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GLEICHHEIT/4152: Gewerkschaftler und Akademiker verteidigen die Europäische Union


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Gewerkschaftler und Akademiker verteidigen die Europäische Union

Von Johannes Stern
4.‍ ‍April 2012



Am 26. März veröffentlichten führende deutsche Gewerkschafter, "linke" Wissenschaftler und Politiker einen Aufruf zur Verteidigung der Europäischen Union (EU) mit dem Titel "Europa neu begründen". Der Aufruf ist eine Reaktion auf den zunehmenden Widerstand von Arbeitern in Europa gegen Massenentlassungen und Sozialabbau.

Anfang der Woche gab die EU-Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg neue Arbeitslosenzahlen bekannt. Danach sind fast 25 Millionen Menschen in der EU ohne Job. Die Arbeitslosenquote von 10,2 Prozent ist die höchste seit 1997. Zur selben Zeit veröffentlichte Le Monde einen schockierenden Bericht über das Anwachsen von Kinderarbeit in Neapel und anderen sozialen Brennpunkten.

Immer mehr Menschen sehen, dass die Europäsche Union und ihre Institutionen ein Land nach dem anderen zu drastischem Sozialabbau und Massenentlassungen im öffentlichen Dienst zwingen. Nach dem die Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank Griechenland in den Ruin getrieben hat, knüpft sie sich nun Spanien, Italien und Portugal vor. Der Widerstand dagegen richtet sich immer deutlicher gegen die EU.

In dieser sich zuspitzenden Situation bemühen sich einige Gewerkschaftsbürokraten und Akademiker wie der Philosoph Jürgen Habermas die EU zu verteidigen.

Besorgt stellen sie in ihrem Aufruf fest, dass das "Projekt Europa [...] auf der Kippe steht" und immer mehr Menschen "der EU Sympathie und Zustimmung entziehen." Der Aufruf kritisiert die Auswirkungen der von der EU diktierten Sparpolitik und prangert die "Dominanz der (Finanz-)Märkte" in Europa an. "Öffentliche Ausgaben sowie Arbeits- und Sozialeinkommen werden durch europäische Vorgaben radikal gekürzt, Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnern werden die Kosten der Bankenrettung aufgebürdet", heißt es.

Anstatt aus dieser Bestandsaufnahme den reaktionären Charakter der Brüsseler Institutionen abzuleiten, stellt der Aufruf der Bürokraten und Philosophen der realen Kürzungspolitik der EU das abstrakte Ideal einer EU der sozialen Harmonie gegenüber, die alle Vorteile hat und nur einen Nachteil: Es gibt sie nicht.

Wortreich wird in dem Aufruf von der Möglichkeit eines "Pfadwechsels" gesprochen. Erreicht werden könne ein solcher angeblich durch eine Finanztransaktionssteuer, Eurobonds und eine inflationäre Geldpolitik. Des Weiteren wird eine "Demokratieoffensive" gefordert. "Soll Europa eine Zukunft haben, muss aktiv um die Zustimmung und Zuneigung der Menschen geworben werden. In einer europäischen Öffentlichkeit müssen sich die Akteure über eine Leitidee für ein soziales und demokratisches Europa verständigen."

Die hohlen Phrasen von "alternativer Wirtschaftspolitik" und "Demokratie" sollen darüber hinwegtäuschen, dass die EU ausschließlich den Interessen der europäischen Bourgeoisie dient. Sie ist das Instrument der herrschenden Klasse in Europa, alle sozialen und demokratischen Rechte zu zerschlagen, die sich die europäische Arbeiterklasse in den großen Klassenschlachten des vergangenen Jahrhunderts erkämpft hat.

Die Argumente der EU-Verteidiger sind absurd. Sie sprechen von einer Demokratieoffensive, während die Troika und EU-Institutionen in Griechenland und Italien mit völlig undemokratischen Mitteln Regierungswechsel durchgesetzt und so genannte Technokraten-Regierungen an die Macht gebracht haben, deren prinzipielle Aufgabe darin besteht, die Sozialkürzungen im Interesse der Finanzaristokratie gegen den Widerstand der Bevölkerung, das heißt gegen den Mehrheitswillen, durchzusetzen.

Die von der EU eingesetzten Regierungschefs in Athen und Rom Loukas Papadimos und Mario Monti sind ehemalige Banker und Ökonomen. Ihre Regierungen wurden niemals demokratisch legitimiert und sind einzig und allein den Interessen der europäischen Banken und Finanzelite verpflichtet.

Die EU-Finanzminister haben dem Fiskalpakt zugestimmt, der eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild beinhaltet. Dadurch werden Parlamentarier auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gezwungen, Sparmaßnahmen durchzusetzen. Sollten sie sich dieser Politik des sozialen Kahlschlags widersetzen und dem Druck der Bevölkerung nachgeben, machen sie sich strafbar.

Die Politik der EU wird von den europäischen und internationalen Banken diktiert. Erst hat die Finanzelite hunderte Milliarden Euro Steuergelder in Form von Bankenrettungspaketen aus der Staatskasse auf die Konten der Banken und Spekulanten gelenkt. Dann erklärt sie, die Bevölkerung lebe über ihre Verhältnisse und setzt Sparmaßnahmen durch. Schließlich nutzt sie die wachsende Wirtschaftskrise und Rezession, um alle Sozialstandards der vergangenen Jahrzehnte zu zerschlagen.

Wer unter diesen Bedingungen von einer Demokratisierung der EU spricht, ist entweder ein Narr, oder ein politischer Scharlatan, der die rechte EU-Politik mit linken Phrasen abdeckt.

Die Gewerkschaftsfunktionäre, die den Aufruf unterschrieben haben, sitzen alle in Parteien, die an der Entwicklung und Durchsetzung der rechten EU-Politik beteiligt waren und sind. Darüber hinaus spielen die Gewerkschaften selbst eine Schlüsselrolle, um den wachsenden Widerstand gegen die EU unter Kontrolle zu halten und in fruchtlosen Protest zu lenken. Nur wenige Tage bevor der Aufruf veröffentlicht wurde, traf sich Merkel mit führenden europäischen Gewerkschaftsführern um, so Merkel, "die Weichen für die Zukunft zu stellen."

Der Aufruf selbst stellt klar, dass die Gewerkschaften mit dem europaweiten Sozialkahlschlag prinzipiell übereinstimmen. Der Text fordert "die Ablehnung des Fiskalpakts in seiner gegenwärtigen Form" [Hervorhebung des Autors] und plädiert für "eine Neuverhandlung des fiskalpolitischen Rahmens". Die Gewerkschaften fordern, in die Durchsetzung der anstehenden Kürzungen stärker mit einbezogen zu werden.

Die Unterzeichner des Aufrufs sind allesamt Spezialisten für die Durchsetzung sozialer Angriffe. Es waren die deutschen Gewerkschaften, die in Zusammenarbeit mit der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 und der Einführung der Hartz-IV Gesetze einen nach dem zweiten Weltkrieg beispiellosen Sozialkahlschlag organisiert haben. Dieses "Modell Deutschland" betrachten die EU und die europäischen Regierungen als Vorbild für die Kürzungspolitik in ganz Europa.

Die Liste liest sich wie ein "Who is who" der deutschen Gewerkschaftsbürokratie. Die Initiatoren des Aufrufs sind u. a. Verdi-Chef Frank Bsirske, Annelie Buntenbach (Mitglied im DGB-Bundesvorstand, der Grünen und Attac) und Hans-Jürgen Urbahn (geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall). Unter den Erstunterzeichnern sind der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und Franz Steinkühler, ehemaliger Vorsitzender der IG-Metall, der nun als Vermögens- und Unternehmensberater arbeitet.

Ergänzt wird die Liste der Erstunterzeichner von einigen Akademikern. Neben Jürgen Habermas stehen die Namen der Sozialwissenschaftler Elmar Altvater und Frank Deppe, die beide Mitglieder der Linkspartei sind und schon lange ihre Aufgabe darin sehen, der reaktionären EU ein schein-demokratisches Deckmäntelchen umzuhängen.

Doch Fakten sind hartnäckig und täglich wird deutlicher, dass die EU von Anfang an eine Initiative der herrschenden Klassen in Europa war. In den Anfängen diente die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes der Stärkung Westeuropas gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg. In den siebziger Jahren entwickelte sie sich als Instrument zur Unterdrückung der Streiks und Massenbewegung der Arbeiter. Und vor allem nach der Wiedervereinigung und der Auflösung der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre diente die EU als Instrument der europäischen Großmächte sich in der veränderten Weltsituation besser behaupten und durchsetzen zu können.

Der "Vertrag über die Europäische Union" wurde nur zwei Monate nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im März 1992 in Maastricht unterzeichnet. Von Anfang an sah die EU ihre Aufgabe darin die europäischen Konzerne gegen ihre internationale Konkurrenz zu stärken. Die sogenannte Lissabon-Strategie, die im Jahr 2000 auf einem EU-Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs in Portugal beschlossen wurde, hatte das erklärte Ziel, die EU zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen.

Was dies konkret bedeutet wird gegenwärtig in Griechenland sichtbar. Die vom Internationalen Währungsfond, der Weltbank und der Europäischen Zentralbank diktierten Sparmaßnahmen haben das Land vollständig ruiniert und weite Teile der griechischen Bevölkerung in Not und Elend gestürzt. Es gibt Massenentlassungen, Löhne werden um bis zu 50 Prozent gekürzt, Sozialleistungen zusammengestrichen und die griechische Wirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt. Die Folge sind Armut, Hunger und Menschenschlangen vor Suppenküchen in Athen. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei über 23 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit nach Schätzungen bei über 60 Prozent.

Um diesen sozialen Alptraum in Europa zu stoppen, müssen die europäischen Arbeiter einen gemeinsamen und bewussten Kampf gegen die EU, ihre Institutionen und ihre politischen Unterstützer führen. Die Einheit der europäischen Arbeiterklasse und Bevölkerung wird nicht durch die EU sondern im Kampf gegen sie geschaffen.

Die EU muss gestürzt und Arbeiterregierungen in ganz Europa aufgebaut werden. Aller Habermasschen Phrasen von einer "Demokratisierung der EU" zum Trotz, zeigt die Realität, dass Europa nicht auf kapitalistischer Grundlage vereint oder gar demokratisiert werden kann. Möglich ist dies nur durch den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.04.2012
Gewerkschaftler und Akademiker verteidigen die Europäische Union
http://www.wsws.org/de/2012/apr2012/eu-a04.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012