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GRASWURZELREVOLUTION/1216: Harmonischer Farbauftrag, Punk und Diskurs


graswurzelrevolution 363, November 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Harmonischer Farbauftrag, Punk und Diskurs
Allan Antliffs Studie zum Verhältnis von Anarchie und Kunst ist leider nur zum Teil gelungen

von Jens Kastner


Ad Reinhardt war sicherlich kein unpolitischer Mensch. Der renommierte Künstler schrieb für linke, US-amerikanische Zeitschriften und engagierte sich gewerkschaftlich in der Artist's Union. Politik in der Kunst aber lehnte Reinhardt (1913-1967) strikt ab.


Er gilt als einer der wichtigsten VertreterInnen modernistischer Prinzipien. Diesen zufolge hat Kunst weder hinsichtlich der Motivation ihrer Produktion noch in der Betrachtung etwas mit persönlichen Erfahrungen oder mit Kommunikation zu tun. Sie dreht sich - und soll auch nichts anderes - nur um Formen und Farben anderer, früherer Kunst, auf die sie sich bezieht.

Die ModernistInnen der 1940er und 1950er Jahre verstanden sich daher als VertreterInnen der Freiheit, die die Kunst von allen Zweckbestimmungen rein und die KünstlerInnen von Propaganda fern halten wollten.

Mit einem ganz anderen Verständnis von Freiheit und Kunst wurden Leute wie Reinhardt dann in den 1960er Jahren konfrontiert. In dem Buch von Allan Antliff wird diese Konfrontation ausführlich von der Künstlerin Susan Simensky Bietla geschildert, die damals in Antikriegs- und feministischen Initiativen aktiv war - und am New Yorker Brooklyn College bei Reinhardt studierte.

Freiheit sollte nicht mehr ohne soziale Gerechtigkeit gedacht werden, Kunstschaffen nicht ohne politisches Engagement. Simensky Bietla gehörte einer künstlerischen Minderheit an, die Kunst als "Teil des gesellschaftlichen Diskurses" (173) begriff.

Das Interview mit der Künstlerin gehört zu den theoretisch aufschlussreichsten Teilen des Bandes, weil über ihre Lebensgeschichte die Gegensätze zwischen der offiziellen Kunstwelt auf der einen und den 60er-Jahre Subkulturen und sozialen Bewegungen auf der anderen Seite offen verhandelt werden.


Freiheit der Kunst, Kunst der Freiheit

Ansonsten fällt die Studie in theoretischer Hinsicht leider eher schwach aus. So wird etwa die zu Beginn geschilderte Grundsatzdebatte zwischen Pierre-Joseph Proudhon und Émile Zola wird nicht wieder aufgegriffen. Sie hätte insofern einen Leitfaden abgeben können, als dass bereits darin die Freiheit der Kunst umstritten war, deren Verwirklichung einerseits in ihrer gesellschaftspolitischen Aufgabe (Proudhon) und andererseits eben im individuellen Stil (Zola) gesehen wurde. Aber Antliffs Buch bleibt bei all seinen interessanten Einzelstudien ohne These. Und der im Untertitel - "Von der Pariser Kommune bis zum Fall der Berliner Mauer" - so umfassend und systematisch anklingende Anspruch wird nicht eingelöst. Es kommen zwar KünstlerInnen aus allen Zeiten innerhalb des abgesteckten Rahmens vor. Welchen Stellenwert sie und ihr künstlerisches Schaffen aber haben, bleibt bedauerlicher Weise völlig unklar. So leuchtet es zwar ein, sich, wie Antliff es tut, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dem Neoimpressionismus zu widmen. Denn nicht wenige der VetreterInnen dieser damals tonangebenden Kunstrichtung standen dem Anarchismus nahe.

Auch von einigen KünstlerInnen aus dem Kubismus- und erst recht dem Dada-Umfeld sind libertäre Haltungen bekannt. Antliff vollzieht sie am Beispiel Francis Picabias (1879-1953) in den 1910er Jahren nach. Für sich genommen ist das sicher eine aufschlussreiche biografische Ergänzung. Aber was bedeutet Picabias Begeisterung für den Individualanarchisten Max Stirner? Stand sie im Gegensatz zu kollektivistischen Positionen? War sie wegen ihrer starken Ego-Bezogenheit etwa "typisch künstlerisch"?

Wohl eher nicht. Denn für die Zeit zwischen 1968 und dem Fall der Berliner Mauer beispielsweise widmet sich Antliff eher Positionen, die sozialen Bewegungen nahe standen oder zumindest sehr subkulturverbunden waren: der Collagistin Gee Vaucher, die die Plattenvover der anarchopazifistischen Punk-Band CRASS gestaltete, der Künstlerin Freddie Baer, die für anarchistische Zeitschriften wie Fifths Estate Bilder schuf und dem Grafiker Richard Mock. Warum er ausgerechnet diese drei Leute bespricht, erwähnt er nicht. Und warum er hier, anders als beim Neoimpressionismus und Picabia, Beispiele aus der Subkultur und aus nicht dem Zentrum des künstlerischen Feldes bespricht, erklärt er auch nicht. Prinzipiell ist gegen episodische, anekdotische und auch subjektiv auswählende Vorgehensweisen ja nichts einzuwenden. Nur begründet sollten sie sein. Denn man möchte als LeserIn doch wissen, warum man nur diese wenigen ausgesuchten Positionen geschildert bekommt und was es mit der Auswahl auf sich hat.

Ob er sie für kunsthistorisch bedeutsam und/oder für die anarchistische Geschichte paradigmatisch hält, oder nur persönlich sympathisch findet, darüber lässt uns Antliff im Unklaren. Und obwohl er gleich zu Beginn des Buches den Anspruch formuliert, mit seiner Studie in ein "neu entstehendes Forschungsgebiet in der Kunstgeschichte" (7) einzugreifen, bleiben die Ausführungen doch eher ideen- und sozialgeschichtlich als kunstfeldspezifisch.


Kunstwerk, Kunstsystem und Anarchie

Das ist im Hinblick auf den Anarchismus selbstverständlich alles andere als uninteressant. Denn hier werden bisher eher randständig rezipierte Figuren wie der libertäre Antikolonialist Ananda Coomaraswamy (1847-1947) oder der schwule Dichter Robert Duncan (1919-1988) in die Hauptströmungen des Anarchismus, in ihre Kämpfe und Positionen, neu eingeschrieben.

In Bezug auf das Verhältnis der Kunst zur Politik allerdings bleibt das Buch recht unspezifisch. Zwar gibt es immer wieder kunsttheoretische Einsprängsel. Die "anarchistische Politik" etwa habe die neoimpressionistische Maltechnik geprägt, der gepunktete Farbauftrag habe darauf abgezielt, jenen "harmonischen Gesamteindruck hervorzurufen" (42), den die NeoimpressionistInnen für die Darstellung des einfachen bäuerlichen Lebens anstrebten.

Solche Werkbetrachtungen und die jeweiligen sozialen Kontexte bleiben merkwürdig unvermittelt. Wer wann jeweils in welcher Form den Ton angab, wie also das Kunstfeld nicht nur hinsichtlich der dominanten künstlerischen Techniken beschaffen war, welche Positionen warum hegemonial waren und wie AnarchistInnen dazu standen, diese Fragen werden gar nicht gestellt. Sie haben aber Auswirkungen auf die Kunst, auf ihre Produktion ebenso wie auf die Rezeption: Ein CRASS-Plattencover um 1980 ist schließlich etwas ganz anderes als ein neoimpressionistisches Genre-Gemälde hundert Jahre zuvor.

Es wird anders gemacht und von anderen Leuten zu anderen Zwecken benutzt. Ist das eine ebenso "anarchistische Kunst" wie das andere?

Dann wäre anarchistische Kunst einfach nur Kunst, die von AnarchistInnen gemacht ist. Ist dann jede Kunst, die eine Anarchistin macht, anarchistisch? Und können nicht-anarchistische KünstlerInnen dann etwa keine Kunst machen, die implizit oder explizit Herrschaft kritisiert, angreift oder auch abschaffen will? Warum sollten sie das nicht können? Vielleicht weil sie KünstlerInnen sind und jedes künstlerische Schaffen in der bürgerlichen Gesellschaft - wie etwa der anarchistische Kunsttheoretiker Herbert Read (1893-1968) einst meinte - nur in einem privilegierten und vom Alltag abgetrennten Bereich namens Kunst stattfinden kann?

Müsste Anarchismus dann nicht darauf zielen, die Kunst als einen solchen Bereich zu zerstören? Oder sollte er ihn vielleicht doch, umgekehrt, wegen der außergewöhnlichen Gewährung individueller Freiheit gar pflegen und gegen Außeneinflüsse verteidigen? Wäre insofern sogar ein Anarchismus als ein Modernismus im Sinne Ad Reinhardts denkbar?


Anarchistische Ideen, libertäre KünstlerInnen

Mit all diesen Fragen, die innerhalb anarchistischer Bewegung und Theorie durchaus diskutiert worden sind, beschäftigt sich Antliff nicht. Sein Buch ist dadurch letztlich vor allem eine Skizze des Anarchismus entlang von künstlerischen Ereignissen und Biografien. Die enthält immer wieder aufschlussreiche Aspekte. Aber neben ein paar Infos über relativ unbekannte Gestalten und weniger prominente Aktionen hat man am Ende der Lektüre vor allem erfahren, dass es zu allen Zeiten und an verschiedenen Orten auch Künstlerinnen und Künstler gab, die anarchistischen Ideen nahe standen. Der Titel des Buches aber verspricht wesentlich mehr.


Allan Antliff:
Anarchie und Kunst.
Von der Pariser Kommune bis zum Fall der Berliner Mauer.
Übersetzt von Katja Cronauer. Lich/Hessen 2011, Verlag Edition AV, 237 S.
ISBN : 978-3-86841-052-5, 18,00 Euro [D] / 18,50 Euro [A].


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 363, November 2011, S. 16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2011