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GRASWURZELREVOLUTION/1637: Kongress der Zapatistas - "Wissenschaft für das Leben"


graswurzelrevolution 416, Februar 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Wissenschaft für das Leben"
Chiapas: Neue Begegnungen, harte Worte und viele Pläne.
Antikapitalistischer Wissenschaftskongress der Zapatistas wirft mehr Fragen als Antworten auf

Von Luz Kerkeling


San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko. Freundlich, aber bestimmt, werden wir bei unserer Ankunft morgens im Nebel des chiapanekischen Hochlands am Einlass des Kongresses der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN zur Registrierung gebeten. Wir betreten das 20 Hektar umfassende autonome Territorium des interdisziplinären Indigenen Bildungszentrums Cideci am Rande der zweitgrößten Stadt des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. "Alles ist vorbereitet, die Essens- und Infostände, die unterschiedlichen Veranstaltungsräume. die Live-Übertragung der Beiträge via Internet und über die freien Radios", so Francisca, eine freiwillige Helferin.


Das Treffen firmiert unter dem Titel "L@s Zapatistas y las Con-Ciencias por la Humanidad", ein Wortspiel, welches in etwa "Die Zapatistas und die Wissenschaften mit Bewusstsein für die Menschheit" bedeutet. 76 Wissenschaftler*innen aus elf Ländern geben sich ein Stelldichein. Der Schwerpunkt liegt auf den Naturwissenschaften, darunter Agrarökologie, Astrophysik, Biologie, Informatik, Mathematik, Medizin, Physik, Robotik und anderes, aber auch sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftliche Themen sind vertreten. Bei vielen vorherigen Kongressen der Zapatistas standen die Geisteswissenschaften im Fokus.

Das Treffen sei auf ausdrücklichen Wunsch der zapatistischen Basis organisiert werden, dort gebe es einen großen Wissensdurst nach tiefgründiger Bildung, es handele sich nicht um eine Idee der Führungsgremien, so EZLN-Sprecher Subcomandante Moisés in seiner Eröffnungsrede. Die Stoßrichtung ist klar: "Die Wissenschaft, die wir als Zapatistas möchten, ist eine Wissenschaft für das Leben, nicht für den Kapitalismus."

Ein besonderes Charakteristikum des Kongresses ist, dass ausschließlich 100 zapatistische Schülerinnen und 100 zapatistische Schüler unterschiedlichen Alters Fragen an die Vortragenden stellen dürfen. Die Aufgabe dieser 200 Delegierten ist es, ihre Eindrücke in ihren Heimatgemeinden weiterzugeben. Es fällt auf, dass die Zapatistas, die stets in den ersten Reihen sitzen, mit Abstand am meisten in ihre Blöcke notieren.

"Ich würde mich am liebsten klonen und überall dabei sein", sagt Pedro, ein zapatistischer Kaffee-Genossenschafter, der für einen Essens- und Kaffeestand eingeteilt ist, grinsend: "Meine Compas meinen, eine Menge Vorträge seien wirklich richtig interessant, besonders die, die mit dem Leben in unseren Dörfern zu tun haben, also zu ökologischem Anbau, Gentechnik und Gesundheit".

Weit über 1.000 Interessierte aus Mexiko und aller Welt nehmen darüber hinaus am Treffen teil, tauschen sich aus und diskutieren. Wie so oft bei Aktivitäten dieser Art sind die Pausengespräche beim Kaffee oder frisch gepresstem Saft oftmals Quelle neuer Informationen und neuer Kontakte.

Juana, freie Medienaktivistin aus Mexiko-Stadt zeigt sich beeindruckt: "Wow, von so vielen Themen habe ich noch nichts gehört, es ist spannend, da reinzuschnuppern. Ich finde es sehr gut, dass wir auch hier sein können, dass so viele unterschiedliche Leute zusammenkommen. Und außerdem tut es gut zu merken, nicht die Einzige zu sein, die mit der ganzen Scheiße auf diesem Planeten nicht einverstanden ist."

Das Auditorium, das Raum für rund 1.000 Personen bietet, ist in der gesamten Kongresswoche fast immer bis auf den letzten Stuhl besetzt. Für alle, die dort keinen Platz finden, gibt es im großen Speisesaal eine Video-Übertragung. Die Audioübertragungen sind auf dem gesamten Gelände zu hören. Zusätzlich zu den Veranstaltungen im Auditorium gibt es Workshop-Phasen in weiteren Räumlichkeiten.

Neben der Wissensvermittlung in ihren Fachbereichen prangern viele der Vortragenden die fehlende Ethik der Wissenschaft an. Sie stehe meist im Dienste der politisch-ökonomischen Eliten und nicht im Dienste des Allgemeinwohls, wie die Mathematikerin Pilar Martínez hervorhebt: "Viele Wissenschaftler sind fest überzeugt, die Wissenschaft werde in einem neutralen Umfeld praktiziert. Doch Konzerne wie Bayer und Monsanto verbreiten genetisch modifiziertes Saatgut, das von Leuten wie uns entwickelt wird, um die ursprünglichen Sämereien zu verdrängen. Unser Wissen wird auch zur Produktion von Waffen verwendet. Viele Wissenschaftler kümmern sich mehr um ihre Publikationen als um die Studierenden. Die Zapatistas haben uns mehrfach gesagt, dass die kapitalistische Hydra alles zerstören wird. Wir haben hier dazu wissenschaftliche Erkenntnisse beigetragen. Die Zapatistas brauchen eine kritische Wissenschaft, um die Arche zu konstruieren, die uns retten kann."

Rita Valencia, Aktivistin aus San Cristóbal, unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die zapatistische Bewegung sich über die linke Szene hinaus orientiert: "Ich denke, es ist ein großer Fortschritt, unsere Kämpfe mit Kunst und Wissenschaft in Verbindung zu bringen. Der Aufruf der Zapatistas an die Wissenschaftler*innen, die rebellischen Gemeinden zu besuchen, kann zu einer anderen Art von Wissenschaft verhelfen, die wir benötigen, um das große 'Unwetter' zu überstehen, dass sich abzeichnet."

Subcomandante Galeano von der EZLN betont, wie neue ökologische Phänomene die rebellischen Gemeinden vor neue Herausforderungen stellen: "Es kommt inzwischen vor, dass die Trocken- und Regenzeiten sich verändern. Es regnet, wenn es früher nicht geregnet hat. Die Kältephasen sind kürzer und weniger intensiv. Tiere, die in bestimmten Gegenden anwesend waren, tauchen nun in Regionen auf, die eine andere Vegetation und ein anderes Klima aufweisen. Das althergebrachte Wissen reicht also nicht mehr. Die Zapatistas sind sich bewusst, dass sie wissenschaftliche Kenntnisse benötigen, anstatt in Kapellen oder Kirchen zu gehen und zu beten, nicht aus reiner Neugier, sondern aus der Notwendigkeit heraus, etwas Reales zu unternehmen um ihre Wirklichkeit zu transformieren."

Die Bilanz des Treffens seitens der Teilnehmer*innen fällt positiv, jedoch ein wenig ambivalent aus. Marie, Angehörige einer französischen EZLN-Solidaritätsgruppe meint: "Es ist total gut, dass das Treffen stattfindet, es werden neue Türen geöffnet, zu Leuten aus der Naturwissenschaft, die bisher praktisch nichts mit radikalem Widerstand zu tun hatten. Aber ich finde den Kongress ein wenig überfrachtet, es sind zu viele Themen. Aber es soll ja weitere solcher Events geben; da wird bestimmt nachgebessert."

Beim Kongressabschluss im Auditorium fasst eine Schülerin der EZLN-Basis die Eindrücke der teilnehmenden Zapatistas zusammen: "Viele Worte, die wir in diesen Tagen gehört haben und durch die wir gelernt haben, haben mehr Fragen als Erkenntnisse aufgeworfen. Eure Worte haben große Zweifel und Beunruhigung erzeugt. Eure Worte sind sehr groß, aber wir empfinden sie als sehr hart. Nicht, weil sie beleidigen, sondern weil es uns nicht immer gelingt, sie zu verstehen. Die Gemeinden werden sagen, dass sie in einigen Fällen abgehoben sind."

Die patriarchale Praxis in der Mainstream-Wissenschaft kritisiert sie knallhart: "In der sogenannten wissenschaftlichen Community werden die Beiträge und Forschungen der Frauen nicht anerkannt. Hier regiert der Machismo." Die Sprecherin betont gleichzeitig, dass viel in diversen Fachbereichen gelernt werden konnte und auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Status Quo gemacht wurden.

Des Treffen endet in einem konstruktiven Ambiente, allen Vortragenden wird herzlich gedankt. Subcomandante Moisés unterstreicht, dass ein langer gemeinsamer Weg begonnen habe und es weitere Treffen geben wird, um wirklich unabhängige, kapitalismus- und herrschaftskritische Wissenschaften zu fördern und breit zugänglich zu machen, zum Beispiel durch den Aufbau autonomer Hochschulen. Ende 2017 wird der nächste Wissenschaftskongress stattfinden.


CIDECI / UNITIERRA

Der Kongress der Zapatistas fand im "Indigenen Zentrum für indigene Bildung" CIDECI / UNITIERRA (Universität der Erde) statt, welches am Stadtrand von San Cristóbal de las Casas liegt. In diesem interdisziplinären Lehrzentrum werden jährlich Hunderte Jugendliche und Erwachsene ausgebildet. Die Bildung findet gratis statt, die Studierenden verpflichten sich allerdings, das neu erworbene Wissen in ihre Dörfer zurückzutragen. So sollen emanzipatorische Autonomieprozesse vor Ort gestärkt werden. Die Fachbereiche umfassen Alphabetisierung, Backen, Gesundheit, Umgang mit Computern, Schuhmacherei, Automechanik, Nähen, Töpferei, Architektur, Elektrotechnik, Design, Radiotechnik, Metallarbeiten, Musik, Soziologie, Politik, Ökonomie, Philosophie, Agrarökologie und Weiteres. Das CIDECI steht der EZLN nahe und bietet Raum für unterschiedliche linkspolitische Gruppen, unter anderem fanden dort auch bereits mehrere anarchistische Vernetzungstreffen statt.

Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A., Chiapas


* Surftipp: Alle Kongressbeiträge (spanisch):
www.radiozapatista.org

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 416, Februar 2017, S. 16 - 17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2017

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