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GLEICHHEIT/6110: Grenzgefechte zwischen Indien und Pakistan verschärfen Krise in Südasien


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Grenzgefechte zwischen Indien und Pakistan verschärfen Krise in Südasien

Von Keith Jones
2. November 2016


In den letzten Tagen ist der Konflikt zwischen Indien und Pakistan an der gemeinsamen Grenze eskaliert. Verstärkt kam es zum Beschuss mit Artillerie und Handfeuerwaffen, auf beiden Seiten der Grenze stieg die Zahl der Todesopfer unter Soldaten und Zivilisten. Die beiden rivalisierenden Atommächte sind damit dem offenen Krieg noch näher gekommen.

Laut Angaben der indischen Behörden wurden am Montag ein indischer Soldat und eine Zivilistin getötet, als pakistanische Truppen mit Granatwerfern mehrfach über die Line of Control (LoC) feuerten, die Demarkationslinie zwischen dem indisch- und dem pakistanisch besetzten Teil von Kaschmir.

Indische Quellen berichten, die Zahl der Todesopfer unter indischen Sicherheitskräften sei durch den jüngsten Angriff auf insgesamt sieben in einem Zeitraum von zehn Tagen gestiegen. Die meisten Todesopfer gingen auf Beschuss von der anderen Seite der Grenze zurück, doch zwei starben bei Zusammenstößen mit anti-indischen islamistischen Aufständischen, die laut Neu-Delhi unter dem Schutz von pakistanischem Artilleriebeschuss die LoC überschritten haben.

Bei dem wiederholten heftigen Beschuss von beiden Seiten der Grenze mit Artillerie und Maschinengewehren wurden zudem mehrere Dutzend Inder verwundet, die meisten davon Zivilisten.

Das indische Militär berichtet derweil stolz, es habe zahlreiche pakistanische Sicherheitskräfte getötet oder verwundet.

Am Sonntag erklärte das Northern Command des indischen Militärs in einer Stellungnahme, es habe dem pakistanischen Militär am vorherigen Abend "hohe Verluste" zugefügt, als es bei "einem massiven Feuerschlag" vier Armeeposten "im Keran-Sektor" zerstörte.

In der Erklärung heißt es, der Beschuss mit Granatwerfern, Raketen und Maschinengewehren vom Samstag sei eine Vergeltungsaktion für die Enthauptung eines indischen Soldaten gewesen. Terroristen sollen nach Indien eingedrungen sein und die Tat am Freitag begangen haben. Die hindu-chauvinistsiche Bharatiya Janata Party (BJP), die derzeit in Indien regiert, das Militär und die Mainstream-Medien stürzen sich auf die angebliche Enthauptung und berichten in reißerischer Manier, um die Spannungen gegenüber Pakistan zu verschärfen.

Anfang der Woche erklärte der indische Grenzschutz, seine Streitkräfte hätten bei Feuergefechten an der Grenze mindestens fünfzehn paramilitärische Pakistan Rangers getötet.

Das pakistanische Militär wies diese Behauptung zurück. Doch im Dawn, der einflussreichsten englischsprachigen Zeitung des Landes, erschien ein Bericht, nach dem am Donnerstag "mindestens zwei Menschen" im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs durch indischen Beschuss getötet und elf weitere verletzt wurden.

Die pakistanische Militärführung veröffentlichte am Freitag eine Erklärung, in der sie indische Behauptungen, Pakistan hätte "jedwede" Opfer zu beklagen, als "absolut unbegründet und unwahr" bezeichnete. Das Inter-Services Public Relations Bureau erklärte, Indiens Behauptung diene der Verheimlichung von eigenen Verluste an der Line of Control und solle die "Aufmerksamkeit der Welt von der Kaschmir-Frage" ablenken.

Beide Seiten lügen systematisch in Bezug auf die grenzübergreifenden Feuergefechte, allein im vergangenen Monat kam es hier zu mehr als 60 einzelnen Vorfällen. Sie lügen in Hinblick auf die Frage, wer wann welchen Beschuss begonnen hat, und in Hinblick auf die tödliche Folgen.

Unbestreitbar ist jedoch, dass die beiden Länder kurz vor einem Krieg stehen. Die indische BJP-Regierung verschärft den Druck auf Pakistan und hofft, dadurch ihre Position gegenüber dem zunehmend diplomatisch isolierten Islamabad zu verbessern. Gleichzeitig will die indische Regierung die Krise auch nutzen, um die reaktionären Kräfte und damit ihren Rückhalt im eigenen Land zu stärken.

Indiens Regierung und Militär erklären öffentlich, sie würden Pakistan zwingen, sämtliche Unterstützung für die anti-indische Aufstandsbewegung in Jammu und Kaschmir einzustellen, den einzigen mehrheitlich muslimischen Bundesstaaten in Indien. Hierzu, auch das wird offen gesagt, würden sie auch Militärschläge im Inneren Pakistans anordnen, selbst wenn dies zu einem offenen Krieg führt.

Letzten Monat gab die BJP-Regierung bekannt, dass indische Spezialeinheiten Einsätze in Pakistan durchgeführt haben. Bei diesen sogenannten "chirurgischen Schlägen" hätten islamistische Terroristen und ihre "Beschützer" angeblich "schwere Verluste" erlitten.

In den letzten 40 Jahren hat Indien nie öffentlich zugegeben, dass man Militäraktionen im Inneren von Pakistan durchgeführt hat, denn es gab die Befürchtung, damit eine Dynamik von Schlägen und Gegenschlägen auszulösen, die schnell zu einem offenen Krieg führen könnte. Doch nun feierten die Regierung, die Opposition und die Mainstream-Medien die Angriffe als das Ende von Indiens angeblicher Politik der "strategischen Zurückhaltung" gegenüber Pakistan.

Neu-Delhi hat in den letzten Tagen durch mehrere Schritte gezeigt, dass sich Indien aktiv auf einen Krieg vorbereitet. Unter anderem hat die indische Regierung den forcierten Kauf von Munition angeordnet, darunter Artilleriegranaten, Raketen, Panzermunition und Gewehre, um sicherzustellen, dass das indische Militär genug Reserven für 40 Tage "erbitterter Kämpfe" hat.

Indien hat außerdem eine Marineübung im Arabischen Meer südlich von Pakistan stark erweitert, die vom 1. bis zum 14. November dauern soll. Mehr als 40 Kriegsschiffe und U-Boote sowie Marine- und Aufklärungsflugzeuge werden an der Übung teilnehmen.

Neu-Delhi übt zudem weiter diplomatischen Druck auf Pakistan aus. Nachdem die indische Regierung bereits andere südasiatische Staaten dazu gebracht hat, die Konferenz der Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation (SAARC) zu boykottieren, die Anfang November in Pakistan stattfinden sollte, lotet sie jetzt offen die Möglichkeit aus, eine eigene Organisation aus regionalen Staaten als Konkurrenzinstitution zu gründen. Islamabad wäre von dieser Organisation ausgeschlossen.

Letzten Donnerstag gab Neu-Delhi die Ausweisung eines pakistanischen Diplomaten bekannt, der angeblich einen Spionagering leitet. Islamabad reagierte darauf mit der Ausweisung eines indischen Diplomaten, der angeblich die "Wiener Konvention" über diplomatische Beziehungen und "etablierte diplomatische Normen" verletzt hat.

Die BJP wird in ihrer Haltung und im Kriegsstreben von den Großmächten bestätigt, vor allem von den USA, die die "chirurgischen Angriffe" befürworteten.

Pakistan war jahrzehntelang Washingtons wichtigster Verbündeter in Südasien. Doch in den letzten zehn Jahren haben die USA eine "globale strategische Partnerschaft" mit Indien aufgebaut, um das Land in einen "Frontstaat" bei ihrer militärisch-strategischen Offensive gegen China zu verwandeln. Unter Premierminister Narendra Modi hat Indien die Zusammenarbeit mit den USA stark ausgebaut. Das Land unterstützt damit die gegen China gerichtete US-Politik "Pivot to Asia" und erlaubt amerikanischen Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen, regelmäßig indische Militärbasen für Nachschub, Reparaturen und Erholungszeiten zu nutzen. Washington hat Indien im Gegenzug den Status eines "wichtigen Verteidigungspartners" verliehen, so dass Neu-Delhi Zugang zu dem modernsten Kriegsgerät des Pentagons hat.

Islamabad hat mehrfach erfolglos gegen Washingtons üppige strategische Gefälligkeiten für Neu-Delhi protestiert. Pakistan warnt, hiermit würde das Kräftegleichgewicht in Südasien gestört und Indien zu einem aggressiveren Verhalten ermutigt.

Der indische Premierminister Modi und seine Regierung peitschen mit Hilfe der Medien die Kriegsbegeisterung hoch und stimmen ein Triumphgeheul über die "chirurgischen Angriffe" auch deshalb an, um die wachsende Wut über Arbeitslosigkeit, Mangel und soziale Ungleichheit in reaktionäre Bahnen zu lenken.

Die BJP erklärt, sie wolle die "chirurgischen Schläge" und ihre harte Haltung gegenüber Pakistan ins Zentrum des Wahlkampfs in Uttar Pradesh stellen, dem größten Bundesstaat des Landes. Sie hat außerdem ihre Hetzkampagne gegen Regierungskritiker verschärft. Auch Kritiker aus den rechten bürgerlichen Oppositionsparteien werden als unloyal und "antinational" verurteilt.

Die Haltung der BJP bringt sogar einige Unterstützer von Indiens aggressiver Haltung dazu, sich warnend zu äußern.

Bruce Riedel, ein langjähriger CIA-Mitarbeiter und früherer Berater der Obama-Regierung gehörte zu den Stimmen aus dem militärisch-strategischen Establishment der USA, die Indiens Luftangriffe im Inneren von Pakistan am 29. September befürworteten. Doch letzte Woche erklärte er in der New York Times: "Wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, aber wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Lage. Wenn der nächste Terroranschlag kommt, und das ist nur eine Frage der Zeit, sitzt der Premierminister in der Falle ... Er kann sich nicht ohne Gesichtsverlust auf diplomatische Lösungen beschränken."

Pakistan befindet sich derweil in der Krise. Ein Ausdruck davon ist die Reaktion des Militärs auf einen Bericht des Dawn, nach dem bei einem Treffen hoher Regierungsvertreter und Militärs die akute diplomatische Isolation und die daraus resultierende Notwendigkeit diskutiert wurde, ihre Unterstützung für anti-indische Islamistengruppen zu verstärken. Das Militär zwang den Dawn nicht nur dazu, die Geschichte zurückzuziehen, sondern hat auch die Regierung dazu aufgefordert, den Informationsminister zu entlassen und eine Untersuchung einzuleiten, wie die Geschichte in Umlauf kommen konnte.

Imran Khan, der Vorsitzende der drittgrößten Partei des Landes, der Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), hat eine Massenprotestveranstaltung angekündigt. Er will Premierminister Nawaz Sharif dazu zwingen, einer Untersuchung zu den Offshore-Investments seiner Familie zuzustimmen, die durch die Panama Papers enthüllt wurden.

Khan hat Sharif mehrfach Feigheit vorgeworfen, weil er sich angeblich nicht gegen Indien durchsetzen kann. Er deutete außerdem an, dass er nichts dagegen habe, wenn das Militär die Regierung Sharif beseitigt. Am Sonntag erklärte er, Sharif wäre selbst dafür verantwortlich, wenn als Reaktion auf die "Lähmung" Islamabads nunmehr eine "dritte Kraft" einschreiten würde.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 02.11.2016
Grenzgefechte zwischen Indien und Pakistan verschärfen Krise in Südasien
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2016

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