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GLEICHHEIT/6296: Immer mehr Suizidversuche von Flüchtlingen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Immer mehr Suizidversuche von Flüchtlingen

Von Carola Kleinert
11. April 2017


Die brutale Abschiebepolitik des Bundes und der Länder treibt immer mehr Flüchtlinge in den Selbstmord.

Mitte März dieses Jahres berichtete der WDR, dass nach offiziellen Zahlen 433 Flüchtlinge in den Jahren 2014 bis 2016 versuchten, sich das Leben zu nehmen. Neunzehn Menschen kamen zu Tode. In Wahrheit sind die Zahlen um ein Vielfaches höher. Zum einen erheben nur wenige Bundesländer überhaupt eine Statistik über Suizide und Suizidversuche. Zum anderen beruhen die vorliegenden Daten meist nur auf Einzelfallerkenntnissen oder einer Auswertung der Polizeistatistik.

Allein in Bayern haben im letzten Jahr 162 Flüchtlinge einen Suizidversuch unternommen, so die Süddeutsche Zeitung Anfang April. Laut der asylpolitischen Sprecherin der Grünen Christine Kamm ist dies mehr als eine Verdreifachung gegenüber den Vorjahren. Darunter befanden sich 43 Menschen aus Afghanistan.

Seit vergangenem Dezember hat Bundesinnenminister de Maizière Sammelabschiebungen in das kriegsverwüstete Afghanistan durchgesetzt. Seitdem machen sich Verzweiflung und Angst unter den Zehntausenden in Deutschland lebenden Afghanen breit, die in der Vergangenheit wegen der anhaltenden Kriegssituation in ihrer Heimat zumindest Schutzstatus bekamen.

Die Asylbehörde (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF) verschickt inzwischen wie am Fließband und unterschiedslos Ablehnungsbescheide, die auch Afghanen treffen, die schon länger in Deutschland leben.

Ein zwanzigjähriger Afghane warf sich unmittelbar nach Erhalt des Ablehnungsbescheids in Haar bei München vor den ICE, wie die Abendzeitung in München vor kurzem berichtete. Er war vor neunzehn Monaten aus der afghanischen Provinz Kandahar nach Deutschland geflüchtet. Seither war er schwer traumatisiert und depressiv.

Jeden Tag habe er vier bis fünf Stunden Deutsch gelernt, sich in den letzten Wochen aber mehr und mehr zurückgezogen, wie eine ehrenamtliche Helferin berichtete. "Er hatte eine unvorstellbare Angst davor, zurückkehren zu müssen", sagte sie. "Die Afghanen bekommen alle negative Bescheide. In den Unterkünften geht die Angst um ...", fügte sie hinzu und konstatierte wütend: "Die rigide Abschiebepolitik von de Maizière hat ihn umgebracht."

Der Kölner Rechtsanwalt Gunter Christ, Mitglied im Kölner Flüchtlingsrat, bestätigte, dass die Suizid-Gefahr "dramatisch zugenommen" habe, und verurteilte ebenfalls die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Es gebe immer mehr Menschen, die in Kliniken eingewiesen würden, sagte er dem Deutschlandfunk Ende Februar. "Insofern ist es auch eine Art Suizidprogramm. Andere bringen sich nicht um, aber drehen völlig durch. Und landen in der Psychiatrie."

Der Bayerische Flüchtlingsrat machte in einer Protestnote auf zwei weitere Schicksale aufmerksam: Der 24-jährige K. und der 27-jährige S. hatten im Abschiebegefängnis versucht, sich das Leben zu nehmen.

Der seit sechs Jahren in Deutschland lebende K., dessen geplante Heirat mit einer Deutschen aufgrund einer fehlenden Bestätigung der deutschen Botschaft aus Kabul verschoben wurde, hatte sich die Handgelenke aufgeschnitten und eine chlorhaltige Flüssigkeit zu sich genommen. Nach der Erstversorgung auf der Krankenstation des Abschiebegefängnisses war er in die psychiatrische Abteilung der Inn-Salzach-Klinik nach Wasserburg gebracht worden. Der behandelnde Arzt hatte noch am Einlieferungstag dem Patienten angekündigt, er werde zum drei Tage später stattfindenden Sammelabschiebeflug (am 27. März) ins Abschiebegefängnis entlassen, wie die Verlobte dem Flüchtlingsrat berichtete.

S. hatte bereits mit Hilfe seiner Anwältin eine Aufhebung der vom Amtsgericht Augsburg erlassenen Abschiebehaft erreicht. Unter Vortäuschung falscher Tatsachen wurde er jedoch in die Ausländerbehörde Augsburg gelockt und per Haftbefehl erneut ins Abschiebegefängnis nach Mühldorf gebracht. Die Behörde hatte beim Amtsgericht Memmingen wegen angeblicher Fluchtgefahr erneut Abschiebehaft durchgesetzt.

Stephan Dünnwald, Sprecher des Bayrischen Flüchtlingsrats, verurteilte die Zusammenarbeit zwischen Regierung, Psychiatrie und Amtsgerichten: "Eine Psychiatrie stempelt einen Suizidgefährdeten gesund, damit die Behörden den Betroffenen noch schnell auf den Flug nach Kabul setzen können. Eine Richterin am Amtsgericht stellt einen Haftbeschluss aus, wohl wissend, dass ein anderes Amtsgericht erst vor wenigen Tagen festgestellt hatte, es liege kein ausreichender Grund für die Abschiebehaft vor - das sind willfährige Handlanger des bayrischen Abschiebeministers."

Dr. Tom Nowotny von der Ärzteorganisation IPPNW kritisierte darüber hinaus die Ärzte, die an den Sammelabschiebungen beteiligt sind. "Geflüchtete werden für die Abschiebungen nach Afghanistan für flugtauglich erklärt, obwohl sie es nicht sind."

Auch Flüchtlinge aus anderen Ländern sind betroffen. Ende Oktober 2016 geriet Thüringen, das von einem Ministerpräsidenten der Linkspartei, Bodo Ramelow, regiert wird, mit einem Aufsehen erregenden Fall in die Schlagzeilen: Ein schwer depressiver 15-jähriger Somalier war im ostthüringischen Schmölln vom obersten Stockwerk eines Plattenbaus gesprungen, wo eine Wohngruppe für unbegleitete Flüchtlinge untergebracht war. Erst kurz zuvor war er aus der psychiatrischen Klinik entlassen worden.

Am 30. März dieses Jahres sprang der 28-jährige Pakistani Faisal Imran unter den entsetzten Augen vieler Passanten von der Dachterrasse eines Hotels am Leipziger Hauptbahnhof.

Ein weiterer erschütternder Fall wurde aus Wurzen bei Leipzig gemeldet. Die Leipziger Volkszeitung berichtete über eine Trauerfeier, die am 2. April für die gerade 17-jährige Shewit aus Eritrea stattfand.

Shewit hatte sich mit fünfzehn Jahren aufgemacht, um vor Armut, Gewalt und Terror in ihrer Heimat zu flüchten. Sie gelangte nach fast einjähriger Odyssee über das Mittelmeer nach Italien und schließlich nach Deutschland. Hier war sie zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen untergebracht, dann im sächsischen Markranstädt und fand schließlich im Januar dieses Jahres im Kinderheim für minderjährige Asylsuchende in Borsdorf ein Zuhause.

Obwohl Shewit als unbegleitete Minderjährige zu den besonders Schutzbedürftigen zählte, entschied das BAMF, sie gemäß der Dublin-II-Verordnung nach Italien - das Erstaufnahmeland, wo ihre Fingerabdrücke registriert wurden - auszuweisen. Der Mitorganisator der Trauerfeier, Pastor Wietrichowski, bemerkte dazu: Für Shewit, die Mitte Februar den Ausweisungsbescheid des BAMF erhielt, sei wohl "die Angst vor dem, was im Leben kommt, größer (...) als die Angst vor dem Tod" gewesen.

In einigen Bundesländern werden Suizide von Flüchtlingen gar nicht erfasst, darunter in dem von der Linkspartei regierte Thüringen und dem von den Grünen regierte Baden-Württemberg. Auch das rot-rot-grün regierte Berlin hat bisher noch keine Statistik. Andere Länder, wie das CDU-regierte Sachsen, erfassen zwar solche Zahlen, spielen sie jedoch herunter. Das sächsische Innenministerium antwortete kürzlich auf eine Anfrage der Linken, die Zahlen hätten keine "statistisch auffällige Größenordnung", und es bestünde "jenseits bestehender Maßnahmen" kein Handlungsbedarf.

Psychologen und Sozialpädagogen weisen dies zurück. Die Suizidgefährdung gehe eindeutig auf die Kriegs- und Fluchterlebnisse der Flüchtlinge zurück und ebenso auf ihre unwürdige Behandlung und Unterbringung im Aufnahmeland Deutschland.

Die Gründe seien häufig in "der extremen Angst vor einer erzwungenen Rückführung und der erneuten Konfrontation mit Tätern vor Ort" zu finden, sagte die Psychologin Corinna Klinger im WDR. "Perspektivlosigkeit, Verzweiflung oder die Situation in einer Asylunterkunft können ausschlaggebend sein." Eine adäquate psychologische Betreuung werde jedoch kaum gewährt.

Längst hat die Merkel-Regierung ihre angebliche "Willkommenskultur" in eine kaltschnäuzige "Abschiebe- und Abschottungskultur" verwandelt. Auch Grüne und Linkspartei tragen in Landesregierungen und Kommunen diese Politik mit und setzen sie vor Ort durch.

Ein grelles Licht auf die grausamen Folgen der deutschen Politik warf Ende März das tragische Schicksal von Salah J. Der junge syrische Vater flüchtete mit seiner Familie in die Türkei. Seine schwangere Frau und eine kleine Tochter ließ er dort zurück und wollte sie später auf sicherem Wege nachholen. Weil die Bundesregierung den Familiennachzug für syrische Kriegsflüchtlinge ausgesetzt hat, musste er warten. Jetzt ist seine Frau, die nicht länger warten wollte, mit dem inzwischen Neugeborenen und Tochter im Mittelmeer ertrunken.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 11.04.2017
Immer mehr Suizidversuche von Flüchtlingen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2017

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