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GRASWURZELREVOLUTION/1405: Ebenen der Prostitution


graswurzelrevolution 389, Mai 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Ebenen der Prostitution

von Marita Blauth, Bonn



Mit Kerstin Wilhelms Artikel "Prostitution zwischen Arbeit und Missbrauch" begann im Dezember 2013 in der Graswurzelrevolution Nr. 384 eine kritische Auseinandersetzung mit dem von Alice Schwarzer lancierten "Appell gegen Prostitution". Mit fünf kontroversen Beiträgen von Antje Schrupp, Luzie Morgenstern, Snowman, Rosen Hicher und Elke Steven wurde die Diskussion im Februar in der GWR 386 und im März 2014 in der GWR 387 vertieft. An diese Diskussion knüpft nun der folgende Artikel von Marita Blauth an.
(GWR-Red.)


Angeregt durch die vielen Diskussionen (u.a. in der Graswurzelrevolution) entstand die Lust, jenseits von vereinfachter Polarisierung eine eigene Haltung zu dem Themenkomplex Prostitution zu finden.

Das Lesen der vielfältigen Selbstdarstellungen, Werbeaktionen und Interviews von Prostituierten-Selbsthilfeorganisationen, -Netzwerken und -Verbänden, psychosozialen Hilfsorganisationen und Therapeutinnenberichten und den Gesprächen darüber war ein Leerstück über die Komplexität dieses gesellschaftlichen Phänomens und der Weite des Spektrums der Interessen und Denkarten gerade innerhalb der Frauen. Das Thema hat viele Ebenen und nicht alle Ebenen bieten eine gleiche Antwort an.


Heißt es nicht, beim Geld und beim Sex höre der Spaß auf?

Prostitution definiert sich genau hier. Geld und Sex. Brisant. Immer. Dazu kommen: Menschenhandel, Tätigkeit zur Existenzsicherung, Recht, Gewalt, Ethik. Ich möchte die einzelnen Ebenen näher beleuchten.


Geld

Christina von Braun hat mit ihrer Darstellung von Prostitution als "Beleibung des Geldes" (1) interessante Anregungen dazu gegeben. Sie schreibt, dass die Geschichte der Prostitution nicht ohne die Geschichte des Geldes und der Geldwirtschaft zu verstehen sei.

Die Entwicklung von den Beglaubigungsformen des Geldes gehen von materiellem Wert (Grund und Boden, Naturalien, Edelmetalle) in immaterielle Zeichen über (Zeichen auf dem Stück Edelmetall, auf dem Blech oder auf dem Papier oder nur noch virtuell). Als Zeichen brauchen sie eine Autorität, einen Herrscher oder eine Gemeinschaft, welche diese Zeichen beglaubigt. In der Opfergabe wird der Wert theologisch begründet und durch die Priester beglaubigt. Alle drei Beglaubigungsarten sind schwankend, unsicher, von vielen Faktoren abhängig. Allen gemeinsam ist, dass man daran glauben muss. Die sakrale Variante (Menschenopfer, Tieropfer, symbolisches Tieropfer) hat ihre Spuren im Stiersymbol der Börse und als Relikte in den Strichen von beispielsweise Dollar, Euro und Yen hinterlassen.

C.v. Braun zitiert Elias Canetti in "Masse und Macht" um zu beschreiben, wie eng der Glaube an den Wert des Geldes und der Glaube an das Selbst miteinander verknüpft sind; besonders deutlich wird die reine Zeichenhaftigkeit des Geldes und damit auch seine Fragilität als Glaubenssystems in der Inflation der 1920er Jahre.

Canetti schreibt dazu: "Der Mensch, der ihr [der Mark] früher vertraut hat, kann nicht umhin, ihre Erniedrigung als seine eigene zu empfinden. Zu lange hat er sich mit ihr gleichgesetzt. Das Vertrauen in sie war wie das Vertrauen in sich selbst."

Weil das Geld als reines Zeichensystem seinen Besitzer in den Entwertungsprozess einbezieht, verlangt es nach einem beständigen Wertmesser.

Christina von Braun hat die Idee, dass der kommerzialisierbare Körper der Goldstandard des 21. Jahrhunderts ist. Das macht Sinn, wenn wir Elemente der Biopolitik des 21. Jahrhunderts betrachten, wo weibliche Eizellen, oder Spermien (in Silber-Gold-Platin- oder Diamant Extra-Paketen) angeboten werden, wo Körperteile in Versicherungen nach bestimmten Marktwerten bemessen werden, wo Kinder gekauft werden, wo "Schönheits"-Chirurgie ein riesiger Markt ist, ... und wo eben auch Prostitution vom Rand in die Mitte der Gesellschaft drängt.

C.v. Braun beschreibt, wie mit der Ablösung von der Goldparität, der Aufhebung der Deckung durch die Zentralbanken und zuletzt dem elektronischen Geld sich die Wechselbeziehung von Geld und Prostitution verfestigte. Mit jedem Abstraktionsschub des Geldes wurde die Materialisierung immer wichtiger. So ging mit jedem Abstraktionsschub ein Zuwachs der käuflichen Sexualität einher. Prostitution dient so der Beleibung des Geldes: Der männliche Körper hat das Geld, der weibliche Körper ist das Geld. (S. 386)


Stuart Hall, der britisch-jamaikanische Philosoph und Vordenker der "Cultural Studies" sagt, dass die Werbung sexualisiert aufgeladene Bilder braucht, dass das Kapital sie braucht, weil diese Bilder so mächtig sind. (2) Auf diesem Hintergrund betrachtet wäre Frauenverachtung nicht die Ursache von sexualisierter Werbung, sondern ihre Wirkung. Was Widerstand genauso nötig macht, was aber den Kontext und die Ausrichtung des Widerstandes dagegen verändern könnte.

Wenn jedes Jahr geschätzte 35 Mio. Menschen durch die Welt reisen auf der Suche nach käuflichem Sex und fast alle Sextouristen aus den Ländern eines fortgeschrittenen Finanzkapitalismus kommen, wenn das Prostitutionseinkommen 1995 fast 60 % des Staatshaushaltes von Thailand ausmachte, wenn die Sexindustrie als Sektor mit der höchsten Expansionsrate eingestuft wird, wenn viele Länder der Dritten Welt, die Kreditanträge stellen, von IWF und Weltbank dazu aufgefordert werden, ihre Tourismus- und Unterhaltungsindustrie zu entwickeln, was einen Aufschwung der Industrie des Sexhandels bedeutet (3), macht das die enge Verzahnung von Geld und Sex deutlich.

Moderne Manager werden, anstatt sich Frauen zu leisten "in Frauen" bezahlt, schreibt Christina von Braun. Das ungeschriebene Regelwerk des modernen Finanzkapitalismus sei, dass erfolgreiche Geldtransaktionen in "lebenden Münzen" in teuren Bordellen bestätigt werden.

Bei den "Skandalen" oder Korruptionsaffären von Wüstenrot, Ergo, Hamburg Mannheimer oder VW ist deutlich geworden, dass die "Versorgung" leitender Mitarbeiter mit Prostituierten zu den normalen Arbeitsaufgaben gehört. Bordellbesuche oder "Sexparties" fungieren gleichsam als Belohnungssystem, Bezahlung und Verbrüderungsritual. Aussagen im VW Prozess machten deutlich, dass das Geld im Vordergrund stand und die Sexualität nur eine Form von Währung war. (4)

Sabine Grenz stellt in ihrem Buch (5) Aussagen von Freiern dar: Ingenieur im Außendienst: bei manchen Kunden sei bereits eine Sex-Arbeiterin ungefragt ins Hotel bestellt. Makler: Bauabschlüsse werden regelmäßig im Bordell gefeiert.

Personalentwickler gehobenes Management: es gibt zwei Arten von Geschäftsessen, mit und ohne Gattin. "Aus diesem Grund könne auch ein Vorstellungsgespräch den Bordellbesuch einschließen, um auszuprobieren, wie sich der Kandidat in dieser Umgebung bewege und ob er in die Firma passe. Die entscheidende Frage dabei sei nicht, ob er mit einer Sex-Arbeiterin aufs Zimmer gehe oder nicht, sondern ob er grundsätzlich damit umgehen könne, dass Bordelle besucht werden."

Im Übrigen ist es verständlich, dass im Zeitalter des liberalisierten Geld- und Warenhandels die Prostitution sich ebenso liberalisieren möchte. Nur sehe ich diese Liberalisierung nicht als weibliche Freiheit an, sondern als Markt, der darauf angewiesen ist, Nachfrage zu steigern.


Menschenhandel

Im "Palermo-Protokoll" der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2003, wird Menschenhandel folgendermaßen definiert: "Die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung."

Lydia Cacho beschreibt in ihrem Buch "SKLAVEREI. Im Inneren des Milliardengeschäfts Menschenhandel": "Wir leben in einer Kultur, in der die Verschleppung, der Handel, der Missbrauch und die Zwangsprostitution an Mädchen und jungen Frauen zunehmend normal werden. Diese Kultur fördert die Verdinglichung des Menschen und tut so, als handele es sich dabei um eine Errungenschaft der Freiheit und des Fortschritts."

Prostitutionsbefürwortende Feministinnen sehen die Umsetzung der UN Konventionen gegen Menschenhandel kritisch, weil ihre Umsetzung dazu führt, "dass Frauen in der Realität entweder als kriminelle gelten, strafrechtlich verfolgt werden müssen, oder als wehrlose Opfer, denen mit einer Rückführung geholfen werden soll." Sie stellen fest, dass "sämtliche Maßnahmen gegen den Frauenhandel der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der illegalen Migration dienen." (6)

Daraus allerdings den Kurzschluss zu ziehen "Die Europäische Politik benutzt den Kampf gegen das organisierte Verbrechen, um auch gegen Migration und Prostitution vorzugehen." halte ich für politisch fragwürdig. Es wird dafür plädiert, über Arbeitsmigration und Menschenrechte statt über Menschen- und Frauenhandel zu debattieren.

Dieses "statt" erscheint mir wie eine strategische Ausblendung von Menschenhandel in Zusammenhang mit Prostitution. Das staatliche Interesse an der menschenverachtenden Abschottung des Wohlstands an den EU-Grenzen (7) ist sicherlich nicht identisch mit dem Interesse, Prostitution auszugrenzen. Die Illegalisierung von migrierenden Menschen mit ihrem Potential an Ausbeutbarkeit dient ja dem Prostitutionsgeschäft. Zwischen 50 und 95 % der in der Prostitution Tätigen sind Migrantinnen. Ich finde es auch wichtig, zwischen Frauenhandel (Verschleppung, Vergewaltigung, sexuelle Ausbeutung...) und dem großen Kreis der Prostituierten, oft Ernährerinnen ihrer Herkunftsfamilie, mit illegalem Aufenthaltsstatus und deshalb rechtlich schutzlos und damit besonders ausbeutbar, zu unterscheiden.

Und wenn sich evangelikale christliche Organisationen den Einsatz gegen Menschenhandel auf ihre fundamentalistischen Fahnen schreiben oder wenn die ROLAND BERGER STIFTUNG (8) zu "Sklaverei und Menschenhandel im 21. Jahrhundert. Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrechten in einer globalisierten Gesellschaft" neben gut klingenden Instrumenten zur Bekämpfung von Menschenhandel eben auch die "Einrichtung schlagkräftiger, grenzüberschreitender Polizei- und Sozialeinheiten" empfiehlt, dann wird deutlich, wie instrumentell die Allianzen bei diesem Thema sein können.


Recht

"Die Auffassung, dass Prostitution "sittenwidrig" sei, bestand seit der Reformation.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte 1980 fest, dass "Erwerbsunzucht eine sittenwidrige und in vieler Hinsicht sozialwidrige Tätigkeit" sei und 1993 zog die Bundesregierung aus dem Makel der Sittenwidrigkeit den Schluss, "daß die Ausübung der Prostitution nicht als Gewerbe im gewerbsrechtlichen Sinne angesehen werden kann".

Nach kämpferischen SozialdemokratInnen und Abolitionistinnen im 19. Jahrhundert meldeten sich in den 1970er Jahren erstmals die Prostituierten selber zu Wort. Die Frauen der "Hurenbewegung" erklärten, dass ihre Arbeit das "Mittel" sei, "das wir gefunden haben, um mit dem Leben fertig zu werden", und wehrten sich dagegen, dass sie auf der einen Seite gebraucht und deshalb nicht verboten, auf der anderen aber als "schmutzige, anormale" Personen verachtet wurden.

1991 dagegen forderten die Teilnehmerinnen auf dem europäischen Kongress in Frankfurt am Main - anders als die Sozialdemokraten und die Abolitionistinnen - nicht mehr die Abschaffung der Prostitution, sondern ihre Anerkennung als Lohnarbeit oder Gewerbe. Die Prostituierte Cora Molloy trug das Modell "Beruf Hure" vor, das ihre Mitstreiterinnen - gemeinsam mit Juristinnen und Frauen der PDS und der Grünen - entwickelt hatten." (9)

Am 1. Januar 2002 trat das "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten" (ProstG) in Kraft. Es hat drei Paragraphen.


§ 1

Sind sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen worden, so begründet diese Vereinbarung eine rechtswirksame Forderung. Das Gleiche gilt, wenn sich eine Person, insbesondere im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, für die Erbringung derartiger Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt für eine bestimmte Zeitdauer bereithält.


§ 2

Die Forderung kann nicht abgetreten und nur im eigenen Namen geltend gemacht werden.


§ 3

Bei Prostituierten steht das eingeschränkte Weisungsrecht im Rahmen einer abhängigen Tätigkeit der Annahme einer Beschäftigung im Sinne des Sozialversicherungsrechts nicht entgegen.

Davon unberührt sind im StGB Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, ...), Ausbeutung von Prostituierten (vorher Förderung statt Ausbeutung), Zuhälterei, Ausübung der verbotenen Prostitution (z.B. außerhalb von Sperrgebieten), Jugendgefährdende Prostitution, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, Förderung des Menschenhandels.

Prostitution war bereits vor dem ProstG eine legale Tätigkeit. Nur die Förderung, nicht die Ausübung von Prostitution war verboten. Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit ist auf der Gesetzesebene nicht in erster Linie eine moralische, sondern eine zivilrechtliche Regulierung, die nur besagt, dass die Rechtgeschäfte nicht mehr unwirksam (weil sittenwidrig, also "gegen Treu und Glauben") sind, sondern dass die Entlohnung der Prostitution rechtlich zulässig sind.

Der Europäische Gerichtshof hat 2001 klargestellt, dass Prostitution zu den Erwerbstätigkeiten gehört, die "Teil des gemeinschaftlichen Wirtschaftslebens" im Sinne von Art. 2 EG-Vertrag sind, passend zur Liberalisierung des Marktes.

In der Praxis hat diese Neuregelung der Sittenwidrigkeit kaum Relevanz, denn es bleibt bei Vorkasse und sozialversicherungspflichtige Anmeldungen gibt es auch kaum. Die Prostituierten verbinden damit eher eine Aufwertung gegen Ausgrenzung und Entwürdigung und Stärkung ihres Selbstbewusstseins. Außerdem hat die offene Werbung in Anzeigen und Veranstaltungen damit extrem zugenommen.

Die Frage ist, welche Wirkung dies auf den Prostitutionsmarkt und die Subkultur des Prostitutionsmilieus hat. Ob es das Machtgefälle zwischen BordellbesitzerInnen oder Zuhältern und Prostituierten verändern kann und soll.

Die Gesetzgebungen in Europa schwanken seit 1945 zwischen Angebotsorientierung und Kontrolle/Disziplinierung. Ich denke, genau um beides geht es auch.


Sexualität

Die mittelalterliche klare Trennung in Kleiderordnung, erlaubten Orten und anderen einschränkenden Regeln haben die Prostitution eindeutig als "Das Andere" von der "normalen" Frau sichtbar gemacht.

Heute ist jede Darstellung von weiblicher Sexualität mit Attributen der Prostitution verknüpft.

Stevie Schmiedel schreibt: "Solange aber selbstbestimmte Prostitution als unmöglich gesehen wird, erlaubt man Frauen nicht, ihre Sexualität oder ihre körperlichen Gefühle selbst zu definieren. Die Frau, die Sex und Liebe trennt, Spaß am Sex mit Fremden hat oder Prostitution sogar als ermächtigend erlebt, läuft dann immer Gefahr, nicht richtig zu sein;... Es ist gerade das Ansehen von Prostituierten als ewige Opfer, das Frauen das Recht abspricht, über ihren Körper selbst zu bestimmen." (10)

Wenn ich das lese, macht es mich solange richtig sauer, bis ich mir klar mache, dass dies eine Verkaufsstrategie ist. Wütend macht mich das Abwürgen jeder kritischen Positionierung zu Prostitution mit dem Vorwurf der Opferzuschreibungen, gerade weil ich mich selbst immer gegen solche Zuschreibungen abgrenze.

Ich arbeite in einer Therapie- und Beratungseinrichtung für Frauen. Eine Frau, die Gewaltsituationen erlebt, systematische Gewalt oder sexuelle Folter in der Kindheit überlebt oder in strukturellen Gewaltverhältnissen ihre Standorte sucht, ist nicht Opfer. Sie ist verletzt, hat mit Mut und kreativen Überlebensimpulsen ein Leben mit und neben der Gewalterfahrung aufgebaut, hat einen Umgang mit den einschränkenden Folgen der Gewalterfahrung gefunden, die auch nicht immer gelingen, ist Mutter, Freundin, Chefin, Arbeiterin, und noch vieles anderes.

Ihre Herausforderungen im Leben sind härter, wenn sie keine Unterstützung erhält und manchmal ist es ihr nicht möglich, ohne eigene Gewaltimpulse oder inszenierte Gewaltwiederholungen sich vor der erlebten Ohnmachtserfahrung zu schützen.

Sie ist so vieles und ich empfinde es als Hohn, so einfach zu sagen, sie sei Opfer. Gleichwohl empfinde ich die oben zitierte Aussage auch als Hohn, der den invasiven Charakter und das Gewaltpotential der Tätigkeit ignoriert. Drei Artikel finde ich sehr hilfreich, weil jenseits von Schönrederei oder Paternalismus: Ingrid Strobl in der Kölner Stadtrevue (11), Antje Schrupp in der Graswurzelrevolution Nr. 386 (12) vom Februar 2014 und Anke Drygala auf dem Internetforum für Philosophie (13).

Es geht nicht um den Aspekt Sex ohne Liebe, was ja als ein Hauptmotiv der Prostitution genannt wird (14), sondern um das fehlende gegenseitige Begehren. Deshalb ist es auch höchst zweifelhaft, dass es vielen Männern dabei um sexuelle Lust geht, sondern vielmehr um eine sexualisierte Form der Selbstvergewisserung, die eine Vorstellung männlicher Macht über Frauen voraussetzt und nährt. Auch die Konflikte, die Männer haben, wenn sie im globalen und flexiblen Arbeits- und Lebenssetting nicht die gewünschten Sexualpartnerinnen auf Augenhöhe finden, sollten nicht durch die Bereitstellung einfacher und schneller sexueller Geschäfte "gelöst" werden. Diese Form der "Lösungsorientierung" möchte ich weder Frauen noch Männern anbieten.

Der Streitpunkt ist auch nicht, ob ich es o.k. finde, dass Frauen beispielsweise Lust auf promiskuitives Verhalten haben oder ungewöhnliche sexuelle Vorlieben haben - auch wenn ich einsehe, dass die Suche nach passenden PartnerInnen sich schwierig gestalten mag, aber wer hat versprochen, dass alles einfach oder möglich ist? Mir geht es darum, dass ich es nicht gut finde, wenn zur Sicherung des Lebensunterhaltes Frauen sexuelle Handlungen mit möglichst vielen nicht ausgesuchten, oft unberechenbaren und frauenverachtenden Männern gestalten oder aushalten müssen.

Auf dieser Ebene der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung erscheint mir eine Signalwirkung der rechtlichen Ächtung von Sex-Kauf (wie bei dem Verbot der Prügelstrafe, in der Schweden Vorreiterin war), durchaus bedenkenswert. Wenn der Fokus sich auf rechtliche Fragen reduziert, statt eine gesellschaftliche Diskussion zu öffnen, wäre es dafür zu früh. Andererseits ist das Recht, ob nun altes Recht abgeschafft oder neue Gesetze entstehen sollen, immer Bestandteil der politisch/gesellschaftlichen Sphäre und wir kommen nicht darum herum, auch diese Fragen zu prüfen.

Die große Zahl der in der Prostitution tätigen Frauen ist eine Realität, mit der wir einen Umgang finden müssen. Befürwortung und Normalisierung von Prostitution ist jedoch das falsche Signal. Die Frage hier wäre nicht, was ich verbieten möchte, sondern in was für einer Gesellschaft ich leben will und wie und mit welchen Positionen ich mich sichtbar mache.


Tätigkeit zur Existenzsicherung

1975 begann die Selbstorganisation der Prostituierten Europa. Nach mehreren "ungeklärten" grausamen Prostituierten-Morden besetzten sie in Lyon für mehrere Tage eine Kirche. Auf den dann folgenden nationalen und internationalen Versammlungen der Prostituierten wurden Forderungen erarbeitet: keine Sperrbezirke, Abschaffung aller Bußgelder und Gefängnisstrafen, die es damals nur für Prostituierte gab, keine Wiedereröffnung von Bordellen, keine Eros-Center etc. Was "Eros-Center" und Bordellkonzerne - die es bereits Anfang der 1970er Jahre gab - für Prostituierte bedeuten, beschrieb eine Prostituierte aus Lyon:

"Das wird doch schon alleine wegen des Schaufensters, ein Supermarkt für Mädels, die wahnwitzigste Konkurrenz. Für die Mädels könnte das so aussehen, dass man ewig hinter der erotischsten Pose und der pornoartigsten Haltung her ist. In Eros-Centern werden Mädels nicht genommen, die anders arbeiten wollen, angezogen und mit mehr als Slip und Büstenhalter bekleidet. Der Besitzer wirbt sie entweder an oder nicht, also macht der die Gesetze. Und da steckt wirklich die Zuhälterei vom Feinsten - die richtige industriemäßig aufgezogene Zuhälterei." (15)

Diese Sichtweise wurde in den Liberalisierungsdebatten in Deutschland, Frankreich und in den Niederlanden verschüttet. Prostitution als Beruf anzuerkennen, würde nicht nur die Praxis der Jobcenter skandalisieren.

Wobei der Skandal ja nicht der ist, eine Frau in Prostitution zu vermitteln, sondern überhaupt Menschen bei Drohung des Entzuges des Existenzminimums in nicht dem Beruf und Begehren entsprechende Ausbeutungsverhältnisse zu zwingen. (16) Und ich will auch keine Angebote von schulischen Orientierungspraktika in Bordellen.

Jede Tätigkeit zur Existenzsicherung ist Verkauf von Arbeitskraft, Wissen und Können. Auch Prostituierte verkaufen nicht sich selbst, sondern vermieten ihren Körper. Bei Sex gegen Beziehung / Ehe sieht es da schon anders aus, weil da das Besitzrecht dauerhafter ist, aber immerhin ist es "nur" ein Mann.

Natürlich hat auch Prostitution vergleichbare Aspekte mit anderen Tätigkeiten: Körpereinsatz (fast jede Lohnarbeit, Sport, Massage, Dirigent...) geistig emotionaler Einsatz, der am ehesten der Psychotherapie (oder der Seelsorge) vergleichbar ist. Eine Stunde Aufmerksamkeit wird bezahlt. Die Grenzen zwischen erlernter Kompetenz und Technik und Einsatz der Persönlichkeit mit Gefühlen und Geist ist fließend. Die Praxis dieser Dienstleistungen ist nicht ohne gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu sehen. Im therapeutischen Setting hat die Therapeutin entschieden mehr Macht als die Anbieterin sexueller Verfügbarkeit - und bei keinem anderen, noch so schwerem Job, muss eine Frau den eigenen Körper öffnen, damit andere Körper eindringen können, nicht nur einmal sondern immer und immer wieder. Auch wenn die Intentionen der Kunden in der Prostitution unterschiedlich sind (suchen sie Nähe, den schnellen, beziehungslosen Sex, oder wollen sie frauenverachtende Gewaltphantasien ausleben) liegen die Macht-Ressourcen in der prostitutiven Konstellation nicht bei der Sex-anbietenden-Frau.

Auf dieser Ebene kann über ein Verbot (Kriminalisierung) der Prostitution nur gesprochen werden, wenn zuvor über Kapitalismus und Ausbeutung und menschenwürdige Existenzsicherung gesprochen wird.


Gewalt

Es gibt viele unterschiedliche Untersuchungen zu dem Anteil der (sexuellen) Gewalterfahrung in der Kindheit von Prostituierten. Einen sensiblen und sinnvollen politischen Umgang damit finde ich schwer, so dass ich mich argumentativ darauf nicht beziehen möchte.

Klarer wird es in der realen Gefährdung in der Ausübung der Prostitution. Zahlen (in Klammer Zahlen Deutschland) einer empirischen Studie (17):

Aktuelle oder vergangene Obdachlosigkeit:
75 % der Prostituierten (74 %)

Körperliche Gewaltanwendung während der Prostitution:
73 % (61%)

Bedrohung mit einer Waffe während der Prostitution:
64 % (52%)

Vergewaltigung in der Prostitution:
57 %, (63 %) davon 59 % (50 %) öfter als fünf mal.

In einer der Studien wurde gefragt, "Was brauchst du?"
Die Antworten ergeben 89 % Ausstieg aus der Prostitution

75 % ein sicheres Zuhause

76 % Berufliche Weiterbildung

61 % Zugang zu medizinischer Versorgung

56 % individuelle psychologische Betreuung

51 % gegenseitige Solidarität ("Peer support")

51 % Rechtsbeistand

47 % Drogen- und/oder Alkoholentzug

45 % Selbstverteidigungstraining

44 % Kinderbetreuung

34 % Legalisierung der Prostitution

23 % Körperlichen Schutz vor Zuhältern. (Seite 51)

Das finde ich eher einen Ansatzpunkt um deutlich zu machen, dass das Argument, "besser als Hartz 4" nicht ausreicht, um Prostitution in die Mitte der Gesellschaft zu holen.


Ethik (oder doch eher Politik?)

Zu sagen, dass Sex keine Ware sein darf, ist das ein politisches oder moralisches Argument?

Auch menschliche Organe, Sperma, Eizellen, Blut sollten keine Waren sein. Der menschliche Geist sollte keine Ware sein. Das, was er herstellt, Bücher, Filme, Kunst können als Waren gehandelt werden.

Wenn wir sagen, Sexualität ist ureigener, intimer, lebendiger Lebensausdruck von Körper / Seele / Geist und deshalb unveräußerlich... Dann trüge ein warenförmiger Umgang, Tausch oder Handel ein zerstörerisches Potential in sich. Das betrifft genauso andere lebendige Ausdrücke wie Singen, Kunst, Denken. Einen Umgang mit solchen immateriellen Dingen und vor allem der Einsatz zur Existenzsicherung (Angebot, Verkauf) bewegt sich immer (wie alle Dienstleistungen, im Gegensatz zum Handwerk) im Grenzbereich von Innen-Außen, Privat-Öffentlich, Echt-Unecht, ... Vielleicht hat deshalb das Attribut von sog. Ganzheitlichkeit so große Konjunktur.

Die feministische Polarisierung in Freiwillige Prostitution oder Prostituierte als Gewaltopfer ist nur die Darstellung der jeweils anderen Seite derselben Medaille. Ob nun neoliberal oder paternalistisch, die differenzierte Wirklichkeit ist so nicht zu erfassen. Differenz heißt hier nicht Beliebigkeit, sondern durchaus Positionierung.

Meine Haltung ist: Prostitution ist nie eine gute Option, weder für Männer, noch für Frauen. In der Prostitution Tätige sind keine unmündigen Opfer, sondern bleiben Subjekte ihrer Entscheidungen an vielen Punkten ihrer Tätigkeit. Das macht sie jedoch nicht unverletzbar und das gilt für alle, die Gewalt erlebt haben oder in prekären Abhängigkeits- oder Ausbeutungsverhältnissen leben oder arbeiten.


Der lukrative Weltmarkt der Prostitution ist nicht zu denken ohne Gewalt

Frauenverachtung, Folter und Mord von Kindern und Frauen, die organisierte Ausnutzung von Armut oder einer jugendlichen Anpassungsbereitschaft an ein pornofiziertes, ökonomisiertes Frauenbild, der Handel und das Verschieben von Frauen in der Prostitution ... alles ist Teil dieses Marktes. Auch die eventuell gutbezahlte und u.U. recht selbstbestimmt arbeitende Escort-Dame und selbständige Prostituierte bedient diesen immer auch mit.

Die proklamierte Trennung in freiwillige Prostitution auf der einen Seite und Menschenhandel auf der anderen Seite mag für die einzelne Prostituierte auf dem Markt relevant sein, vor allem monetär, aber in ihrer gesellschaftlichen Dynamik und Interessen ist das eine ohne das andere nicht denkbar.

Der Satz von KOK (bundesweite Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V.) "Deutlich möchten wir darauf hinweisen, dass nicht jede Prostituierte, nicht jede Migrantin in der Prostitution Opfer von Frauenhandel ist!" ist sachlich richtig, in der Praxis und für die Kunden nicht trennbar (und ich unterstelle, auch von den BetreiberInnen nicht gewollt), politisch gesehen jedoch empfinde ich ihn als undividualistisch und erbarmungslos.

Die aggressive Werbung und Öffentlichkeitsarbeit von Hydra e.V. und Dona Carmen e.V. ist Werbung. Es geht ums Geschäft. Dazu haben sie das gleiche Recht wie alle anderen auch. Nur geht es dabei nicht um Emanzipation oder Frauenwürde, sondern um Marktanteile. Und warum sollen Frauen, die solange auf der Verliererinnenseite dieses Marktes waren, nicht auch selbstbestimmt mitverdienen?

Das dürfen sie tun - und ich darf es ablehnen.


Zur Autorin:

Marita Blauth *1957, Dip.Soz.Päd., Heilpraktikerin, Shiatsu und Traumatherapie (Somatic Experiencing). Eigene Praxis. Langjährige Mitarbeit in der TuBF-Frauenberatung Bonn (Therapie, Beratung und Coaching für Frauen).
www.marita-blauth-fotografie.de
www.shiatsubonn.de
www.tubf.de


Anmerkungen:

(1) Christina von Braun: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Aufbau Verlag 2012

(2) www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-kapital-will-sex

(3) Christina von Braun: 2012 S. 403

(4) Christina von Braun: 2012 S. 410

(5) Sabine Grenz, Martin Lücke: Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart. S. 319 ff

(6) Sabine Grenz, Martin Lücke: Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart. Transcript Verlag Bielefeld. 2006 S. 170

(7) vgl. http://frontex.antira.info/frontex/

(8) vgl. www.nachdenkseiten.de/?p=3099

(9) www.dasparlament.de/2013/09/Beilage/004.html

(10) http://pinkstinks.de/prostitution/

(11) www.stadtrevue.de/archiv/archivartikel/4368-dienstleistung-oder-unterwerfung-die-debatte/

(12) Antje Schrupp: Prostitution ist kein Fall fürs Gesetz, in: GWR 386, Feb. 2014, S. 1, 6,
www.linksnet.de./de/artikel/30378

(13) www.bzw-weiterdenken.de/2013/07/paradoxe-verblendung/

(14) Löw/Ruhne: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt. Suhrkamp 201. S. 144

(15) FUCKING POOR. Was hat Sexarbeit mit Arbeit zu tun? Eine Begriffsverschiebung und die Auswirkungen auf den Prostitutionsdiskurs, von Anita Kienesberger S. 232

(16) vgl. Helga Spindler: www.heise.de/tp/artikel/40/40612/1.html

(17) achtköpfiges ForscherInnenteam unter Führung der US-amerikanischen Psychologin Melissa Farley, gefunden in www.linkewoche.at von Paul Pop 24.1.14

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 389, Mai 2014, S. 14-16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2014