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GLEICHHEIT/3926: Eurokrise - Griechischer Ministerpräsident aus dem Amt getrieben


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Eurokrise: Griechischer Ministerpräsident aus dem Amt getrieben

Von Patrick Martin
9. November 2011


Am Sonntag stimmte der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou seinem Rücktritt zu. Er wird von einer Koalitionsregierung der nationalen Einheit ersetzt, die das Mandat der Bankiers und europäischen Staatschefs hat, der arbeitenden Bevölkerung Griechenlands noch härtere Sparmaßnahmen aufzuzwingen.

Bevor Papandreou in eine lange Verhandlungsrunde mit Staatspräsident Karolos Papoulias und dem Führer der konservativen Oppositionspartei Nea Demokratia, Antonis Samaras eintrat, leitete er als Chef der sozialdemokratischen PASOK seine letzte Kabinettssitzung.

Über den Gesprächen hing ein doppeltes Damoklesschwert für Montag: die Eröffnung der Finanzmärkte in Europa, auf denen es wegen der Griechenlandkrise vergangene Woche riesige Verkäufe gegeben hatte, und ein Treffen der europäischen Finanzminister in Brüssel. Bei diesem Treffen sollte Finanzminister Evangelos Venizelos als Vertreter Griechenlands die Bildung einer neuen Regierung bekanntgeben. Griechenland verpflichtete sich, die Beschlüsse des EU-Gipfels vom 26. Oktober durchzuführen und die Umschuldung der griechischen Schulden einzuleiten.

Über den Rücktritt Papandreous hinaus, den Samaras als Preis für die Unterstützung seiner Partei gefordert hatte, gab es am Montag noch keine Einigung über die Zusammensetzung der neuen Regierung und ihren neuen Chef. Die Gespräche wurden am Montag unter Leitung von Papoulias fortgesetzt.

PASOK hat immer noch eine knappe Mehrheit im Parlament, wie das Ergebnis der Vertrauensabstimmung von 153 zu 145 in den frühen Morgenstunden des Samstag zu Gunsten Papandreous zeigte. So kann Venizelos, ebenfalls PASOK-Mitglied, auch in der kommenden Regierung eine wichtige Rolle spielen. Wahrscheinlich ist die Ernennung eines "parteilosen" Übergangspremiers. Das könnte Lukas Papademos sein, der ehemalige Vizepräsident der Europäischen Zentralbank.

Nea Demokratia hat jegliche Oppositionshaltung gegen die Sparpolitik von PASOK aufgegeben. Sie hatte ihren Zweck, die Papandreou-Regierung zu unterminieren und zu stürzen, erreicht. Die konservative Partei gehört der Gruppe konservativer Parteien im Europaparlament an und hat enge Beziehungen zur CDU Angela Merkels und zur französischen UMP von Nicolas Sarkozy. Beide konservativen Parteien schreien besonders laut nach brutalen Haushaltskürzungen in Griechenland.

Als Teil des Kuhhandels mit der PASOK hat Nea Demokratia jetzt zugestimmt, den Regelungen des Sparabkommens mit der Europäischen Union zuzustimmen, sobald die letzten Details geklärt sind. Deadline ist der 15. Dezember, wenn der griechischen Regierung das Geld ausgehen wird, um die Gehälter und Pensionen von Staatsbeamten und die Zinsen auf Staatspapiere zu zahlen.

Papandreou ist schon der dritte europäische Regierungschef, der dieses Jahr infolge der Eurokrise sein Amt verliert. Er wird nicht der letzte bleiben.

So wurde im Februar die Koalition aus Fianna Fail und Grünen in Irland in der Parlamentswahl vernichtend geschlagen und von einer rechten Koalition aus Fine Gael und Labour Party abgelöst.

Im Juni wurde die regierende Sozialistische Partei in Portugal von den rechten Sozialdemokraten besiegt.

Die regierende sozialdemokratische PSOE in Spanien wird bei der Parlamentswahl am 20. November wahrscheinlich hohe Verluste hinnehmen müssen, und Ministerpräsident Jose Luis Zapatero hat schon lange vor dem Wahlgang auf eine erneute Kandidatur verzichtet und ist als Chef der PSOE zurückgetreten.

In Italien muss die Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi am Dienstag erneut eine Vertrauensabstimmung über das Haushaltsgesetz bestehen, die er leicht verlieren könnte.

Falls eine Niederlage von Berlusconis Regierung zu vorgezogenen Neuwahlen führt, wären alle fünf Regierungen der so genannten PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) gestürzt, die Anfang des Jahres als Wackelkandidaten der Finanzkrise eingeschätzt wurden.

Schon auf dem G-20-Gipfel Anfang November in Cannes wurde Berlusconi gezwungen, die Aufsicht des Internationalen Währungsfonds über die italienische Wirtschaft zu akzeptieren. Dieser Schritt, der einen unmittelbaren Vertrauensverlust der europäischen Finanzmärkte verhindern sollte, könnte aber eine solche Entwicklung erst recht beschleunigen. Denn ein ernsthafter Kassensturz in Italien könnte ergeben, dass die Finanzkrise viel schlimmer ist als erwartet.

In Griechenland nimmt die politische Krise die Form einer de facto Regierungsübernahme durch die EU und ihre Emissäre an. EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn sagte gegenüber Reuters, die europäischen Mächte begrüßten den Regierungswechsel in Athen. "Wir haben uns für eine Regierung der nationalen Einheit eingesetzt und sind nach wie vor der Meinung, dass sie der überzeugende Weg ist, Vertrauen wiederherzustellen und die Verpflichtungen zu erfüllen", sagte Rehn.

Er fügte hinzu, Papandreous Plan vom vergangenen Montag, in Griechenland ein Referendum über die von der EU und dem IWF diktierten Kürzungsmaßnahmen abzuhalten, sei ein "Vertrauensbruch Griechenlands" gewesen, der "das Land aus der Eurozone geführt hätte". Rehn fuhr fort: "Wir wollen das nicht, aber wir müssen auf jedes Szenarium vorbereitet sein, auch auf dieses, um die Finanzstabilität zu erhalten und den Euro zu retten."

Mit seinem überraschenden Referendum wollte Papandreou die Nea Demokratia, die Gewerkschaften und deren pseudo-linke Anhängsel zwingen, Farbe zu bekennen und ihre angebliche Opposition gegen die Sparmaßnahmen aufzugeben. Er wurde am Vorabend des G-20-Gipfels von Sarkozy und Merkel nach Frankreich zitiert, wo ihm angedroht wurde, Griechenland würde keine Kredite mehr erhalten und aus der Eurozone ausgeschlossen werden. Darauf ließ Papandreou die Idee eines Referendums fallen. Inzwischen hatte Nea Demokratia ihre Unterstützung für die Sparpläne von EU und IWF zugesagt.

Europäischen Presseberichten zufolge genießt Venizelos die Unterstützung wichtiger EU-Mächte, vor allem Deutschlands, weil er sich frühzeitig gegen Papandreous Referendumspläne gewandt hatte. Nach Papandreous Treffen mit Merkel und Sarkozy sprach sich Venizelos öffentlich gegen ein Referendum aus und wurde dafür in den europäischen Medien hoch gelobt.

Venizelos ist ein langjähriger Rivale Papandreous. Ihre Konkurrenz geht auf die Auseinandersetzung um die PASOK-Führung 2007 zurück, als die Partei noch in der Opposition war. Papandreou ernannte ihn diesen Sommer zum Finanzminister, um alle PASOK-Fraktionen in die von der EU verlangten Kürzungen einzubinden. Davor war Venizelos Verteidigungsminister.

Diese Verbindung zum Militär wirft viele Fragen auf. Gleichzeitig mit seinem Referendums-Vorschlag entließ Papandreou vergangene Woche die gesamte oberste Militärführung. Papandreou löste die Spitzen der Armee, der Marine, der Luftwaffe und des Generalstabs ab, die alle von der konservativen Vorgängerregierung berufen worden waren. Mit Venizelos als Verteidigungsminister hatten sie eng zusammengearbeitet.

Die Säuberung der Spitzengenerale inmitten einer Regierungskrise vermittelte den Eindruck einer vorsorglichen Maßnahme gegen eine Militärintervention. In diesem Sinne kommentierten auch die europäischen Medien die Ereignisse, während die amerikanische Presse sich weitgehend ausschwieg. Das alleine ist schon ein Hinweis darauf, dass die amerikanische Regierung in den griechischen Ereignissen eine wichtige Rolle spielt, wenn auch hinter den Kulissen. Die offiziellen amerikanischen Medien üben sich in loyalem Stillschweigen.

Was immer das Ergebnis der politischen Manöver in Athen sein wird, die griechische Arbeiterklasse hat jetzt schon einen hohen Preis bezahlt. Einem Bericht des Inter Press Service (IPS) zufolge haben die bisher eingeführten Maßnahmen schon zu einer "neuen Armut" in Athen geführt. Breite Schichten der Bevölkerung, die bis vor kurzem an regelmäßige Beschäftigung und einen akzeptablen Lebensstandard gewöhnt waren, werden jetzt ins Elend gestoßen.

Der IPS-Bericht vom 1. November zeigt, dass sich in der griechischen Hauptstadt Obdachlosigkeit ausbreitet. Plötzlich gibt es hier ambulante Kliniken und Verpflegungsstationen, wie man sie aus Kriegsgebieten der dritten Welt kennt. In der Europäischen Union wurden sie seit Jahrzehnten nicht gesehen.

So gibt es eine medizinische Einrichtung für Obdachlose, die von den Ärzten der Welt betrieben wird, und eine Freiwilligenklinik in Perama, einem Athener Arbeiterviertel, wo früher hauptsächlich Hafenarbeiter und Schiffsbauer wohnten, von denen wohl die meisten inzwischen arbeitslos sind.

Nikitas Kanakis von Ärzte der Welt sagte gegenüber IPS: "Von den vierzig Kindern, die unser Kinderarzt vor zwei Wochen untersuchte, waren 23 schlecht ernährt. Vor einigen Jahren dachten wir, dass dieses Land über den Punkt hinaus sei, an dem Nahrungsmangel ein ernstes gesellschaftliches Problem sei. Jetzt müssen wir an die Öffentlichkeit appellieren, um die Vorräte zu erhalten, die wir benötigen, um die Bedürftigen mit Trockenrationen, Kleidung und Medizin zu versorgen."

Wie das Athener Zentrum für Obdachlose berichtet, sind es seit Anfang 2011 dreißig Prozent mehr Menschen, die nach Lebensmitteln fragen. Allein in Athen verteilen kirchliche Einrichtungen und andere Hilfsorganisationen täglich 12.000 Mahlzeiten an die Hungrigen.

Es gibt auch Berichte über einen deutlichen Anstieg des Drogenkonsums, wie auch der Krankheiten, die durch Sexualverkehr übertragen werden. Solche gesellschaftlichen Erscheinungen sind eine direkte Folge von Armut und Massenarbeitslosigkeit. Nach Angabe des Gesundheitsministeriums haben die Selbstmorde um vierzig Prozent zugenommen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.11.2011
Eurokrise: Griechischer Ministerpräsident aus dem Amt getrieben
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2011