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GRASWURZELREVOLUTION/1032: Gewaltfreie Kommunikation - Satyagraha und Anarchismus


graswurzelrevolution 341, September 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Gewaltfreie Kommunikation
Satyagraha und Anarchismus

Von Darth Korth


Die meisten Menschen erfahren Konflikte als Kämpfe, in denen sich der Stärkere auf Kosten des Schwächeren durchsetzt. Gewaltfreiheit bedeutet für sie den bloßen Verzicht auf Gewalt. Der Glaube, Konflikte gewaltfrei lösen zu können, erscheint ihnen als naive Zumutung. Wer jedoch den Sinn von gewaltfreiem Handeln allein darin sieht, durch Aktionen zivilen Ungehorsams oder Nicht-Zusammenarbeit Druck auszuüben, dem entgeht, was Gandhi oder M.L. King unter Gewaltfreiheit verstanden und worauf der Erfolg ihrer Kampagnen beruhte. Entsprechend unerfreulich und frustrierend verlaufen eigene Konflikte.


Die "Gewaltfreie Kommunikation (GEK) von Marshall Rosenberg ist ein Weg, um die Macht gewaltfreien Handelns zu entdecken und bei der Lösung eigener Konflikte anzuwenden. Das Ziel ist ein Miteinander, in dem wir ohne den Zwang des "Du sollst" oder "Du musst" leben und in dem das, was wir für einander tun, nicht aus Schuld, Scham oder Angst vor Sanktionen geschieht, sondern aus Freude am Wohlergehen des oder der anderen. In diesem Punkt trifft sich die Gewaltfreie Kommunikation mit dem Anarchismus, für den Herrschaft, Gewalt und Unterdrückung nicht die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens sind, sondern Gesellschaft auf der Grundlage von gegenseitiger Hilfe und menschlichem Wohlwollen entsteht.


Satyagraha

Gandhi verwendete das Sanskritwort Satyagraha, um auszudrücken, dass Gewaltfreiheit mehr ist als Gewaltverzicht.

Worin besteht dieses "mehr"?

Gewalt als Mittel in einem Konflikt hat den Zweck, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Der Andere ist bloßes Objekt. Mittel oder Hindernis auf dem Weg zur Durchsetzung meiner Ziele. Das Verhältnis ist mechanisch, instrumentell.

Auch gewaltfreie Aktionen lassen sich in diesem Sinne als Machtmittel auffassen, durch die Druck oder Zwang ausgeübt wird. Boykottaktionen oder Streiks üben einen direkten wirtschaftlichen Druck aus. Ein indirekter Zwang ist mit gewaltfreien Aktionen verbunden, wenn durch das Fehlverhalten der Gegenseite Gewalt gegen Gewaltfreiheit - die Sympathie und der Beistand Dritter gewonnen wird, welche dann zu Gunsten der gewaltfreien Seite Druck ausüben (sollen). Wenn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Fesseln oder Gefängnis eine Form von Gewalt ist (Galtung), was gilt dann für Sitzblockaden?

Aus dieser Perspektive sind die Aktionsformen zivilen Ungehorsams nicht wesentlich von Gewalt zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit scheint nur graduell. Ja beiden Fällen wird Macht, Druck, Zwang ausgeübt, nur ist der Zwang durch Gewalt stärker. Wenn dies alles wäre, wäre die Kritik an Gewaltfreiheit berechtigt. Wenn es bloß der Zweck von Gewaltfreiheit wäre, Macht auszuüben - warum sollten wir auf die Macht der Gewalt verzichten? Warum sollten wir uns mit der Blockade von Naziaufmärschen oder Atomtransporten begnügen, wenn wir durch militante Aktionen größere Macht entfalten könnten? Nun gibt es auch in dieser Sichtweise gute Gründe für die Wahl gewaltfreier Konfliktmittel.

Machtverhältnisse sind komplex und schwer zu kalkulieren. Ob gewaltfreie oder gewaltsame Handlungen in einem konkreten Fall mehr Macht entfalten, hängt sowohl von der Verteilung der Machtmittel im Konflikt und der Bereitschaft sie einzusetzen, als auch von der Reaktion Dritter ab. Pflastersteine mögen einen stärkeren Zwang ausüben als Sitzblockaden. Aber gewaltfreie Aktionen, an denen viele Menschen teilnehmen, sind wirkungsvoller als Gewalttaten, zu denen wenige bereit sind. Ein Angriff auf einen stärkeren Gegner ist dumm, auch wenn ich Gewalt nicht ausschließe. Wenn soziale Bewegungen dem Gewaltapparat des Staates (Polizei, Armee, Justiz) unterlegen sind, tun sie gut daran, Gewalt zu vermeiden, statt durch die Herausforderung des staatlichen Gewaltpotentials die eigene Niederlage - zu provozieren. Wenn Antideutsche während des Gazakrieges mit Israelfahnen zu palästinensischen Demonstrationen gingen, waren ihre Aktionen gewaltfrei, aber das Kalkül, die Gegenseite zu Gewalt zu verleiten, um sie und ihre Sache zu diskreditieren, ist es nicht.

Was eine gewaltfreie Strategie von solchen Machtspielen unterscheidet, sind Konflikthandlungen mit einem wesentlich anderem Sinn. Diese Handlungen haben das Ziel, das instrumentelle Denken, das die Grundlage von Gewalt ist, zu durchbrechen und ein Verhältnis zu schaffen, das nicht auf Macht, sondern (Mit)-Menschlichkeit basiert. Weil ich den anderen als Menschen achte, der Freude, Trauer, Schmerz ebenso erlebt wie ich, vermeide ich Gewalt. Weil die andere ebenso wie ich Mitgefühl und Achtung empfinden kann, besteht die Möglichkeit, dieses Potential zu wecken. Unter den gewaltfreien Aktionsformen des indischen Befreiungskampfes war es insbesondere das freiwillige, würdevolle Ertragen von Leid, das standhafte Festhalten an der Wahrheit (Satyagraha), dem Gandhi diese Kraft zusprach.

Die Mittel, mit denen wir anderen gegenüber unseren Willen durchsetzen, variieren. Sie sind in gesellschaftlichen Konflikten andere als im sozialen Nahbereich, bei direkten Aktionen andere als bei politischen Diskussionen und in politischen Debatten andere als in privaten Beziehungen. Ebenso sind die Handlungen, in denen sich eine gewaltfreie Strategie äußert, auf den unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich. Gewaltfreier Widerstand in der Wohngemeinschaft ist Unsinn. Während wir aber recht gut wissen, wie wir über andere Macht oder Zwang ausüben können, fällt es wesentlich schwerer zu bestimmen, welche Handlungen uns dazu bewegen, anderen Menschen mitmenschlich zu begegnen. Für Marshall Rosenberg und die Gewaltfreie Kommunikation spielt unsere Sprache dabei eine entscheidende Rolle.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 341, September 2009, S. 10
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2009