 49-jähriger Mutter Cynthia Jarrett im Broadwater Farm Viertel durch. In deren Verlauf brach Frau Jarrett zusammen und starb an einem Herzanfall. Ihre Familie behauptete, ein Polizist habe Frau Jarrett zur Seite gestoßen, sodass sie hinfiel. Fünfzehn Minuten später war sie tot.

Auch damals kam es vor der Polizeistation von Tottenham zu wütenden Protesten. Broadwater Farm wurde von der Polizei umzingelt und abgeriegelt. Dagegen wurden Barrikaden aufgebaut und Molotow-Cocktails eingesetzt. Im Verlauf der Unruhen wurde ein Polizist mit einer Machete angegriffen und getötet.

Winston Silcott, Mark Braithwaite und Engin Raghip wurden damals festgenommen und in einem Schauprozess für den Tod des Polizisten verurteilt. Ihre Verurteilung wurde 1991 in einem Berufungsverfahren aufgehoben, weil forensiche Untersuchungen ergaben, dass ihre Geständnisse erzwungen worden waren.

Die Unruhen in Tottenham waren Teil einer ganzen Serie von Rebellionen in den 1980er Jahren in vielen englischen Städten. Nur eine Woche vor den Broadwater Farm Unruhen waren im Londoner Stadtteil Brixton Jugendunruhen ausgebrochen, nachdem die 37-jährige Westinderin Cherry Groce von der Polizei angeschossen wurde. Die Polizei verletzte sie, als sie ihre Wohnung auf der Suche nach ihrem Sohn Michael durchsuchte. Frau Groce war anschließend von der Hüfte abwärts gelähmt. Inspector Douglas Lovelock, der auf Frau Groce geschossen hatte, wurde später vom Vorwurf der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung freigesprochen.

Die Polizeigewalt, die zu diesen Zwischenfällen führte, stand in engem Zusammenhang mit den Angriffen der konservativen Thatcher-Regierung auf die Arbeitsplätze, den Lebensstandard und die demokratischen Rechte von Arbeitern und Jugendlichen in Großbritannien.

1985 brachen die Unruhen nur wenige Wochen nach der Niederschlagung des einjährigen Bergarbeiterstreiks aus, bei dem es zu offenen Kämpfen zwischen Streikposten und der Polizei gekommen war. Thatcher versuchte, die verstaatlichte Kohleindustrie zu zerschlagen, was letztlich Zehntausende Arbeitsplätze kostete.

Das Achtzig-Milliarden-Pfund-Sparprogramm der konservativ-liberaldemokratischen Koalitionsregierung stellt alles in den Schatten, was Thatcher damals erreichen wollte. Zudem kommt dieses Sparprogramm, nachdem die Löhne und der Lebensstandard der Arbeiter und Jugendlichen schon drei Jahrzehnte lang massiv gekürzt wurden, während die Superreichen und internationalen Financiers enorme Reichtümer aufgehäuft haben.

Ralf Sanchez vom Telegraph interviewte Anwohner und berichtete: "Die meisten scheinen der Meinung zu sein, dass dieser Aufstand seit langem herangereift und nicht nur eine Reaktion auf die Erschießung von Mark Duggan ist. 'Das war hier ein Pulverfass, das nur eines Streichholzes bedurfte.' sagte eine Frau. 'Das war die Frustration von Jugendlichen, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Die meisten sind NEETs [Ohne Bildung, Beschäftigung oder Ausbildung]. Sie können nicht lesen und schreiben und haben nichts zu verlieren'."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.08.2011
Tödliche Polizeikugel löst Unruhen im Norden Londons aus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011