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GLEICHHEIT/3859: Ägyptische Eliten fordern Ende der Streiks


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ägyptische Eliten fordern Ende der Streiks

von Johannes Stern
29. September 2011


In den letzten paar Tagen äußerten sich die von den USA gestützte ägyptische Militärjunta und ihre Unterstützer aus den offiziellen Parteien und Gewerkschaften besorgt über die neuen Massenstreiks und Proteste, die aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise wieder aufgeflammt sind. Bürgerliche Politiker, Gewerkschaftsführer und Journalisten fordern ein Ende der Streiks und warnen vor einer "neuen Revolution."

Seit Ende des Fastenmonats Ramadan schwemmt eine neue Streikwelle über Ägypten hinweg - angeblich beteiligen sich Hunderttausende von Arbeitern daran, darunter Lehrer, Ärzte, Arbeiter aus der Textilindustrie und anderen Industriezweigen. In den letzten Tagen besetzten viertausend Arbeiter bei Ain Sukhna den einzigen privaten Hafen am Suezkanal. Tausende städtische Busfahrer, Mechaniker und Kontrolleure streikten in Kairo für höhere Löhne, verbesserte Arbeitsbedingungen und die Entlassung von korrupten Chefs der staatlichen Verkehrsbehörde.

Letzten Sonntag demonstrierten Tausende von Lehrern vor dem Sitz der Regierung und forderten die Absetzung des derzeitigen Bildungsministers Ahmad Gamal Eddin Moussa. Die Lehrer sind schon seit Beginn des Schuljahres, am 17. September, im Streik. Sie fordern höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, außerdem die Auszahlung eines Bonus von zweihundert Prozent, mehr Geld für den Bildungssektor, sichere Arbeitsverträge und einen gesetzlichen Mindestlohn. Derzeit beträgt der Nettolohn eines Lehrers nicht mehr als 287 ägyptische Pfund (etwa 35 Euro). Laut Medienberichten waren bis zu achtzig Prozent der 1,5 Millionen Lehrer in Ägypten am Streik beteiligt.

Die Lehrer streiken zum ersten Mal seit 1951. Die Militärjunta, die Interimsregierung von Premierminister Essam Sharaf und die "unabhängigen" Gewerkschaften arbeiten gemeinsam daran, diesen Streik zu beenden. Laut einem Bericht der ägyptischen Tageszeitung Al Ahram hat der Vorsitzende der Unabhängigen Lehrergewerkschaft (Independent Teachers Syndicate, ITS), Hassan Ahmad, angekündigt, den Sitzstreik und die Massenproteste vor dem Regierungssitz, die für Samstag angesetzt sind, abzusagen. Angeblich hatte Hassan die Entscheidung getroffen, ohne sich vorher mit den Mitgliedern der Gewerkschaft abzusprechen. Diese wollten den Sitzstreik fortsetzen.

Später erklärte der ITS seine Absicht, den ganzen Streik eine Woche zu verschieben, bis das Bildungsministerium einen neuen Zeitplan für die Erfüllung der Forderungen der Lehrer vorlegt. In Wirklichkeit haben die Militärjunta und die Regierung von Sharaf bereits klargestellt, dass sie zu keinerlei Zugeständnissen bereit sind. Moussa sagte der Zeitung Daily News Egypt, die Haushaltslage erlaube es nicht, die Forderungen der Lehrer zu erfüllen.

Am Dienstag setzte auch die unabhängige Gewerkschaft der Angestellten im Transportwesen den Streik in der Hauptstadt aus, angeblich weil der Arbeitsminister sich bereit erklärt hatte, die Forderungen der Arbeiter zu überdenken.

Der Abbruch dieser Streiks zeigt, wie feindselig die angeblich unabhängigen Gewerkschaften den Interessen der Arbeiter gegenüberstehen, und demonstriert ihre konterrevolutionäre Rolle. Die unabhängigen Gewerkschaften, die vom US-Außenministerium und dem amerikanischen Gewerkschaftsverband AFL-CIO unterstützt werden, sabotieren diese Streiks, weil sie dasselbe Ziel verfolgen wie die Militärjunta: Sie wollen die kapitalistische Herrschaft in Ägypten stabilisieren, indem sie die Arbeiterklasse unterdrücken.

Während des Streiks der Lehrer stellte die Junta klar, dass sie dazu bereit sei, das Gesetz gegen Streiks und Proteste, das sie im März verabschiedet hatte, anzuwenden. Unter Berufung auf dieses Gesetz wurde besonders den Lehrern von der Regierung wiederholt mit Entlassung und Gefängnis gedroht. Am Samstag gingen Soldaten vor dem Regierungssitz auf demonstrierende Lehrer los. Trotz der vereinten Bemühungen der Gewerkschaften und der Junta, den Streik zu beenden, setzen Lehrer in mehreren Schulen in Beni Suef, Sharkiya, Suez und in Teilen von Kairo den Kampf fort.

Die Junta und die unabhängigen Gewerkschaften sind zunehmend besorgt, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Am Sonntag ermahnte der Generalsekretär der Unabhängigen Gewerkschaft der Staatlichen Transportarbeiter, Muhammad Abd al-Sattar Ali, in der unabhängigen Zeitung Al Masry al Youm, die Regierung dazu, die Forderungen der Transportarbeiter zu erfüllen und "Lösungen zu finden", damit "es nicht zur Katastrophe kommt und alle ägyptischen Arbeiter beschließen, auf die Straße zu gehen." Zwei Tage später ordnete er den Abbruch des Streiks der Transportarbeiter in Kairo an.

Seit dem Sturz des von den USA gestützten Diktators Hosni Mubarak am 25. Januar sind mittlerweile acht Monate vergangen, und es herrschen wieder Bedingungen, die die Arbeiterklasse in Massenkämpfe treibt. Für Arbeiter hat sich seither wenig zum Guten geändert. In einem Leitartikel einer ägyptischen Zeitung hieß es vor kurzem: "Am 24. September 2011 unterscheidet sich Ägypten kaum von der Lage am 24. Januar." Das ist absolut richtig: Die Militärjunta unter Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi - der zuvor 20 Jahre lang Mubaraks Verteidigungsminister gewesen war - führt die Politik von Mubaraks Regime fort. Sie ist ebenfalls ein ergebener Lakai des US-Imperialismus in der Region und steht demokratischen und sozialen Rechten genauso feindselig gegenüber wie der ehemalige Diktator.

Die Lage für Arbeiter und Jugendliche wird sogar schlimmer. Laut einem Bericht der staatlichen Zeitung Al Dostour sind die Lebensmittelpreise seit Januar um 80 Prozent gestiegen, und die Wirtschaftskrise trifft Ägypten sehr hart. Am Sonntag fiel der Hauptaktienindex Ägyptens auf ein 30-Monats-Tief und Analysten weisen auf die internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf Ägypten hin.

In einem Bericht von Al Ahram wurde hervorgehoben, dass "steigende politische Spannungen und weitverbreitete Streiks, sowie Unruhe auf den Weltmärkten zu einer Abwanderung lokaler Investoren" geführt haben. Laut Finanzminister Hazem El-Beblawi betrugen die Auslandsinvestitionen dieses Jahr "null."

Angesichts dieser Tatsachen wird die herrschende Elite Ägyptens zunehmend nervös.

Die Daily News Egypt warnte am 25. September in einer Kolumne mit dem Titel "Zuerst die Wirtschaft": "Wenn die Streiks weitergehen, wird es schneller als erwartet zu einem Negativwachstum kommen." Der Artikel griff die rebellischen Arbeiter und Jugendlichen an, die die Abschaffung aller korrupten Institutionen fordern, und erklärte, das "kommt einem Plan gleich, das Land zu zerstören." Der Autor, Rahim ElKishky, ein Computer- und Technikmanager, der an der Universität von Boston und der Amerikanischen Universität in Kairo studiert hat, warnte auch vor der Feindseligkeit der Ägypter gegenüber der berüchtigten Polizei des Landes. Er sagte, die Auflösung der Sicherheitskräfte - was eine populäre Forderung der Revolution war - würde zum "Chaos" führen und "die Wirtschaft vollends zerstören."

ElKishky gab zu, dass "ein Großteil der 90 Prozent des Volkes, die zur Mittel- und Unterschicht gehören, zu leiden beginnt", und dass "bereits 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben." Dann stellt er die Frage: "Wie lange können diese 40 Prozent warten? Werden sie ihre eigene Hungerrevolte organisieren, nachdem sie am 25. Januar gelernt haben, wie es geht; und nachdem sie keine Angst mehr vor den Sicherheitskräften haben? Werden die neuen Armen und die Arbeitslosen sich ihnen anschließen?"

Die Angst vor einer zweiten Revolution ist unter Vertretern der ägyptischen Bourgeoisie weit verbreitet.

Karim Helal, Vorstandsmitglied von CI Capital in Kairo, erklärte außerdem, dass "die größte Herausforderung dieser Regierung" darin bestehe, produktive Arbeitsplätze zu schaffen, "andernfalls wird es zu einer riesigen Explosion kommen."

"Wir haben jedes Jahr siebenhunderttausend Schulabgänger. Wenn die keine Arbeitsplätze finden, wird es einen neuen Aufstand geben. Wenn man in einer aufstrebenden Wirtschaft eine wachsende junge Bevölkerung hat, aber gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Inflation, ergibt das eine tickende Zeitbombe."

Laut Al Masry Al Youm warnte die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Moslembruderschaft, am Sonntag den Obersten Militärrat davor, dass eine weitere Verzögerung der Parlamentswahlen "zu einer weiteren Revolution führen wird."

Angesichts dieser Bedrohung verstärkt die Junta ihre Vorbereitungen für ein brutales Vorgehen gegen die streikenden Arbeiter. Die ägyptische Militärregierung hat vor kurzem eine Ausweitung der Notstandsgesetze angekündigt, und macht sich daran das Anti-Streik-Gesetz durchzusetzen. Sie hat außerdem weitere vierzig Demonstranten vor Militärgerichte gestellt. Diese waren während der Proteste vor der israelischen Botschaft am 9. September verhaftet worden. Laut ihren Familien und Anwälten waren die meisten von ihnen willkürlich verhaftet und von Militär und Polizei gefoltert worden.

Die USA sehen in der Junta einen wichtigen Verbündeten in der Region beim Schutz ihrer imperialistischen Interessen und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft in Ägypten. Die Obama-Regierung steht voll und ganz hinter den brutalen Maßnahmen, mit denen das Regime Arbeiter und Jugendliche unterdrückt. Erst letzte Woche traf sich der Chef des amerikanischen Central Command, des Regionalkommandos der US-Streitkräfte für den Nahen Osten und Zentralasien, General James Mattis, mit Feldmarschall Tantawi, dem neuen ägyptischen Diktator, und dem Stabschef der ägyptischen Armee, Sami Annan. Laut Medienberichten betonte Mattis, wie wichtig das starke militärische Bündnis zwischen Ägypten und den USA sei und dankte dem ägyptischen Militär für seinen Einsatz bei der "Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 29.09.2011
Ägyptische Eliten fordern Ende der Streiks
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2011