graswurzelrevolution Nr. 435, Januar 2019
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft
"Die Uniform in die Jauchegrube geworfen"
Interview mit dem Wehrmachtsdeserteur Rainer Schepper
von Bernd Drücke
Fahnenflucht ist in Deutschland bis heute nach Paragraph 16
Wehrstrafgesetz strafbar. Während des Zweiten Weltkriegs wurden von
der Nazi-Justiz über 30.000 Todesurteile gegen Deserteure gefällt.
Davon wurden mindestens 23.000 vollstreckt. Bis zum Kriegsende im Mai
1945 wurden viele Männer, die sich durch Fahnenflucht der Beteiligung
am befohlenen Massenmord entzogen, standrechtlich erschossen. Dieser
Gefahr zum Trotz desertierten während des Zweiten Weltkriegs von den
18,2 Millionen Wehrmachtssoldaten bis zu 400.000. Einer dieser
Deserteure war der spätere Lehrer Rainer Schepper.
Nach Erscheinen seines Buches "Ich war Deserteur"(1) wurde der
Publizist und Rezitator standard- und niederdeutscher Sprache als
"Vaterlandsverräter" beschimpft. Sein 2016 erschienener
"Lebensreport"(2) dokumentiert auch, wie der Militarismus im
Nazideutschland den Alltag der Jugendlichen bestimmt hat. Zentral sind
die Erlebnisse, die Schepper während der letzten Kriegsmonate gemacht
hat. Im Januar 1945 wurde der damals 17-Jährige zum Kriegseinsatz an
die Ostfront kommandiert. Er floh, desertierte dreimal und entkam,
trotz Standgericht und Strafkommando. Heute ist er vielleicht der
letzte noch lebende Wehrmachtsdeserteur. Mit dem 91-Jährigen führte am
12.11.2018 GWR-Redakteur Bernd Drücke ein Zeitzeugengespräch(3), das
wir hier in Auszügen veröffentlichen. (GWR-Red.)
Bernd Drücke: Ich finde es toll, dass Du bereit bist, uns
Deine Geschichte zu erzählen.
Anfangen möchte ich aber nicht mit einer Frage zum Zweiten Weltkrieg,
sondern zum Ersten. Du hast viele Bücher publiziert.(4) Das Buch
"Erinnerungen aus zwei Weltkriegen"(5) hast Du 2015 herausgegeben. In
dem Kapitel "Kriegserinnerungen 1914-18 der Rote-Kreuz-Schwester Tine
Schulte-Lippern" geht es um die Erlebnisse Deiner Tante. Es handelt
sich dabei um das Tagebuch, das sie als Krankenschwester an der Front
geschrieben hat.
Das Ende des Ersten Weltkrieges hat sich gerade [im November 2018] zum
einhundertsten Mal gejährt. In diesem Krieg wurden über 17 Millionen
Menschen getötet und über 20 Millionen verletzt. Der Schrecken dieses
Massenmordens ist trotzdem kaum ein Thema in der Öffentlichkeit,
sondern weitgehend in den Geschichtsbüchern verschwunden.
Was war das Resümee Deiner Tante? Warum hast Du dieses Buch
herausgegeben?
Rainer Schepper: Erstens, weil es eine Dokumentation der gesamten Zeit des Ersten Weltkriegs ist. Meine Tante Christine Schulte-Lippern, kurz: Tine, hat während des ganzen Krieges als Krankenschwester des Roten Kreuzes gearbeitet, an der Front in Frankreich. Dieser Bericht ist einzigartig, jedenfalls auch individuell. Sie ist mit großer Begeisterung in den Krieg 1914 hinein gegangen, hell begeistert fürs Vaterland, und sie hat lange noch auch an den Sieg geglaubt. Nachher kam die große Enttäuschung, die Resignation, und damit endet auch dieses Tagebuch. Dazu gibt es Fotografien aus der damaligen Zeit, die auch interessant sind. Ich habe das Buch im Elsinor und Longinius Verlag herausgegeben, kombiniert mit meinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtsdeserteur. Ich halte das für eine naheliegende Gegenüberstellung: hier die damalige heilige Vaterlandsbegeisterung und der Patriotismus und nachher die große, nochmalige Enttäuschung während der Hitler-Zeit mit alldem, was sich da ereignete.
Bernd Drücke: Du wurdest am 23. März 1927 in Münster
geboren und bist aufgewachsen in einer katholischen Familie.
Mittlerweile bist Du 91 Jahre alt, aber geistig immer noch sehr fit...
Rainer Schepper: ...wird behauptet...
Bernd Drücke: ..."wird behauptet". Das ist auch so, das
kann ich bestätigen. Du hast in Deinem "Lebensreport", der 2016
herausgekommen ist, beschrieben, wie Du die Nazizeit in Münster,
zunächst als Kind, erlebt hast. Zum Beispiel als Elfjähriger am
9. November 1938 die Reichspogromnacht, da sind in der Nacht über
1.400 jüdische Gotteshäuser im gesamten Reichsgebiet angezündet und
zerstört wurden. Allein im heutigen Nordrhein-Westfalen wurden dabei
mindestens 127 Menschen getötet. Die tatsächlichen Zahlen sind immer
noch nicht geklärt. Die Nazis haben die Zahl der reichsweiten
Todesopfer des von ihnen als "Reichskristallnacht" gefeierten Pogroms
mit 97 angegeben. Die Bundesrepublik hat diese Zahl übernommen. Die
jetzt veröffentlichten Forschungsergebnisse für NRW zeigen aber, dass
es wahrscheinlich wesentlich mehr Todesopfer gab...
Rainer Schepper: ...aber es ist ja nicht wichtig, wie viele Menschen da getötet wurden, sondern, dass überhaupt Menschen getötet wurden...
Bernd Drücke: ...das war der Auftakt oder ein Vorbote für
die im Zweiten Weltkrieg organisierte massenhafte Vernichtung der
Juden. Du hast die Reichspogromnacht 1938 als Kind in Münster erlebt.
Rainer Schepper: Ja und nein. Ich war damals in Burgsteinfurt. Ich lebte bei meinem Vater mit meinem vier Jahre jüngeren Bruder. Die Reichspogromnacht war von den Nazis einheitlich im ganzen Reich organisiert worden, wie man heute weiß, und mein Vater hatte nichts Besseres zu tun, als uns Kindern das zu zeigen. Der ist mit uns nach Münster gereist, und da sahen wir gleich die brennende Synagoge. Er hat uns die zerstörten jüdischen Geschäfte gezeigt, wo zum Beispiel in der Salzstraße - daran erinnere ich mich deutlich - Scheiben zertrümmert und Sachen aus den Geschäften heraus gerissen worden waren. Auf der Rückfahrt haben wir in Borghorst Station gemacht. Da haben auch einige Juden gelebt. Und auch da wurden die Häuser, die Wohnungen zertrümmert, Scheiben eingeschlagen. Ich erinnere mich an eine jüdische Frau, die kreischend und schreiend, verzweifelt auf der Straße stand, und mein Vater lächelte hämisch dazu. Ich fand das ganz furchtbar, ich durfte kein Wort sagen. In der Nazizeit hatte man ja den Mund zu halten, das war überall zu tun. Und der Abschluss war der Besuch des zerstörten und verwüsteten jüdischen Friedhofs am Bagno in Burgsteinfurt. Heute ist nichts mehr davon da. Es ist eine Gedenkstätte. Grabsteine von damals gibt es da nicht mehr. Ich bin vor einigen Jahren da gewesen. Es wird noch als Gedenkstätte erhalten, aber nicht mehr als Friedhof genutzt. Das war also ein grauenhaftes Erlebnis, zumal ich zu schweigen hatte. Ich war elf Jahre alt. Mein Vater war Nazi und stand voll dahinter. Später, nach dem Krieg, ist er mit mir zum Anne-Frank-Haus in Amsterdam gegangen und hat Krokodiltränen geweint. Das habe ich nie verstanden.
Bernd Drücke: Du hast in Deinem "Lebensreport" auch
beschrieben, wie Du die Verhetzung gegen die Juden erlebt hast, und
dass das eben nicht nur von den Nazis ausgegangen ist, sondern dass
dabei auch der Katholizismus eine große Rolle gespielt hat. Das
Münsterland war damals stark katholisch geprägt, stärker als heute.
Wie hast Du das erlebt?
Rainer Schepper: Wir wurden ja schon im Religionsunterricht und anhand der biblischen Geschichte und der Abbildungen darin gegen die Juden eingenommen; das waren dann die "Gottesmörder". Und die verdienten angeblich nichts Besseres, als bestraft zu werden. Hitler war sozusagen ein später Vollstrecker dessen, was die Kirche Jahrhunderte hindurch getan hat. Bei der Inquisition haben sie quasi auch noch die eigenen Leute verbrannt. Aber die Judenverfolgung ist durch die Geschichte belegt. Im Religionsunterricht wurde uns indoktriniert, dass die Juden "Gottesmörder" seien. Es tut mir leid, dass ich kein Exemplar mehr von den Schulbüchern habe. Da wurden die Juden bildlich dargestellt als Folterknechte, mit ihren Nasen, mit den Juden zugewiesenen Physiognomien, wie man das damals so darstellte, übrigens auch in der Nazizeitung "Der Stürmer". Das war eigentlich nicht anders als in der Bibel und im Religionsunterricht. Ich hatte von vorne herein schon in der Schule von Geistlichen einen Hass, nein, das wäre zuviel gesagt, eine Angst und eine Aversion gegen die Juden indoktriniert bekommen.
Bernd Drücke: Im Januar 1945 warst Du 17 Jahre alt, da
solltest Du an die Ostfront geschickt werden. Was ist da passiert?
Rainer Schepper: Ja, das ist eine lange Geschichte: Ich hatte
mich zunächst einmal der Sache entzogen, dadurch, dass ich gefastet
hatte. Wer keine hundert Pfund gewogen hat, also keinen Zentner, der
wurde auch nicht eingezogen. Meine Mutter litt darunter, ich sollte
mehr essen, schließlich habe ich es getan.
Dann wurde ich zunächst zum Reichsarbeitsdienst einberufen, noch nicht
sofort zur Wehrmacht. Aber das war insofern kein großer Unterschied,
als dass auch der Reichsarbeitsdienst ziemlich nah an der Front
eingesetzt wurde. Das war eine scheußliche Geschichte. Wir mussten uns
abends am Hauptbahnhof in Münster stellen. Dann wurden wir mit der
Eisenbahn an die Front verfrachtet und wussten zunächst gar nicht,
wohin es gehen sollte. Es war sehr spät, und wir guckten durch die
Fenster, in welche Richtung das ginge. Hoffentlich nicht nach Osten,
nach Russland, sondern nach Westen.
Nein, wir fuhren durch Berlin, da wussten wir Bescheid. Da war alles
klar, wohin die Fahrt ging, und zwar nach Turek nordwestlich von
Litzmannstadt, wie Lodz damals hieß. Da war das
Reichsarbeitsdienstlager, und da sollten wir dann "Deutschland gegen
die Russen verteidigen". Man bewaffnete uns mit der Panzerfaust. An
der wurden wir nicht einmal ausgebildet, sondern nur darüber
instruiert, sie habe einen so starken Rückschlag, dass der Mann, der
sie abfeuerte, umgeworfen werden konnte. So sollten wir russische
Panzer abknallen, wenn die kämen. Schon bald wurde aber das Lager
geräumt, um dem russischen Angriff auszuweichen. Die Front rückte
näher und da habe ich einen Kranken gespielt, ich hatte einen
Ohnmachtsanfall vorgetäuscht. Das ist eine lange Geschichte. Ich bin
dadurch der Sache entgangen. Aber wenn ich das alles erzähle, wird es
wahrscheinlich zu viel.
Bernd Drücke: Ach nö, erzähl mal.
Rainer Schepper: Jedenfalls bin ich bei der nächsten
Gelegenheit desertiert. Ein anderer, wirklicher Kranker, ich bin ja
nur so ein Simulant gewesen [lacht], und ich marschierten dann in
Richtung Liegnitz. Und der Feldmeister, der uns begleitete, so nannte
er sich, vielleicht so etwas wie ein Unteroffizier, fuhr auf dem Rad
oder ließ uns Kranke oder Simulanten abwechselnd auf dem Fahrrad
fahren. Inzwischen war die Bevölkerung auf der Flucht. Die Straßen
waren verstopft und überfüllt von Menschen und Pferdewagen. Die flohen
vor den Sowjets. Wegen der Hitler-Propaganda, in der es hieß, dass
"jeder, der den Russen in die Hände fällt, verloren ist".
Wir sind zu Fuß oder per Fahrrad unterwegs gewesen. Dann fand ich im
Straßengraben ein herrenloses Fahrrad und habe das da herausgefischt.
So konnten wir Beide dann auf dem Fahrrad fahren, durften auch ein
Stück voraus fahren, sollten aber immer in Sichtweite des Feldmeisters
bleiben. Da wurde es neblig [schmunzelt], und der Feldmeister war
inzwischen vom langen Marsch etwas ermüdet. Irgendwann haben wir
gesagt: "So, jetzt treten wir in die Pedalen und hauen ab." Das war
natürlich höchst riskant.
Am nächsten Ort haben wir eine Unterkunft bei freundlichen Schlesiern
gefunden und konnten dort über Nacht bleiben. Wo der Feldmeister
geblieben ist, das weiß ich nicht [lacht]. Der stand nun wohl da auf
weiter Flur ohne Fahrrad. Wir haben einen der vielen Züge nach Westen
erwischt. Das war ganz schwierig. Denn die Züge waren überfüllt mit
Flüchtlingen. Sogar auf den Trittbrettern, die es damals noch gab und
die außen entlang der Eisenbahnwaggons angebracht waren, standen die
Menschen und hielten die Fahrt durch Eiseskälte und schneidenden
Fahrtwind aus. Es waren Minus 14 Grad Kälte, nach meiner Erinnerung.
In einem dieser Züge gab es einen Waggon, auf dem ein FMG stand, ein
Funkmessgerät, das kannten wir schon von der Flak, von der
Fliegerabwehr her, zu der wir als Luftwaffenhelfer eingezogen worden
waren. Wir haben uns einfach dazu gesetzt, das war meine Idee, so dass
jeder auf den ersten Blick denken musste, wir wären die Mannschaft zu
dem Gerät.
Wir hatten zwei Wolldecken, und der wirklich Kranke, Friedhelm Jasser,
aus Siegburg war er, glaube ich, schnatterte vor Kälte; da habe ich
ihm noch meine Decke gegeben. Irgendwann war es jedenfalls so schlimm,
dass ich meine Beine nicht mehr fühlte, wegen der Eiseskälte bis zu
den Knien. Da habe ich gesagt: "Das mache ich nicht mehr, ich gehe
jetzt runter." Ich meine, dass es in Sagan oder Liegnitz gewesen ist,
so genau erinnere ich mich nicht mehr, da haben wir den Zug verlassen.
Ich habe mich nur noch auf den Bahnsteig fallen lassen können, weil
ich zunächst gar keine Kraft mehr in den Beinen hatte. Wir haben uns
da im Wartesaal an einer warmen Suppe gestärkt.
Dann war aber die Schwierigkeit, wie wir da wieder heraus kommen
konnten. Die Sperre war von Wachhabenden besetzt. Jeder, der
uniformiert war, musste durch einen seitlich gelegenen Raum und sich
da ausweisen und kontrollieren lassen. Wir mussten auch in diesen
Raum, und ich dachte schon: "Nun sind wir verloren. Die werden Dich
jetzt wahrscheinlich vor ein Standgericht stellen." Dann gelang es uns
aber doch, ganz schnell hinter dem Rücken des Wachhabenden hinaus auf
den Bahnsteig zu gelangen. Wir erwischten dann einen Zug Richtung
Leipzig. Da trennten sich unsere Wege.
So kam ich dann nach Warendorf, wo meine Mutter und mein Bruder als
Evakuierte lebten, mit angefrorenen Füßen. Ich habe dann ganz dumm
getan und mich beim Wehrmeldeamt gestellt: "Wir wurden versprengt. Ich
melde mich hier." - "Warum bist Du dann nicht Zuhause geblieben?",
wurde ich später gefragt. - "Nein." Ich habe mich da ganz
vorschriftsmäßig gestellt und so getan, als sei ich versprengt worden,
obwohl ich natürlich ganz genau wusste, dass es Blödsinn ist,
ausgerechnet in Warendorf als Versprengter aus dem Osten anzukommen.
Aber dort war man hochinteressiert und betroffen, meinen Bericht von
der Front zu erhalten. Alle bebten ja: "Jetzt kommt der Russe, und das
ist das Ende des Krieges." Und da konnte ich ihnen eine Menge
erzählen.
Sie haben mich dann ins RAD (Reichsarbeitsdienst)-Krankenhaus nach
Clarholz geschickt. Da waren zwar noch Ärzte, aber kein Kranker mehr
da. Ich war der einzige Patient in diesem Lazarett in der Schule von
Clarholz. Ich hatte einen ganzen Stab von Ärzten und Personal um mich,
als der einzige Patient [lacht]. Da meine Füße nicht mehr in Schuhe
und Stiefel passten, bin ich in Pantoffeln durchs Dorf gegangen, zum
Friseur oder so, und fand bei einer sehr netten Lehrerin, die betulich
um mich besorgt war und unter dem Dach der Schule wohnte, eine
Zuflucht. Die hat mich dann bemuttert und betreut, hat mir herrliche
Sachen zu essen gegeben, was damals im Krieg wirklich eine Ausnahme
war. Auf dem Lande gab es das noch.
Bis dann der Gestellungsbefehl kam; inzwischen war meine Einheit nach
Regensburg verlegt worden. Nun bekam ich den Befehl, nach Regensburg
zu fahren. Ich dachte mir, dass, wenn ich da angekommen wäre, sie
genau wüssten, dass ich desertiert bin. Dann würde ich abgeurteilt. Da
durfte ich nie ankommen. Man wartete immer, dass der Krieg endlich zu
Ende wäre. Ich bin dann erst einmal ganz dummdreist nach Warendorf
gefahren und habe mich von meiner Mutter und meinem Bruder
verabschiedet, dann nach Vorhelm zu Augustin Wibbelt und habe ihm
meine ganze Geschichte erzählt.
Es ging weiter zu meiner Tante Tine Schulte-Lippern nach Gladbeck, die
bekam es mit der Angst zu tun, dass ich da nicht bleiben dürfte, "wenn
die dich erwischen". Im Nebenhaus wäre die Familie Riemer, und der
Sohn wäre im Krieg, wenn die mich hier sähen, die zeigten mich an, ich
sollte zusehen, dass ich weiter käme. Sie schob mich sozusagen ab,
wenn auch widerwillig und in größter Sorge.
Dann bin ich erst einmal Richtung Kassel gefahren, um Verwandte zu
besuchen und möglichst die Weiterfahrt nach Regensburg zu verzögern.
Ich war im Zug nach Kassel, und da kam auf einmal eine SS-Streife, die
sogenannten "Kettenhunde", mit Totenschädeln an einer Kette. Die
kontrollierten mich, und da war ich dran. Ich wurde verhaftet und in
Kassel vor das Standgericht gestellt. Und das hieß in der Regel: Rübe
ab. Ich rechnete also mit allem, ob Strick oder Erschießen, die machen
mich dort kaputt. Dann habe ich ihnen schöne Märchen erzählt. Ich war
allerdings mit einem Fahrschein ausgestattet, nach meiner Erinnerung
DIN-A-4 groß. Auf dem gab es, für den Fall, dass man nicht weiter
konnte, Stempelfelder, auf denen bescheinigt werden konnte:
"Weiterfahrt wegen Bombenangriff und Gleiszerstörung unmöglich.". Dann
bin ich immer zu solchen Bahnhöfen gekommen - ich weiß nicht, wie ich
das geschafft habe -, wo ich diese Stempel kriegte. Ich konnte
lückenlos meine Stempel auf diesem Fahrschein nachweisen. "Bitteschön,
tut mir Leid, ich bin nicht durchgekommen." Das glaubten
die nicht. Ich sagte: "Wenn Sie mir nicht glauben, kann ich nichts
dafür. Aber Sie müssen das glauben, es liegt doch deutlich vor Ihnen.
Warum glauben Sie das nicht?" Ja, dann bin ich auf die Weise da heraus
gekommen.
Aber ich kam in ein Strafkommando nach Frankfurt am Main, um dort zu
helfen, die Stadt zu verteidigen. Unter Bewachung. Ich weiß nicht
mehr, ob da noch mehr wie ich waren, oder nur ich. Den ganzen Tag
mussten wir im Flüchterner Tunnel stehen, wegen der
Tieffliegerangriffe. Der Zug musste in Sicherheit bleiben, dann kam er
am 23. März 1945, meinem 18. Geburtstag, in Frankfurt an. Da ging es
zur Kaserne, und dort waren chaosähnliche Verhältnisse. Man wusste
genau, dass Frankfurt bald eingezingelt wurde. Da war gar kein
Entkommen mehr. Die Stadt wurde ständig bombardiert. Die Kaserne war
überfüllt. Es waren nicht mehr ausreichend Betten vorhanden. Zum Glück
waren es sehr warme Frühlingsnächte. Und ich musste mit anderen
draußen kampieren.
Wenn Fliegeralarm kam, mussten wir die Kaserne verlassen und in die
umliegenden Büsche und Wälder rennen und uns dort verstecken, um dann
danach wieder zurück zu kommen. Da war ein vernünftiger Offizier, der
Kommandant dieser Kaserne war, genaueres über die militärische
Organisation dort weiß ich nicht, ich weiß nur noch, dass dort ein
Landser lag, der sich mit Schnaps oder ähnlichem hat volllaufen
lassen, der lag da ganz aufgedunsen, halb blau auf dem Rasen, das
interessierte überhaupt keinen mehr. Jedenfalls sagte dann bald dieser
kommandierende Offizier: "Jungs, Frankfurt ist eingekreist. Hier ist
nichts mehr zu machen." Verteidigung wäre Unsinn. "Beim nächsten
Fliegeralarm: haut ab! Seht zu, dass Ihr nach Hause kommt!"
Das habe ich dann auch gemacht. Nur ich war ja noch in Uniform, und
Frankfurt stand kurz vor der Besetzung durch die Amis. Ich wollte ja
nicht in Gefangenschaft. Ich war nun irgendwo in einem Bauernkotten,
da hingen im Stall alte Klamotten, wahrscheinlich vom Knecht oder von
einem Landarbeiter; da habe ich also kurzentschlossen meine Uniform in
die Jauchegrube geworfen, die gab es damals noch überall auf den
Höfen, und habe diese alten Klamotten angezogen und bin losmarschiert.
Ich sah natürlich aus wie ein Clochard. Oder wie nennt man das? Wie
ein Landstreicher. Das war mir aber auch ganz egal. Jedenfalls war ich
nun Zivilist.
Frankfurt wurde beschossen. Inzwischen gab es nicht mehr nur
Bombardements, sondern auch Artilleriebeschuss. Es war gefährlich,
sich draußen aufzuhalten. Ich bin darum in einen "Straßenbunker"
gegangen. "Straßenbunker" nannte man Unterstände, die für die
Bevölkerung gemacht wurden, für die Nachbarschaft sozusagen,
eingegraben in den Boden. Wer also keinen Luftschutzkeller aufsuchen
konnte, der konnte in diesen Unterstand. Da bin ich dann also
unbedarft hinein gegangen. Ich dachte, dass ich da jedenfalls vor
Beschuss sicher wäre. Genau das aber war gefährlich. Denn ich fiel auf
in meinen ollen Klamotten. Das konnte ja nun nicht sein. "Was ist denn
das für Eener? Das kann ja nur ein Deserteur sein." Und in diesem
Unterstand war dann auch ein Parteifunktionär, also ein
Ortsgruppenleiter oder wie sich diese Leute nannten, und der wurde auf
mich aufmerksam. Er stellte mich zur Rede, wer ich denn sei, ich wäre
doch wahrscheinlich Wehrmachtsangehöriger, warum ich diese komischen
Klamotten anhätte. Dann habe ich ihm gesagt: "Ich bin immer wieder vom
Wehrdienst zurück gestellt worden." Was damals auch gestimmt hatte.
"Ich hatte meine Cousine in Kassel besucht. Und da kam ein nächtlicher
Bombenangriff. Wir mussten ganz schnell in den Keller. Das ganze Haus
ist mitsamt meiner Kleidung über uns zusammen gebrochen." Da habe ich
ihm dieses schöne Märchen erzählt. "Ich hatte nichts mehr. Und dann
habe ich mir nur noch diese alten Klamotten besorgen können. Es gibt
ja Kleidung nur auf Bezugschein. Was blieb mir übrig?"
Der glaubte mir das natürlich nicht, was ich ihm auch ehrlich
zugestehen muss. Jedenfalls wurde die Sache brenzlig. Der wollte mich
also verhaften, das konnte er ja. Ich sagte zu ihm: "Können wir mal
gleich alleine sprechen und einen Augenblick nach draußen gehen? Ich
habe Ihnen etwas zu sagen." - "Jaja, bitteschön." Dann standen wir
also vor dem Bunker. Die Granaten schlugen in Frankfurt ein. Dann habe
ich ihn angepfiffen: "Was fällt Ihnen eigentlich ein? Wie kommen Sie
dazu, hier die Leute zu verunsichern? Natürlich bin ich Soldat.
Natürlich habe ich meine Uniform weggeworfen. Wir haben Befehl, das zu
tun. Wissen Sie nicht, dass Frankfurt eingekesselt ist? Wir haben
Befehl, uns durch die feindlichen Linien durchzuschlagen, zu unserer
Truppe. Und Sie verunsichern hier die Leute. Das ist
Wehrkraftzersetzung! Ich zeige Sie an!" - "Nein, um Gottes willen,
nein. Das habe ich doch nicht gewusst." - "Das haben Sie als
Ortsgruppenleiter nicht gewusst? Das können Sie mir doch nicht
erzählen." - "Nein, also bitte, bitte, bitte, nein." - "Ja, dann sagen
Sie mir wenigstens, wie ich auf den nächsten Weg zu meiner Truppe
kommen kann. Ich muss ja erst einmal hier den Artilleriebeschuss
abwarten." Und so weiter. - "Da geht es da lang, und da lang..." -
"Ja? Dankeschön. Heil Hitler!" - "Heil Hitler!" Puh. Da war ich raus
[lacht].
Was machste, was machste, was machste? Da gab es noch die großen
Bunker, die hatten wir auch hier in Münster stehen, wo mehr Leute rein
passten, und dann strömte die Bevölkerung aus der Umgebung bei
Fliegeralarm in diese Bunker. Ich dachte mir, da wäre ich dann
anonymer, wenn ich in so einen Bunker ginge. Das habe ich auch getan.
Und ich habe mich in die dunkelste Ecke gesetzt, um nicht aufzufallen.
Dann dauerte es aber doch nicht lange, und es kamen wohlmeinende Leute
zu mir, es waren ja längst nicht alles Nazis, die sagten zu mir:
"Passen Sie auf! Sie werden beobachtet. Seien Sie vorsichtig!" Da
dachte ich: "Donnerwetter! Hier kannst Du auch nicht bleiben."
Ich war damals ja gut-katholisch, und dann war Gründonnerstag. Und ich
bin am Gründonnerstag in die nächste katholische Kirche gegangen, zum
Gottesdienst, auch zur Kommunion, und ich habe mir da die Leute
genauer angeguckt und habe einen Mann angesprochen, der mir sicher
schien, und ich habe ihm meine Situation geschildert. Und ob er mich
wohl bis zur Besetzung Frankfurts vielleicht bei sich zu Hause
aufnehmen könnte. "Ja, selbstverständlich. Klar, mache ich." Seine
Frau war auch dabei. "Aber folgen Sie mir bitte unauffällig, in
einiger Entfernung. Ich habe", erzählte der, "im Kriege nämlich Juden,
die hier abtransportiert werden sollten, die kurz hierher kamen,
Nahrungsmittel zugesteckt und bin dafür beinahe ins KZ gekommen. Ich
möchte so eine Situation nicht nochmal haben." Und ich sagte: "Das
kann ich gut verstehen." Da bin ich in entsprechender Entfernung
gefolgt. Ich bin bei der Familie Gräff geblieben, bis Frankfurt
besetzt war.
Es gab riesige Nahrungsmittellager, ich glaube, dass sie für das
Militär waren. Dann ging es los, man plünderte diese Lager. Und ich
habe der Familie Gräff dabei geholfen. Die hatten einen Bollerwagen,
auch wenn es für Frankfurt unglaubwürdig klingt, aber die hatten so
etwas. Jedenfalls sind wir losgezogen und haben den Wagen mit
Lebensmitteln, Zigaretten und anderem vollgepackt. Ich bin einige Tage
da geblieben, bis die Luft sozusagen rein war. Es blieb mir nichts
anderes übrig, es fuhr selbstverständlich kein Zug mehr, gar nichts.
Da war gar keine Aussicht, als den Weg nach Hause zu Fuß anzutreten.
Das habe ich also getan. Diese Fußwanderung hat zwanzig Tage gedauert.
Ich bin, glaube ich, am 31. März abmarschiert und kam am 19. April
nach meiner Erinnerung morgens in Warendorf an.
Ich bin zweimal sehr bedroht worden von ehemaligen Kriegsgefangenen.
Einmal von Polen auf einsamer Rheinstraße nach Assmannshausen, die
wahrscheinlich durch ihre miesen Erlebnisse in der Gefangenschaft so
wuterfüllt waren, dass sie mich lynchen und dann wahrscheinlich in den
Rhein schmeißen wollten. Es war jedenfalls höchstgefährlich. Ich
konnte mich dann auch mit denen nicht weiter verständigen, die
glaubten mir nichts. Zum Glück oder aus Zufall - ich weiß nicht, ob es
den Zufall gibt, ich glaube nicht daran - kam ein Konvoi mit
amerikanischen schwarzen Soldaten. Die Polen stellten sich an den
Straßenrand und jubelten denen zu. Und ich habe mich daneben gestellt
und mitgejubelt [lacht]. Und da waren die Polen auf einmal um 180 Grad
gedreht. Sie sahen, dass ich nun kein Nazi sein konnte, wie ich so den
Amis da so zujubelte. Da war alles in Ordnung. Ich hatte auf meinem
Rücken einen Karton mit Lebensmitteln für unterwegs und mit allen
möglichen Sachen meiner Habe geschnallt; mein kleines, grünes
Lackköfferchen hatte ich auch immer noch, von meiner Mutter. Wo es
geblieben ist, weiß ich nicht (ganz unmöglich aus heutiger Sicht). Da
boten sie mir sogar Zigaretten an, da habe ich gesagt: "Wisst Ihr was?
Ich habe auch noch Zigaretten." Die hatte ich von der Plünderung in
Frankfurt. Die wollte ich ihnen geben. - "Nein, nein, nein", die
wollten sie gar nicht. Da waren sie auf einmal nichts als Freunde. So
bin ich aus dieser heiklen Situation ganz gut heraus gekommen.
Die zweite Situation war viel später, als ich durch das Sauerland zog,
und zwar von Meschede aus, über den Stimmstamm. Ich wurde gewarnt, da
herüber zu gehen, weil der ganze Stimmstamm, das ist ein Berg, voller
russischer Kriegsgefangener läge, die jedem Deutschen die Gurgel
durchschneiden würden. Das war damals ja tatsächlich nicht ganz
unwahrscheinlich. Was sollte ich machen? Ich hatte keine Lust, große
Umwege zu gehen. Ich dachte: "Geh mal los. Das wird schon nicht so
dolle sein." Na, von wegen. Es war ja wirklich ein sehr warmer
Frühling. Viele ehemals gefangene Russen lagerten dort im Walde, und
sobald ich dort hinkam, mit meinem Paket auf dem Rücken und meinem
Köfferchen, da ging das los. Ich habe das immer verglichen mit so
einer Gänseherde. Schon als Kind habe ich mich davor gefürchtet. Wie
die Gänse auf einmal von allen Seiten auf einen zukamen, es liefen ja
welche frei herum, zum Beispiel in Thüringen, und wenn die Gänse einen
mit ihren Schnäbeln zerhacken. Jedenfalls war ich nun plötzlich in der
Mitte von diesen auf mich bedrohlich zukommenden Russen. Dann habe ich
fröhlich gewunken und gesagt: "Hollander, na Huis heen gaan!" Dann
habe ich ein bisschen plattdeutsch, ein bisschen holländisch
gesprochen. "Hollander, Hollander!" Und es ging wie ein Lauffeuer
durch das Lager. "Das ist ein Holländer!" Ach, dann habe ich das also
auch hinter mich gebracht [lacht]. Das waren die beiden heiklen
Situationen mit ehemaligen Kriegsgefangenen.
Es gab aber auch heikle Situationen mit den Amis, die mich aufgriffen.
Das erste Mal war im Westerwald. Da kam ich an einen jungen
amerikanischen Offizier, dessen Eltern ursprünglich Deutsche,
Deutschstämmige waren, der aber interessiert war, auch deutsch zu
lernen. Ich kam mit ihm in ein seltsames, längeres Gespräch. Er
versuchte, deutsch zu sprechen; ich versuchte, englisch zu sprechen.
Das war ganz lustig. Der stellte mir dann aus Sympathie einen
Passierschein aus. Da wurde bescheinigt, dass ich mit Wissen und
Billigung der amerikanischen Militärregierung unterwegs wäre, und man
möge mich überall durchlassen. Mit dieser Bescheinigung kam ich dann
tatsächlich durch alle Wachen. Da passierte gar nichts.
Bis ich bei Bad Fredeburg war. Da zeigte ich auch das Ding vor. Die
kassierten das aber und ließen sich auf nichts ein. Ich musste also
auf einen Jeep steigen, und der fuhr mich nach Fredeburg in die Stadt.
Auf der Treppe stand der Kommandant. Der ließ sich auf nichts ein und
hat mich in einen Stollen einsperren lassen. In dem Stollen waren auch
andere eingesperrt, ich weiß nicht, was das für Leute waren, da waren
auch Frauen, da stand eine Wache davor. Ich war also erst einmal mehr
oder weniger inhaftiert. Das kann ja heiter werden. Kein Ausweis,
nichts mehr. Was machste? Wir mussten die Nacht auf Stroh schlafen.
Dann habe ich es tatsächlich geschafft, am anderen Morgen, ich weiß
auch nicht wie, wie schon davor in Kassel, hinter dem Rücken der Wache
ganz schnell weg zu schleichen. Ich bin in Richtung Süden gegangen.
Ich weiß auch nicht, warum. Es war an dem Tag Markt in Fredeburg. Ein
altes Mütterchen aus Gleidorf schleppte ihre Taschen, und ich habe ihr
vorgeschlagen, dass ich ihre Taschen zu tragen helfen könnte. Dann
müsste sie mich nur bitte bei der Wache als ihren Sohn ausgeben. Das
hat sie auch gemacht. Ich war also ihr Sohn und trug Mütterchen die
Tasche. So bin ich da durch die Wache gekommen. Man musste sich ja
immer etwas Neues einfallen lassen.
Und ich wieder durch die Wälder über die Berge, auf den Höhenweg. Da
kamen mir wieder Amis entgegen. Die hatten damals dieses blütendweiße
Weißbrot, was ja eigentlich gar nichts taugt, nahrungsmäßig, aber das
war für uns etwas Großartiges, so etwas hatten wir ja jahrelang nicht
gehabt, so etwas. Und ich habe so etwas gefunden. Ich biss gerade
kräftig in so ein Weißbrot hinein, als da wieder die Amis waren. Nun
dachte ich mir: "Du machst die Flucht nach vorne." Und ich sagte: "Das
ist tolles Brot. Damit kann man den Krieg wohl gewinnen." Und solche
Sprüche. Das fanden die lustig und haben mich durchgelassen. Das war,
glaube ich, das letzte gefährliche Hindernis.
Kurz vor Warendorf, bei Westkirchen, hat mich ein Bauer mit seinem
Pferdefuhrwerk ein Stückchen Weges mitgenommen. Das war die einzige,
kurze Strecke auf meiner langen Wanderung, die ich gefahren bin. Sonst
bin ich gelaufen. Ich kam in Warendorf an, und dann kam wieder eine
heikle Situation, denn die Militärregierung beorderte an einem Tag
alle Männer auf den Marktplatz, um ihnen einen Passierschein oder
Ausweis zu geben; das müsse jeder haben, sonst käme er in
Gefangenschaft. Die sind dann alle arglos dahin geströmt. Ich sagte:
"Da gehe ich nicht hin!" Meine Mutter meinte: "Das musst Du! Da musst
Du hingehen!" Und ich: "Nee, das tue ich nicht!" Die sind also
reihenweise auf Lastwagen geladen und ab in französische oder
belgische Bergwerke transportiert worden. Und oft jahrelang weg
gewesen. Ein Nachbar von uns, Jürgens hieß er, Fahrradhändler, ist
zwei Jahre lang weg geblieben und musste in einem Bergwerk schuften.
Danach war nie wieder von dem Schein, den angeblich jeder haben
musste, die Rede gewesen. Die haben also einmal abkassiert da, und
dann war das vorbei.
Dann habe ich mich dem amerikanischen "Überfallkommando" zur Verfügung
gestellt. Als Dolmetscher. Soviel Englisch konnte ich.
"Überfallkommando" deswegen, weil die ehemaligen Kriegsgefangenen,
hauptsächlich Russen und Polen herum streunten, so war es ja, die
hatten ja keine Bleibe. Was blieb ihnen anderes übrig zum Überleben?
Für sie sorgte zunächst ja niemand. Sie haben also nachts Bauernhöfe
überfallen und da abkassiert, und wenn Bauern Widerstand leisteten,
haben sie diese auch schon mal erschossen. Das ist zum Beispiel in
Augustin Wibbelts Nachbarschaft in Vorhelm passiert. Da ist ein
Verwandter von ihm überfallen und - ich glaube, es waren Polen -
erschossen worden. Und da habe ich mit den Amis gearbeitet. Und das
Nachbarstöchterchen Lore, die mochte ich so gerne, die habe ich dann
mitgenommen, das war dann natürlich für die Amis auch eine schöne
Sache [lacht]. Da fuhren wir los zu irgendwelchen Bauernhöfen,
klopften die Bauern heraus, und die machten gerne auf. Die Bauern
tischten auf, Schinken, Butterbrote, Eier und was es damals alles so
gab, das war für uns märchenhaft nach diesen Jahren des Darbens.
Hunger wäre zuviel gesagt. Die Amis spendierten Zigaretten und
vielleicht abends auch etwas zum Trinken, das weiß ich nicht mehr. Da
haben wir so die Nächte verbracht. Das war der Mai 1945, ein
wunderschöner Monat. Herrliche Mainächte. Das habe ich also genossen.
Ich bin mit den Amis losgefahren, wir haben Russen und Polen gefangen,
die kamen dann ins Gefängnis, ins Rathaus. Und am anderen Tag ließ man
sie wieder laufen. So war das.
Bernd Drücke: Bis kurz vor Kriegsende wurden
Wehrmachtsdeserteure hingerichtet. Für Hitler waren sie die
Staatsfeinde Nummer eins. "Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss
sterben", lautete sein Befehl. Nach dem Krieg war "Deserteur" für
viele Deutsche immer noch ein Schimpfwort. Deserteure wurden oft als
"Volksschädlinge" diffamiert. Auch Du wurdest nach Veröffentlichung
Deines Buches "Ich war Deserteur"(6) als "Vaterlandsverräter"
beschimpft.
Rainer Schepper: Richtig, richtig. Mein Bericht ist sehr viel später erschienen; ich habe ihn erst 50 Jahre nach Kriegsende verfasst, aus meiner Erinnerung. Ich habe dann auch Vorträge in vielen Orten, Städten, Dörfern, in Volkshochschulen oder Lokalen gehalten. Und dann wurde ich oft übelst angegriffen, von Zuhörern als "Vaterlandsverräter", als "Feigling", als "Drückeberger", als "unkameradschaftlich" beschimpft, als einer, der seine Kameraden ins Feuer habe laufen lassen und sich selbst entzogen hätte. Heiße Diskussionen und übelste Angriffe, damals noch, lange nach Kriegsende.
Bernd Drücke: In Deinem "Lebensreport" schreibst Du auch
viel über Deine Kindheit und die starke katholizistische Prägung. Du
bist dann erst mit 43 Jahren aus der Kirche ausgetreten?
Rainer Schepper: Ja, vorher ging es nicht.
Bernd Drücke: Das würde mich interessieren, wie dieser
Ablösungsprozess vom Katholizismus stattgefunden hat?
Rainer Schepper: Das ist natürlich nicht von heute auf morgen
gewesen. Das ist ein langer Ablöseprozess gewesen.
Was mich zunächst beunruhigt, gequält oder als Problem beschäftigt
hat, das war das Leiden in der Tierwelt. Also, wie kann ein
allgerechter, allgütiger, allmächtiger Gott Tiere so leiden lassen?
Warum das Leid in der Tierwelt? Noch dazu das Leid der Menschen. Unter
dem Kreuz Christi. All diese Geschichten. Das habe ich damals noch
akzeptiert. Aber ich konnte mich nicht damit zufrieden geben, dass
Tiere leiden, unschuldige Tiere. Und dass sie noch zusätzlich vom
Menschen gequält werden. Und das wird dann noch von der Kirche
abgesegnet.
Das war der Ansatzpunkt. Und dann ging das natürlich immer so weiter.
Ich habe die Bibel nochmal sehr sorgfältig gelesen und die vielen
Widersprüche darin gesehen, die ungeheuren Blutrünstigkeiten des
sogenannten Alten Testaments. Dieser von Blut triefende, blutsaufende
Gott, 'tschuldigung, war bald für mich ein Ungeheuer.(7) So kam
schrittweise der Denkprozess, ein kritisches Überlegen und durch Lesen
diese innere Ablösung von der Kirche zustande, von der ich mich auch
äußerlich schon viel eher getrennt hätte, wenn das nicht zur Folge
gehabt haben würde, dass ich Münster hätte verlassen müssen. Es gab
damals, ich war ja Lehrer, in Münster nur Bekenntnisschulen. Und zu
Bekenntnisschulen gibt es ja inzwischen ein ganz neues Urteil, ganz
interessant, das kennst Du bestimmt.
Bernd Drücke: Ja.
Rainer Schepper: Jedenfalls hätte ich also Münster verlassen
müssen, um an einer Gemeinschaftsschule tätig zu sein.
Und ich wollte nicht aus Münster heraus, aus verschiedenen Gründen.
Ich bin hier durch die Mundart, durch die Sprache, durch die Dichtung,
durch den westfälischen Mundartdichter Augustin Wibbelt und andere
Dinge eigentlich verwurzelt, wenn man das so nennen soll, beheimatet,
und ich hatte hier meine Wiese, auf der ich grasen konnte [lacht]. Ich
hielt Vorträge mit plattdeutschen, niederdeutschen Texten, landauf,
landab.
Das ging nachher bis nach Flensburg rauf. Ich konnte also erst
offiziell aus der Kirche austreten, nachdem es in Münster eine
Gemeinschaftsschule gab. Es sei denn, wie gesagt, dass ich Münster
verlassen hätte. Solange habe ich dann warten müssen, und das war
1970. Dann habe ich es sofort gemacht, und dann kam natürlich auch
sofort die Reaktion. Ich habe es zwar nicht an die große Glocke
gehängt. Aber es sickerte durch. Entsprechend setzte ein
Kesseltreiben, auch auf beruflichem Gebiet, gegen mich ein, das dann
schließlich zu meiner vorzeitigen, von mir selber initiierten
Pensionierung geführt hat. Ich bin mit 51 Jahren, das war eine ganz
hübsche Sache, aus der Schule raus gegangen, mit Ruhegehalt. Das war
zwar reduziert, aber ich konnte es durch Vorträge im Fernsehen und
Rundfunk, durch Bücherschreiberei und Journalismus aufbessern. Ich
hatte mehr als meine Kollegen. Das war schon goldrichtig.
Bernd Drücke: Heute erleben wir eine Zeit, wo finstere
Geister wieder stärker zum Vorschein kommen. Rechtsnationalismus und
faschistische Bewegungen haben weltweit Zulauf. Zudem erleben wir auch
in Deutschland eine Remilitarisierung. Der deutsche Militäretat soll
in den nächsten Jahren peu à peu auf zwei Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, also 80 Milliarden Euro jährlich, erhöht
werden. Die Bundeswehr soll von derzeit 180.000 bis 2025 auf 203.000
Soldaten anwachsen.
Es gibt heute so viele minderjährige Soldaten beim Bund wie noch nie.
Das ist eine traurige Entwicklung. Seit der Aussetzung der
"Wehrpflicht" 2011 hat die Armee mehr als 10.000 Minderjährige
rekrutiert, allein 2017 waren es 2126. UNICEF definiert alle Soldaten
unter 18 Jahren als Kindersoldaten. Was würdest Du den jungen Leuten
sagen, die an den Schulen rekrutiert werden und sich freiwillig bei
der Bundeswehr melden?
Rainer Schepper: Freiwillig?
Bernd Drücke: Ja, das sind alles Freiwillige. Die
Bundeswehr ist ja seit Aussetzen der "Wehrpflicht" eine reine
Freiwilligen- und Berufsarmee.
Rainer Schepper: Ja? Bescherbelt! Was soll ich denen sagen?
[beide lachen] Haben die denn keine Vorstellung?! Man muss doch mal
nachdenken, was man tut. Ich bin doch für das, was ich tue, selber
verantwortlich.
Ist doch jeder. Das ist doch klar. Schon als Kind ist man das. Jeder
auf seiner Ebene, auf seiner Stufe. Ich kann ja auch nicht das machen,
was ich will. Irgendwo sind Grenzen. Natürlich sind auch im Denken
Grenzen.
Wir erleben doch überall das gleiche. Die ganze Geschichte durch. Da
dürfen wir uns auch keine Illusionen machen. Natürlich betrachte ich
diese Entwicklungen mit großer Sorge. Aber was nutzt das alles?
Wir waren doch im Großen und Ganzen, also nach dem Krieg, alle froh,
dass jetzt Frieden ist. Frie-den, das ist ja märchenhaft. Und dann gab
es wieder etwas zu essen. Dann kam die Währungsreform. Und dann hatte
man wieder etwas, und man konnte wieder etwas, und jetzt ging es los.
Jetzt ging der Wohlstand los, jetzt kriegte man die Schnauze nicht
voll, jetzt muss jeder den größten und dicksten Wagen fahren, jetzt
fing der ganze Scheiß wieder von vorne an. "Ich, ich, ich, ich komme
zuerst." Ist das gesellschaftliches Denken? Ist das Ethos? Also, ich
finde, das ist keine schöne Entwicklung. Ich überlege auch die ganze
Zeit, was ich dazu sagen müsste. Aber wo gibt es denn erfreuliche
Entwicklungen?
Wenn ich hier die Lokalzeitung aufschlage, die Todesanzeigen sind noch
beim Durchblättern das Interessanteste [lacht], denke ich, dass es
doch geradezu faschistoid ist, was man da liest. Was soll ich dazu
viel sagen? Ich finde die Entwicklungen höchst bedauerlich und
traurig. Was soll ich den jungen Leuten und Kindern heute sagen?
Bernd Drücke: Bedient Euch Eures Verstandes und
widersetzt Euch.
Rainer Schepper: Ja, das A und O. Das A und O ist eine saubere
Ethik. Und was ist Ethik? Ethik ist nichts anderes als der sogenannte
Rechtsgüterschutz. Das kann das kleine Kind schon lernen. Das braucht
nicht beten zu lernen und "Lieber Gott, mach mich fromm", sondern: Da
bist Du, und da bin ich. So. Da sind Deine Rechte, das ist Dein
Bezirk. Und da sind meine Rechte, da ist mein Bezirk. Wichtig ist,
dass kein Übergriff geschieht.
Weder Du - das Kind oder wer auch immer - noch ich greifst, greife in
den Bezirk des anderen ein. Jeder hat seine eigenen Rechte, natürlich
auch seine eigenen Pflichten. Das war's. Das ist der
Rechtsgüterschutz. Nichts anderes brauchen wir. Dann müsste es
funktionieren.
Bernd Drücke: ...und die Solidarität.
Rainer Schepper: Ja, natürlich. Das war's aber auch. Das ist es
aber auch.
Ich habe früher einmal meiner Geliebten gesagt: "Das Erste ist: I am
I, das heißt: ich bin ich." Ich habe ein hohes Selbstverständnis. Da
kann so leicht keiner dran ticken. Und, nebenbei gesagt: Eifersucht
finde ich eine schreckliche Geschichte, finde ich idiotisch.
Eifersucht ist erstens Minderwertigkeitsgefühl, das heißt, dass ich
nur eifersüchtig sein kann, wenn ich meine, dass der andere mehr wert
ist als ich; und zweitens Besitzanspruch, das ist auch ein Übergriff.
Also, Eifersucht ist ethisch wertlos und abzulehnen.
Aber ich wollte eigentlich etwas anderes sagen. Was war das denn
gerade?
Bernd Drücke: Zur Solidarität? Zur Gegenseitigen Hilfe?
Rainer Schepper: Ja. Richtig. Solidarität. Die ergibt sich aus dem ethischen Verständnis, ganz klar. Mich einbegriffen, selbstverständlich. Das habe ich nie anders verstanden.
Bernd Drücke: Herzlichen Dank für das Gespräch.
(1) Rainer Schepper: Ich war Deserteur. Reminiszenzen aus dem Jahre 1945, agenda Verlag, Münster 2009, ISBN 978-3-89688-386-5. Eine kürzere Version erschien als Artikel von Rainer Schepper unter gleichem Titel bereits im Mai 2000 in der Graswurzelrevolution Nr. 249, Seite 7
(2) Siehe dazu: Rainer Schepper: Lebensreport, Elsinor und Longinus, Coesfeld 2016, ISBN 978-3-945113-10-3
(3) Das Interview mit Rainer Schepper wurde am 12. November 2018 von
Bernd Drücke geführt. Lothar Hill von MünsterTube hat das Gespräch
gefilmt und einen Mitschnitt auf https://youtu.be/J5Ls_AfrAcE
dokumentiert. Detlef Lorber (VVN/BdA) hat das Interview für "Antenne
Antifa" aufgenommen. Teile daraus werden voraussichtlich im Januar
2019 als Radiosendung im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4
Mhz.)ausgestrahlt und anschließend hier dokumentiert:
https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/antenne-antifa/
(4) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Schepper
(5) Rainer Schepper (Hrsg.): Erinnerungen aus zwei Weltkriegen. Teil I: Kriegserinnerungen 1914-18 der Rote-Kreuz-Schwester Tine Schulte-Lippern. Teil II: Ich war Deserteur. Reminiszenzen aus dem Jahre 1945 von Rainer Schepper, Elsinor und Longinus, Coesfeld 2015, ISBN 978-3-945113-06-6
(6) Siehe: Ein Deserteur lehrt uns Gedächtnis. Rainer Schepper
erinnert an seine Fahnenflucht, Rezension von Bernd Drücke, in:
Graswurzelrevolution Nr. 352 (Libertäre Buchseiten), Oktober
2010,
https://www.graswurzel.net/gwr/2010/10/ein-deserteur-lehrt-uns-gedachtnis/
(7) Siehe dazu auch: "Das ist Christentum" Rede von Rainer Schepper zum Militärgottesdienst von Kardinal Meisner auf der Domplatte in Köln am 20.1.2000, in: Graswurzelrevolution Nr. 249, Mai 2000, S. 9
*
Quelle:
graswurzelrevolution, 48. Jahrgang, Nr. 435, Januar 2019, S. 1+8-10
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.
veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2019
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