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GRUNDRISSE/022: zeitschrift für linke theorie & debatte, sondernummer sommer 2009


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 30, sondernummer sommer 2009


INHALT

Editorial

dose:
Gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Pinar Selek
Redebeitrag des Antikapitalistischen Blocks am 28.03.2009
Redebeitrag des FrauenLesbenBlocks am 28.03.2009
Kurze Geschichte der Republik Türkei

Fuat Ercan, Sebnem Oguz:
Anti-Neoliberale Strategien neu denken: ein Blick auf die Türkei aus der Perspektive der Werttheorie

Ilker Ataç:
Die "konservativ-liberale" Politik der AKP in der Türkei im historischen Zusammenhang

Özlem Onaran:
Die Türkei in den Krisen 1994 und 2001: Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse

Günes Koç:
Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Hülya Osmanagaoglu:
Ohne Feminismus kein Sozialismus

Güney Isikara:
Schulausbildung und Militarismus
Kurze Geschichte des Widerstandes in türkischen Gefängnissen seit 1980

Emilio Modena:
Politisches Asyl. Zur Invalidisierung der Revolutionäre

dose:
Frontex - nicht in der Türkei?

Ebru Isikli:
Massenmigration in der Türkei der 1950er-Jahre vom Land in die Städte

Pelin Tan:
Istanbul: Widerstand im Stadtteil und gegenkultureller Raum

Dorothea Härlin:
Pilotprojekt Türkei: Ein neuer Angriff auf unser Wasser - eine neue Stufe im kapitalistischen Akkumulationsprozess?
Kurze Geschichte Kurdistans ab 1920
"Frauen- und Volksräte versuchen, Funktionen zu übernehmen, um den Staat überflüssig zu machen." Anja Flach im Gespräch mit Minimol

Yasar Hür:
Risse im Grund: Geschichte einer Revolution

BUCHBESPRECHUNGEN:

Minimol:
Buchbesprechung Murat Uyurkulak: Zorn

Minimol:
Buchbesprechung Birgit Sauer/Sabine Strasser (Hg): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus

Martin Birkner:
Buchbesprechung Ilker Ataç, Bülent Küçük, Ulas Sener (Hg): Perspektiven auf die Türkei. Ökonomische und gesellschaftliche (Dis)kontinuitäten im Kontext der Europäisierung

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

vor euch liegt die 30. Ausgabe der grundrisse. Bereits im Frühherbst 2008 gab es erste Überlegungen, unser Jubiläum als Sondernummer zur Türkei zu feiern. Dass dies ein dreiviertel Jahr später zu einem 150seitigen Wälzer geworden ist, hätten wir damals nicht zu denken gewagt. Die Redaktion jedenfalls freut sich, dass das Heft schließlich doch noch fertig geworden ist. Sowohl aus der Türkei stammende Menschen aus unserem Umfeld als auch ein besonderes Interesse von Redaktionsmitgliedern und MitarbeiterInnen der grundrisse an den politischen Verhältnissen dort, ließen uns letztes Jahr auf die Suche nach Texten für die Sondernummer gehen. Das Ergebnis haltet ihr in Händen und wir hoffen, ihr seid damit ähnlich zufrieden wie wir. Einige wichtige Aspekte hätten wir gerne im Heft drinnen gehabt, konnten aber keine AutorInnen dafür finden bzw. reichten unsere äußerst beschränkten Ressourcen in Sachen Übersetzung nicht. Diese Leerstellen sollen in der Folge kurz aufgezählt werden werden, bevor wir euch jene Artikel kurz vorstellen werden, die schließlich den Weg ins Heft gefunden haben:

• Etwas zur aktuellen Entwicklung von Arbeitskämpfen
• Eine Analyse zur Ermordung des kritischen armenischen Journalisten Hrant Dink
• Ein Text über die gewerkschaftliche Organisierung von FilmemacherInnen
• Ein Bericht über die wachsende anarchistische Szene in der Türkei
• Ein Beitrag zur Kriegsdienstverweigerung

Nun aber zum Inhalt:

Gleich im Anschluss an dieses Editorial findet ihr einen Text von dose gegen die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens gegen die Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek, gefolgt von einem Gespräch mit ihr. Selek wird die Beteiligung an einem Bombenattentat zur Last gelegt, das eine ExpertInnenkommision bereits im Jahr 2000 als Gasexplosion bewertet hatte - danach wurde Selek nach mehr als 2 Jahren aus der Haft entlassen.

Danach dokumentieren wir - als einzige nicht direkt zum Schwerpunkt gehörende Texte - zwei Reden, die bei der großen Demonstration "Eure Krise zahlen wir nicht!" am 28. März in Wien gehalten wurden, nämlich die des Antikapitalistischen Blocks (an denen sich auch die grundrisse beteiligten), die entgegen der gegenwärtigen Staatssehnsucht eine radikal antikapitalistische und somit antistaatliche Perspektive entwickelt, sowie jene des FrauenLesbenBlocks im Antikapitalistischen Block.

Die "Kurze Geschichte der Türkei" bietet einen lexikalischen Überblick auf wichtige Daten der türkischen Geschichte, der auch hinsichtlich der folgenden Texte als "Einordnungs-Leitfaden" dienen kann, hauptsächlich hinsichtlich der historischen Ereignisse vor der in diesem Schwerpunktheft hauptsächlich behandelten Zeit nach 1980. Zwei weitere "Kurze Geschichten" möchten dieses für die Widerstände in türkischen Gefängnissen nach 1980 (Seite 79) sowie die historische Entwicklung in Kurdistan ab 1920 (S. 118) leisten. Selbstverständlich erheben diese Abrisse keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der erste "Block" der Sondernummer beinhaltet drei längere wissenschaftliche Texte, die sich a) mit den antineoliberalen Strategien in der Türkei aus einer werttheoretischen Perspektive kritisch auseinandersetzen (Fuat Ercan und Sebnem Oguz), b) aus neomarxistischer Sicht die Geschichte des politischen Islam und insbesondere der Regierungspartei AKP analysieren (Ilker Ataç), sowie c) die Auswirkungen der Krisen von 1994 und 2001 auf die Arbeitsverhältnisse aus einem kritisch-ökonomischen Blickwinkel rekonstruieren und Alternativen aufzeigen (Özlem Onaran).

Die nächsten beiden Texte sind dem Feminismus in der Türkei gewidmet. Günes Koç's Text bietet einen Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei, Hülya Osmanagaoglu wiederum spitzt die Kritik an linken und linksradikalen Organisationen von feministischer Seite zu und verleiht damit einer Strömung Ausdruck, die mit dem Aufschwung des Feminismus seit den 1980ern und 1990ern an Bedeutung gewinnt.

Güney Isikara zeichnet in "Schulausbildung und Militarismus" die allgegenwärtige Präsenz des Militärapparates im Schulbetrieb der Türkei sowie die Indoktrination der SchülerInnen durch die militaristische Staatsideologie nach. Mit einem Artikel des Psychoanalytikers Emilio Modena beginnt der Komplex "Migration und Asyl".

"Politisches Asyl - Zur Invalidisierung der Revolutionäre" von Emilio Modena - ein Artikel, der ursprünglich 2008 in der Zeitschrift "Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik" erschienen ist - zeichnet mit viel Empathie die Auswirkungen von politischer Verfolgung, Folter und Exil auf das gesamte Leben von Menschen nach und sagt damit sehr viel über die tiefgreifenden und traumatischen Folgen des Militärputsches vom 12. September 1980 in der Türkei aus. Dennoch gibt es Vorbehalte innerhalb der Redaktion der grundrisse gegenüber diesem Text, da uns die Darstellung des Trennungsprozesses des im Artikel R. genannten politischen Flüchtlings aus der Türkei von dessen Ex-Ehefrau problematisch erscheint. Modena übernimmt die Darstellung des Mannes und stellt sich auf dessen Seite. Er bezeichnet die Ex-Ehefrau, die er selbst nicht kennt, als rachsüchtig und erstellt eine Ferndiagnose über deren Psyche. Die Frau selbst erhält in diesem Text keinerlei Gelegenheit, ihre Sicht der Ereignisse darzulegen. Wir halten dies für bedenklich, umso mehr, als wir davon ausgehen, dass R. um die Einwilligung zur Veröffentlichung seines Falles gebeten wurde, dessen Ex-Ehefrau jedoch nicht. Die lapidare Zusammenfassung der Trennung und Schuldzuweisung als "Liebesverrat" der Frau am Ende des Artikels finden wir ebenfalls unangebracht. Wir halten fest, dass es im Zuge der Dynamik von Beziehungen und Trennungen häufig zu Übergriffen und Tätlichkeiten von Männern gegenüber Frauen kommt, die die betreffenden Männer subjektiv nicht als solche wahrnehmen - und dies durchaus auch von Seiten von Männern, für deren soziales Umfeld außerhalb der Liebesbeziehungen dies unvorstellbar erscheint. Auch eine Gerichtsentscheidung zugunsten des Mannes stellt für uns keinen ausreichenden Grund dar, vorbehaltlos und ausschließlich dessen Darstellung zu übernehmen.

Dose zeigt in ihrem Text "Frontex - nicht in der Türkei?" dass und wie die Europäische Union mit Nachdruck an der Ausdehnung ihrer Grenzen arbeitet, zumindest im militärischen, die Migrationsströme regulieren wollenden Sinne. Ebru Isikli hingegen beschreibt das Phänomen der Binnenmigration in den 1950er Jahren und fokusiert dabei auf die Migration vom agrarisch geprägten Osten in die aufstrebenden Zentren der Industrialisierung im Westen. Pelin Tan analysiert die Widerstandsbewegungen in den Gecekondus, den "über Nacht erbauten" Siedlungen der armen urbanen Bevölkerung, die sich gegen den Abriss ihrer Häuser richten. Mensch muss nicht einverstanden sein mit dem Schwerpunkt, den Pelin Tan auf die kulturelle und akademische Zusammenarbeit durch die Bewegungen in den Stadtviertel legt, aber der Text ist eine wunderbare Zusammenfassung der unterschiedlichen Widerstandsformen, die sich gegen die Zerstörung der Wohnviertel richtet.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Tendenz zur Einhegung gemeinschaftlicher Güter berichtet Dorothea Härlins über Widerstandsformen gegen die Wasserprivatisierung (nicht nur) in der Türkei sowie über die Auseinandersetzungen anlässlich des Weltwasserforums in Istanbuls im März dieses Jahres.

Die letzten beiden Beiträge drehen sich um die "Kurdische Frage". Nach der "Kurzen Geschichte Kurdistans" folgt ein von minimol für die grundrisse geführtes Interview mit Anja Flach. Flach war in den 1990er Jahren selbst in der kurdischen Guerilla aktiv und hat auch 2 Bücher darüber geschrieben. Im Gespräch wird sowohl auf die Rolle der Frauen in der PKK als auch auf allgemeine Aspekte des kurdischen Befreiungskampfes sowie auf aktuelle Veränderungen eingegangen. Yasar Hür's abschließende Erzählung "Risse im Grund" möchten wir euch - als Bruch mit der normalerweise in den grundrissen vorherrschenden Textform - besonders ans Herz legen.

Abgeschlossen wird diese Nummer von drei Buchbesprechungen, und zwar zu Murat Uyurkulags Roman Zorn, über das von Birgit Sauer und Sabine Strasser herausgegebene Buch "Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus (beide von minimol) sowie zum empfehlenswerten Sammelband "Perspektiven auf die Türkei", herausgegeben von Ilker Ataç, Bülent Küçük und Ulas Sener (Martin Birkner).

Wir wünschen euch eine anregende Lektüre, uns eine möglichst große Verschnaufpause und viele Abos. Mit zwei aktuellen politischen Hinweisen verabschiedet sich in den Sommer

eure grundrisse-Redaktion

PS: Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei dose und Lisa Bolyos, ohne deren Anstrengungen das vorliegende Heft nicht zustandegekommen wäre!

Raute

Gegen Hassverbrechen und Homophobie in Istanbul!

Insbesondere in den Großstädten wie Istanbul und Izmir ist die Türkei weniger provinziell als etwa Österreich. Es existiert nicht nur eine starke feministische und linke Bewegungen, sondern auch ein steigendes Selbstbewusstsein und entsprechende Formen der Selbstorganisationen von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen.[1]

Zugleich ist die Türkei aber ein hoch militarisierter Staat mit starken nationalistischen und religiösen Ausprägungen der Gesellschaft, was natürlich Sexismus und Homophobie befördert. In letzter Zeit spitzten sich Auseinandersetzungen zu.

Gerade in den letzten Monaten wurden eine Reihe von schwulen Männern und Transfrauen ermordet:

- Ahmet Yildiz, ein schwuler Mann wurde am 15. Juli 2008 in Istanbul erschossen.
- Dilek Ince, eine transsexuelle Frau wurde am 12. Oktober 2008 in Ankara erschossen.
- Özkan Zengin gestand im Polizei-Verhör dass er zwischen Mai 2008 und März 2009 sechs schwule Männer ermordet hat [Mehmet Naci Zeyrek, Ercan Coskun, Enes Arici, Yasar Mizrak, Aziz Tasdemir, Tarik Güzeller].
- Ebru Soykan, eine transsexuelle Frau wurde am 10. März 2009 in Istanbul erstochen.
- Melek D., eine transsexuelle Frau wurde am 11. April 2009 in Ankara erstochen.

"Lambdaistanbul" drohte nach einem seit 2006 andauernden Verfahren, das Verbot wegen "Obszönität und Unzucht". Die Gerichte argumentierten, die Begriffe "lesbisch, schwul, bisexuell, transvestitisch und transsexuell", die im Namen und in den Zielen des Vereins genannt sind, würden gegen die allgemeine Moral der türkischen Gesellschaft und die türkischen Familienstrukturen verstoßen. Am 30. April 2009 entschied das zuständige Gericht in Istanbul, dass "Lambdaistanbul" als eingetragener Verein agieren darf.

Aus diesem Grund fand am 29. April eine Kundgebung in Istanbul statt, die das Vorgehen des Staates gegen Hassverbrechen forderte, die Abschaffung der Verbote wegen "Obszönität" und die Novellierung der türkischen Gesetze, um geschlechtliche und sexuelle Diskriminierung zu verhindern. Auch in Wien wurde, wie in vielen europäischen Städten, vor der türkischen Botschaft eine Kundgebung abgehalten.


No-Border-Camp auf Lesbos, Griechenland

Die Migrations- und Asylpolitik in Griechenland ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr in Kritik geraten. Geltende Menschenrechtsabkommen werden ignoriert, viele Leute müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. An den Küsten vor den zahlreichen griechischen Inseln patrouillieren Schiffe, die Menschen an der Einreise über den Seeweg aus der Türkei hindern sollen. In der Ägäis ertrinken mehr und mehr Menschen. Jene, die das Festland erreichen, werden gefangen genommen und in überfüllten Lagern über Wochen und Monate interniert. Ein solches Lager befindet sich in Pagani, zwei Kilometer außerhalb von Mitilini, der Hauptstadt der Insel. Es wurde nicht für den Aufenthalt von Menschen gebaut. Die Gefangenen haben keinen Hofgang, dürfen nicht mit der Außenwelt kommunizieren und werden nicht über ihre Rechte informiert. Werden sie freigelassen, müssen sie innerhalb eines Monats das Land verlassen. Jene, die ihre Reise in den Westen fortsetzen wollen, stranden meist in Häfen im Westen von Griechenland, wie Patras. Das Stellen eines Asylantrages bedeutet die Verwicklung in entwürdigende bürokratische Verfahren. Staatliche Gewalt ist eher die Regel als die Ausnahme. So gab es Ende 2008 zwei Tote bei der Ausländer_innenbehörde in Athen.


Kontakt: noborder.lesvos.2009@gmail.com

Weitere Informationen zum Camp:
http://noborder09lesvos.blogspot.com
http://lesvosnoborder2009.blogspot.com
http://lesvos09.antira.info

Anmerkung [1] Offiziell gibt es keine Diskriminierung von Personen, die das andere Geschlecht annehmen. Allerdings sind nicht eindeutig zugeordnete Menschen, insbesondere Transfrauen, gesellschaftlich benachteiligt und zu ihrem Überleben zur Prostitution gezwungen (etwa in ärmeren Bezirken wie Tarlabasi).

Raute

dose

Gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Pinar Selek[1]

Wieder einmal ist in der Türkei eine Kampagne für die feministische Soziologin Pinar Selek angelaufen, die letzte Kampagne fand im Jahr 2006 statt. Anlass der Kampagne ist, dass das seit nunmehr 11 Jahren laufende Verfahren wieder einmal aufgenommen wurde.

Die Vorgeschichte ist eine Explosion am 9.6.1998 im Misir Çarsi in Istanbul, bei der 7 Menschen ums Leben kamen und 127 Menschen verletzt wurden. Vier Personen wurden daraufhin festgenommen: Alaattin Öget, Isa Kaya, Kadriye Kubra Sevgi und Pinar Selek, angeklagt wegen Mithilfe bei dem vorgeblichen Bombenanschlag und Mitgliedschaft bei der verbotenen Organisation PKK. Pinar Selek wurde von der Antiterrorabteilung der Polizei nach Namen von PKK-Mitgliedern, die sie im Rahmen ihrer Arbeit an einem Buch über Militarismus und Frieden in der Türkei und Kurdistan interviewt hatte, befragt.

Nachdem eine Expertenkommission im Jahr 2000 ein Gutachten erstellt hatte, wonach die Explosion nicht durch eine Bombe, sondern durch austretendes Gas aus einer Propangasflasche, verursacht worden war, wurde Pinar Selek nach mehr als zwei Jahren Haft entlassen. Die Anklage geistert allerdings seither weiterhin durch die unterschiedlichen Gerichte für "Schwere Verbrechen" und wird bei Bedarf immer wieder aus dem Sack gezogen. So z.B. 2005, ein Jahr nach dem Erscheinen von Pinar Seleks Studie "Barisamadik" - (Wir konnten keinen Frieden schließen), in der die Soziologin, die Perspektiven von Friedensbewegung und anti-militaristischem Widerstand in der Türkei untersucht, wobei sie Patriarchat, Krieg und Militarismus als wesentliche Kategorien der gesellschaftlichen und individuellen Identitätsbildung in der Türkei annimmt.

Im Juni 2006 wurde sie das erste Mal freigesprochen, weil "die Ursache der Explosion nicht mit Gewissheit festgestellt werden konnte". 2007 erklärte ein Gerichtshof den Freispruch für ungültig und nahm die Anklage wieder auf. 2008 sprach das Istanbuler Gericht für Schwere Straftaten Nr. 12 zum zweiten Mal einen Freispruch aus, "weil nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob es sich um eine Bombe oder um ein Propangasgebrechen handelte". Zwei der Mitangeklagten, Alaattin Öget und Isa Kaya, wurden von diesem Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen des Delikts "Versuch das Territorium des unteilbaren türkischen Staates aufzuspalten".

Jetzt wurde die Anklage gegen Pinar Selek trotz der zweimaligen Freisprüche wieder aufgenommen. Der Oberste Gerichtshof Nr. 9 fordert lebenslangen schweren Kerker - für ein Verbrechen, das gar nicht stattgefunden hat.

Vor ihrer Haftzeit übersetzte Pinar Selek Manifeste der Zapatistischen Bewegung und Briefe von Marcos ins Türkische (1996), lebte und arbeitete mit Straßenkindern und schrieb ein Buch Maskeler Süvariler Gacilar über die Gewalt gegen Transvestiten. Zur Zeit ihrer Verhaftung absolvierte sie gerade den Master-Studiengang in Soziologie an der Mimar-Sinan-Universität, wo sie nach ihrer Entlassung 2000 graduierte. Sie ist eine der GründerInnen der Frauenkooperative Amargi und einer alternative Akademie für Ökologie und Geschichte in Urfa, schreibt Artikel in der Zeitung Özgür Gündem und der Frauenzeitschrift Amargi.

Sie verhielt sich nicht ruhig, wie der Staat das gewünscht hätte, sondern blieb weiterhin aktiv. Und sie veröffentlichte 2008 ihr viertes Buch mit dem interessanten Namen "Kriechend zum Mann werden" - [Sürüne Sürüne Erkek Olmak], in dem sie an Hand von Erfahrungen von Männern mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen das Militär als Männlichkeitslaboratorium darstellt, als eine Art Zwangs-Initiationsstation zur Konstruktion männlicher Identität, die es unter allen Umständen zu beweisen, zu verteidigen und zur Schau zu stellen gilt.

Eine Aktivistin der LBGTT-Organisation Kaos Gl im Gespräch mit Pinar Selek über das Buch:

Immer schauen Männer auf Frauen... Ich habe mir gesagt, da schau ich auch einmal. Und war neugierig darauf, wie Männer aus einem feministischen Blickwinkel betrachtet aussehen. Weil sich unser Kampf (Amargi)[2] gegen Gewalt richtet, und Gewalt gegen Frauen ist meiner Ansicht nach kein Frauenproblem, sondern ein Männerproblem. Die Ursache dieses Problems sind Männer, nicht Frauen.

Krieg und Militarismus, die unser Leben nicht nur in der Türkei in einen Alptraum verwandeln, stehen in einem engen Zusammenhang mit diesem Männerproblem. Auf diese Idee brachten mich die grauenerregenden Ereignisse in unserer Gesellschaft. Diese Gräuel haben mich, so wie alle, durch und durch erschüttert, deswegen beschloss ich dem auf den Grund zu gehen. In den Augen von Yasin Hayal,[3] in denen der Nationalisten in der Ülker Straße in Istanbul,[4] in Bursa, in Eryaman und in den Augen der Mittäter von Lynchjustiz in den fünf Ecken der Türkei, habe ich denselben Ausdruck gesehen. Die Worte von Rakel Dink, der Witwe des ermordeten Hrant Dink lösten den Funken aus: "Die Denkart, die aus einem Kind einen Mörder macht, in Frage stellen..."

Ich wollte aber nicht nur Mörder, sondern auch die Subjekte der täglichen, der gewohnten und akzeptierten Gewalt unter die Lupe nehmen. Mit feministischen Methoden, die einen Einblick in gesellschaftliche Machtverhältnisse und deren Gewalt ermöglichen, und Analysen zur Ordnung der Geschlechter habe ich geschaut, wie Männer in der Türkei "zum Mann" gemacht werden, was sie dabei ertragen müssen, welche Gewalt die Angst vor unfreiwilligen Tauglichkeitsbeweisen erzeugt, die sie beim Heranwachsen bestehen müssen, wie sie lernen Gewalt anzuwenden und welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen.

Kann das Patriarchat ohne Männlichkeit zu studieren analysiert werden? Bedeutet der Blick auf Männlichkeit Legitimieren von Männlichkeit und wie funktioniert diese Legitimation?

Wenn wir Männlichkeit ganz beiseite lassen, sehen wir nicht, wie sie funktioniert. Wir gewinnen jedoch an Stärke, wenn wir die Funktionsweise eines Mechanismus erkennen, den wir überwinden wollen. Dabei entdecken wir, dass das, womit wir konfrontiert sind, kein gigantisches und unerschütterliches Monstrum ist, sondern erkennen wie Gewalt aus Erbärmlichkeit, Angst und Hilflosigkeit entsteht. Es geht allerdings nicht darum, unsere Hände voller Mitleid in den Schoß zu legen, sondern eine politische Linie zu finden, um Gewalt und Machtbeziehungen grundlegend zu überwinden...

Diese Analysen sind dazu nötig, die patriarchalen Chiffren zu dekodieren. Das Patriarchat produziert sich nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch in den Beziehungen zwischen Männern, in Männerhierarchien. Die Prozesse der gesellschaftlichen Ordnung der Geschlechter aus männlicher und weiblicher Perspektive betrachtet, und sich näher anzuschauen, über welche Mechanismen Männlichkeit entsteht, wie sich Männer in diesen Mechanismen positionieren und wie Übergange realisiert werden, entschlüsselt diese Chiffren.

Neben Männlichkeit behandelst du in dem Buch das Militär als Hauptursache für Militarismus, fokussierst aber auf Männlichkeit ohne dich detailliert mit Militarismusanalysen auseinander zu setzen?

Wir haben die Befragungen sehr breit angelegt. Aus diesen Dokumenten können unterschiedliche Analysen über Identifikationen mit und Widersprüchen zu Männlichkeit entwickelt werden, z.B. wie das Phänomen Militarismus und seine Mechanismen Seximus verstärken, welche Rolle militaristische Mechanismen bei der Konstruktion von Männlichkeit spielen, wie Männlichkeitskonstruktionen transportiert werden. Ich wollte die Einflüsse des Militärdienstes in der Türkei auf den Prozess der Konstruktion von Männlichkeit und Beiträge zur Identitätskonstruktion von Erfahrungen ausgehend behandeln. Dazu sind keine 40 Seiten Militarismusanalyse nötig.

Die "staatsbürgerlichen Lektionen" (beim Militärdienst) bereiten Männer darauf vor, Vater in einer heterosexuellen Familie zu werden. Aber die "Staatsbürgerschafts-" und "Familien-"lektionen, sind nur ein sehr kleiner Teil der militärischen Ausbildung. Die eigentliche Ausbildung besteht darin, den Körper, alle persönlichen Angewohnheiten, das Benehmen, die Beziehungen in bis lang ungewohnte Schablonen zu pressen. Die Körper werden kodiert, klassifiziert und standardisiert. Permanente (Selbst)Kontrolle, nacktes Mustern und Aufstellen, das Schneiden von Haaren und Bart, das Tragen fremder Kleider, der Abbruch der Kontakte zum sozialen Umfeld, das sind die Elemente, aus denen sich die Ordnung der Gemeinschaft zusammensetzt, in der sie "gegart" werden. So, dass man sich nicht mehr selbst erkennt, wenn er in den Spiegel schaut. Das ist die eigentliche Ausbildung. Sie stehen unter permanenter Kontrolle, die immer unterschiedlich daher kommt, von den pausenlosen Anordnungen, den zu erlernenden Regeln, den Details werden sie erdrückt. Sich nur mit Weisungen zu bewegen ist im allgemeinen einfach. Den Schilderungen nach bedrücken die Schablonen Körper und Geist der Männer. Die Erfahrung der Auswegslosigkeit macht jeder für sich. Aber mit wieviel Zwang auch immer, sie gewöhnen sich daran, nicht zuletzt weil jeder Widerstand den Druck verstärkt. Deswegen entwickeln Männer gegen die Angst, die Verblüffung, die Sehnsucht, gegen Angriffe und das Gefühl der Sinnlosigkeit Mechanismen, die ihre Integration in die Umgebung sicherstellen, und versuchen sogar sich zu vergnügen. Schlafen ist einer dieser Strategien.

Verfolgen wir nicht alle im Leben, wenn wir zwischen unbarmherzige, unmenschliche Zahnrädern geraten ähnliche Anpassungsstrategien?

Der Militärdienst produziert bei Männern durchaus widersprüchliche Gefühle wie Angst, Entfremdung, Gehorsam, Gewalt, Stolz, die manchmal auch gleichzeitig erlebt werden und unterschiedliche Männer einander ähnlich machen. Großteils wird von Männern, die diese Erfahrung durchgemacht haben, der Schluss gezogen, sie "wären dabei gescheit geworden". So denkt ein Großteil der Befragten, die Militärzeit hätte sie "zu einem Mann" gemacht. Danach befragt welche Qualitäten sie beim Militärdienst erworben hätten, die sie "zum Mann machen", nennen sie das Übernehmen von Verantwortung, die Konfrontation mit Schwierigkeiten, den Gebrauch von Waffen, Krieg, Reife und Härte. Einer der Befragten, drückt das sehr bildlich aus, "Rohen Teig kann man nicht essen!"

Die kriechend erlernte Männlichkeit umfasst gleichzeitig Machtlosigkeit und das Versprechen von Macht. In diesem Hin- und Her entsteht mit der Zerbrechlichkeit bei gleichzeitigem Verstecken der Zerbrechlichkeit und Präsentation von Stärke eine schizophrene Existenz, die in erster Linie der Disziplin für gesellschaftliche Aufgaben dient: "Verantwortlichkeit", "Vermeiden", "Gehorsam" und "Ertragen" werden erlernt. Der "kleine Soldat", der die Hierarchie der Geschlechtsgenossen und die eigene Stellung akzeptiert und dementsprechend handelt, wird zum "Mann". Unser Mann findet seinen Weg sich in der männlichen Machtwelt einen Platz zu schaffen und ist andauernd darum bemüht diesen Platz zu verteidigen. "Gescheit zu werden" meint aller Wahrscheinlichkeit nach genau diese Fähigkeit. Mit dieser Spannung zu leben ist sicherlich sehr schwierig. Und sehr gefährlich.

Woher kommt deiner Meinung nach der Widerspruch, dass Männer, die generell die Zeit ihres Militärdienstes negativ bewerten, den Militärdienst im Nachhinein, nach Beendigung, positiv wahrnehmen?

Weil nur diese Bewertung ihn überhaupt erträglich macht. Anekdoten vom Militärdienst sind in der Gesellschaft weit verbreitet, ich höre sie oft im Autobus, in den Kleinbussen, Erzählungen, Erzählungen, ohne Ende... Aber diese Geschichten sind immer fröhlich. Oder schrecklich... Aber nie bitter oder schmerzhaft. Sie handeln kaum von Benachteiligungen und Schädigungen. Das Teilen der Erfahrung ungerechter Behandlung gilt als weiblich. Männer verstummen unter dem "Männlichkeits"mythos, können ihre Erfahrungen nicht mitteilen. Das Trauma wird wiederholt als Witz erzählt und das ist der Versuch, ihm zu entkommen.

Es gibt natürlich auch welche, die sich nicht anpassen, wie Sofya aus dem Buch... Er galt als "weich, unmännlich" und wurde, um "normal" zu werden, "ein Mann zu werden" von seinem Umfeld zum Militärdienst geschickt. Er selbst teilte dieses Hirngespinst, bereitete zu seiner Rückkehr seine Verlobung und ein Dienstverhältnis vor. Während seines Militärdienstes beschloß er aber, kein Mann zu sein, und brach nach diesem Zwangsabenteuer mit seiner Familie.

Hinzuzufügen ist, dass der Militärdienst in der Türkei zwei Jahre dauert. Der Staat verfolgt die Strategie, die Männer aus den östlichen Provinzen in die westlichen zu schicken und umgekehrt. Das heißt das soziale Leben beschränkt sich ausschließlich auf Kasernen. Es gibt keinen Zivildienst und nur einzelne Totalverweigerer. Ausnahmeregelungen betreffen den Status beim Militärdienst nach Beendigung eines Studiums und die Dauer für türkische Staatsbürger, die nicht in der Türkei leben. Sie können gegen nicht unerhebliche Ersatzzahlungen verkürzten Militärdienst leisten. Zu Bedenken ist auch, dass ein Großteil aller Männer in den letzten 15 Jahren den Militärdienst im Kriegsgebiet in Kurdistan abgeleistet haben.


Anmerkungen

[1] Zusammengestellt aus http://www.savaskarsitlari.org/arsiv.asp? ArsivTipID= 6&ArsivAnaID= 19025, BIA Haber Merkezi-Istanbul,
http://www.bianet.org/bianet/kategori/bianet/107160/pinar-selek-ikinci- kez-beraat-etti, www.pinarselek.com/, http://kaosgl.org/ http://copyriot.com/diskus/3_01/04.htm

[2] Die Frauenkooperative deckt verschiedene Bereiche ab, einer davon ist der Bereich gegen Gewalt, insbesondere geht es hier um Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen Gewalt gegen Transvestiten und Transsexuelle. Ein Ausdruck der Homophobie sind die in letzter Zeit stärker ins Licht der Öffentlichkeit getretenen Morde an Transexuellen und Transvestiten. Die Aufforderung zu homosexueller Sexualität gilt als Beleidigung und deswegen als strafmildernd.

[3] Militanter Nationalist, bekannte sich zu einem Bombenanschlag auf Mc Donalds, einer der Hintermänner des Mörders des armenischen Redakteurs Hrant Dink im Jänner 2007.

[4] Die Ülkerstraße ist eine Straße in Istanbul, in der viele Transvestiten und Transsexuelle leben und arbeiten, die immer wieder Ziel von homophoben und nationalistischen Übergriffen ist.

Raute

Warum wir auf dieser Demonstration einen antikapitalistischen Block bilden

Weil wir nicht die Krise des Kapitalismus bekämpfen, sondern den Kapitalismus selbst!

Was scheinbar als Problem einiger US-amerikanischer Hypothekenbanken begann, ist die schlimmste Krise des Kapitalismus seit 1929. Die 29er-Krise dauerte fort, bis sie von Schlimmerem abgelöst wurde. Auf sie folgten Nationalsozialismus, Faschismus und 2. Weltkrieg mit Millionen Toten, noch mehr Verletzten und millionenfachem, industriell organisiertem Massenmord. Auch so löst der Kapitalismus seine ihm immanenten Krisen.

Wenn wir in der Nachkriegszeit auf die USA und große Teile Europas blicken, so sehen wir Wiederaufbau verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Leben im Kapitalismus. Aber schon in den 1970er Jahren stagnierte die Lohnentwicklung, stieg die Inflation, und es stieg die Arbeitslosigkeit. Seit den 1980er Jahren werden wir von einem Sparpaket zum nächsten darauf vertröstet, dass auf eine größere Krise eine größere Konjunktur folgt - bloß dass selbst in der Konjunktur die Arbeitslosigkeit nicht mehr verschwindet, geschweige denn unsere Einkommen steigen. Blicken wir über den Tellerrand der hoch industrialisierten Staaten, so sehen wir, dass seit 1945 Afrika, Asien und Lateinamerika mit Kriegen und Militärdiktaturen überzogen wurden - doch es entstand auch vielfältiger Widerstand dagegen.

Wenn also selbst bürgerliche Ökonomen die jetzige Krise mit der von 1929 vergleichen, so fragen wir: Was sollen uns nach dieser Krise die nächsten 80 Jahre bringen?

Der Kapitalismus selbst hat bewiesen, dass er unfähig ist, Kriege zu beenden - im Gegenteil, er ist unfähig, Krisen zu verhindern, und erst recht allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.

Die Eroberung der Welt durch die kapitalistische Produktionsweise bedeutet Ausbeutung, Verelendung, Hunger, Krieg, Zerstörung der Natur und ihrer Ressourcen.

Auch Menschen, die sich noch vor wenigen Jahrzehnten selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnten, sind nun abhängig von Konzernen und Entwicklungshilfe.

Statt Solidarität lehrt uns das kapitalistische Gesellschaftssystem Neid und Egoismus. Wir sollen Spiegelbilder kaputter Prinzipien sein.

Wir leben in einer Klassengesellschaft. Die ungleichen Eigentums- und Einkommensverhältnisse werden dadurch hervorgebracht und zementiert.

In den reichen Staaten wird rassistisch zwischen "StaatsbürgerInnen" und "Nicht-StaatsbürgerInnen" unterschieden. MigrantInnen werden gezwungen, die am schlechtest bezahlten Arbeiten unter prekären Bedingungen zu verrichten.

Kapitalismus reproduziert und benützt auch patriarchale Strukturen. Frauen werden zusätzlich ausgebeutet - als unbezahlte Haus, Familien- und Pflegearbeiterinnen, in Niedriglohnsektoren und in der Sexindustrie.

Patriarchale Strukturen ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Klassen.

Kapitalismus ist aber kein Naturgesetz, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis.

Sein wesentliches Merkmal ist, dass wir Menschen zwar den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, aber nicht über die Produktionsmittel, Informationsmittel und Produkte unserer Arbeit verfügen. Die Entscheidung, was, wie viel und wie produziert wird, obliegt privatem Kapital. Den meisten von uns wird Arbeit aufgezwungen, bei der wir nicht zu bestimmen haben, wie sie organisiert und ausgeführt wird.

Die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte oder Verstaatlichung von Banken zielt auf die Wiederherstellung des sog. kapitalistischen Normalzustands ab.

Ziel des Kapitalismus - egal ob im Finanz- oder im Produktionssektor - ist die Aneignung unserer Arbeit, um daraus Profit zu ziehen.

Erst wurden wir jahrzehntelang auf Keynesianismus zur Verhinderung weiterer Krisen eingeschworen, dann jahrzehntelang damit belästigt, dass der Neoliberalismus unsere Sorgen hinwegfegen werde. Und nun rufen gerade die, die den Staat privatisiert haben, nach staatlichen Rettungspaketen.

Aber der bürgerliche Staat ist der Garant dafür, dass dieser Wahnsinn weitergehen wird, denn mit ihm lässt sich keine emanzipatorische Entwicklung machen. Die Grundlage aller bürgerlichen Parteien ist die Aufrechterhaltung der staatlichen kapitalistischen Ordnung. Parlamentarische Demokratie bedeutet nichts anderes, als unsere eigenen Interessen und Lebensentscheidungen aufzugeben.

Auch von Sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaften haben wir nichts zu erwarten. Sie akzeptieren das Ausbeutungsverhältnis zwischen Arbeit und Kapital, um emanzipatorisches Potential zu unterbinden, das wir in Arbeitskämpfen entwickeln könnten.

Diese Gesellschaft hat heute die materiellen Mittel und das know-how, um allen ein gutes Leben in Würde zu ermöglichen. Sollen wir zusehen, wie Fabriken stillgelegt werden, bloss weil eine Bilanz sich rot färbt? Sollen wir Wohnungen leerstehen lassen, bloss weil Spekulanten auf höhere Mieten schielen? Wir können Betriebe, Häuser und Wohnungen, die wir brauchen, übernehmen und selbst verwalten. Wir wollen nicht acht Stunden täglich oder mehr, langweilige und sinnlose Lohnarbeit verrichten, um überleben zu können. Wir brauchen keine Nationalstaaten, die uns künstlich voneinander trennen. Wir brauchen keine Fremdengesetze! Wir müssen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, wir wollen - und können - selbst entscheiden, was, wann, wie viel und unter welchen Umständen produziert wird. Wir wollen - und können - alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten selbst unter uns aufteilen. Dazu aber müssen wir das kapitalistische System abschaffen!

Was wir sofort brauchen, das ist entschlossener Widerstand gegen alle Sparpläne auf unsere Kosten.

Wir sind solidarisch mit den kämpfenden LehrerInnen, mit den kämpfenden PostlerInnen hier, und mit allen kämpfenden Menschen weltweit, die sich der Ausbeutung und Unterdrückung entgegenstellen.

Darum sind wir heute hier.
Wir - als antikapitalistischer Block - sind mit den bestehenden Verhältnissen nicht zufrieden.
Soziale Revolution ist weltweit nötig ... und auch möglich!
Keinen Groschen den Banken und Konzernen!
Kapitalisten, Politiker, Banker und Manager, Chefs und Chefinnen - ihr könnt alle abhaun!!!

Eure Krise zahl'n wir nicht!

Raute

autonome Feministinnen und Lesben

"Das kapitalistische Patriarchat serviert der Öffentlichkeit seine finstere Krise, und diese Krise betrachten wir als öffentliche Bankrotterklärung eines menschenverachtenden Systems"

Jene Elemente, die immer reicher und reicher werden wollten und dabei über Leichen gehen, sie stehen nun an. Ihr System droht völlig zusammen zu brechen. Und sie schreien um Hilfe.

Die Staatssäckel werden angezapft - um den schlimmsten Crash zu verhindern.

Dabei wird gar nicht erst gefragt - wie es in einer so genannten demokratischen Gesellschaft der Fall sein sollte. Es wird in den Sack gegriffen und herausgeholt was nur geht. Für Waffen und für ihre Reparaturen in diesem Krieg der Reichen gegen den Rest der Welt, da wird die Kohle Aller locker gemacht, ohne viel Umschweife. Doppelter Raub. So etwas nennen wir Macht.

Wer glaubt das Führungskräfte gut führen können, glaubt das Zitronenfalter Zitronen falten. (Zitat von einer Pinnwand in einer FrauenWG)

Die Massen wissen, dass auf sie nichts Gutes zukommen wird. Sie sind erpressbar, sie fürchten um ihre Lohnarbeitsplätze und um ihre Existenz. Zu Recht.

Welche Antworten haben wir als Feministinnen auf diese Zustände? Seit 40 Jahren existiert weltweit ein radikaler Feminismus von Lesben und Frauen, der die Gesellschaften mehr als 1 mal analysiert und durchleuchtet hat. Wir wissen längst, wie viele Gesichter der Sexismus hat und wie Sexismus in die Leben aller Frauen eingreift oder sie zerstören will. Als Feministinnen stehen wir dazu im permanenten, tagtäglichen Widerstand. Wir leben in einem Bewusstsein und Selbstverständnis, das sich nicht in die inzwischen auch von Staat und der Europa-Politik proklamierten Lippenbekenntnisse eines Gleichheits-Feminismus einverleiben lässt. Auf Kosten anderer zu leben, das ist nicht unser Ziel. Das Gequatsche von der "Partnerschaft" und das Gerede vom Managen von Beruf und Familie - also die kollektive Ausbeutung als Frauen besser ertragen zu können - wir haben diesen Mainstream-Feminismus-Brei mehr als satt. Burn out. Es brennt!

Was nun schnell klar zu sehen sein wird ist Aufstandsbekämpfung und Vertröstung oder praktizierte Vergatterung aller Frauen für "bessere Zeiten".

Aber auch die "Linke" glaubt offenbar bis heute, dass der sexistische, hetero Normalzustand mit kleinen Korrekturen - wie einer zu schaffenden öffentlichen Kinderbetreuung, oder einem weiblichen Vorstand auf bestimmte Zeit - aufrecht erhalten werden soll. Für uns FrauenLesben hat dies fatale Konsequenzen, es geht überhaupt nichts weiter. Schon gar nicht in der "Krise" und schon gar nicht, so lange eine sich links nennende Opposition Feministinnen nach wie vor als SEPARATISTINNEN oder gar Spalterinnen betrachtet und genau so handelt. Schaut Euch Eure Aufrufe an, und schaut Euch an, wie und wo ihr über die Unterdrückung von Frauen redet! Und dann schaut Euch mal genau an, wie ihr in der Praxis mit Eurem Wissen darüber, dass Frauen durch Patriarchat und Kapitalismus ausgebeutet und unterdrückt werden, umgeht. Uns ist das zu wenig, was ihr tut und denkt, ihr Herren! Da bewegt sich gar nichts, obwohl wohl allen klar ist, dass den Frauen mindestens die Hälfte des Kuchens zusteht. Und hier ist auch von Eurer Seite keinerlei Bestrebung zur Umverteilung zu bemerken. Wir wissen genau, dass alle Männer von unserer Ausbeutung und Benachteiligung nur zu gut profitieren - im Alltag und als Unternehmer.

Eines ist klar: Frauen sind längst Familien-Ernährerinnen statt sogenannter DAZU-Zuverdienerinnen. Die Frau als "Dazuverdienerin" war immer schon ein patriarchaler Schmäh. Gleichzeitig werden wir aus Jobs ausgegrenzt. Bildung hin oder her. Der männliche Working-Class-Hero wird in Krisenzeiten gerne zum Klassenfeind der Frauen.

Die Macht, Besitz und Produktionsmittel sind nach wie vor fest in Männerhand.

Jetzt trifft die Krise erst mal die Industriearbeitsplätze, vor allem in der Autobranche und den Zulieferfirmen. Um Profite und hohe Managergehälter zu erhalten, ist für die - meist männlichen - Arbeiter Kurzarbeit angesagt. Diese Form der Arbeit heißt für die Arbeiterinnen Teilzeitarbeit und ist schon lange Realität für viele weibliche Erwerbstätige, eine Realität von der viele nur schwer eigenständig leben können. Und Teilzeitarbeitsplätze werden in Zukunft nicht gekürzt, sondern ganz gestrichen.

Im Sektor der Schaffung von "Lebensqualität", oder auch DER Versorgungsökonomie - wie es feministische Ökonominnen nennen - sind die Frauen eingeteilt. Und dort wird es künftig Jobs geben, als sogenannte "Leichtlohngruppe", ausbeuterisch und vielleicht sogar zwangsverordnet, oder eben unbezahlt. Unsere Bildung/Ausbildung ist da völlig wurscht.

Alle Frauen werden an die bezahlte und an die unbezahlte Arbeit als Dienst-Mägde geschickt. Unter diesen Umständen ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen schon inbegriffen.

Aber Euch und Uns FrauenLesben und Mädchen sagen wir deshalb:

Wir haben immer noch und immer wieder die Lust an Gemeinsamkeit, daran, dass wir uns gemeinsam organisieren, denn nur dieses gemeinsame Handeln von Frauen wird zu Veränderungen führen.

Die Vereinzelung der FrauenLesbenMädchen im patriarchalen, hetero Kontext mit all seinen Zurichtungen führt zu Ohnmacht und Elend! Das Private ist hoch Politisches!

Wir sagen: Ja, der radikale Feminismus rüttelt an den Grundfesten des patriarchalen Normalzustandes und enthält revolutionären Sprengstoff.
Die Marginalisierung der Klasse Frau muss von uns gemeinsam beseitigt werden, da gibt es kein Warten.
Wir sind nicht willig, billig und geduldig - mir san haaß!
Wir sind keine Handlangerinnen der Ausbeuter - wir sind frei und wild!
Auf unserem Rücken wird diese Krise aller Krisen nicht saniert werden - dafür können wir sorgen.

Wir halten zusammen, wir sind störrisch und entschieden auf UNSERER Seite
wir bezahlen nicht und wir lassen uns nicht hin- und herschieben: wir haben die Schnauze voll!

Wir sind clever, wir sind stark und wir sind viele!

Und wer von den Herren und Genossen es nicht glaubt, der zahlt mehr als einen Taler!

Frauen Lesben Mädchen! Wir werden unbequem, gegen dieses Scheißsystem!

Raute

Kurze Geschichte der Republik Türkei

1908: Nach zwei Jahren Dürre und entsprechender Lebensmittelknappheit kanalisieren Offiziere und Absolventen der Militärakademie die im gesamten Staatsgebiet aufflackernden Revolten (Streiks, Hunger- und Soldatenrevolten), erzwingen die Einsetzung einer Verfassung und übernehmen als liberal-demokratische jungtürkische Bewegung die Macht im Osmanischen Reich. Im Parlament sind 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, vier Juden und zehn Slawen vertreten. Es gibt Kontakte zur sozialistischen Bewegung. Die "linke" und nationalistische CHP (Republikanische Volkspartei) gilt als die Nachfolgerin dieser Bewegung.

1909 wird allerdings das gerade erst beschlossene Streikrecht wieder zurückgenommen und das erste Streikverbot verhängt, nicht zuletzt als Reaktion auf eine breite Streikwelle im Jahr 1909 mit den Zentren Istanbul, Izmir/Smyrna und Thessaloniki/Selanik.

1912-1913: In den Balkankriegen verliert das Osmanische Reich die restlichen Gebiete am Balkan, das sind Makedonien und Westthrakien (1878 bestätigen die europäischen Großmächte mit dem Vertrag von Berlin die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens, Montenegros, Bulgariens und - gegen die Interessen des zaristischen Russlands - die militärische Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn). Eine Abwanderung bzw. Vertreibung der dort ansässigen muslimischen Bevölkerungsteile folgt.

Die militärischen Niederlagen mit Gebietsverlusten führen schließlich dazu, dass sich der türkisch-nationalistisch autoritäre Flügel der Jungtürken durchsetzt und die 1912 verlorene Regierungsmacht 1913 mit einem Militärputsch wieder übernimmt.

Muslimische türkisch-sprachige Bevölkerungsteile werden zu den bevorzugten Staatsbürger_innen im Osmanischen Reich, der Einfluss pan-türkischer Vorstellungen nimmt zu (unter Einbeziehung Aserbeidschans, Usbekistans, Turkmenistans, Kirgistans und der Krimtataren).

1914-1918: Im Ersten Weltkrieg steht das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien).

1915-1916: Unter dem Vorwurf, den russischen Kriegsgegner zu unterstützen, werden hunderttausende Armenier_innen in die Wüste deportiert - mit Unterstützung des deutschen Imperialismus, der von einem deutschen Protektorat an der kilikischen Küste träumt (Kilikien liegt im Südosten der heutigen Türkei am Mittelmeer und stellte das südwestlichste Siedlungsgebiet der Armenier_innen dar). Es sterben nach unterschiedlichen Angaben zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier_innen.

November 1918: Am Ende des Ersten Weltkriegs legen 55 britische, französische und italienische Kriegsschiffe im Bosporus an, im März 1920 besetzen sie Istanbul.

10. August 1920: Vertrag von Sèvres: Das osmanische Territorium wird aufgeteilt, die arabische Halbinsel bis Mosul geht an die imperialistischen Siegermächte Großbritannien und Frankreich, die südlichen Ägäisinseln an Italien, Westthrakien an Griechenland. Im Gebiet der heutigen Türkei sieht der Vertrag Armenien und ein autonomes Gebiet Kurdistan mit Aussicht auf Unabhängigkeit vor, weiters ein italienisches und ein französisches Protektorat. Ostthrakien und die Umgebung von Smyrna/Izmir sollten griechisch werden. Die Meerengen Bosporus und Dardanellen bleiben internationale Zonen. Der Vertrag wird durch den bevollmächtigten Großwesir des Sultans Mehmed VI. unterzeichnet, eine Ratifizierung des Vertrags durch das Osmanische Parlament erfolgt nie.

1919-1923: Parallelregierung zum besetzten Istanbul in Anatolien.

19. Mai 1919: Mustafa Kemal (Atatürk) trifft in Samsun an der Schwarzmeerküste ein. Dies gilt als Beginn des in der türkischen Geschichtsschreibung so genannten "Befreiungskrieges" (der 19. Mai ist heute Nationalfeiertag). Die europäische Historiographie spricht meist nur vom "Griechisch-türkischen Krieg". Diese Bezeichnung unterschlägt jedoch die Rolle der Besatzungsmächte Frankreich, Italien und Großbritannien.

1921: Nach einer Einigung mit dem damals bereits sowjetischen Armenien (Freundschaftsvertrag 23. Oktober 1921 mit den angrenzenden Sowjetrepubliken) und Siegen im Süden gegen die imperialistischen Mächte Frankreich, Italien und Großbritannien werden die bis Anatolien vordringenden griechischen Armeen geschlagen. Große Teile der griechischen Bevölkerung, so die damals starke KP, unterstützen den Angriffskrieg zur Verwirklichung der megali idea ("großgriechische Idee") in Anatolien im Übrigen nicht.

9. September 1922: Die türkische Armee unter Mustafa Kemal erobert die hauptsächlich von Griech_innen bewohnte und seit 1919 von griechischen Truppen besetzte Stadt Smyrna/Izmir (ebenfalls ein Staatsfeiertag in der Türkei).

Kurd_innen - die damals dezidiert so angesprochen wurden - und sozialistische Strömungen, aber auch andere Teile der Bevölkerung mit ihren unterschiedlichsten Interessen wurden in den türkischen Staat einbezogen, um den militärischen Erfolg zu garantieren.

24. Juli 1923: Der Vertrag von Lausanne ersetzt den Vertrag von Sèvres. Grenzen, wie sie weitgehend noch heute bestehen, werden festgelegt. Die im Vertrag von Sèvres zugestandenen Autonomierechte für Kurd_innen fallen weg, die britische und französische Aufteilung der arabischen Halbinsel wird bestätigt. Zwei Drittel der Auslandsschulden des Osmanischen Staates werden der Türkei übertragen, der Beginn der Ratenzahlungen mit 1929 angesetzt. Die Kapitulationen werden aufgehoben, die osmanischen Zolltarife allerdings für fünf Jahre eingefroren. (Als Kapitulationen werden die Abkommen des Osmanischen Reichs mit europäischen Staaten vom 16. Jahrhundert an bis zu dessen Ende bezeichnet. Es handelt sich um ungleiche Handelsverträge, die den europäischen Großmächten Sonderrechte einräumen, im Besonderen Handels- und Zollvorteile für europäische Kaufleute.)

Der "Bevölkerungsaustausch" wird eingeleitet, die jeweilige nationale Zugehörigkeit wird auf religiöse Kriterien reduziert: muslimisch heißt türkisch, orthodox heißt griechisch. Sprachliche Kriterien oder gar individuelle Wünsche werden ignoriert. Ausgenommen vom Austausch sind die muslimischen Bewohner_innen Westthrakiens (jetzt zu Griechenland gehörig) und die orthodoxen Einwohner_innen Istanbuls.

29. Oktober 1923: Ausrufung der türkischen Republik. Das Rechtssystem wird aus westlichen Ländern übernommen (Schweizer Zivilrecht, deutsches Handelsrecht, italienisches Strafrecht). 1926 ersetzt die lateinische Schrift die arabische. Der Staat wird als säkular definiert, 1924 das Kalifat abgeschafft. Es gibt eine formale Gleichstellung von Männern und Frauen, aktives und passives Wahlrecht erhalten Frauen allerdings erst 1930 für Gemeinderatswahlen, 1935 für allgemeine Wahlen.

1920, 1925, 1930 und 1937/1938 werden kurdische Aufstände niedergeschlagen, besonders brutal der Dersim-Aufstand von 1938.

1925: Der Scheich Said-Aufstand ist der Aufhänger für das Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe [takrir-i sükûn kanunu], das jegliche Opposition, darunter die KPT (Kommunistische Partei) - mit anschließender Verhaftungswelle -, und regierungskritische Publikationen verbietet. Eine Politik der Türkisierung wird forciert:

1926: "Verunglimpfung des Türkentums" unter Strafe gestellt. Nur Türk_innen dürfen Beamte werden, eine lange Liste von Berufen ist Muslim_innen vorbehalten.

1934: Das Gesetz für Familiennamen gestattet nur türkisch-sprachige Nachnamen. Das Ansiedlungsgesetz ermöglicht die Umsiedlung von Minderheiten durch das Innenministerium. (Angewandt wird es bei der Absiedlung der Jüd_innen aus Thrakien im Zweiten Weltkrieg, und gegen Kurd_innen). Über die kurdischen Regionen wird der Ausnahmezustand verhängt.

1938: Nach dem Tod Mustafa Kemals und dem Amtsantritt von Ismet Inönü ist eine weitere Stärkung der rechten und nationalistischen Kräfte innerhalb der CHP auszumachen, was sich in Kampagnen wie "Staatsbürger, sprich türkisch", oder "Kauf bei türkischen Händlern" äußert.

Der ab 1942 amtierende Ministerpräsident Sükrü Saraçoglu tritt in der Nationalversammlung offen als "Türkist" auf. Innerhalb der Kriegswirtschaft verfolgt er eine Politik des freien Marktes und setzt die Preisbindungen für Lebensmittel außer Kraft, was unweigerlich den Schwarzmarkt begünstigt. Der daraufhin einsetzende massive Anstieg der Preise wird als Vorwand für die Einführung einer nach ethnischer bzw. religiöser Zugehörigkeit bemessenen Vermögensteuer benutzt, da unterstellt wird, dass der Großteil der Händler_innen nichtmuslimischen Minderheiten angehöre. Während das vorgebliche Ziel der Besteuerung, die Konsolidierung des Staatshaushaltes, nicht erreicht wird, bewirkt sie eine Türkisierung des Kapitals. Nach Interventionen der europäischen Konsulate trifft die Steuer nur Angehörige der ansässigen nichtmuslimischen Minderheiten, nicht jedoch Staatsbürger_innen europäischer Staaten. Für deutsche Betriebe gelten Sonderregelungen.

1941/1942: Struma - ein bulgarisches Schiff mit jüdischen Passagier_innen an Bord - ankert in Istanbul. Es handelt sich um jüdische Flüchtlinge aus Rumänien auf dem Weg nach Palästina, denen von der britischen Regierung die Einreise nach Palästina (unter britischer Verwaltung) aufgrund fehlender Visa verweigert wird. Das Schiff befindet sich in einem fahruntüchtigen Zustand. Bis auf Ausnahmeregelungen für einige wenige Passagier_innen, wird von der türkischen Regierung niemand an Land gelassen. Im Februar 1942 lassen die türkischen Behörden das Schiff aufs offene Meer (Schwarzes Meer) schleppen. Zu diesem Zeitpunkt sind 769 Passagier_innen an Bord. Trotz mehrwöchiger Reparaturarbeiten sprang der Motor nicht an. Ein Torpedo eines sowjetischen U-Bootes, das gegen den Schiffsverkehr der Achsenmächte im Schwarzen Meer eingesetzt war, versenkte es am 24. Februar 1942. Fast alle Passagier_innen starben.

Angehörige nichtmuslimischer Minderheiten werden zu zeitlich unbegrenztem Militärdienst ohne Waffe in Anatolien eingezogen und vorwiegend zu schwerer Arbeit im Ausbau der Infrastruktur eingesetzt.

Februar 1945: Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieg beendet die Türkei ihre Neutralität und erklärt formal den Krieg an Deutschland und Japan. Die Türkei tritt den Vereinten Nationen bei.

1946: Nach über 20 Jahren eine zweite Partei zugelassen, die DP (Demokratische Partei). Die ersten demokratischen Wahlen im Juli 1946 gewinnt aber die CHP.

Auch sozialistische Parteien werden gegründet: die TSEKP - Türkiye Sosyalist Emekçi Köylü Partisi - [Sozialistische Arbeiter und Bauernpartei der Türkei] und die TSP [Sozialistische Partei der Türkei]. Beide werden am 16.12.1946 auf Beschluss der Militärkommandantur wieder aufgelöst. Ebenso ergeht es den zur selben Zeit unerwartet zahlreich gegründeten Gewerkschaften.

1947: Erst das stark einschränkende Gewerkschaftsgesetz von 1947 ermöglicht dann legale Tätigkeiten, allerdings bei Streikverbot und dem Verbot politischer Betätigung.

Mai 1950: Wahlen beenden die Herrschaft der CHP durch einen Erdrutschsieg der DP unter Adnan Menderes.

1950: Die Türkei auf Seiten der USA am Koreakrieg teil.

1952: Die Türkei der NATO bei. Bis zum Koreakrieg herrschte ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion. Die junge SU unter Lenin unterstützte den Befreiungskrieg und 1925 wurde ein "Nichtangriffs- und Neutralitätspakt" vereinbart, der 1929 und 1935 erneuert wurde.

1950 bis 1960: Die Türkei unter Ministerpräsident Menderes erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung, gefördert durch starke ausländische Hilfe und eine wirtschaftsliberale Politik. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wird die Kehrseite der wirtschaftlichen Entwicklung immer sichtbarer, u.a. durch die Zunahme der städtischen Armenviertel (Gecekondular). Auf Proteste reagiert die Regierung mit Preisfestsetzungen und verstärkter staatlicher Kontrolle der Ein- und Ausfuhr. Die gesamte Regierungsperiode hindurch verweigert die DP das im Wahlkampf versprochene Streikrecht.

1954: Gründung der Vatan partisi (Vaterlandspartei). Dieser Versuch einer parlamentarischen linken Opposition scheitert abermals und endet mit der Auflösung der Partei und der Verhaftung aller Mitglieder_innen 1957.

September 1955: Es kommt zu einem Pogrom (das sich später als staatlich inszeniert erweist) gegen die griechische und armenische Bevölkerung von Istanbul, das dazu führt, dass etwa 100.000 Griech_innen auswandern. Die Reaktion des Staates gipfelt in Beschuldigungen und Verhaftungen linker Intellektueller.

27. Mai 1960: Nachdem Menderes versucht hatte, die Militärs zurückzudrängen, übernehmen diese in einem unblutigen Putsch die Macht. Regierungs- und Parteifunktionäre werden hingerichtet, 1961 auch Adnan Menderes. Hunderte werden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

1961: Ismet Inönü wird erneut Ministerpräsident einer vom Militär eingesetzten zivilen Regierung. Es wird eine Verfassung ausgearbeitet, die als die demokratischste in der Geschichte der Türkei gilt und bis 1980 gültig bleibt. Sie garantiert Gewerkschaftsfreiheiten und Streikrecht.

1963: begünstigt die Ausweitung des Gewerkschaftsgesetzes (Kollektivverhandlungen, Streikrecht) die Entstehung bzw. Entwicklung einer breiten Gewerkschaftsbewegung.

1963: Ein Assoziierungsvertrag mit der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der späteren EU) tritt in Kraft, der noch von Menderes ausverhandelt wurde.

1964: Als Druckmittel in einer der Zypernkrisen erfolgt die Zwangsausweisung der griechischen Bewohner_innen von Istanbul, darunter sind auch einzelne mit türkischem Pass. Leerstehende Gebäude und Wohnungen werden de facto enteignet.

1965: Süleyman Demirel von der Gerechtigkeitspartei (AP, der früheren DP) übernimmt die Regierung als Premierminister. Erstmals schafft auch die sowjetisch orientierte TIP (Arbeiterpartei der Türkei) den Sprung ins Parlament. Gegründet wurde sie erst im Februar 1962. Ihr gelingt es, die legale und illegale Linke für einige Jahre zu vereinigen. Am rechten Rand konkurrieren die islamistische MSP (Nationale Heilspartei) und die nationalistische MHP (Partei der Nationalen Bewegung) - der parlamentarische Arm der paramilitärischen "Grauen Wölfe", die besonders in den 1970ern Linke und Gewerkschaftler_innen in der Türkei, aber auch in Europa, angreifen und ermorden.

1967: Gründung der DISK (Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften), die innerhalb kurzer Zeit große Stärke und Militanz entwickelt.

1968-1971: Spaltung der "traditionellen" Linken (scharfe Auseinandersetzungen in der TIP), aber auch Entstehung und Ausbreitung der Arbeiter_innen- und Jugendbewegung: legale und wilde Streiks, Universitäts- und Fabrikbesetzungen, heftige Zusammenstöße mit der Polizei, Landbesetzungen durch arme Bäuer_innen.

1969: Gründung von Dev-Genç (Revolutionäre Jugend).

16. Februar 1969: "blutiger Sonntag" - die Proteste der Linken gegen das Anlegen der 6. Flotte der NATO bzw. der USA in Istanbul werden von Rechten und Islamist_innen angegriffen: 2 Tote. Schon 1967 hatte ein Hungerstreik stattgefunden und im Juli 1968 verhinderten Proteste das Anlegen derselben Flotte.

12. März 1971: Das Militär drängt Demirel zum Rücktritt und für zwei Jahre übernimmt wieder eine Militärjunta die Macht.

26. März 1972: 10 Aktivist_innen entführen zwei britische und einen kanadischen Techniker einer NATO-Radarstation in Ünye am Schwarzen Meer. Damit beabsichtigen sie, die zum Tode verurteilten Genoss_innen freizupressen. Vier Tage später, am 30. März 1972, ermordet eine Spezialeinheit für besondere Kriegsführung im Dorf Kizildere (Provinz Tokat) Geiseln und Entführer_innen.

1972: Verbot der TIP, Verhaftungen und Repressionen.

Oktober 1973: Nach Wahlen übernimmt Bülent Ecevit der inzwischen sozialdemokratischen CHP die Macht. Ecevit (1973-1975, 1977, 1978-1979) und Demirel (1975-1977, noch einmal 1977, 1979-1980) wechseln sich in der Regierung ab.

Juli 1974: Nach einem Putsch griechisch-zyprischer Nationalist_innen interveniert die türkische Armee auf Zypern und erobert den Norden der Insel. Die nur von der Türkei anerkannte türkische Republik wird ausgerufen.

Die zweite Hälfte der 1970er Jahre ist geprägt durch ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme, Streiks und Terrorakte rechtsextremer Gruppen. Straßenkämpfe nehmen bürgerkriegsähnliche Züge an. Linksradikale Gruppen erreichen eine Stärke wie nie zuvor (und danach), sind jedoch zerstritten und bekämpfen sich auch untereinander mit militanten Mitteln.

1. Mai 1977: Eine Gewerkschaftskundgebung der DISK mit einer Viertel Million Teilnehmer_innen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul wird von Unbekannten von umliegenden Dächern beschossen. Es sterben mindestens 34 Menschen, Hunderte werden verletzt und 453 festgenommen.

Dezember 1978: Nach Auseinandersetzungen bei Demonstrationen in Kahramanmaras verüben Rechtsradikale ein Massaker an Alevit_innen, bei dem 31 Menschen getötet und 150 verletzt werden. Die Regierung benutzt dies, um den Ausnahmezustand über 13 Provinzen im Südosten der Türkei zu verhängen.

Oktober 1979: Der Schneider Fikri Sönmez (gegen den mehrere Attentate verübt werden) wird zum Bürgermeister von Fatsa (einer Kleinstadt an der Schwarzmeerküste) gewählt. Es entsteht ein Selbstverwaltungsmodell unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Ist Fatsa ein hoffnungsvolles Experiment für die Linke, so wird es von der Rechten und dem Staat als Bedrohung gesehen. In der so genannten Punktoperation werden im Juli 1980 von Armee und Polizei mit der Unterstützung von maskierten Faschisten hunderte Einwohner_innen verhaftet. Schon einige Tage vorher verteidigte sich die Bevölkerung von Çorum in Straßenkämpfen gegen faschistische Angriffe. Diese Operation kann als Generalprobe für den folgenden Militärputsch gelten. Fikri Sönmez stirbt im Gefängnis an den Folgen der Folter.

12. September 1980: Angeblich um die Gewalt zwischen Links- und Rechtsextremist_innen zu beenden, wird ein Militärputsch unter General Kenan Evren durchgeführt. Er richtet sich aber fast nur gegen die Linke, und auch gegen die Gewerkschaft DISK. Es kommt zu 650.000 politischen Festnahmen, 7.000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen.

November 1983: Unter Kontrolle der Militärs werden die alten Parteien unter neuem Namen wieder gegründet. Turgut Özal von der Konservativen ANAP (Mutterlandspartei, die frühere AP) gewinnt die Wahlen. Er regiert bis 1989 als Ministerpräsident, danach bis zu seinem Tod im April 1993 als Staatspräsident. Özal führt marktwirtschaftliche Reformen in Richtung Liberalisierung und Privatisierung durch und in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine vorsichtige Demokratisierung: schrittweise Aufhebung des Kriegsrechts, Liberalisierung der Mediengesetze. 1987 wird der Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt. Die Konservativen bleiben unter Yildirim Akbulut (1989-1991), Mesut Yilmaz (1991-1993) und Tansu Çiller (von der DYP, Partei des rechten Weges, 1993-1995) in verschiedenen Koalitionen an der Macht. Die islamistische Partei Refah-partisi (Wohlfahrtspartei) setzt im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen auf Massenbeteiligung. (Ihre Vorgängerinnen waren die 1972 gegründete Milli Selamet Partisi, MSP - Nationale Erlösungspartei und von 1969 bis 1971 die Milli Nizam Partisi, MNP - Nationale Ordnungspartei, beide unter der Leitung von Necmettin Erbakan.)

August 1984: Die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) beginnt nach einer in die 1970er Jahre zurückgehenden Aufbauphase den Guerillakampf im Osten der Türkei, indem die Kleinstädte Eruh und Semdinli besetzt werden. Bis 1999 sterben im Krieg zwischen dem türkischen Militär und PKK-Kämpfer_innen 30.000 Menschen.

Jänner/Februar 1991: Nach Ende des Zweiten Golfkrieges des Westens gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits fliehen aufständische irakische Kurd_innen in den Südosten der Türkei. Die Alliierten errichten Flugverbotszonen über dem Norden des Irak und ermöglichen dadurch eine seit damals bestehende kurdische Selbstverwaltung.

Jänner 1991: Die Kohlearbeiter_innen in Zonguldak an der Schwarzmeerküste streiken mit Unterstützung der Bevölkerung für bessere Arbeitsbedingungen. Ein Marsch auf Ankara bringt das Regime Özal kurzfristig ins Wanken.

1991/1992: Massendemonstrationen der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei. Mehr als hundert Menschen werden bei Demonstrationen erschossen. Auch in vielen Migrationszentren der westlichen Türkei wird demonstriert. Danach erhält die PKK massiven Zulauf.

2. Juli 1993: Ein alevitisches Kulturfestival in Sivas wird durch eine islamisch-fundamentalistische Demonstration angegriffen. 35 Menschen, darunter einige prominente Künstler_innen, verbrennen im angezündeten Hotel.

April 1994: Nachdem zu Beginn des Jahres die türkische Lira abgestürzt ist, wird eine längere Rezessionsphase eingeleitet.

März 1995: Nach Schüssen auf Alevit_innen im Stadtteil Gazi von Istanbul kommt es zu mehrtägigen Unruhen mit 15 Toten. Das alevitische Selbstbewusstsein wird gestärkt.

Dezember 1995: Erstmals wird die islamistische RP (Wohlfahrtspartei) stärkste Partei, kann jedoch keine Regierung bilden. Wechselnde Koalitionen zwischen DYP, ANAP und der rechtsradikalen MHP stellen die Regierungen.

1995: Die Unterzeichnung des Abkommens zur Zollunion mit der EU führt zur Erleichterung des Warenverkehrs - vornehmlich für Importe in die Türkei, aber weiterhin Kontingentierung für die Einfuhr von Agrarprodukten aus der Türkei in die EU.

1996: Die ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität) wird als Zusammenschluss mehrerer linker Gruppierungen gegründet, erreicht bei Wahlen aber nie mehr als 1 Prozent. Erst 2007 gelingt Mehmet Ufuk Uras als Direktkandidat der Einzug ins Parlament.

3. November 1996: Ein Autounfall in Susurluk, bei dem der stellvertretende Polizeichef Istanbuls, ein führendes Mitglied der rechtsextremen Grauen Wölfe und dessen Freundin, eine ehemalige Schönheitskönigin, ums Leben kommen, sowie ein Abgeordneter der Regierungspartei DYP und Führer der Dorfschützer schwer verletzt wird, macht die als "Tiefer Staat" bezeichneten Verwicklungen zwischen staatlichen und rechtsextremen Strukturen sowie Killerkommandos und organisiertem Verbrechen (Drogenhandel) sichtbar.

30. Juni 1997: Necmettin Erbakan muss auf Druck des Militärs als Ministerpräsident zurücktreten. Die Refah partisi wird verboten und es erfolgt ein 5-jähriges Politikverbot wegen Volksverhetzung. Als Konsequenz entsteht die Spaltung in die traditionalistische Fazilet partisi (Tugendpartei) und die 2001 gegründete "modernistische" Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt AKP unter Recep Tayyip Erdogan.

Februar 1999: In Kenia wird der Führer der PKK Abdullah Öcalan festgenommen und in die Türkei überstellt. Schon vorher wurde Druck ausgeübt, sodass er sein Exil in Syrien verlassen musste. 2002 wird das Todesurteil verhängt, aber auf Grund des internationalen Druckes nicht vollstreckt.

Juli 2001: Küçük Armutlu, ein Viertel am Rande von Istanbul mit Blick auf den Bosporus, wird vom Militär belagert. Als Begründung dafür werden todesfastende politische Gefangenen im Viertel genannt. Es erfolgen immer wieder Angriffe auf so genannte "Widerstandshäuser" (z.B. am 5.11.2001). Bereits 1989 siedelten sich Menschen aus Tokat und Sivas hier an. Kücük Armutlu wuchs innerhalb von 2 bis 3 Jahren auf 8000 Menschen an, die unter Arbeitslosigkeit, mangelnder Wasserversorgung und Kanalisation, fehlender Abfallbeseitigung und Krankheiten leiden.

Es gibt jedoch auch einen hohen politischen Organisationsgrad. Für die aus Stein gebauten kleinen Hütten fehlen Besitztitel, die Bewohner_innen leben unter der ständigen Drohung, geräumt zu werden. Ab Anfang Juli 1992 droht die Stadt mit Räumung, es soll ein Militärstützpunkt entstehen. Selbstorganisierung und Selbstschutz der Bewohner_innen und Solidaritätskampagnen können das Viertel trotz der Angriffe 2001 erhalten. 2003 werden in einem seit 1992 laufenden Gerichtsverfahren der Istanbuler Technischen Uni und der Stadtgemeinde Istanbul die Grundrechte zugesprochen. 2006 gibt es neuerliche Proteste gegen den geplanten Abriss im Zuge des Stadterneuerungskonzeptes Istanbul. Im November 2007 werden 21 Häuser abgerissen, teilweise gegen Ausgleichszahlungen. Inzwischen ist das Viertel aufgewertet und wurde offiziell in Fatih Sultan Mehmet umbenannt.

2001: Die Wirtschaftskrise verursacht einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um fast 10 Prozent. Der Staat kann nur durch Kredite des IWF zahlungsfähig gehalten werden. Anfang 2002 wird manchmal von einem weiteren Argentinien gesprochen.

November 2002: Bei den Wahlen wird die islamistische AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, vorher RP, dazwischen Tugendpartei) unter Recep Tayyip Erdogan stärkste Partei, kann aber erst nach einer Verfassungsänderung im März 2003 die Regierung übernehmen. Der Aufstieg der Islamist_innen begann in den 1990ern, regieren können sie jedoch erst nach der Entwicklung in Richtung einer gemäßigt religiösen Partei (vergleichbar mit Christdemokrat_innen). Die Annäherung an die EU, das Zurückdrängen des Einflusses des Militärs und auch eine vorsichtige Öffnungen gegenüber den Kurd_innen wird in der letzten Zeit wieder in Frage gestellt.

März 2003: Die Türkei verweigert den USA im Dritten Irakkrieg die Nutzung von Militärbasen. Zivil gekleidete türkische Soldaten werden von der US-Armee festgenommen und misshandelt, was die Beziehungen zu den USA stört.

26. August 2005: Proteste gegen den Irakkrieg, Sternmarsch linker und zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften nach Incirlik, einem der 104 US-Stützpunkte in der Türkei.

9. November 2005: Nach einem Anschlag auf einen kurdischen Buchladen in Semdinli werden die Attentäter von der Bevölkerung festgehalten und der Polizei übergeben. Dabei stellt sich heraus, dass zwei von ihnen der Gendarmerie angehören. (Erneut wird der "tiefe Staat" sichtbar.)

19. Jänner 2007: Der armenische Publizist Hrant Dink wird von Rechtsradikalen ermordet. Daraufhin kommt es zu großen Demonstrationen, bei denen viele die Parole "Wir sind alle Armenier_innen" unterstützen.

1. Mai 2008: Nach dem Versprechen der AKP, am 1. Mai den Taksim-Platz freizugeben, erfolgt eine breit angelegte Mobilisierung nach Istanbul. Die Demonstrationen werden aber durch massiven Tränengaseinsatz verhindert.

1. Mai 2009: Der Taksim-Platz wurde - erstmals nach 32 Jahren - durch die Arbeiter_innenbewegung zurückerobert.

Raute

Fuat Ercan und Sebnem Oguz

Anti-Neoliberale Strategien neu denken

Ein Blick auf die Türkei aus der Perspektive der Werttheorie[1]

Aus dem Englischen von Minimol[2]

Marco Polo beschreibt eine Brücke, Stein um Stein. "Doch welcher Stein ist es, der die Brücke trägt?" fragt Kublai Khan. "Die Brücke wird nicht von diesem oder jenem Stein getragen", antwortet Marco, "sondern von der Linie des Bogens, den diese bilden." Kublai Khan verharrt in nachdenklichem Schweigen. Dann setzt er hinzu: "Warum sprichst du von den Steinen? Nur der Bogen ist für mich von Bedeutung." Polo erwidert: "Ohne Steine gibt es keinen Bogen."

Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte[3]


In jüngster Zeit wird die Debatte um anti-neoliberale Strategien verstärkt geführt, vor allem seit der letzten Welle von Massenprotesten nach ökonomischen Krisen in einer Reihe von sich entwickelnden kapitalistischen Ländern. Auch das Wiedererstarken der lateinamerikanischen Linken hat zur Intensivierung dieser Debatte beigetragen. Die aktuellen anti-neoliberalen Strategien nehmen jedoch meist eher die Form von linkem Populismus und nationalem Developmentalismus[4] an, anstelle von Alternativen, die auf einer Klassenanalyse beruhen. (...)

In diesem Artikel werden wir im Hinblick auf die Türkei argumentieren, dass Strategien gegen den Neoliberalismus, die auf der nationalstaatlichen Entwicklung beruhen, nicht nur langfristig problematisch sind, sondern auch kurzfristig nicht funktionieren, da sie die neoliberale nationale Wettbewerbslogik reproduzieren, die die Intensität und Schnelligkeit der Kapitalakkumulation vorantreibt. Epistemologisch basieren diese Strategien auf einer Tendenz, die wir "kritischen Empirismus" nennen. Diese Tendenz nimmt isolierte, einzelne Variablen in den Blick, statt deren strukturelle Einheit und inneren Zusammenhänge zu untersuchen. Die wichtigste politische Implikation dieser Tendenz stellt deren Konzeptualisierung von Arbeit ausschließlich in konkreten Begriffen dar, was zu einem Rückzug von der Idee der Zentralität von Klassendynamiken in anti-kapitalistischen Kämpfen führt. Eine andere Sichtweise kann durch die Werttheorie gefunden werden, in der der Doppelcharakter von Arbeit betont wird. Heute ist dies besonders wichtig, da die jetzige Phase des Kapitalismus durch die weltweite Ausdehnung des Wertgesetzes gekennzeichnet ist, was die Produktion von mehr Mehrwert in Form von abstrakter Arbeit und die vermehrte Dominanz des Kapitals über soziale Beziehungen einschließt. Das bedeutet, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft der Logik des Kapitals auf verschiedene Arten unterworfen sind und Opposition daher vermehrt einen Klasseninhalt annimmt. Anders formuliert, gewinnt mit der wachsenden Dominanz der abstrakten Arbeit ein breiteres Konzept von Klasse in der politischen Strategie zunehmend an Bedeutung. Kritisch-empiristische Analysen jedoch definieren die ArbeiterInnenklasse in engen und konkreten Begriffen, suchen anschließend nach breiteren nationalen Koalitionen und sind damit sowohl anachronistisch als auch politisch irreführend. (...)


Anti-neoliberale Strategien in der Türkei

Der Neoliberalismus in der Türkei nahm in den 1980er Jahren als Antwort auf die Krise der binnenorientierten Kapitalakkumulation in den späten 1970ern seinen Anfang. Die wichtigste treibende Kraft hinter dem Wechsel zu einer neoliberalen Politik waren die großen inländischen Kapitalgruppen, die vor der Notwendigkeit standen, mehr Mehrwert durch die Integration in den Weltmarkt zu schaffen (Ercan, 2000a). Mit Unterstützung des Staates und internationaler Finanzinstitutionen waren diese Kapitalgruppen einflussreich in der Restrukturierung der türkischen Ökonomie entlang neoliberaler Kriterien. Das ökonomische Maßnahmenpaket vom 24. Jänner 1980 und der Militärputsch vom 12. September 1980 waren wichtige Wendepunkte in diesem Prozess. Die frühe neoliberale Phase beruhte auf Exportförderung und auf dem verstärkten Druck auf die Löhne. In den späten 1980er Jahren, als der Export-Boom seine Dynamik verlor und eine neue Welle von ArbeiterInnenprotesten zu einem nicht unwesentlichen Anstieg der Löhne führte, stieß diese Phase an ihre Grenzen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Liberalisierung der Finanzmärkte vom türkischen Staat und den Kapitalinteressen als einzige Möglichkeit zur Überwindung der Schwierigkeiten begriffen, denen sie im Land gegenüberstanden. Auf den Übergang zur Konvertabilität der türkischen Lira im Jahr 1989 folgten eine Reihe von ökonomischen Krisen, die in den späten 1990er Jahren zum Wiederauftauchen von Strategien gegen neoliberale Politik führten.

Anti-neoliberale Strategien in der Türkei folgen im Wesentlichen drei Linien: Strategien, die auf die nationale Entwicklung fokussieren, linksliberale und klassenorientierte Strategien. Strategien, die auf die nationale Entwicklung fokussieren, setzen auf nationale Wettbewerbsfähigkeit und Protektionismus sowie auf eine Konzeption des Staates als Verbündeter der Arbeit gegen neoliberale Globalisierung und Imperialismus. Sie wenden sich entschieden gegen die Institutionen der neoliberalen Globalisierung wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds sowie gegen die USA als größte imperiale Macht. In den meisten Fällen wenden sie sich auch gegen die EU als neoliberales und imperialistisches Projekt. Sie bilden die dominante Linie innerhalb der türkischen ArbeiterInnenbewegung und der sozialistischen Linken heute. (...) So hat auch die TKP[5], einst eine strikte Vertreterin klassenorientierter sozialistischer Strategien gegen national-demokratische Positionen, einen Wechsel hin zu einem Diskurs vollzogen, der von einem sehr breit definierten "Patriotismus" gegen die USA und die EU dominiert wird.

Linksliberale Strategien hingegen wenden sich gegen Neoliberalismus im engeren ökonomischen Sinn, nicht jedoch gegen Globalisierung in einem weiteren Sinn. Sie machen einen Unterschied zwischen Weltbank und Weltwährungsfonds einerseits, die sie als ökonomische Institutionen des Neoliberalismus begreifen, und Institutionen wie die EU andererseits, die sie als potentielles Alternativprojekt zum Neoliberalismus ansehen - und in den meisten Fällen als fortschrittliches Modell von demokratischer Globalisierung. Diese Strategien betrachten die mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der EU als einen positiven Schritt in Richtung Einbeziehung in das neue "soziale Europa". Sie sehen zivilgesellschaftliche Organisationen als wesentliche AkteurInnen dieser Transformation an. Linksliberale Strategien sind nicht so stark wie jene, die auf nationale Entwicklung setzen, dennoch sind sie einflussreich. Ihr Bogen spannt sich ebenfalls von eher klassenorientierten bis hin zu eher liberalen Positionen. (...)

Zu guter Letzt gibt es vereinzelte Versuche, alternative Strategien aus einer Klassenperspektive heraus zu formulieren. Klassenorientierte Strategien versuchen über Zugänge hinauszugehen, die auf die nationale Entwicklung setzen oder linksliberal sind und so auf die eine oder andere Seite der Dichotomie Staat-Zivilgesellschaft fokussieren, und betonen die Klassenverhältnisse, die beiden Seiten der Dichotomie zugrunde liegen. Sie kritisieren Strategien, die auf nationale Entwicklung setzen, für die politisch falsche Unterscheidung zwischen Finanzkapital und produktivem Kapital oder zwischen nationalen und ausländischen Institutionen. Sie kritisieren auch linksliberale Positionen für deren unrealistische Sicht der USA und der EU als von einander getrennte Entitäten mit unterschiedlichen Globalisierungsprojekten. Sie argumentieren, dass beide Strategien den Fokus weg von den Klassendynamiken verschieben, und schlagen vor, vom Grundwiderspruch zwischen Arbeit und Kapital auszugehen - an Stelle von irreführenden Dichotomien zwischen Finanzkapital und produktivem Kapital, nationalen und ausländischen Institutionen, USA und EU oder zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Klassenorientierte Strategien werden von einigen marxistischen Intellektuellen und politischen Gruppen außerhalb der großen sozialistischen Parteien vertreten. Sie sind jedoch eher marginal innerhalb der türkischen ArbeiterInnenbewegung heute. Der nationale Developmentalismus dominiert auch den Diskurs der Labor Platform (Emek platformu), der wir uns nun zuwenden werden.


Labor Platform: die wichtigste Organisation gegen Neoliberalismus in der Türkei

Die Labor Platform ist ein breites Bündnis aller großen Gewerkschaftsverbände, PensionistInnen- und Berufsvereinigungen[6] in der Türkei. Diese Plattform entstand 1999 als Antwort auf die Gesetzesentwürfe zur Reform der Sozialversicherung, zur Privatisierung und zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Anfang 1999 schlossen sich drei Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes mit den drei großen Gewerkschaften der ArbeiterInnen für eine gemeinsame Erklärung gegen neoliberale Politik zusammen. Der inhaltliche Schwerpunkt der Erklärung lag auf der nationalen Entwicklung, auf dem Bestreben "die nationalen Interessen gegen den IWF und die Weltbank zu verteidigen" (Koc, 2001, 3). Nichtsdestotrotz wurde die Verfassung am 13. August 1999 in einigen Punkten verändert, um Privatisierung und internationale Schiedsgerichtsbarkeit zu legitimieren. In der zweiten Protestwelle, die auf die beiden Wirtschaftskrisen von November 2000 und Februar 2001 folgte, bildeten der Kampf gegen Korruption und die Rentierökonomie[7] die Hauptinhalte. Am 13. März 2001 verabschiedete die Labor Platform den Aktionsplan "Nein zu Korruption und Armut". Als erster Schritt dieses Plans wurde ein Symposium zu Arbeitsmarktpolitik in Ankara abgehalten und ein alternatives Programm beschlossen, das Labor's Program.

Das Labor's Program ist ein umfangreiches politisches Forderungspaket, das die Kontrolle kurzfristiger internationaler Kapitalbewegungen, die Konsolidierung des Staatshaushaltes, das Ende der Privatisierungen, Steuerreformen, Pläne zur Industrialisierung und Importbeschränkungen umfasst. Es kommt ihm das Verdienst zu, eine Alternative zu Kemal Dervis' National Program[8] aufgezeigt zu haben. Die meisten Punkte des Programms sind jedoch eher dazu geeignet, Klassenbewusstsein zu verwischen als zu verstärken. Im Gesamten gesehen, benennt das Programm die Verbindung zwischen türkischem und globalem Kapitalismus nicht deutlich genug, um eine antikapitalistische Politik voranzutreiben. (...)

Die Dominanz der Verfechter der nationalen Entwicklung in der türkischen ArbeiterInnenbewegung kann damit erklärt werden, dass die ArbeiterInnenorganisationen der wachsenden Macht des Kapitals unvorbereitet gegenüberstehen und deshalb pragmatische Lösungen entleihen, die in der vorhergehenden Phase der binnenorientierten Kapitalakkumulation funktioniert haben. Statt sich selbst zu erneuern, greifen sie auf Überlebensstrategien zurück, die auf pragmatischen Erklärungen basieren, die eher auf die Bewahrung existierender als auf die Entwicklung neuer Formen der Solidarität ausgerichtet sind. Im Folgenden wird der epistemologische Zusammenhang dieser Tendenz mit dem "kritischen Empirismus" dargelegt.


Kritischer Empirismus als Schlüsselkonzept von Überlebensstrategien gegen den Neoliberalismus

Der kritische Empirismus ist die vorherrschende epistemologische Tendenz innerhalb aktueller anti-neoliberaler Strategien. Der Aufstieg des kritischen Empirismus reflektiert das allgemeine Unvermögen der Linken, dem Argument "There Is No Alternative" (TINA) schlüssig zu antworten. Statt den Gesamtzusammenhang, in dem dieses Argument steht, zu analysieren, besteht die Antwort der Linken meist in folgender Umkehrung: "There Are One Thousand Alternatives". Dies ist jedoch eine defensive und empirische Antwort, die sich nicht wirklich auf die Frage nach den strukturellen Transformationen, die zum TINA-Mantra geführt haben, einlässt.

Der historische Kontext von TINA kann als "die Dschungelgesetze des Kapitalismus" benannt werden, die sich durch die stärker globalisierten Wettbewerbsbedingungen auszeichnen, wodurch die Überlebensversuche der einzelnen Kapitale zu bedeutsamen Widersprüchen sowohl innerhalb des Kapitals als auch zwischen Arbeit und Kapital geführt haben. Indem Neoliberalismus als die einzige Realität präsentiert wird, die sowohl verschiedenen Kapitalien als auch der Arbeit gerecht werden kann, dient TINA der Unsichtbarmachung dieser Widersprüche und verdeckt so auch den spontanen Pragmatismus und Empirismus, der den Antworten der einzelnen Kapitale auf die Dschungelgesetze des Kapitalismus innewohnt. Durch das Fehlen einer Analyse der tiefer liegenden Zusammenhänge unter der Oberfläche des Empirismus, reproduziert die Linke eben diesen Empirismus in ihren alternativen Analysen als "kritischen Empirismus".

Dieses Versagen auf Seiten der Linken kann durch die zeitliche Verzögerung zwischen den organisatorischen Reflexen von Kapital und Arbeit erklärt werden. Während neue, von einzelnen Kapitalisten spontan entwickelte Überlebensmechanismen in relativ kurzer Zeit verallgemeinert werden, kann die Arbeit auf diese Mechanismen erst nach einer längeren Zeitspanne reagieren (Arrighi, 1996). Diese zeitliche Verzögerung zwischen der spontanen Entwicklung von systematischen Strukturen einzelner Kapitalisten und der organisierten Antwort der Arbeit lässt eine sehr enge Beziehung entstehen. Im Versuch, den Strategien der einzelnen Kapitalisten als organisierte Kraft entgegenzutreten, ist die Arbeit hin und hergerissen zwischen der Transformation der eigenen Organisationen entlang der Erfordernisse der veränderten kapitalistischen Strategien und der Aufrechterhaltung einer Sprache, die solidaritätszentriert ist und dem Zusammenhalt der ArbeiterInnen dient. (Hyman, 1999). Während die spontanen Erfahrungen der individuellen Kapitalisten in den 1980er Jahren mittlerweile zu strukturell-systemischen Elementen geworden sind, versucht die ArbeiterInnenklasse immer noch, diesen Entwicklungen Strategien entgegen zu halten, die den gesellschaftlichen Verhältnissen früherer Perioden entsprechen.

Drei Probleme des kritischen Empirismus liegen diesen Überlebensstrategien zugrunde: die Hervorhebung einzelner Variablen anstelle der inneren Zusammenhänge zwischen ihnen, die Hervorhebung der Institutionen anstelle der gesamten strukturellen Dynamiken sowie eine problematische Konzeption der Dualität innen-außen, in der das Außen sowohl gegenüber dem Innen als auch gegenüber dem Gesamten Priorität hat. (...)


Hervorhebung einzelner Variablen anstelle der inneren Zusammenhänge

In kritisch-empiristischen Analysen wird die strukturelle Einheit des Kapitalismus auf einige empirische Variablen reduziert. Jede Variable wird für sich selbst analysiert, ohne in Beziehung zu den breiteren strukturellen Dynamiken des Systems gesetzt zu werden: Hervorhebung der Liberalisierung des Handels ohne Bezug zur Kapitalakkumulation; Fokus auf kurzfristige Kapitalbewegungen, ohne diese in Beziehung zum produktiven Kapital zu setzen; Betonung der Entwicklung ohne Zusammenhang mit der ihr innewohnenden Klassendynamiken - all dies sind Beispiele für diese Tendenz.

Im Hinblick auf die Türkei kann die Analyse der Wirtschaftskrise im Labor's Program als typisches Beispiel angesehen werden. Statt den Gesamtprozess der Akkumulation zu analysieren, nimmt das Programm deren empirische Manifestationen als isolierte, einzelne Variablen in den Blick. Die drei gebräuchlichsten sind Korruption, Rentierökonomie und kurzfristige Kapitalflüsse.

Korruption wird als aus dem Zusammenhang gerissenes Problem betrachtet, das politisch gelöst werden kann. Aus einer weiteren Perspektive jedoch kann Korruption als Mittel für einzelne Kapitale begriffen werden, ihre Kontrolle über die Zirkulation des geschaffenen Mehrwerts zu vergrößern - als Antwort auf die globalisierten Wettbewerbsbedingungen. Ebenso werden kurzfristige Kapitalflüsse isoliert vom Gesamtkreislauf des Kapitals behandelt und als Hauptursache der Krise identifiziert. Wird jedoch der Gesamtkreislauf des Kapitals in den Blick genommen, wird deutlich, dass kurzfristige Kapitalflüsse das Niveau der Kapitalakkumulation für jene einzelnen Kapitale angehoben haben, die sich im Prozess der Integration in den Kreislauf des gesellschaftlichen Gesamtkapitals befinden (Ercan, 2002a).

Dasselbe gilt für die von der Gesamtheit der Akkumulation getrennt analysierte Rentierökonomie. Aus dieser getrennten Analyse ergibt sich nahezu zwangsläufig die politische Strategie, von den Regierungen die Unterstützung des nationalen produktiven Kapitals zu fordern. Produktion wird als isoliert von kapitalistischen Klassenverhältnissen begriffen und auf die Quantität der produzierten Güter reduziert. Das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wird ausschließlich in Begriffen des Endresultats, des Produkts, analysiert. Kapitalakkumulation wird nicht als Prozess und Verhältnis verstanden, sondern stattdessen auf materiellen Wohlstand reduziert. Die Definition von Produktion als Ding statt als Prozess verunmöglicht die Einbeziehung von Machtverhältnissen in die Analyse. Eine Folge davon ist, dass die innere Beziehung zwischen produktivem Kapital und Geldkapital übersehen wird. Das produktive Kapital wird nicht als die Quelle von Geldkapital begriffen, sondern getrennt davon betrachtet und zu Lasten des Geldkapitals gepriesen. Dies ist in der Türkei besonders problematisch, da die einheimischen Sektoren des produktiven Kapitals in Form von Aktiengesellschaften organisiert sind, die ebenso Bankprofite aneignen. (Ercan, 2002a)


Hervorhebung der Institutionen anstelle der gesamten strukturellen Dynamiken

Ein zweites Problem des kritischen Empirismus ist, dass er den Schwerpunkt auf Institutionen statt auf gesamtstrukturelle Dynamiken als Ursache von Problemen legt. Institutionen als die am einfachsten erkennbaren einzelnen Variablen werden getrennt von den Gesamtprozessen, innerhalb derer sie operieren. Dadurch werden Institutionen wie der IWF und die Weltbank oder "böse Regierungen" als Feind identifiziert. Wenn Prozesse erklärt werden sollen, beziehen sich diese Analysen auf rein politische Wahlmöglichkeiten.[9] (...)


Hervorhebung des Außen gegenüber dem Innen und dem Gesamten

Ein drittes Problem des kritischen Empirismus ist die strikte Dualität zwischen inneren und äußeren Variablen. Äußere Variablen werden sowohl von inneren Variablen als auch vom Gesamten, dessen Teil sie sind, abgetrennt. Globalisierung wird als etwas den nationalen Ökonomien Exogenes betrachtet, als Intervention von außen in einen Prozess, der ansonsten reibungslos funktionieren würde. Als wesentliches Mittel dieser Intervention von außen werden der Welthandel und kurzfristige Kapitalbewegungen angesehen. Diese Externalisierung geht Hand in Hand mit der wohl bekannten Formulierung des grundlegenden Klassenwiderspruchs als desjenigen zwischen "dem internationalen Kapital und der mit ihm verbündeten Kompradoren-Bourgeoisie" auf der einen Seite und den "Massen" (nationale Bourgeoisie, Kleinunternehmern, Bauern und Arbeiter) auf der anderen Seite.

Die politische Schlussfolgerung besteht darin, dass die Interessen verschiedener Klassen zusammengefasst werden können, um eine "nationale Allianz" gegen das internationale Kapital zu bilden. Dies ist nicht nur theoretisch problematisch, da eine "nationale Bourgeoisie", die eine solche Allianz ermöglichen würde, nicht mehr existiert.[10] Sondern es ist auch politisch irreführend, da durch die Betonung der nationalen Interessen zu Lasten der Klasseninteressen Klassenbewusstsein tendenziell verwischt wird.[11] Der Fokus auf externe Institutionen lenkt die Aufmerksamkeit weg von neuen Mechanismen der Kontrolle über die Arbeit auf nationalstaatlicher Ebene.[12] (...)


Kritik der Strategie der nationalen Entwicklung

Die Strategie der nationalen Entwicklung entstand in einer historischen Phase des Kapitalismus, in der das Verhältnis zwischen Metropolen und Peripherie vorrangig von der Überakkumulationskrise von Kapitalien in den Metropolenregionen geprägt war. Seit den 1970er Jahren jedoch hat die Kapitalakkumulation in der Peripherie ein Niveau erreicht, auf dem das Verhältnis zwischen Metropole und Peripherie nicht mehr länger nur mehr in eine Richtung durch die Dynamik der Akkumulation in den Metropolen bestimmt wird. Stattdessen wird das Verhältnis durch die (wenn auch ungleiche) Interaktion zwischen den überakkumulierenden Kapitalen in den Metropolen und neu gewachsenen Kapitalen in der Peripherie, die einen bestimmten Grad der Akkumulation erreicht haben, bestimmt. In diesem Kontext gesehen, nimmt der Diskurs der nationalen Entwicklung eine neue Bedeutung an: er dient nunmehr der Agenda der sich internationalisierenden Kapitale in der Peripherie, die um mehr Kontrolle über den globalen gesamtgesellschaftlichen Kreislauf des Kapitals kämpfen. Dies bedeutet, dass der Diskurs der nationalen Entwicklung Teil der neoliberalen Agenda selbst wird.

Die soziale Basis der Verfechter der nationalen Entwicklung, die den Schwerpunkt eher auf die nationale Ökonomie und den Nationalstaat als auf Klasse als Analyseeinheit legen, ist jedoch selbst nicht frei von Klasseninteressen. In der Phase der binnenorientierten Kapitalakkumulation und der nationalen Befreiungskämpfe bestand diese aus einer Koalition der nationalen Bourgeoisien und der lokalen Eliten (vor allem der Planungsbürokratie). An diesem Punkt stellt sich uns nun die Frage, wie sich die soziale Basis der Verfechter der nationalen Entwicklung in der jetzigen Periode der weltweiten Internationalisierung und Konsolidierung des Kapitals zusammensetzt.

Die Beantwortung dieser Frage ist besonders wichtig, um Prozesse in der Peripherie zu verstehen. Die Verbindung verschiedener Kapitalkreisläufe in der Kapitalakkumulation im weltweiten Maßstab hat NICHT trotz der "nationalen Bourgeoisien" einer binnenorientierten Kapitalakkumulation stattgefunden, sondern gerade aufgrund der bewussten Anstrengungen großer einheimischer Kapitale, die eine gewisse Größe in ihren jeweiligen Ländern erreicht haben (siehe dazu Ercan, 2002a). Die alte Sprache der nationalen Entwicklung spiegelt die Interessen dieser Kapitalfraktion nicht mehr wieder. Solange aber der Prozess der Internationalisierung des Kapitals auf einem globalen Niveau sowohl Wettbewerb als auch Protektionismus zur selben Zeit mit sich bringt, verläuft der Prozess uneinheitlich und eine revidierte Version der Sprache der nationalen Entwicklung mit internationalistischen und marktorientierten Beiklängen gewinnt für bestimmte Kapitalfraktionen zunehmend an Bedeutung. Und in dem Maße, in dem Teile der nationalen Elite (im Besonderen der staatlichen Planungsbürokratie), die die Politik während der Phase der binnenorientierten Kapitalakkumulation dominiert haben, nun ihre Macht verlieren, fühlen sie sich dieser Alternative ebenfalls nahe.

Wenn die von kritisch-empirischen Analysen herrührenden Konzepte der Industrialisierung und des Produktivismus äußeren Variablen entgegengesetzt werden, so wird die Protektion hochproduktiver nationaler Industrien auf internationalen Märkten zur Hauptalternative. Die neuen developmentalistischen Argumente tragen also hauptsächlich zu dem bei, was Albo (1997) "progressiven Wettbewerb" nennt. Sie reproduzieren nicht nur Theorien der nachholenden Entwicklung im Kontext der Globalisierung, sondern - wichtiger noch - sie dienen der Rationalisierung der "nationalen Wettbewerbsagenda, die auf einer Darstellung der Nation basiert, die im Gegensatz zu der nach innen gerichteten keynesianischen Konzeption des nationalen Selbstmanagements" (Bryan, 2001, 70) implizit international orientiert ist. Problematisch für die ArbeiterInnen an diesem neuen internationalistischen Nationalismus[13], argumentiert Bryan (2001, 58), ist die Tatsache, dass "nationale Wettbewerbspolitik systematisch die Arbeit als Träger des nationalen ökonomischen Erfolgs adressiert, aber dies ohne alle Umverteilungsmechanismen tun muss, die die keynesianische Konstruktion der Nation-als-Ökonomie kennzeichneten." Da Alternativstrategien, die auf nationale Entwicklung abheben, selbst-protektionistische Politiken durch "semi-entkoppelnde" Strategien auf der Ebene des Nationalstaates verfolgen, enden sie in der Realität in der Reproduktion des Systems entlang stärker wettbewerbsorientierter Linien. Diese Strategien dienen ausschließlich der Legitimierung der wachsenden Intensität und Geschwindigkeit der Kapitalakkumulation. (...)

Wenn wir hier den Fokus auf das legen wollen, was Panitch "die Frage der sozialistischen Strategien im 21. Jahrhundert" nennt, müssen wir zurückgehen zu den charakteristischen Merkmalen der jüngsten Phase des Kapitalismus. Dies bedeutet jedoch, dass wir - "um den gegenwärtigen Moment zu packen" - "dem gegenwärtigen Moment entwischen und die einstweilige Verfügung, abstrakt über die fundamentalsten Elemente in unserem Verständnis der sozialen Struktur und Evolution nachzudenken, akzeptieren" und versuchen müssen, die "tiefer liegende Struktur des jetzigen Moments" zu theoretisieren. Im Folgenden versuchen wir einen Beitrag hierzu zu leisten, indem wir das Argument entfalten, dass wir momentan eine Intensivierung des kapitalistischen Wertgesetzes in internationalem Maßstab durchleben - was die Rekonstituierung der Arbeit in einer abstrakteren Form einschließt.


Zurück zu den Grundlagen der Werttheorie: widersprüchliche innere Beziehungen

Der zu Beginn dieses Artikels zitierte Dialog zwischen Kublai Khan und Marco Polo liefert als Metapher wichtige Hinweise für das Verständnis der strukturellen Merkmale des Kapitalismus. Sind es die Steine oder der Bogen (die Beziehung zwischen den Steinen), die die gesellschaftlichen Verhältnisse bilden, die der kapitalistischen Dynamik zugrunde liegen? Für den kritischen Empirismus ist die Antwort klar: es sind die Steine. Für MarxistInnen jedoch sind es die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Steinen und dem Bogen, die die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse herstellen.

Gleichzeitig legen die dem Kapitalismus innewohnenden widersprüchlichen inneren Zusammenhänge die Bedingungen für die Kapitalakkumulation offen. Die Wertbildung ist der Schlüssel zur Dynamik der Kapitalakkumulation, da sie in einem spezifischen historischen Netzwerk von Beziehungen stattfindet. Die miteinander verbundenen Elemente der Wertbildung sind Arbeit, Ware und Geld. Da sich die Wertbildung selbst in diesen drei Formen darstellt, bestimmt ihre Erscheinungsform wiederum den Charakter der grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion, Distribution und Konsumtion.

Die grundlegende Variable, die den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen ihren strukturellen Charakter gibt, ist die Arbeit. Elson (1979, 124) argumentiert wie folgt: "da die Arbeit Gegenstand seiner Theorie ist, beginnt Marx seine Analyse mit der Warenform als der einfachsten gesellschaftlichen Form, in der sich das Arbeitsprodukt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausdrückt" (siehe Postone, 1996, 16, für eine ähnliche Argumentation). Arbeit ist wesentlich definiert nicht nur als konkrete, sondern auch als abstrakte Arbeit. Wenn wir die Arbeit durch einen bestimmten Arbeiter, der in einer bestimmten Fabrik arbeitet, definieren, dann sprechen wir nur über die Steine. Wenn wir uns nur auf die Steine (konkrete Arbeit) beziehen, erlangen empirische Faktoren wie Zu- oder Abnahme der Anzahl der Steine Bedeutung. In empirisch orientierten antikapitalistischen Alternativen zeigt sich diese Tendenz ziemlich deutlich.

Was jedoch die marxistische Theorie und deren antikapitalistische Sprache davon unterscheidet, ist die Herausarbeitung des Doppelcharakters der Arbeit. In seiner Formanalyse der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft unterstreicht Marx die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. In einem Brief an Engels spricht er vom "Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt" als einem der zwei besten Punkte im Kapital (Marx to Engels, August 24, 1867; Marx and Engels, 1975, 180).[14]

Es ist der abstrakte Aspekt der Arbeit, der die Beziehung zwischen dem Bogen und den Steinen einzigartig im Kapitalismus macht.[15] Durch ihre Verbindung zum geschaffenen Wert ist die Arbeit gleichzeitig mit den abstrakteren Aspekten der Wertform verbunden. Der doppelseitige Charakter der Arbeit legt also die Bedeutung der konkreten Arbeit in der Produktion ebenso offen wie ihren abstrakten Aspekt in der Zirkulation.

Die Herrschaft der abstrakten Arbeit bedeutet eine gesellschaftliche Formation, in der der Produktionsprozess den Menschen beherrscht und Geld die grundlegende Form dieser Herrschaft ist (Elson, 1979, 150). Auf diese Weise wird die innere Beziehung zwischen Geld als allgemeinem und gesellschaftlich akzeptiertem Wertmaß und der der abstrakten Arbeit innewohnenden Warenform hergestellt. Aufgrund dieser inneren Beziehung nimmt der Wert die Form einer objektiven gesellschaftlichen Macht an, "die sich jeden Winkel der Gesellschaft unterwirft" (Smith, 2002, 149).

In diesem Sinne ist die den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnende strukturelle Herrschaft beides: einerseits Resultat der Akkumulationsdynamik des Kapitalismus und gleichzeitig Symptom von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen in einer bestimmten Periode. Anders gesagt, so wie die dynamische Struktur des Kapitalismus Produkt struktureller Herrschaftsformen ist, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, so ist sie auch Ausdruck der aktuellen Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital genauso wie von jenen zwischen Arbeit, Ware und Geld als verschiedene Wertformen.

Dieser Zugang hilft uns, den Fallstricken des kritischen Empirismus zu entgehen. Er zeigt uns, dass der Ausgangspunkt jeder antikapitalistischen politischen Alternative nicht die konkrete Arbeit selbst sein kann, sondern die gesamte gesellschaftliche Realität der abstrakten Arbeit im Verhältnis zur konkreten Arbeit. Neary (2002) arbeitet diesen Punkt heraus: "Der Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaft basiert nicht auf dem Verhältnis zwischen Arbeit und irgendeiner anderen äußerlichen gesellschaftlichen Realität, sondern durch die Formen, in denen die menschliche gesellschaftliche Praxis gezwungen ist zu existieren: als konkrete und abstrakte Arbeit. ... Arbeit kann also keine einfache Kategorie sein, sondern ist ein Prozess, in dessen verschiedenen Momenten sie immer Kapital ist und in dem die Bewegung der Arbeit vermittelt ist und in ihrem eigenen Resultat verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen."

Wenn die doppelte Form der Arbeit als Ausgangspunkt genommen wird, so wird die Arbeit, die in anderen Analysen ignoriert wird, mehr als eine Kategorie, auf die das kapitalistische System einwirkt: sie wird zur strukturellen Komponente des Systems gegen sich selbst.


Politische Implikationen der Werttheorie: die Bedeutung der doppelten Form der Arbeit

Die politischen Implikationen der Werttheorie sind besonders bedeutend in einer Zeit, da der Kapitalismus gekennzeichnet ist durch die Internationalisierung der Kapitalkreisläufe und die intensivierte Ausdehnung der Geltung des Wertgesetzes auf die ganze Welt. Die grundlegenden Folgen davon sind Beschleunigung der Akkumulation, Schaffung von mehr Mehrwert und wachsende Dominanz der abstrakten Arbeit als Substanz des Wertes. Wir durchleben also nichts anderes als die Ausweitung des Kapitalismus selbst und seines grundlegenden Mechanismus, der aus der Schaffung von mehr Mehrwert in der Form der abstrakten Arbeit besteht.

Die wichtigste Variable, die den Einfluss des Kapitalismus heute weltweit vorantreibt, ist die Veränderung der inneren Beziehungen zwischen Arbeit, Geldform und Warenform, die durch die abstrakte Form der Arbeit als Antwort auf die Überakkumulation verursacht wird. Die asymmetrischen Machtverhältnisse, die durch Klassenverhältnisse geformt werden, führen zu einem differenzierten Gebrauch der Arbeit sowie der Waren- und Geldformen des Wertes. Da sich die dynamische Struktur der Kapitalakkumulation verändert, differenzieren sich die konkreten Elemente der Arbeit (wie Frauenarbeit und Kinderarbeit oder formelle und informelle Arbeit) mehr und mehr. Die abstrakte Arbeit gewinnt ihre Bedeutung als gemeinsame Variable, die verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse innerhalb des Netzwerks der sich als Antwort auf die Krise ausweitenden Machtverhältnisse durchzieht. Auf diese Weise transformieren die verschiedenen Wertformen und der Gesamtprozess der Wertbildung die gesellschaftliche Sphäre als Ganzes. Abstrakte Arbeit verursacht nicht nur die Verstärkung der Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital, sondern auch jene der Widersprüche zwischen Kapital und der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens.

Daraus folgen vier wesentliche politische Implikationen. Erstens: Arbeit wird neuzusammengesetzt in ihrer abstrakteren und kontingenteren Form[16]. Da die Ausdehnung der Wertbildung dazu führt, dass "alle Aspekte der menschlichen Gesellschaftlichkeit ... der Logik der kapitalistischen Arbeit (des Wertes) reell subsumiert werden" (Neary, 2002), setzt der Prozess der reellen Subsumtion "die Arbeit selbst in einer abstrakteren oder kontingenteren Form neu zusammen". Dieser Prozess führt dazu, dass "die Abstraktion die konkrete Basis der Identität der organisierten Arbeiterschaft zerstört, um die herum Massenkämpfe entstehen". Die Institutionalisierung von gesetzlichen Regelungen zur Legitimation der wachsenden Kontingenz der Arbeit durch eine Reihe von Anti-Labor Gesetzen in verschiedenen Ländern wird an diesem Punkt verständlich.[17] Das heißt, dass sich die gegenwärtige Phase des Kapitalismus nicht durch die abnehmende Bedeutung der Arbeit besonders auszeichnet, sondern durch veränderte Formen der Kontrolle über die Arbeit.

Das führt uns zum zweiten Punkt: wir brauchen eine neue Art von Politik, die sich den Herausforderungen stellen kann, die durch diese neuen Formen der Kontrolle über die Arbeit entstehen. Durch die Neuzusammensetzung der Arbeit in ihrer abstrakteren und kontingenteren Form wird die Erfahrung der kapitalistischen Ausbeutung mehr und mehr fragmentarisch, was zur weiteren Verwischung des Zusammenhangs von Geld und Arbeitsprozessen führt. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass "der Ausbeutungsprozess eigentlich eine Einheit ist und die Geldbeziehungen und Arbeitsprozesse, die als zwei getrennte, von einander geschiedene Verhältnisse wahrgenommen werden, in Wahrheit einseitige Reflektionen besonderer Aspekte dieser Einheit sind" (Elson, 1979, 172). Die politische Sphäre kann nicht auf die Sphäre der konkreten Arbeit reduziert werden und es ist daher heute besonders wichtig, die "Politik der Zirkulation" (z.B. Lohnkämpfe) mit der "Politik der Produktion" (z.B. Kämpfe über die Arbeitszeit) zu verbinden.

Drittens: die wachsende Aktivität des Geldes als abstrakteste Form des Wertes bedeutet keine Unterbrechung der realen Prozesse. Sie impliziert ganz im Gegenteil die vermehrte Kontrolle über die Arbeit, die zur Produktion von mehr Mehrwert führt. (...) Die Gewalt des Geldes dient der Schaffung neuen Wertes oder zur Beschleunigung der Verteilung von bereits geschaffenem Wert. Geld ist also nicht einfach ein Tauschmittel, sondern auch die Repräsentation von Geld-als-Kapital. Als solche ist es Gegenstand der Maßnahmen, die die Expansion des Kapitals regulieren und greift aktiv in das Verhältnis zwischen konkreter Arbeit und Kapital ein. (...) In diesem Sinne können wir den abstrakten Prozess konkretisieren, der von Elson als die Reproduktion von Kapital als Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozessen des Kapitals identifiziert wurde, die in einer ungleichmäßigen und kombinierten Weise stattfindet, da dies die Bedingung für die Konkretisierung des Prozesses der Wertbildung darstellt.

Letzter Punkt: die Kritik an den Analysen der Verfechter der nationalen Entwicklung aus der Perspektive der Werttheorie bedeutet nicht, dass nationale Prozesse und Spielarten keine Bedeutung für die Formulierung antikapitalistischer Strategien haben. Ganz im Gegenteil, die Besonderheiten in den ArbeiterInnenbewegungen verschiedener Länder können genau durch die Unterschiede in den historischen Mustern der Wertbildung erklärt werden. Die Konzeption der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung[18] impliziert, dass der konkrete Prozess der Wertbildung in verschiedenen räumlichen und relationalen Kontexten verschiedene Formen annimmt. (...) Im Besonderen die ungleiche Interaktion zwischen Arbeit, Geld- und Warenformen des Wertes im Akkumulationsprozess verursacht, dass der abstrakte Mechanismus der Wertbildung verschiedene konkrete Formen in verschiedenen nationalen Räumen annimmt.

Aufgrund der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus nimmt die Verbindung des Akkumulationsprozesses in der Peripherie mit dem globalen Gesamtkreislauf des Kapitals eine ungleiche Form an. Der Akkumulationsprozess ist der Gesamtkreislauf des Kapitals, was die Kreisläufe des produktiven, des kaufmännischen und des Geldkapitals einschließt. Da die Wertbildung den grundlegenden Mechanismus des Gesamtkreislaufes des Kapitals darstellt und diese wiederum mit der Akkumulation von produktivem Kapital verknüpft ist, tendieren produktive Kapitalisten in der Peripherie dazu, sich mit internationalen Kapitalien zu verbinden. Die Akkumulation verschiebt sich also von den nationalen zu den internationalen Märkten. Das Muster der Kapitalakkumulation bestimmt auch die Art, in der sich einheimische Kapitale mit der globalen Akkumulation verbinden. Abhängig von diesem Muster, können einheimische Kapitale versuchen, sich in den Weltmarkt zu integrieren, überakkumuliertes globales Kapital in Form von Geldkapital anzuziehen oder mit internationalen produktiven und Geldkapitalen zu kooperieren - je nach den lokalen Gegebenheiten. Generell finden alle diese Dynamiken gleichzeitig statt, woraus eine Reihe verschiedener Strategien in verschiedenen nationalen Kontexten resultiert. Wenn nun die Transformation des Kapitalismus in den 1970er Jahren innerhalb des hier aufgestellten Rahmens erörtert wird, so kann das vielfältige Verhältnis zwischen den Verwertungsbedingungen der überakkumulierten Kapitale in den Metropolen und den sich internationalisierenden Kapitalen in der Peripherie freigelegt werden.

Die einheimischen Kapitale der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder haben sich seit den 1970er Jahren weitgehend in den globalen Kreislauf des Geldkapitals integriert. Die Verwertungsbedingungen des Geldkapitals haben zwei Formen angenommen: Verwertung als Geldkapital und Verwertung als produktives Kapital. Grob gesprochen, wurde Geldkapital in Ländern wie Südkorea, Taiwan und Malaysia hauptsächlich als produktives Kapital verwertet, d.h. es wurde in die Form der Arbeit übergeführt. In Ländern wie der Türkei und Mexiko hingegen wurde es hauptsächlich als Geldkapital (zinstragendes Kapital) verwertet. So gesehen, ist das Verhältnis von Geldkapital und produktivem Kapital im weltweiten Zusammenhang betrachtet nicht einseitig (d.h. nur von außen nach innen), sondern auf verschiedenen Ebenen miteinander verbunden. Speziell in Ländern der Peripherie dient Geldkapital der Herstellung der Bedingungen für (die Produktion von) Mehrwert als Unterstützung des Wachstums von ungenügend akkumulierten Kapitalen. Während dieser Prozess in Ländern wie Südkorea früh begonnen hat, war in Ländern wie der Türkei mehr Zeit für die Herstellung der Bedingungen der Akkumulation von sich internationalisierenden einheimischen Kapitalen notwendig. An diesem Punkt werden nun die Probleme mit der Tendenz in entwicklungsorientierten antikapitalistischen Alternativen, Globalisierung als externe Variable zu betrachten, klarer sichtbar. Kapitalismus und seine Manifestation in Form der Globalisierung ist nichts Äußerliches, sondern eher ein Prozess, der unter Beteiligung vielfältiger AkteurInnen stattfindet - wenn auch unfreiwillig und ungleichmäßig.

Da sich die dem Kapitalismus innewohnenden Dynamiken auf sehr abstrakte Weise manifestieren, sind gerade diese abstrakten Dynamiken die Ursache dafür, dass die Wertbildung in Begriffen der konkreten Arbeit sehr unterschiedliche Formen annimmt. Diese unterschiedlichen Formen, die sich durch die spezifischen historischen und Klassendynamiken jedes einzelnen Landes herausgebildet haben, bestimmen das allgemeine Zusammenspiel anderer Dynamiken. So haben z.B. die Veränderungen in der Bildung von produktivem Kapital in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Auswirkungen auf die Struktur und Zusammensetzung der Arbeit. Die Verschiebung hin zu kapital-intensiveren Strukturen oder hin zum Dienstleistungssektor führt zu einer veränderten Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse. Dies führt auch dazu, dass die Gewerkschaftsbewegung in Ländern, die stark auf das produktive Kapital hin orientiert sind, sehr aktiv sein kann (z.B. in Südkorea), während die sozialen Bewegungen und ArbeiterInnenklassen in Ländern, in denen die globale Wettbewerbsfähigkeit des produktiven Kapitals gering ist und deshalb die Bedingungen für einheimische Kapitalakkumulation weniger gut (z.B. Türkei und Mexiko), andere Orientierungen haben können. Einer der grundlegenden ontologischen Gründe für das Unvermögen der ArbeiterInnenklasse, sich selbst politisch auszudrücken, liegt also vielleicht in der veränderten Form, die die ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung heute angenommen hat. (...)


Die Türkei aus der Perspektive der Werttheorie

Der Prozess der Kapitalakkumulation in der Türkei ist dadurch bestimmt, dass Wertbildung in der Türkei erst relativ spät Einzug gehalten hat. Die Türkei war ungleichmäßig mit der globalen Akkumulation des Kapitals verbunden und schuf die eigenen Bedingungen der Akkumulation unter dem Einfluss des ungleichmäßigen Prozesses des Weltkapitalismus und ihrer eigenen historisch gewachsenen Klassenbedingungen. In anderen Worten, die innere Dynamik der Türkei wurde durch den globalen Kreislauf des gesellschaftlichen Gesamtkapitals beeinflusst - dieser Einfluss jedoch bestimmte aus sich selbst heraus weder den Weg zu Entwicklung, noch den zu Unterentwicklung (Ercan, 2001).

Analysen, die auf nationale Entwicklung abheben, sehen die jüngste Entwicklung des türkischen Kapitalismus als Folge des export-orientierten Akkumulationsprozesses, der Ende der 1970er Jahre von internationalen Finanzinstitutionen und multinationalen Konzernen initiiert wurde. Wir können jedoch feststellen, dass die Exportorientierung keine Ursache, sondern eher das Resultat des Erfolges der binnenorientierten Kapitalakkumulation der vorhergehenden Jahrzehnte war. In anderen Worten, die Exportorientierung war nur eines der Ergebnisse des Akkumulationsprozesses.

Eine kleine Anzahl auf die Produktion dauerhafter Konsumgüter und teilweise auf Zwischenprodukte spezialisierter großer Kapitalgruppen stand Anfang der 1980er Jahre vor dem Problem, die Fähigkeit zur Produktion von Zwischenprodukten und Produktionsmitteln zu erlangen. Das Hauptziel dieser Kapitalgruppen war (...) die Erhöhung der Produktivität der Arbeitskraft. Dazu wurde ein Wechsel hin zu kapitalintensiveren Sektoren benötigt, was die Etablierung neuer Formen der Kontrolle über die Momente der Arbeit, Ware und Geld voraussetzte. Es war notwendig, die Produktions- und Realisierungsprozesse innerhalb neuer Machtverhältnisse neu zu definieren. Diese Imperative fanden ihren Ausdruck im Militärputsch von 1980, durch den Kriterien der Ordnung und der Entwicklung durchgesetzt wurden, die die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse des Kapitals ermöglichten. Die erste und wichtigste Auswirkung der repressiven politischen Unterdrückung ab 1980 war eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Förderung der Kapitalverwertung. Ein Aspekt dieser gesetzlichen Maßnahmen war die Unterminierung der damaligen Formen der Organisation von ArbeiterInnen.

Die erste Errungenschaft der politischen Repression in den 1980er Jahren war also die Verschärfung der Kontrolle der Arbeit mit dem Ziel, eine Verschiebung hin zu kapitalintensiven Sektoren zu vollziehen. Die Verbesserung der Bedingungen der Mehrwertproduktion sowie die erhöhte Produktivität der Arbeit waren jedoch nicht das Ende der Anstrengungen zugunsten des Kapitals, denn das Großkapital traf auf zwei Hindernisse, die aufgrund der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung in der Türkei entstanden waren. Um zur Produktionsmittelproduktion übergehen zu können, war eine hohe Akkumulationsrate innerhalb des Landes nicht genug, auch der Import von kapitalintensiven Gütern war notwendig. Das wiederum erzeugte den Bedarf nach Kapitalakkumulation in Form von Devisen und - wichtiger noch - nach neuen Märkten zur Realisierung des Wertes der dauerhaften Konsumgüter, die einen Boom erlebten.

Der Bedarf der großen Kapitale nach mehr Kapital in Form von Devisen führte zu einem System der Kontrolle über Arbeit und Exportgüter, um Wettbewerbsvorteile für den Export zu schaffen. Die Arbeit wurde also wie andere Exportgüter auch kommodifiziert[19] sowie durch Anti-Labor Gesetze kontrolliert und die Waren (als Verkörperung von Wert) wurden einer Reihe von Kontrollmechanismen zugunsten von Exportvorteilen unterworfen. Die Entwicklung von Mechanismen und gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Arbeit. Wie in vielen anderen Ländern auch, besteht der in der Türkei entwickelte theoretische Apparat hauptsächlich aus Konzeptualisierungen, die aus den Überlebensstrategien des Kapitals gewonnen werden - Postfordismus, Japanisierung, Toyotismus. Der Kern des Prozesses jedoch war die Entwicklung von Mechanismen, die die Gleichzeitigkeit von historisch verschiedenen Weisen der Produktion des aus der Arbeitskraft extrahierten Mehrwerts (absoluter und relativer Mehrwert) ermöglichen sollte. Diese Transformation, die die vormalige Strukturierung der Arbeit umwälzte, hatte auch verschiedene Formen des Gebrauchs von Arbeit (formell und informell) sowie die Nutzung unterschiedlicher Arbeitskräfte (Frauen- und Kinderarbeit) zur Folge. Die ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung rief auch unterschiedliche Arten der Verwertung des Inlandskapitals hervor. Unter diesen Umständen fand in einigen kapitalintensiven Sektoren eine technologie-orientierte Entwicklung statt, während ein Großteil des Arbeitsmarktes von arbeitsintensiven, durch informelle Verhältnisse charakterisierten Sektoren erobert wurde.

Die Unterdrückung und Kontrolle der konkreten Arbeit wurde hauptsächlich durch die Niedrighaltung der Löhne und eine wachsende Reservearmee an Arbeitskräften erreicht. Die wichtigste Folge davon war die Re-Regulierung der Waren- und Geldformen der Arbeit. Der Weg, durch den die Mehrwertproduktion erhöht wurde, machte die Partizipation des einheimischen Kapitals am globalen Kreislauf des gesellschaftlichen Kapitals notwendig. Die erste Phase dieses Prozesses, die als die Internationalisierung einer kleiner Anzahl von lokalen Kapitalen bezeichnet werden kann, nahm notwendigerweise eine Form an, die durch den Gebrauch von Überkapazitäten und die Stärkung des produktiven Kapitals sowie des einfachen Kreislaufes des kaufmännischen Kapitals unterstützt wurde. Mainstream-Analysen beziehen sich auf diese Phase als "Washington Konsens" bzw. "erste Generation von Strukturreformen".

Am Ende der 1990er Jahre begann eine neue Phase, die durch eine substantielle strukturelle Transformation des Staates gekennzeichnet ist.[20] Das wesentliche Charakteristikum dieser Phase (auf die in Mainstream-Begriffen als "post-Washington Konsens" oder "zweite Generation von Strukturreformen" Bezug genommen wird) war die Etablierung eines gesetzlich-institutionellen Rahmens, der die Kontrollmechanismen des Kapitals über die Arbeit auf der Mikroebene implementieren soll. Neue Anti-Labor Gesetze wurden erlassen, um die Arbeit in eine flexible Ware zu transformieren, Arbeitsbedingungen zu regulieren und die organisierte Macht der ArbeiterInnen zu schwächen (Ercan, 2003a). Die neuen Gesetze hatten zum Ziel, alle Aspekte des (gesellschaftlichen) Lebens mit den globalen Tendenzen des Kapitals in Einklang zu bringen (Ercan, 2003b). Diese Entwicklungen können als Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion definiert werden, wie er von Marx beschrieben wurde. Im Bezug auf Länder mit ungleichmäßiger und kombinierter Entwicklung wie der Türkei, können wir jedoch von einer gleichzeitigen Wirkungsweise von formeller und reeller Subsumtion sprechen. Mit Beginn der 1980er Jahre wurde der türkische Kapitalismus von reeller Subsumtion dominiert und von diesem Prozess relativ stark beeinflusst.

Dieser Übergang fand jedoch statt, bevor der Prozess der Proletarisierung vollendet war. Die Arbeitskraft auf dem Land war noch nicht kommodifiziert, was bedeutet, dass der Prozess der formellen Subsumtion trotz der Dominanz der reellen Subsumtion andauert. Die Hervorhebung dieser Tatsache legt einerseits die historischen Phasen und die gesellschaftlichen Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Entwicklung in der Türkei frei und verweist andererseits auf die Unzulänglichkeit der konventionellen oppositionellen Analyse. Wir durchleben eine Periode, in der sich die historische Akkumulation der konkreten Arbeit als abstrakte Arbeit entfaltet und eine Vergrößerung der Hegemonie des Kapitals über die gesellschaftlichen Beziehungen mit sich bringt. Die Arbeitskraft in ihrer abstrakten Form wird zur dynamischen widersprüchlichen Substanz der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen und der Wert nimmt zunehmend die Form einer objektiven gesellschaftlichen Macht in der Türkei an. Einfach ausgedrückt, werden die strukturell-kumulativen Dynamiken der Kapitalakkumulation zunehmend bestimmend für das "Gesellschaftliche".

Die Ausweitung und Vertiefung des Kapitalismus hat parallel zur Unterminierung der materiellen Bedingungen der Arbeit eine Unterminierung des "Gesellschaftlichen" mit sich gebracht. Während der aus der Arbeit gezogene Mehrwert ein enormes Ausmaß erreicht hat, besteht immer noch das Risiko, das dies im Kontext des harten Wettbewerbs auf globaler Ebene nicht ausreicht. Die laufend zitierten aktuellen Zahlen des ökonomischen Wachstums, der Exportsteigerungen sowie die steigende Arbeitslosigkeit in der Türkei sind Ergebnis des Erfolges eines 25-jährigen Kampfes des Kapitals. (...)

Die Intensivierung der Akkumulationsbedingungen hat die widersprüchlichen inneren Dynamiken der Arbeit klarer gemacht. In dieser Hinsicht entfaltet sich der Antagonismus auf unterschiedliche Weise auf gesellschaftlicher Ebene. Die Bedürfnisse des sich internationalisierenden Kapitals wurden durch Maßnahmen wie die Neudefinition der öffentlichen und privaten Sphäre, Einschränkung der öffentlichen Ausgaben, die Erlaubnis, dass Kapitale in ihren Überlebensstrategien auf illegale Mittel zurückgreifen können, den Transfer von Ressourcen hin zum Kapital durch die Umwandlung von öffentlichen Ausgaben in Schulden, die Kommodifizierung von öffentlichen Einrichtungen (Bildung, Gesundheit, Transport) und die Streichung des Transfers von Ressourcen in bestimmte gesellschaftliche Räume befriedigt. All dies stellt eine wesentliche Bedrohung für große Teile der Gesellschaft dar.

Die Kontrolle über die Arbeit entfaltet sich nicht nur in der Hegemonie des Gesamtkreislaufes des Kapitals über die gesellschaftlichen Beziehungen, sondern auch in der Kontrolle, die in Klein- und Mittelunternehmen ausgeübt wird. Da die Tendenz der Zentralisierung und Konzentration den Wettbewerb unter den Kapitalen verstärkt, werden die negativen Auswirkungen der Überlebensstrategien des Kapitals der Arbeit aufgezwungen. Um angesichts der Kontrollbestrebungen des Großkapitals bestehen zu können, greifen mittlere und kleine Kapitale zur Überausbeutung der ArbeiterInnenklasse. Dies erklärt auch, warum die auf die ökonomischen Krise von 2001 folgenden Proteste eher von spontanen Aktionen von KleinunternehmerInnen und deren ArbeiterInnen als von organisierten Aktionen der Gewerkschaften und der Labor Platform geprägt waren.[21]

Daraus können wir zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens, die gesellschaftliche Zusammensetzung der spontanen Proteste zeigt, dass die Hegemonie des Kapitals über die gesellschaftlichen Beziehungen in der Türkei weit fortgeschritten ist. Zweitens, Unterschiede in den Verwertungsbedingungen führen zu verschiedenen Formen des Protests in verschiedenen nationalen Kontexten. Im Gegensatz zu Ländern wie Südkorea, wo die Verwertung des Geldkapitals in Form von produktivem Kapital zu starken kollektiven organisatorischen Antworten der Gewerkschaften geführt hat, führte in der Türkei die Verwertung von Geldkapital in der Form von Geldkapital zu schwächeren gewerkschaftlichen Antworten. Es ist zu erwarten, dass sich diese Tendenz in der näheren Zukunft mit den neuen Anti-Labor Gesetzen, die die Fähigkeiten der Gewerkschaften zur kollektiven Organisierung weiter unterminieren, fortsetzt.


Conclusio

(...) Aus der Perspektive der Werttheorie durchleben wir nichts anderes als die Ausweitung und Vertiefung des Kapitalismus und seines grundlegenden Mechanismus selbst, d.h. die Schaffung von mehr Mehrwert in Form von abstrakter Arbeit und eine wachsende Dominanz des Kapitals über gesellschaftliche Beziehungen. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft werden auf verschiedene Arten der Logik des Kapitals unterworfen und tendieren in der Folge dazu, ihre Unzufriedenheit vermehrt in Klassenbegriffen auszudrücken. So gesehen, wird die Kategorie der Klasse in antikapitalistischen Alternativen heute sogar zentraler.[22] (...)

Zugänge, die auf nationale Entwicklung und ausschließlich auf konkrete Arbeit und Kämpfe in der Zirkulationssphäre fokussieren, sind in diesem Kontext besonders anachronistisch geworden. Die Realität der zunehmend vorherrschend werdenden abstrakten Arbeit macht es wichtiger als je zuvor, die Totalität der Kämpfe in den Sphären der Zirkulation und der Produktion hervorzustreichen. Die politische Implikation ist klar: anti-neoliberale Strategien, die nicht anti-kapitalistisch sind, sind heute unbrauchbar. Linke Strategien müssen ihre politischen Energien weg von nationalen Allianzen gegen als von außen kommend definierte globale Institutionen hin zu klassenbasierten lokalen Kämpfen gegen neue Kontrollregime über die Arbeit, die von den eigenen Kapitalisten und Staaten errichtet werden, verschieben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Linke keine andere Option hat, als die Sprache der nationalen Entwicklung zu verwenden. Obwohl der konkrete Prozess der Wertbildung verschiedene Formen in verschiedenen nationalen Kontexten annimmt und es daher verschiedene Strategien für jedes Land braucht, findet er dennoch immer noch in einer ungleichmäßigen und kombinierten Weise statt. Das Konzept der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung kann uns daher helfen, dieses Dilemma zu vermeiden, indem es ermöglicht, einer Bandbreite von sektoralen, Klassen- und anderen Variablen, die begleitend auf anderen Ebenen operieren, Rechnung zu tragen. Tatsächlich muss eine Politik, die innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens agiert und weder in die Fallstricke des Nationalismus noch in jene eines abstrakten Internationalismus geraten will, diese Variablen auf anderen Ebenen konstant im Blick behalten.


Fuat Ercan lehrt am Institut für Ökonomie an der Marmara Universität in Istanbul. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf marxistischer politischer Ökonomie. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über Geld und Kapitalismus, Werttheorie, Wirtschaftsgeographie, Krise und kapitalistische Entwicklung in der Türkei verfasst.
E-mail: ercanfu@marmara.edu.tr

Sebnem Oguz lehrt im Programm für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen der Middle East Technical University am Campus von Nordzypern. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Staatstheorie, vergleichender Politik und politischer Ökonomie in der Türkei.
E-mail: osebnem@metu.edu.tr


Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Dieser Artikel ist die gekürzte Version eines Textes, der ursprünglich unter dem Titel "Rethinking Anti-Neoliberal Strategies under the Perspektive of Value Theory: Insights from the Turkish Case" in Science & Society, Vol. 72, No. 2, April 2007, 173-202, Guilford Publications Inc., New York, erschienen ist. Die Redaktion der Zeitschrift grundrisse dankt dem Verlag sowie den AutorInnen für die Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung sowie den AutorInnen zusätzlich für die gute Zusammenarbeit bei der Kürzung des Textes. Die aus dem Original gekürzten Stellen sind mit (...) markiert. Alle Zitate, bei denen nicht ausdrücklich auf eine deutsche Quellenangabe verwiesen wird, sind Eigenübersetzungen der Übersetzerin. Die Anmerkungen stammen, soweit sie nicht als Anm. d. Red. oder d. Übersetzerin gekennzeichnet sind, von den AutorInnen.

[2] Wir danken Greg Albo, Elvan Gülöksüz sowie drei anonym bleiben wollenden Personen für ihre Kommentare und Vorschläge. Für etwaige Fehler sind jedoch selbstverständlich die AutorInnen selbst verantwortlich.

[3] Anm. d. Übersetzerin: in der Übersetzung zitiert nach: Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, Carl Hanser Verlag, München Wien, 1977, aus dem Italienischen von Heinz Riedt.

[4] Anm. d. Ü.: Nationaler Developmentalismus bzw. developmentalistische Strategien oder auch Theorie der nachholenden Entwicklung (im Folgenden meist übersetzt mit "Strategie der nationalen Entwicklung"): Ökonomische Theorie, die von Entwicklung als Schlüsselstrategie hin zu ökonomischem Wohlstand ausgeht, d.h. dass es für "Dritte Welt"-Staaten der beste Weg ist, einen starken und vielfältigen inneren Markt zu fördern und hohe Importzölle zu erheben. Geht weiters davon aus, dass es für "Dritte Welt"-Länder möglich ist, ihre Autonomie durch den Gebrauch von äußeren Ressourcen innerhalb eines kapitalistischen Systems zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Die Theorie basiert außerdem auf der Annahme, dass es nicht nur die gleichen Stufen der Entwicklung in allen Ländern gibt, sondern auch eine lineare Bewegung, die von Stufe zu Stufe voranschreitet, von einer traditionellen oder primitiven hin zu einer modernen oder industrialisierten Entwicklungsstufe.

[5] Anm. d. Ü.: Die Türkiye Komünist Partisi (kurz TKP) ist die größte Partei innerhalb der vielfältigen türkischen kommunistischen Parteienlandschaft. Die Wurzeln der Partei liegen in der Gruppe Sosyalist Iktidar (Sozialistische Macht), die sich 1978 aus ausgeschlossenen Mitgliedern der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) formierte. Nach dem Militärputsch wurde die Gruppe aufgelöst. 1992 wurde die Partei für eine Sozialistische Türkei (Sosyalist Türkiye Partisi, STP) gegründet, die allerdings vom Verfassungsgericht verboten wurde. Nachfolgepartei war die SIP, die sich schließlich den immer noch aktuellen Namen TKP gab. Es gab von staatlicher Seite den Vorstoß zu einem Parteiverbot, der Beschluss wurde jedoch vom Verfassungsgericht auf unbestimmte Zeit vertagt. Seit 2005 tritt die Partei bei Wahlen als "Patriotische Front" (Yurtsever Cephe) an. Das aktuelle Wahlergebnis der Parlamentswahlen von 2007 liegt bei 0,22%. Die TKP genießt begrenzte Unterstützung unter ArbeiterInnen, StudentInnen und linken Intellektuellen, wobei ihre Aktivitäten wie auch die Masse ihrer SympathisantInnen und Mitglieder ganz klar in Istanbul zentriert ist. Schwierigkeiten hat die Partei dagegen, sich in den Dörfern etwa Ostanatoliens zu etablieren. Wie die meisten kommunistischen Parteien setzt auch die TKP stark auf die internationale Kooperation der kommunistischen Bewegungen. Bevorzugter Partner der TKP ist die weitaus einflussreichere griechische KKE. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkiye_Kom%C3%BCnist_Partisi_(2001)

[6] Anm. d. Ü.: In kapitalistischen Ländern der Peripherie wie z.B. der Türkei sind Berufsvereinigungen im Allgemeinen kritisch gegenüber dem System (im Unterschied zu ihren Gegenparts in den Metropolen). Es handelt sich hierbei nicht um Kammern, da die Mitgliedschaft in ihnen nicht verpflichtend ist.

[7] Anm. d. Ü.: Rentiers sind Personen, die Einkünfte aus zinstragendem Kapital beziehen. Rentierökonomie meint, dass Gewinne nicht oder nur in geringem Maße reinvestiert, sondern im Wesentlichen unproduktiv verkonsumiert werden.

[8] Kemal Dervis, früherer Vizepräsident der Weltbank und dort verantwortlich für Programme zur Armutsminderung, wurde als Wirtschaftsminister der Türkei bestellt, um das neue Konjunkturprogramm nach der Krise von 2001 durchzuführen. Ironischerweise wurde Dervis' neues Wirtschaftsprogramm "National Program" genannt. Es versprach die Fusionierung und Privatisierung der größten öffentlichen Banken innerhalb von drei Jahren sowie die Einstellung der staatlichen Subventionen für die Landwirtschaft, die Kürzung der öffentlichen Ausgaben um 9 Prozent, die Einfrierung der Gehälter im öffentlichen Sektor sowie die Privatisierung und Öffnung für globale Märkte von bis dahin staatlichen Sektoren wie Telekommunikation, Fluglinien, Erdöl, Stahl, Tabak und Spirituosen, Zucker sowie Energieversorgungsunternehmen (Gas und Strom) (Oguz, 2001).

[9] In der Türkei z.B. lauteten die am weitesten verbreiteten Parolen in den sozialen Protesten: "IWF raus! Das ist unser Land!", "Gegen den Ausverkauf unseres Landes!", "Nieder mit dem IWF, für eine unabhängige Türkei!", "Der IWF diktiert, die Regierung führt aus!".

[10] Die meisten Kapitalgesellschaften in der Türkei, die als Teil der "nationalen Bourgeoisie" betrachtet wurden, waren in den letzten beiden Jahrzehnten der Phase der binnenorientierten Akkumulation bereits Allianzen mit internationalem Kapital auf allen Ebenen des produktiven, Geld- und kaufmännischen Kapitals eingegangen (Ercan, 2002a).

[11] z.B. folgende Passage aus einer frühen Erklärung der Labor Platform: "Privatisierung hat zerstörerische Auswirkungen auf die nationale Sicherheit und Wirtschaft unseres Landes, deshalb muss sie gestoppt werden" (Koc, 2001, 3).

[12] Im Falle der Türkei richteten sich die Proteste im Allgemeinen eher gegen äußere Institutionen, die mit der Globalisierung assoziiert werden, als gegen neue Formen der Klassenbeherrschung im eigenen Staat. Während massive Proteste gegen IWF, Weltbank und WTO stattfanden, gab es z.B. auf das neue Anti-Labor Gesetz, das im Mai 2003 vom Parlament verabschiedet wurde, nahezu keine Reaktionen. Dieses Gesetz legitimiert prekäre und flexible Arbeit durch die gesetzliche Anerkennung von Teilzeit, Zeit- und Leiharbeit sowie die Erhöhung der Arbeitszeit und das Recht der Arbeitgeber auf kollektive Entlassungen "in Krisenzeiten".

[13] Siehe Bryan (1995, 188) für dessen Verwendung des Begriffes. Im Fall der Türkei kann die "moderat islamische" AKP (Gerechtigkeits- und Wohlstandspartei), die sich seit November 2002 an der Regierung befindet, als typisches Beispiel für diesen "internationalistischen Nationalismus" betrachtet werden. Der Diskurs der AKP schwankt zwischen Nationalismus und Internationalismus je nach dem wechselnden Kräfteverhältnis unter den verschiedenen Kapitalfraktionen. Als Antwort auf die Forderungen ihrer vorrangigen Anhängerbasis, der sich internationalisierenden heimischen Kapitalgruppen, nach weiterer staatlichen Unterstützung ihres ehrgeizigen Projektes der Integration in den Weltmarkt, führt die AKP häufig einen internationalistischen Diskurs der weiteren Integration in die EU. Wenn jedoch ein "guter Deal" für diese heimischen Kapitalgruppen gesichert werden soll, greift die AKP auf den Nationalismus zurück. Das Problem der Linken in diesem Zusammenhang ist ihr Unvermögen, ihre eigene Agenda von der des Kapitals, die mehr und mehr vom internationalistischen Nationalismus bestimmt ist, abzugrenzen. In Kombination mit dem starken Erbe des Nationalismus als Hauptkomponente der herrschenden Ideologie in der Türkei verstärkt diese Tendenz oftmals die allgemeine Verschiebung des populären politischen Diskurses nach rechts.

[14] Anm. d. Ü.: in der Übersetzung zitiert nach: Karl Marx, Friedrich Engels, "Ausgewählte Briefe", Berlin 1953, Seite 224

[15] Marx hebt diesen Aspekt wie folgt hervor: Dagegen wird von ihrer besondern Nützlichkeit, ihrer bestimmten Natur und Art und Weise ganz und gar abstrahiert, soweit sie als Werthbildendes Element berechnet oder die Waare als ihre Vergenständlichung berechnet wird. Als solche ist sie unterschiedlose, gesellschaftlich nothwendig, allgemeine Arbeit, ganz und gar gleichgültig gegen jeden besondren Inhalt, weshalb sie auch an ihrem selbständigen Ausdruck, dem Geld, an der Waare als Preiß, einen allen Waaren gemeinschaftlichen und nur durch Quantität unterscheidbaren Ausdruck erhält. (Marx, 1976) Anm. d. Ü.: in der Übersetzung zitiert nach: Karl Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Resultate des unmittelbares Productionsproceßes, MEGA II, Berlin 1988, S. 67

[16] Anm. d. Ü.: im Deutschen eher: prekäre Arbeit. Der Begriff der kontingenten Arbeit bzw. Beschäftigung ist im Deutschen eher unüblich. Laut Prof. Dr. Birgit Benkhoff, Lehrstuhl für Personalwirtschaft, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Technische Universität Dresden, dient kontingente Beschäftigung der Kostensenkung und zeichnet sich aus durch relativ geringes Lohnniveau (außer Tarif, niedrigere Tarife), Wegfall von Zusatzleistungen (Urlaubs-, Weihnachtsgeld), Wegfall von Trennungskosten (bes. bei Befristung, Leiharbeit) und Reduzierung von Lohnnebenkosten (bes. bei geringfügiger Beschäftigung). http://mciron.mw.tu-dresden.de/cimtt/fqmd/abschluss_ vortraege/kontingente_beschaeftigung.pdf;

[17] eine Analyse der neu eingeführten Anti-Labor Gesetze in Südkorea vgl. Neary, 2002. Vgl. MacDonald, 2004 für Mexiko und Ercan, 2003c für die Türkei.

[18] Anm. d. Ü.: Der Begriff der "ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung" wurde von Leo Trotzki geprägt und u.a. von Ernest Mandel weiterentwickelt. Er theoretisiert eine Entwicklungstendenz der kapitalistischen Produktion im imperialistischen und monopolkapitalistischen Zeitalter, die der These Marx' widerspricht, dass die industriell entwickelteren Länder den weniger entwickelten Ländern gewisserweise ihre Zukunft zeigen. Denn mit dem Wegfallen der freien Konkurrenz im kapitalistischen Weltmarkt begünstige dieser nicht mehr die Industrialisierung kolonialer und halbkolonialer Länder, vielmehr bremse bzw. modifiziere er diese.

[19] Anm. d. Ü.: Als Kommodifizierung bezeichnet man den Prozess des "zur Ware Werdens". Der Begriff stammt aus dem englischen Sprachraum und geht auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi zurück.Quelle: http://evakreisky.at/2005/fse05/glossar/kommodifizierung.pdf

[20] Analysen, die auf nationale Entwicklung fokussieren, periodisieren die letzten zwei Jahrzehnte anders. Sie nehmen die Finanzliberalisierung 1989 als Wendepunkt zwischen der ersten (1980-88) und der drauf folgenden Phase (von 1989 an).

[21] In einer Studie über die soziale Zusammensetzung der Proteste, die unmittelbar auf die Krise folgten, stellt Gemici (2003) fest, dass die Anzahl der Proteste von KleinunternehmerInnen und deren ArbeiterInnen 65% der gesamten Proteste ausmachte, die Anzahl der Proteste der Labor Platform hingegen nur 28%.

[22] Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine direkte Linie von der Werttheorie zur politischen Strategie gezogen werden kann. Unser Hauptargument lautet, dass die politische Strategie von der Werttheorie geleitet werden soll, jedoch nicht durch diese ersetzt.


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Raute

Ilker Ataç

Die "Konservativ-liberale" Politik der AKP in der Türkei im historischen Zusammenhang

1. Einleitung

Liberale und konservative Sichtweisen interpretieren die Politik der AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) als historischen Bruch mit dem Kemalismus. Nach dieser Auffassung treibt die AKP die Demokratisierung im Gegensatz zum kemalistischen Establishment voran. Die Auseinandersetzungen zwischen dem kemalistischen Machtblock und der AKP in den letzten Jahren wird aus dieser Perspektive interpretiert. In diesem Text hingegen wird argumentiert, dass die AKP eine konservative und neoliberale Politik verfolgt und insofern die repressiven und autoritären Züge in der Türkei seit 1980 reproduziert. Obwohl ihr Wahlsieg im Jahre 2002 einen Bruch markierte, steht sie doch für Kontinuität in der Staatstradition. Ihre Entwicklung wird im Folgenden aus einer historischen Perspektive analysiert.


2. Historisches Erbe

Die exportorientierte Ökonomie in den 1980er Jahren

Für das Verständnis der Transformation der politischen Ökonomie in der Türkei ist ein kurzer Blick auf die Entwicklung seit 1980 nützlich. Ein orthodoxes Strukturanpassungsprogramm im Jahr 1980 leitete den Übergang von der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie, die Ende der 1970er-Jahre ökonomisch und politisch gesehen an ihre Grenzen stieß, zu einer liberalen und exportorientierten Wachstumsstrategie ein, die auf der Liberalisierung der Güter- und Kapitalmärkte basierte. Das neue Entwicklungsmodell führte nicht nur zu einer erhöhten Bedeutung der Exportwirtschaft in der Akkumulationsstrategie, sondern die türkische Wirtschaft und Politik erfuhr insgesamt einen umfassenden Strukturwandel.

Zwischen 1981 und 1983 wurden unter dem Militärregime die makroökonomischen Ziele des Programms mit der finanziellen Unterstützung der Bretton-Woods-Institutionen realisiert. Das Programm für die Türkei unterschied sich nicht von den üblichen "Standardrezepten" des IWF, welche das Einfrieren der Löhne und der Preise zur Stützung der Landwirtschaft vorsah und somit zur Verringerung der Gesamtnachfrage führte. Die Rekordanzahl von fünf Strukturanpassungsdarlehen zwischen 1980 und 1984, die der IWF zur Verfügung stellte, flankierte die Weltbank im gleichen Zeitraum mit Darlehen für drei sektorale Strukturmaßnahmen (Senses 1994: 54).

Der gegen das Programm gerichtete Widerstand konnte kurz nach dem Militärputsch neutralisiert werden, was wesentlich zur Stabilisierung der inneren Kräfteverhältnisse beitrug. Der Militärputsch bildete eine Antwort auf die seit Mitte der 1970er-Jahre bestehende Hegemoniekrise. Die von der konservativen Demokratische Partei (Demokrat Parti, DP) geführte Regierung wollte seit der Vertiefung der ökonomischen Krise ab 1977 Maßnahmen verabschieden, welche auf die Senkung der Reallöhne abzielte. Der Regierung fehlte jedoch die nötige soziale Basis sowie die politische Durchsetzungskraft, um diese Politik gegen die starke gesellschaftliche Oppositions- und Gewerkschaftsbewegung umzusetzen. Das repressive Militärregime ermöglichte das Strukturanpassungsprogramm und konnte so die Entwicklung in Richtung Neoliberalismus einleiten. Die Militärjunta deklarierte wenige Tage nach der Machtübernahme, dass sie sich an die mit dem IWF und der Weltbank vereinbarten Abkommen halten werde (Önder 1998: 49). Unter der Militärregierung wurden die Rahmenbedingungen für die Implementierung des Anpassungsprogramms ermöglicht: Sowohl die restriktive Lohnpolitik als auch die legislativen und institutionellen Reformen wurden in dieser Zeit durchgeführt.

Im Zentrum des Programms stand, neben monetären Maßnahmen, die Senkung der Lohnkosten zur Unterstützung der Exportwirtschaft. Während der Militärregierung bis 1983 führten die vielfältigen Restriktionen von Gewerkschaftsaktivitäten zu einem dramatischen Rückgang der Reallöhne (Boratav et al. 2000: 3). Zudem löste die Militärregierung die Gewerkschaften auf, ausgenommen vom Gewerkschaftsverbot war nur der regierungsnahe Gewerkschaftsverband "Türk-Is". Mit der Verhängung des Kriegsrechts wurden Streiks und öffentliche Versammlungen verboten, gegen führende Funktionäre der Konföderation revolutionärer Arbeitergewerkschaften der Türkei (Türkiye Devrimci Isçi Sendikalari Konfederasyonu, DISK) wurde prozessiert; Per Gesetz schaffte die Militärjunta die allgemeine Tarif- und Koalitionsfreiheit ab.

In den Jahren danach sanken die Reallöhne aufgrund steigender Inflationsraten, was zu Einkommenstransfers von Arbeit zu Kapital führte. Im Zeitraum von 1980 bis 1988 waren die Reallöhne um 40 Prozent gesunken. Dadurch wurde in dieser Dekade einerseits die Binnennachfrage verknappt und andererseits die notwendige Kapitalakkumulation für das Wachstum des Exportsektors ermöglicht. Bis Ende der 1980er Jahre kam es zu einem Anstieg der Exporte hauptsächlich bei arbeitsintensiv hergestellten Waren wie Nahrungsmittel, Textilien und Rohstoffe. Die Senkung der Arbeitskosten erhöhte so die Wettbewerbsfähigkeit der Exportfirmen, besonders in den arbeitsintensiven Industrien.

Durch steigende Inflationsraten, steigendem Staatsdefizit und zunehmendem Leistungsbilanzdefizit kam die dominante exportorientierte Akkumulationsform in den 1980er-Jahren an ihre wirtschaftlichen und politischen Grenzen, insbesondere im Jahr 1988. Nachdem die Reallöhne den tiefsten Punkt der Dekade erreicht hatten, konnte ab 1989 die wieder erstarkte Gewerkschaftsbewegung einen signifikanten Lohnanstieg erkämpfen. Dies besiegelte ein vorläufiges Ende des auf Lohndrückung basierenden Akkumulationsmodells. Darüber hinaus begann ab 1989 im Kontext der bevorstehenden Parlamentswahlen eine Verschiebung der öffentlichen Ausgaben hin zu sozialen Bereichen (Boratav et al. 2000: 3).


Die Veränderung der Staatsform in den 1980er Jahren

Durch den Militärputsch 1980 kam es zu einer radikalen Veränderung des politischen Systems: Das Parlament und alle politischen Parteien wurden aufgelöst. In der Folge wurden die Vorsitzenden der politischen Parteien für zehn Jahre aus der aktiven Politik ausgeschlossen. In den folgenden drei Jahren herrschte ein Ausnahmezustand, der das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nachhaltig umstrukturierte. Die neue Verfassung, die unter den Bedingungen des Militärregimes vorbereitet wurde, trat am 9. November 1982 in Kraft. Sie kodifiziert die Vorstellungen und Werte einer autoritären gesellschaftlichen Ordnung. Das Militärregime verankerte die Elemente eines repräsentativen Parlamentarismus mit beschränkten demokratischen Elementen in der Verfassung von 1982, indem die Exekutive und zentralstaatliche Apparate gegenüber dem Parlament gestärkt wurden. Das politische System nach 1983 gab dem Staatspräsidenten eine starke Macht, übertrug der Regierung verschiedene Vollmachten und schwächte die Rolle des Parlaments wesentlich. Der Zugang zur politischen Sphäre wurde für politische Parteien durch verschiedene Verfassungsänderungen eingeschränkt.

Des Weiteren wurde das Wahlsystem umstrukturiert. Es kam zu einer landesweiten Zehn-Prozent-Hürde, die den Einzug von politischen Parteien, die Minderheiten oder radikal-oppositionellen Gruppen zuzuordnen sind, ins Parlament verhindern sollte. Darüber hinaus wurden mit der neuen Verfassung die politischen Aktivitäten von Gewerkschaften und anderen Berufsorganisationen erheblich eingeschränkt. So durften die Gewerkschaften weder politische Ziele verfolgen noch Unterstützung von politischen Parteien erhalten. In der Phase nach 1983 blieben die Aktivitäten der Gewerkschaften durch die äußerst restriktiven Bestimmungen der Verfassung von 1982 stark eingeschränkt. Unter dem Militärregime wurden autonome und dem Parlament gegenüber nicht weisungsgebundene Institutionen ins Leben gerufen, wie der Zentrale Hochschulrat, Staatssicherheitsgerichte sowie der Nationale Sicherheitsrat.

Die liberal-konservative Mutterlandspartei (Anavatan Partisi, ANAP) unter der Führung von Turgut Özal bildete die erste zivile Regierung in der postmilitärischen Phase. Sie erlebte ihren Aufschwung im Kontext des Übergangs vom Militärregime zu einem beschränkten Parteienwettbewerb. Das politische Vakuum im Kontext des restriktiven Militärregimes konnte von der ANAP, die ein breites Spektrum politischer Richtungen vertrat, gefüllt werden. Die ANAP-Regierung hatte bis 1987 auf der legislativen und institutionellen Ebene im politischen Vakuum der Militärregierung viel Spielraum für Veränderungen - ohne gesellschaftliche Opposition. Erst die Aufhebung der vom Militär diktierten politischen Verbote im Jahr 1987 führte zur Stärkung der politischen Konkurrenz und des Parlamentarismus.

In der Regierungsphase der ANAP von 1983 bis 1991 wurde die neoliberale Umstrukturierung der türkischen politischen Ökonomie fortgeführt (Önder 1998: 51). Die ANAP-Regierung verfolgte im Bereich der Löhne und der Subvention der Landwirtschaft die gleiche Politik wie zuvor das Militärregime. Allerdings wurde von der ANAP auch Veränderungen im Staatsapparat angestrebt. Die Veränderung des Staates stand im Zentrum der Reformmaßnahmen: Die institutionelle Umstrukturierung unter der ANAP-Regierung beabsichtigte die Schwächung der Rolle der traditionellen Bürokratie und damit die Stärkung der Macht der Exekutive in der Politik.

Das Jahr 1989 gilt in vielerlei Hinsicht als Wendepunkt in der Post- 1980-Ära. Auf der politischen Ebene markierte das Jahr 1989 das Ende der Ära Özal, die ANAP erlitt bei den Kommunalwahlen vom März 1989 eine schwere Niederlage. Im selben Jahr kam es zu einer Stärkung der gewerkschaftlichen Bewegung gegen die sinkenden Reallöhne. Die Gewerkschaftsbewegung konzentrierte sich nicht nur auf den ökonomischen Bereich, sondern forderte auch mehr Demokratisierung und kritisierte die autoritäre und korrupte Regierungsform der ANAP (Boratav 2003: 175f.). Parallel dazu kam es zu einer Belebung der Frauenbewegung, die mit ihrer Kritik an den patriarchalischen Strukturen eine neue Form der gesellschaftlichen Opposition darstellte.


Die Akkumulationsstrategien in den 1990er Jahren

Durch die Neukonstituierung der Gewerkschaftsbewegung ab 1988 nahmen die Arbeitskämpfe gegen die niedrigen Löhne zu. Diese Kämpfe erzeugten gesellschaftlichen Druck und führten dazu, dass die Reallöhne vorerst im öffentlichen Sektor anstiegen. Die Reallöhne in der verarbeitenden Industrie des öffentlichen Sektors stiegen im Jahr 1989 um 47,5 Prozent und im Jahr 1991 um 31,1 Prozent. Die private verarbeitende Industrie musste sich diesem Druck beugen, sodass auch hier die Reallöhne in den Jahren 1990 bis 1992 durchschnittlich um 19,5 Prozent jährlich angestiegen sind (Yeldan 2001: 49). Damit wurden die massiven Lohnverluste in den 1980er-Jahren zwar nicht ganz, aber teilweise kompensiert. Die stärker werdende ArbeiterInnenbewegung alarmierte die Regierung und Kapitalgruppen. Allerdings schien eine Neuauflage der Politik der niedrigen Reallöhne, wie sie in den 1980ern charakteristisch war, nicht möglich (vgl. Sener 2003: 49). Massenproteste und Generalstreiks von ArbeiterInnen, Bäurinnen und Bauern sowie Angestellten für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und gegen Lohnverluste standen auf der Tagesordnung und erhöhten den Druck auf die Politik.

Die Liberalisierung der Kapitalmärkte bildete die Antwort der Regierung um auf die Forderungen der Arbeiterklasse sowie der Unternehmen im Kontext der hohen Liquidität auf den internationalen Finanzmärkten auszugleichen. Dies prägte die makroökonomische Entwicklung und hatte weitreichende und widersprüchliche Auswirkungen auf die türkische Ökonomie in den 1990er-Jahren. Die Finanzmarktliberalisierung bewirkte, dass das ökonomische Wachstum zur abhängigen Variable des unabhängigen Kapitalverkehrs wurde (Yeldan 2006). Den Kapitalimporten kam dabei eine zentrale Bedeutung in den Akkumulationsdynamiken zu.

Langfristig führte Liberalisierung der Finanzmärkte zur Abhängigkeit der Ökonomie vom Kapitalzufluss, was die finanzielle Instabilität erhöhte. Im Zeitraum von 1989 bis 2001 entwickelten sich die Wachstumsraten instabil. Die Wachstumsdynamik war in Abhängigkeit von den volatilen Kapitalzuflüssen und -abflüssen extremen Schwankungen ausgesetzt.[1] Den Kapitalimporten kam dabei in den 1990er-Jahren eine zentrale Bedeutung in den Akkumulationsdynamiken zu. Der Wachstumspfad der Türkei wurde in der Periode zunehmend abhängig von Kapitalflüssen, die zugleich Aufschwung und Krisen, sogenannte "Boom-and-bust-Zyklen", generierten, die insbesondere durch die Krisen von 1994 und 2001 in Umverteilungsschocks auf Kosten von Lohn- und Arbeitseinkommen mündeten (Onaran 2008: 146ff.). Nach den Krisen gab es jeweils Versuche, die Regulationsweise über die Senkung der Reallöhne in Richtung Exportorientierung umzuleiten, jedoch ohne bleibenden Erfolg. In der Folge führte jeweils der Kapitalzufluss zur Aufwertung der türkischen Lira, was wiederum unter den Bedingungen der liberalisierten Gütermärkte zum Anstieg der Importe und in der Folge zu Leistungsbilanzdefiziten führte. Es kam zu einer Politik des forcierten Wachstums im Zuge der Kapitalimporte. Diese Entwicklung war in vielerlei Hinsicht charakteristisch für die semiperipheren Länder in den 1990er-Jahren[2].

Der Verschuldungspolitik des öffentlichen Sektors stand im Zentrum der Akkumulationslogik in dieser Phase. Die Hochzinspolitik der Zentralbank und des Schatzamtes war eine wichtige Anreizquelle für Geldkapital. Der Zufluss des internationalen Geldkapitals finanzierte nicht nur das Haushaltsdefizit, sondern wirkte als Grundlage für ein neues Akkumulationsregime im Interesse der großen inländischen Kapitalgruppen, das auf hohen Zinseinnahmen beruhte. Die Hauptbegünstigten dieser Entwicklung waren der Bankensektor und die Kapitalgruppen, die einen privilegierten Zugang zu diesen hatten. Das führte dazu, dass die Verteilungspolitik trotz anfänglicher Erholung zu Beginn der Dekade nach der Krise 1994 die Lohnabhängigen zu den VerliererInnen machte.


Die politische Sphäre in den 1990er Jahren

Die 1990er-Jahre gelten ex post als die "verlorene Dekade" (Keyder 2004), die von politischer Instabilität und von wiederholender ökonomischen Krisen geprägt war. Auf der politischen Ebene war die Parteienlandschaft in den 1990er-Jahren von Entinstitutionalisierung, Fragmentierung und Polarisierung geprägt. Es kam in dieser Phase zu einer allgemeinen Schwächung der politischen Mitte und zur Stärkung von politischen Parteien mit religiösen und ultranationalistischen Ideologien. Die ökonomische Instabilität in dieser Periode wurde begleitet von einer politischen Instabilität. Hierbei spielte auch die Verschiebung des Verhältnisses zwischen Staat und Ökonomie im Kontext der Liberalisierung der Finanzmärkte eine Rolle. Trotz der Öffnung des Parteiensystems und der Demokratisierungsbewegungen wurde die autoritäre Staatsform in ihren Grundstrukturen beibehalten.

Die neue Koalitionsregierung aus sozialdemokratischer (SHP) und konservativer (DYP) Partei nach der Abwahl der ANAP-Regierung im Jahr 1991 stand für die Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen, LandwirtInnen sowie jener Gruppen, die zu den Verlierern der Özal-Periode zählten, sowie für die Verbesserung sozialstaatlicher Leistungen. Ein Kernpunkt ihres Regierungsprogramms war auch die Demokratisierung des Landes. Die DYP präsentierte sich als Alternative zur ANAP, indem sie die Interessen der VerliererInnen der Exportstrategie vertrat. Die SHP stand für Demokratisierung, insbesondere für die politische Lösung der "Kurdenfrage" und die Verbesserung des Lebensstandards der städtischen ArbeiterInnen und Angestellten.

Nach der Wahl von Süleyman Demirel zum Staatspräsidenten im Mai 1993 kam es zum Wechsel in der Koalitionsregierung: Tansu Çiller wurde Vorsitzende der DYP und in der Folge Ministerpräsidentin. In der neuen Koalitionsregierung kam es unter ihrer Leitung nach der Finanzkrise von 1994 zu einer Verstärkung der neoliberalen Entwicklung und zur zunehmenden Militarisierung der "Kurdenfrage". Diese wollte Tansu Çiller ausschließlich mit militärischen Mitteln lösen und ignorierte ihre gesellschaftspolitische Dimensionen.

Die Demokratisierungswelle Ende der 1980er-Jahre war nur von kurzer Dauer. Dabei spielte die "kurdische Frage" seit Anfang der 1990er-Jahre eine immer wichtigere Rolle. Infolge der Ausweitung der militärischen Konflikte kam es zu einer wachsenden Bedeutung des Militärs in der Innenpolitik. Dies führte zu verschärften Repressionen, nicht nur in Konfliktgebieten, sondern in der gesamten Türkei. Ein Beispiel dafür bildete das im April 1991 verabschiedete "Antiterrorgesetz", das nachhaltige Eingriffe in die Menschen- und BürgerInnenrechte ermöglichte.

Zwar kam es in den 1990er Jahren zu einer "Normalisierung" des Parteiensystems, die Struktur des politischen Systems der Post-Militär-Phase aber wurde dadurch nicht aufgebrochen. Die starke Position des Staatspräsidenten und die Anwendung von Verordnungen mit Gesetzeskraft, durch die Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf die Exekutive übergingen, wurden beibehalten. Auch die Ausgabenstruktur über außerbudgetäre Fonds zur Umgehung der Parlamentskontrolle blieb unangetastet. Im Kontext des Post-Militär-Regimes sieht Ahmet Insel die Aufgabe der politischen Parteien weniger darin "(...) Stimmungen und Forderungen in der Bevölkerung aufzunehmen, zu bündeln und in Staatspolitik zu transformieren, als [darin], für die vom Staat oft relativ autonom gesetzten Ziele Unterstützung der Bevölkerung zu rekrutieren" (Insel/Bozyigit 2005: 9). Aus dieser Perspektive stellt er die These auf, dass die Staatselite im Kontext des Militärputsches den Handlungsspielraum der politischen Parteien entscheidend begrenzt hat und die Regierungen zu einem Kurs nötigte, der im Widerspruch zu den Programmen der sie tragenden Parteien steht.

Charakteristisch für die 1990er Jahre ist, dass die politischen Parteien und das Parteiensystem der Türkei sich in einer Phase des "institutionellen Verfalls" befinden. Das Parteiensystem war gekennzeichnet von Fragmentierung und Polarisierung. Indiz dafür ist das Vorziehen der Parlamentswahlen von 1991, 1995, 1999 und 2002. Hinzu kam, dass das Wahlverhalten der Bevölkerung immer unberechenbarer wurde. Die Parteien wurden größtenteils autoritär geführt, innerparteiliche demokratischen Strukturen fehlten. Die Parteivorsitzenden herrschen bis heute nahezu uneingeschränkt über die Basis. Die Parteispitze kann ohne Einschränkungen Provinzführungen absetzen sowie willkürlich über die KandidatInnenaufstellung entscheiden (Kramer 2004: 38).

Die relative Öffnung des politischen Systems blieb begrenzt, weil die Zehn-Prozent-Hürde weiterhin gültig blieb.[3] In den 1990er-Jahren unterschieden sich die Parteiprogramme in wirtschaftspolitischen Fragen voneinander kaum. Das Parlament war besetzt mit "zentristischen" Parteien, die bereits unter dem hegemonialen Einfluss des Neoliberalismus standen. Nach Oguz wurden die Lockerungen der Beschränkungen für politische Parteien zu einer Zeit umgesetzt, als der Prozess der Konzentration und Zentralisierung der Macht innerhalb der Exekutive des Staates bereits Realität und der Neoliberalismus zur Staatspolitik aufgestiegen war (Oguz 2008: 162f.).


3. Geschichte des politischen Islams in der Türkei

Die Partei der Nationalen Ordnung (Milli Nizam Partisi, MNP) wurde als die erste politische Partei als Vertreterin des politischen Islam im Jahr 1970 gegründet. Nach ihrem Verbot wurde ihre Nachfolgepartei, die Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi, MSP) gegründet. Aus ihrem ersten Wahlantritt bei Parlamentswahlen im Oktober 1973 ging die MSP mit 11,8 Prozent der Stimmen als drittgrößte Partei hervor und erhielt damit 48 Sitze im Parlament. Laut ihrem Programm stand sie für eine regional ausgeglichene Industrialisierungspolitik als Alternative zur Importsubstitutionspolitik; damit sollte die Unterentwicklung des Landes behoben werden. Die MSP zielte auf die Beseitigung der regionalen Bevorzugung der wirtschaftlichen Zentren. Die Partei kritisierte die entwicklungspolitische Hegemonie des Blocks aus Handels- und Industriekapital und es gelang ihr, eine Front der anatolischen Kleinunternehmen mit Unterstützung der traditionellen religiösen Orden gegen die Kräftekonstellation im Zentrum zu bilden (Ataç 2007).

1983 wurde zum dritten Mal eine islamistische Partei, die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP), wieder unter Mitwirkung von Necmettin Erbakan gegründet. Sie erfuhr in den 1990er Jahren mit ihrem alternativen Parteiprogramm und dank einer effizienten Organisationsstruktur einen bedeutsamen Stimmenzuwachs. Die RP ist aus den Parlamentswahlen im Jahr 1995 als stärkste Partei hervorgegangen, sie erhielt 158 von 550 Sitzen im Parlament. Nach langwierigen Verhandlungen und misslungenen Koalitionsversuchen kam es zum Abschluss einer Koalitionsvereinbarung von RP und der Partei des Rechten Weges (Dogru Yol Partisi, DYP), die einige Monate nach dem Memorandum vom Nationalen Sicherheitsrat vom 28. Februar 1997 aufgelöst wurde. Die RP selbst wurde am 12. Januar 1998 durch ein Urteil des türkischen Verfassungsgerichts verboten. Das Urteil wurde mit dem Argument begründet, dass die führenden Köpfe der Partei öffentlich die Wiedereinführung der Scharia sowie eines Staates auf islamischen Fundamenten propagiert haben und somit die laizistische Grundlage der türkischen Republik bedroht haben. Während des Prozesses wurde die Tugendpartei (Fazilet Partisi, FP) als Nachfolgepartei gegründet und konnte an den Wahlen von 1999 teilnehmen. Sie wurde zur drittstärksten Partei.

Im Gegensatz zur MSP in den 1970er Jahren, konnte die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) in den 1990er Jahren ihre soziale Basis erweitern. In dieser Periode kamen zur traditionellen WählerInnenschicht der RP zwei wichtige Zielgruppen, welche die Basis der RP bildeten, hinzu: Einerseits unterstützten jene gesellschaftlichen Gruppen die RP, die - insbesondere in den Städten - durch den Strukturwandel der türkischen Ökonomie an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Die RP konnte sich durch ihr Programm "Gerechte Ordnung" als eine alternative Partei darstellen. Darüber hinaus übernahm die RP insbesondere auf der kommunalen Ebene sozialpolitische Funktionen wie die materielle Unterstützung der Armen sowie die Bereitstellung diverser Hilfeleistungen für Bedürftige.

Die RP vertrat andererseits auch die Interessen einer neuen städtischen Mittelschicht und einer wertkonservativen Bourgeoisie. Beide Gruppen erlebten im Folge der 80er Jahre einen sozialen Aufstieg. Sie beanspruchen eine muslimische Identität in der Gesellschaft, die nicht dem säkularen Wert der Republik entsprach. Mit der Betonung einer islamischen Lebensweise gewann die RP die Zustimmung dieser Gruppen. Die soziale Basis der RP entstand schließlich aus marginalen Gruppen, die außerhalb der sozialen und kulturellen Mechanismen des herrschenden Systems bestehen: Die Betroffenen der Liberalisierungsmaßnahmen befanden sich außerhalb des Schutzbereichs des Sozialstaates und die aufsteigende Mittelschicht und Bourgeoisie befand sich außerhalb der Anerkennungsmechanismen der staatlichen Elite (Ataç 2001).

Die RP differenzierte sich von anderen etablierten Parteien insbesondere dadurch, dass sie in der Mobilisierung der WählerInnen sowie in der Regierung unkonventionelle Strategien verfolgte. Sie legte großen Wert auf Basisorganisationen und die Mobilisierung auf der lokalen Ebene. Während die Mitgliederzahlen der etablierten Parteien schrumpften, baute die RP, insbesondere in Großstädten wie Istanbul oder Ankara, erfolgreich ihre Organisationsstrukturen auf (Mecham 2004). Die effiziente Form der Organisation, die vor allem die Anwerbung neuer Mitglieder und neue Formen des Wahlkampfmethoden vorsah, führte dazu, dass die RP binnen kurzer Zeit zur mitgliederstärksten Partei wurde.

Das spezifische an der RP in den 90er Jahren war, dass sie in ihrem Diskurs den Islam mit der Demokratiefrage, mit sozialer Gerechtigkeit und der Frage nach kultureller Identität verbinden konnte. Die Partei agierte als eine Protestpartei und die Sprache des Islam diente dem Aufbau von Netzwerken für eine effektiven Ausbau politischer Machtpositionen. Dadurch wurden zum einen die Interessen der sozio-ökonomischen Peripherie und zum anderen jene einer aufsteigenden Mittelschicht vertreten. Die RP sprach neben den von der Sozialdemokratie enttäuschten VerliererInnen des Neoliberalismus (z.B. MigrantInnen in den Vororten der Metropolen) auch die wertkonservative Bourgeoisie und die muslimische Intelligenz an, denen sie den Aufstieg in Elitepositionen versprach.


4. Die AKP

Der Aufstieg der AKP fand im Kontext der Finanzkrise im Jahr 2001 sowie der Reformprozesse statt. Die Finanzkrise vom Februar 2001 löste die schwerste ökonomische Krise in der Geschichte der Türkei aus. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise waren zunehmende Ungleichheit und Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Umverteilung der Einkommen zulasten der arbeitenden und armen Bevölkerung. Wie schon die Finanzkrise 1994 führte auch die Krise von 2001 zu einem deutlichen und nachhaltigen Rückgang der Lohnquote in der Türkei. Diese fiel nach der Finanzkrise im Bereich der verarbeitenden Industrie kontinuierlich bis zum Jahr 2006. Der Rückgang summierte sich in dieser sechsjährigen Periode von einem anfänglichen Einbruch von 13,7 Prozent auf insgesamt 30,2 Prozent. "Mit der Krise von 2001 wurde nicht nur die langsame Erholungsphase der Löhne nach 1994 unterbrochen, sondern die Lohnquote befand sich 2006 unter dem Niveau von 1994 und deutete mit einem Rückgang von 59,4 Prozent, im Vergleich zu 1979, auf ein historisches Tief hin" (Onaran 2008: 152).

Die Krise ebnete den Weg zu einer umfassenden Umstrukturierung der türkischen Ökonomie und Politik. Die Instabilität der türkischen Ökonomie wurde auf zwei Ursachen zurückgeführt: Haushaltsdefizite des öffentlichen Sektors und die instabile Struktur des Finanzsektors. Ausgehend von dieser Prognose standen im Zentrum des Programms drei Elemente: Erstens wurde die Wirtschaftspolitik durch Regelbindungen institutionalisiert. Im Vordergrund standen dabei die Einführung fiskalischer Disziplin sowie die Etablierung einer monetären Politik, die auf Preisstabilität abzielte. Zweitens wurde das Verhältnis von Ökonomie und Politik durch die Umstrukturierung der Staatsapparate rekonfiguriert und drittens wurde der Bankensektor umstrukturiert. Die Reaktion der Regierung auf die Krise bestand in der Veränderung der Regulationsweise, indem einerseits die Interventionsformen verändert wurden und andererseits der institutionelle Aufbau des Staates neu gestaltet wurde. Gleichzeitig wurde der Bankensektor erneut reguliert, um die Internationalisierung voranzutreiben. Das umfassende Programm sollte die Kreditwürdigkeit der türkischen Ökonomie im Kontext der Risikobewertung auf den Finanzmärkten erhöhen.

Sowohl die Finanzkrise als auch die Restrukturierung danach war mit erheblichen sozialen Kosten verbunden. In diesem Kontext wuchs die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Das Scheitern der etablierten Parteien, eine nachhaltige ökonomische Entwicklung voranzutreiben, sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise und die öffentliche Wahrnehmung der Krisenursache als Korruption, die stark mit den etablierten Parteien identifiziert wurde, führten in summe zum Erfolg der AKP. Trotz ihrer islamistischen Wurzeln und der Fusion mit der RP ist es der AKP gelungen, sich als neue politische Kraft (Protestpartei) zu repräsentieren. Die AKP hat in dieser Phase eindeutig vom Fehlen einer starken linken Opposition profitiert.

Obwohl die AKP im Kontext der Krise an die Regierung kam, verstärkte sie nach ihrer Regierungsübernahme die neoliberale Politik. Ab 2002 setzte eine umfassende Privatisierung staatlicher Unternehmen ein, die Wirtschaftspolitik wurde strikt nach IWF-Kriterien ausgerichtet. Um Anreize für ausländische Direktinvestitionen zu schaffen, kam es in dieser Periode zu einer Umstrukturierung des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Politik. Der neoliberale und marktorientierte Ansatz stand unter der Zielsetzung, die Türkei "zu einem internationalen Marke" zu machen (Cosar/Özman: 63). Die Priorität der neoliberalen Reformen zeigt sich ebenso in den Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Der Gesetzentwurf über die Reform der öffentlichen Verwaltung zeigt das Bestreben der AKP-Regierung, über Privatisierungsmaßnahmen bzw. Dezentralisierung auf lokalen Regierungsebenen eine umfassende Veränderung in der öffentlichen Verwaltung zu realisieren.

Die AKP wurde in vielen Diskussionen als eine Partei dargestellt, welche die Demokratisierung vorantreibt. Das türkische Parlament hat unter der AKP-Regierung auch umfassende Gesetzesänderungen in diese Richtung verabschiedet. Dabei spielte die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme der Verhandlungen mit der EU eine wesentliche Rolle. Menschenrechte wurden ausgeweitet, die politische Einflussnahme des Militärs über den Nationalen Sicherheitsrats wurde beschnitten. Darüber hinaus wurden private Kurse für die kurdische Sprache erlaubt sowie die Möglichkeit geschaffen, Fernsehsendungen in kurdischer Sprache in staatlichen und privaten Stationen zu senden. Der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen wurde beendet. Die effektive Umsetzung der veränderten gesetzlichen Lage war hingegen wenig erfolgreich. Die Reformmaßnahmen hinsichtlich der "kurdischen Frage" führten zu Widerstand, sowohl innerparteilich als auch aus dem Militiär. Die Liberalisierungs- und Demokratisierungsmaßnahmen blieben letztlich ohne Erfolg, es kam unter der AKP-Regierung vielmehr zur Blockierung der Öffnung der demokratischen Kanäle in der kurdischen Frage sowie zu weiterer Militarisierung.


5. Ausblick

In den aktuellen Diskussionen wird die AKP als Kraft diskutiert, die eine Demokratisierung voranbringen soll. Die Institutionen des Regimes nach dem Militärputsch führten zu einer Zentralisierung der politischen Macht. Das autoritäre politische System schwächt die parlamentarischen Institutionen und stärkt die staatlichen Institutionen. Jedoch bringt das politische System einer politischen Partei, die über 60 Prozent der Sitze im Parlament hat, eine starke Stellung innerhalb des Staatsapparates. Die AKP genießt insofern die politische Macht und trug in ihrer Regierungszeit wenig dazu bei, eine breite Demokratisierung des politischen Systems voranzubringen. Die aktuellen Kontroversen zwischen der kemalistischen Elite und der AKP ist aus diesem Blickwinkel zu betrachten.

Das Problem aus einer demokratietheoretischen Position liegt nicht darin, ob die AKP eine gefährliche Partei bildet, weil sie eine geheime Agenda für die Islamisierung des Landes hat. Die demokratische Gefahr liegt vielmehr darin, dass die Kontrolle der militärischen und autoritären bürokratischen Apparate unter einer starken Einparteiregierung stattfindet, die ihre Macht nicht teilt (vgl. Insel 2007).

Die AKP vereint Erwartungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten, die eine Transformation des politischen und ökonomischen Systems wünschen. Diese bestehen aus konservativen und ökonomisch liberalen Kräften, die einen sozialen Aufstieg anstreben, ökonomische Stabilität wünschen und daher politische Stabilität dank der AKP-Regierung erhoffen. Dies bildet den Schlüssel für den Erfolg der AKP, die unterschiedliche Segmente unter ihrem Hegemonieprojekt vereinen kann. Auch wenn die AKP ihre demokratische Besonderheit betont, ist sie eine Kraft, die an die Gegebenheiten des autoritären politischen Systems gebunden ist und diese reproduziert. In ihr dominieren kulturell konservative, ökonomisch liberale und politisch autoritäre Kräfte. Insbesondere verknüpft die AKP-Regierung die Neoliberalisierung auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung mit einer Erweiterung und Vertiefung des Konservativismus. Die Vertiefung des Konservatismus zeigt sich insbesondere beim Geschlechterverhältnis, wie am Beispiel der Diskussionen über den Ehebruch gezeigt werden kann.


Dr. Ilker Ataç lebt und arbeitet in Wien. Er arbeitet zu politischer Ökonomie der Türkei und Migration
E-Mail: ilkeratac@gmx.net


Anmerkungen:

[1] Die aufeinander folgenden Krisenjahre bildeten in den 1990er Jahren den Normalfall, so schrumpfte z.B. das Wachstum von 8 Prozent im Jahr 1993 auf minus 5,5 Prozent im Jahr 1994. In den Rezessionsjahren 1994, 1999 und 2001 ging das BIP zwischen -6 und -9,5 Prozent zurück. In der Periode zwischen 1990 und 1993 betrug die Wachstumsrate 6 Prozent, begleitet von ausländischen Kapitalzuflüssen, die insgesamt 3,8 Prozent des BIP ausmachten. In einer zweiten expansiven Wachstumsperiode von 1995 bis 1997 betrug das durchschnittliche Wachstum 7,8 Prozent, wiederum von Kapitalzuflüssen finanziert, die insgesamt 4,8 Prozent des BIP ausmachten. In einer dritten, von internationalen Finanzkrisen bestimmten Periode von 1997 bis 1999 wurden in insgesamt sieben von zwölf Quartalen negative Wachstumsraten beobachtet.

[2] In Argentinien und Uruguay gab es ähnliche Aufschwung- und Krisen-Perioden.

[3] Während 1991 noch, von den unabhängig Gewählten abgesehen, von sechs Parteien fünf im Parlament vertreten waren, betrug dieses Verhältnis nach den Wahlen von 1995 zwölf zu fünf, nach den Wahlen von 1999 zwanzig zu fünf, nach den Wahlen von 2002 achtzehn zu zwei und schließlich bei den letzten Wahlen im Jahr 2007 vierzehn zu drei (Bedirhanoglu 2008: 115).


Literatur:

Ataç, Ilker(2007) "Kampf um Hegemonie: Zur Entstehung des politischen Islam in der Türkei in den 1970er Jahren" in: Gerald Faschingeder / Clemens Six (Hg.), Religion und Entwicklung, Mandelbaum Verlag, Wien.

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Keyder, Çaglar (2004) "The Turkish Bell Jar" in: New Left Review, (28).

Kramer, Heinz (2004) "Demokratieverständnis und Demokratisierungsprozesse in der Türkei." Südosteuropa Mitteilungen 1(44): 30-43.

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Raute

Özlem Onaran

Die Türkei in den Krisen 1994 und 2001

Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse[1]

Übersetzt von Käthe Knittler[2]

Der vorliegende Text diskutiert das Wachstumsschema in der Türkei in der Post-1980er Periode mit besonderem Augenmerk auf Arbeitsverhältnisse und die Lohnentwicklung. Die Einkommens- und Lohnpolitik spielte eine entscheidende Rolle dabei, den Druck auf die Profitrate auszugleichen, der sich durch den Integrationsprozess der Türkei in die globale Ökonomie erhöht hatte. Das Wachstum der Türkei wurde zunehmend abhängig von Kapitalflüssen, die zugleich Aufschwung und Krisen - so genannte "boom-and-bust" Zyklen - generierten, die insbesondere durch die Krisen von 1994 und 2001 in Umverteilungsschocks auf Kosten von Lohn- und Arbeitseinkommen mündeten.

Der vorliegende Text diskutiert den Trend in der Lohn- und Beschäftigungsentwicklung, um Dynamik und Nachwirkung dieser Umverteilungsschocks aufzudecken. Die Hauptthese dieses Artikels ist, dass die Verteilungspolitik in der Periode zwischen den 1980er und 2000er Jahren über wechselnde Regierungskonstellationen hinweg eine auffällige Kontinuität aufweist. Die politischen und institutionellen Veränderungen nach der Krise von 2001 haben zu keinerlei Bruch mit der neoliberalen Einkommenspolitik zulasten der Arbeitenden geführt.

Die Türkei befindet sich in einer neuerlichen Phase ökonomischer Turbulenzen, hervorgerufen durch die internationale und nationale finanzielle Instabilität seit 2006. Für eine adäquate politische Maßnahmensetzung ist es umso wichtiger, die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Verteilung und den Arbeitsmarkt zu kennen und zu verstehen.

Der Rest des Artikels ist wie folgt aufgebaut: Abschnitt zwei diskutiert das Wachstumsregime und die "boom-and-bust"-Zyklen in der Türkei. Abschnitt drei erläutert die Dynamiken funktionaler Einkommensverteilung mit Schwerpunkt auf die Lohnquote. Abschnitt vier präsentiert die Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit und Abschnitt fünf diskutiert die institutionellen Aspekte des Arbeitsmarktes und Perspektiven zur Veränderung.


Das Wachstumsregime und die "boom-and-bust" Zyklen in der Türkei

In den 1980er Jahren erlebte die Türkei maßgebliche strukturelle Veränderungen; die Verschiebung von einer import-substituierenden Industrialisierungsstrategie hin zu einem exportorientierten Wachstumsmodell. Eingeleitet und begleitet wurde dieser Prozess durch ein orthodoxes Strukturanpassungsprogramm, wie es üblicherweise von IWF und Weltbank verordnet wird. Seitdem ist die wirtschaftspolitische Entwicklungsstrategie durch einen Abbau von staatlichen Regulierungen im Finanz-, Waren- und Arbeitsmarkt sowie eine internationale Öffnung gegenüber Handel, ausländischen Direktinvestitionen und Kapitalflüssen geprägt. Die Umverteilung zu Gunsten von Kapitalinteressen wurde durch den Militärputsch von 1980 und eine radikale Änderung des Arbeitsrechts eingeleitet und führte zu einer anfänglich drastisch sinkenden Lohnquote. Diese Vorgehensweise bildete ein wichtiges Instrument der exportorientierten Strategie, um den Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck auf die Kapitalfraktionen zu abzumildern. Diese Politik der liberalisierten Märkte und die Spezialisierung auf Wettbewerbsvorteile des Landes versprach zum einen, Effizienz, Export, Wachstum und Zufluss ausländischen Kapitals zu erhöhen, und zum anderen, alle Produktionsfaktoren nach ihren jeweiligen Grenzproduktivitäten zu entlohnen. In Folge sollten dadurch eine gerechte Einkommensverteilung und schließlich auch steigende Arbeitseinkommen gewährleistet werden.

1989 liberalisierte die Türkei als zweite Stufe der Integration in die Weltwirtschaft ihre Kapitalmärkte. Die Kapitalflüsse setzten sich hauptsächlich aus volatilen Portfolioinvestitionen und kurzfristigen Krediten zusammen und der Anteil ausländischer Direktinvestitionen (ADI) an den gesamten Finanzflüssen war - mit Ausnahme der Jahre 1989, 2002 und letztlich 2006/2007 - auf 10 bis 20 Prozent limitiert. Kurzfristige und spekulative Kapitalflüsse führten zu einem fragilen Wachstum und auf Aufschwungsphasen folgten typischerweise Wirtschaftskrisen[3]. Die angehäuften Risiken einer überbewerteten Währung und eines hohen Leistungsbilanzdefizits kombiniert mit Missmanagement der Schuldenpolitik durch die Regierung - die sich kurz vor den Parlamentswahlen das unerreichbare Ziel gesetzt hatte, die Zinsraten zu senken -, löste 1994 eine massive Kapitalflucht aus. Diese erste Währungskrise nach der Liberalisierung des Kapitalmarktes führte zu einer Abwertung der Währung um 23,9 Prozent und zu einer schweren Rezession; das Bruttosozialprodukt sank um 6,1 Prozent.

Nicht lange danach begannen internationale InvestorInnen, von den gesunkenen Vermögenspreisen an der Börse und im Anleihemarkt zu profitieren, sowie von der kürzlich abgewerteten Währung. Die Kapitalflüsse blieben in der Periode von 1995 bis 2000 auf hohem Niveau. Ende 1999 wiederholte die Türkei einen Fehler, den vorher bereits mehrere Entwicklungsländer begangen hatten, und implementierte einen Währungsanker (currency peg) als Teil des Anti-Inflationsprogramms. Wie bereits in vielen anderen Ländern, zeigte sich auch in der Türkei, dass ein lediglich auf Währungsparität basierender nominaler Anker nur teilweise erfolgreich ist, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Der Inflationsrückgang genügte nicht für eine signifikante reale Währungsaufwertung (bis zu 15,9 Prozent). Gleichzeitig stieg das Leistungsbilanzdefizit auf 4,9 Prozent des BSP und damit über den Wert vor der Krise 1994. Unsicherheiten bezüglich des defizitären Leistungsbilanzdefizits und der finanziellen Risiken im Privatbankensektor führten zu einer Serie von pessimistisch-spekulativen Erwartungen. Im Jahr 2001 erlebte die Türkei eine noch schärfere Krise:[4] Die Kapitalflucht summierte sich bis Ende des Jahres auf 11,3 Prozent des BSP und das BSP selbst verzeichnete einen historischen Absturz von 9,5 Prozent.

Zieht man aus den Wachstumszahlen Bilanz, so wird deutlich, dass die durch hohe Volatilität und Krisen gekennzeichnete erste Dekade der internationalen Finanzmarktliberalisierung (1990-2001) mit 3 Prozent BSP-Wachstum im Jahresdurchschnitt unter den durchschnittlich 4 Prozent Wachstumsraten der 1980er Jahre lag. Dem muss hinzugefügt werden, dass auch die Wachstumsraten der 1980er nach der Implementierung des exportorientierten Strukturanpassungsprogramms generell unter den Werten der vorhergehenden Dekade der import-substituierenden Industrialisierung lagen (4,8 Prozent Jahresdurchschnitt zwischen 1970 und 1979). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Integration in die Weltwirtschaft, die hauptsächlich durch eine Verschiebung der industriellen Kapazitäten in Richtung internationaler Märkte und durch Lohnsenkungen mit einer signifikanten Kontraktion der Binnennachfrage charakterisiert ist, nicht in der Lage war, ein höheres Wirtschaftswachstum zu stimulieren.

Die verheerende Finanzkrise von 2001 und ihre dramatischen Auswirkungen auf Löhne und Beschäftigung schafften die Voraussetzungen für eine Verschiebung der politischen Kräfte, aus der heraus die pro-islamische "Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) im Jahr 2002 an die Macht kam. Alle drei etablierten Parteien, die zur Zeit der Finanzkrise die Regierungskoalition gebildet hatten, schafften den neuerlichen Einzug ins Parlament nicht. Keine von ihnen erreichte die notwendige 10-Prozent-Marke. Nichtsdestotrotz setzte die neue AKP-Regierung die vom IWF und der EU unterstützte neoliberale Wirtschaftspolitik fort, die sowohl den Interessen großer inländischer Kapitalfraktionen als auch den Interessen internationaler InvestorInnen diente. Trotz politischer Konflikte zwischen der Regierung, Geschäftskreisen und der Militärkaste verlief die Wirtschaftspolitik in dieser Periode generell konfliktfrei. Das Ziel der AKP, eine pro-islamische kapitalistische Klasse[5] und bürokratische Kader zu etablieren und zu stärken, provozierte Ängste und Widerstand aus dem herrschenden Establishment, das sich aus großen Unternehmen, dem Militär und ehemaligen Bürokraten zusammensetzt. Diese versuchen ihre politische Macht und ihren Anteil am wirtschaftlichen Reichtum des Landes zu verteidigen. Zwischenzeitlich ausgetragene Konflikte mögen auf den ersten Blick als Konflikte über die wirtschaftspolitische Richtung und dessen Inhalt erscheinen,[6] Tatsache aber ist, dass die Ursachen des Konflikts in den Macht- und Verteilungskämpfen zwischen alten und neuen Eliten zu finden sind.

Der grundlegende Nachweis, den dieser Artikel erbringen möchtet, folgt der These, dass die Lohnquote auch in den Jahren nach dem Wahlsieg der AKP auf niedrigem Niveau verblieb und sich nicht erholte. Önis / Senses (2007) verfolgen eine vorsichtigere Interpretation, indem sie sowohl mögliche Vor- als auch Nachteile der AKP-Regierungsarbeit aufzeigen: Als positiv zu verbuchen sind ihrer Meinung nach das anhaltend hohe Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig niedriger Inflation, die ausländischen Direktinvestitionen in noch nie da gewesener Höhe sowie die Einführung des EU-Ankers als langfristigen externen Währungsanker. Auf der negativen Bilanzseite verbuchen Önis / Senses die wirtschaftliche Instabilität der Türkei (als ein Resultat des hohen Zahlungsbilanzdefizits), die hohe Verschuldung im In- und Ausland, das Unvermögen der Wirtschaft, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen sowie die anhaltende soziale Ungleichheit und Armut.

Ich stimme mit den vorgebrachten negativen Auswirkungen überein, weitaus skeptischer bin ich allerdings gegenüber den so genannten Erfolgen, vor allem in Bezug auf den Punkt "Wirtschaftswachstum bei niedriger Inflation". Erstens kann eine niedrige Inflationsrate nicht als Erfolg verbucht werden, wenn zugleich in Rechnung gestellt wird, dass die Inflationsbekämpfungspolitik zu einer Zeit erfolgte, als die Nachfrage aufgrund kontinuierlich sinkender Reallöhne stagnierte und sich die Löhne seit der Krise 2001 nicht mehr erholt hatten. Die niedrigen Reallöhne haben zusammen mit der abgewerteten heimischen Währung (und den sich daraus ergebenden niedrigen Preisen für Importgüter) verhindert, dass der Kostendruck auf die Preise übergewälzt wurde. Festzuhalten bleibt weiters, dass eine niedrige Inflation für Beschäftigte von geringem Nutzen ist, wenn die Löhne ebenfalls so niedrig sind, dass sie nicht zum Bezahlen der Preise ausreichen. Zweitens ist ein makroökonomisches Maßnahmenpaket, das sich allein der Inflationsbekämpfung verschreibt und die Beschäftigungspolitik vollständig ignoriert, ebenfalls als Teil einer bewussten Anti-ArbeiterInnen-Politik zu betrachten. Drittens verstecken sich hinter dem hohen - durch Schulden finanzierten - Wirtschaftswachstum tiefe strukturelle Probleme, sodass es mit oder ohne der globalen Krise zu einem Wachstumseinbruch gekommen wäre. Viertens versäumte es die Türkei, ihre Politik der Direktinvestitionen mit einer Industriepolitik zu verbinden - das gilt sowohl für die 2000er Jahre und auch für die Zeit davor. Der geringe Anteil der Direktinvestitionen im produzierenden Sektor lässt optimistische Erwartungen hinsichtlich positiver Übertragungseffekte (Spillover-Effekte) auf Produktivität, Technologie und Löhne unwahrscheinlich werden. Weiters stellte sich die Hoffnung, mittels der Direktinvestitionen einen sicheren Weg zur Abfederung des Leistungsbilanzdefizits gefunden zu haben, angesichts der globalen Kreditkrise und dem Investitionseinbruch als unrealistisch heraus.

All diese Punkte sind charakteristisch für die von den 1980er bis in die 2000er Jahre anhaltende neoliberale Wirtschaftspolitik. Nach und nach unterstützten die großen türkischen Unternehmensverbände, trotz anfänglichen Zögerns aufgrund des politischen Drucks aus dem Militärestablishment, die Wirtschaftspolitik der AKP. Nichtsdestotrotz hat der Konsens in der Wirtschaftspolitik nicht verhindert, dass zu Beginn 2008 ein juristisches Parteischließungsverfahren gegen die AKP eingeleitet wurde[7]. Der Chefökonom einer großen türkischen Privatbank kommentierte die Situation wie folgt: Es sei alarmierend, dass "die Opposition in der Türkei offensichtlich außerstande ist, eine entschiedene und überzeugende Alternative zur AKP anzubieten, die einen überzeugenden Pro-EU Kurs sowie eine Pro-globales-Kapital-, Pro-Privatisierungs- und Pro-Liberalisierungsagenda verfolgt, um politisches Kapital aus diesem Prozess zu schlagen" (Akçay 2008). Die Mehrheit der Stimmen für die AKP stammt von den arbeitenden Massen, Armen und Unterprivilegierten, die eindeutig die negativen ökonomischen Konsequenzen der Wirtschaftspolitik der AKP - stagnierende Löhne auf dem Nachkrisenniveau von 2001 sowie eine hohe und anhaltende Arbeitslosigkeit - zu spüren bekommen. Zum einen war die Regierung in der Lage, die religiöse Karte auszuspielen und insbesondere durch den "Kopftuchstreit" - u.a. durch den Versuch, das Kopftuchverbot für Studentinnen an den Universitäten aufzuheben - die Aufmerksamkeit vom Lebensstandard auf Identitätsfragen zu lenken, und zum anderen schaffte sie es, die Hoffnung unter der breiten Mehrheit der Arbeitenden zu wecken, dass die Vorteile einer aufrechterhaltenen wirtschaftlichen Stabilität nach und nach auch dem Großteil der Bevölkerung zugute kommen würden.

Nach der Krise von 2001 erfreute sich die Türkei in den Jahren zwischen 2002 und 2006 an einem kontinuierlichen und hohen Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 7,5 Prozent des BIP pro Jahr. Hohe Kapitalflüsse, angezogen auch durch die hohen Realzinsen, bildeten die entscheidende Finanzierungsquelle für dieses starke Wachstum. Die gesunkenen Preise auf den Anlagemärkten und die abrupte Abwertung der Währung nach der Krise 2001, die erneut zu einem Rückgang der bereits niedrigen Preise für Vermögen in ausländischer Währung führten und die Wahrscheinlichkeit für eine weitere Abwertung verringerte, ja sogar die Erwartung einer Aufwertung nach dem Überschießen der Wechselkursrate im Sommer 2001, bot ein ideales Umfeld für Portfolio-InvestorInnen. Der EU-Anker war ein wichtiger Faktor, um die Kapitalflüsse in der Periode nach 2001 zu sichern[8]. Zusätzlich wurden bedeutende Zuflüsse von Direktinvestitionen durch die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik und die Abwertung der Währung angeregt. Das Resultat war eine kontinuierliche Aufwertung der Währung und das Leistungsbilanzdefizit erreichte einen historischen Höhepunkt von etwas über 6 Prozent des BIP.

Zu dieser Zeit erschien auch nur der Hinweis auf die mit derartig hohen Leistungsbilanzdefiziten verbundenen Risiken als pessimistische Panikmache. Die Märkte feierten diese Entwicklung als eine grundlegend neue Ära, in der dem EU-Anker eine wichtige Rolle zukam, die politischen Risiken zu senken und zusätzliches Potential für höhere Direktinvestitionen zu schaffen. Weiters wurde von den OptimistInnen betont, dass das Leistungsbilanzdefizit neue Privatinvestitionen finanziere, die wiederum die Konkurrenzfähigkeit und die Exporte stärken würden. Die Regierung verwies auf den gestiegenen Ölpreis als Erklärung für den Anstieg der Leistungsbilanz und schien auf korrigierende Mechanismen eines freien Wechselkurssystems - das nach der Krise parallel mit einer Zielinflationspolitik implementiert wurde, um spekulative Erwartungen zu vereiteln - zu vertrauen. Gleichzeitig wurde der steigenden Auslandsverschuldung des privaten Sektors und den Währungsrisiken, denen diese ausgesetzt sind, wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Der Optimismus, die türkische Wirtschaft befände sich am Beginn eines neuen Zeitalters, wurde jedoch durch die globalen Turbulenzen in der Weltwirtschaft im Mai und Juni 2006 jäh getrübt (Onaran 2006 und 2007a). Die hohe Wachstumsleistung nach 2002 wurde zum Erfolgszeugnis der regierenden AKP, nichtsdestotrotz tritt die strukturelle Fragilität dieser Periode, aufgrund neuerlicher Turbulenzen in den globalen Finanzmärkten, immer mehr hervor und das Leistungsbilanzdefizit von 6,5 Prozent (2008) wird in Zeiten globaler Kreditknappheit zu einem immer schwerwiegenderen Problem.


Funktionelle Einkommensverteilung und Löhne

In diesem Abschnitt geht es um die Veränderung der funktionellen Einkommensverteilung bzw. um die Verteilung zwischen Löhnen und Gewinnen während der Aufschwung- und Krisenzyklen. Inländische wie ausländische InvestorInnen profitierten durch An- und Verkaufsgeschäfte von in türkischer Währung nominierten Vermögenswerten von den boom-bust Zyklen. In Krisenzeiten gibt es sowohl GewinnerInnen als auch VerliererInnen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es notwendigerweise zu Konflikten um die Profitraten aus dem Finanz- und dem Nicht-Finanzsektor kommen muss. Die Lohnquote hingegen ist in allen Ländern, die eine Währungskrise erlebt haben, gesunken (Onaran 2007b und 2009). Dadurch werden auch die steigenden Finanzierungskosten der Unternehmen kompensiert. Zunehmend mehr Industriebetriebe erzielen ihre Gewinne durch Finanzaktivitäten (Industriehandelskammer 2003), finanzielle Gewinne von Nicht-Finanzunternehmen spielen nicht nur in Zusammenhang mit Perioden von Währungskrisen eine Rolle.

Die unternehmensfreundliche Steuerpolitik sowie die durch Schuldenaufnahme finanzierte Infrastrukturpolitik der Regierung haben ebenfalls wesentlichen Einfluss auf die Verteilungsfrage. Sinkende Lohnanteile an den Staatsausgaben gehen oft mit anteilsmäßig steigenden Zinszahlungen einher - eine Entwicklung, die in der Türkei wie auch in anderen Entwicklungsländern zu beobachten ist. (Onaran 2007b). Während die Interessen internationaler und inländischer GläubigerInnen gewahrt werden, wird bei Löhnen, Sozialausgaben und Investitionen gespart.

Die gesamte Ära der Liberalisierung und Außenhandelsöffnung seit 1980 ist durch einen Rückgang der Lohnquote gekennzeichnet.[9] Abbildung 1 zeigt die Lohnquote in der verarbeitenden Industrie und jene der Gesamtwirtschaft (für die Zeit nach 1987 soweit Daten vorhanden sind).

Der massive Einbruch der Lohnquote erfolgte zu Beginn der neoliberalen Strukturanpassung. Die Erholungsperioden in der Folgezeit waren vergleichsweise gering und nur von kurzer Dauer. Die Finanzkrisen von 1994 und 2001 führten zu neuerlichen Einbrüchen der Lohnquote. Da die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Türkei während der neoliberalen Ära im Wesentlichen auf geringen Löhnen beruhte, erlebte die Lohnquote in der Produktion einen signifikanten Rückgang.

Der kurze Anstieg der Lohnquote in den Jahren von 1989 bis 1991 wurde durch die Krise 1994 abgebrochen. Sowohl die Krise von 1994 als auch jene von 2001 haben zu einem deutlichen und lang andauernden Rückgang der Lohnquote geführt. Ein Jahr nach der Krise von 1994 lag die Lohnquote um 24,8 Prozent unter dem Wert von 1993. Das Ausmaß der Krise von 2001 fiel noch weitaus dramatischer aus: die Lohnquote fiel kontinuierlich bis 2006. Dieser Rückgang summierte sich von einem anfänglichen Einbruch von 13,7 Prozent auf insgesamt 30,2 Prozent zwischen 2000 und 2006. Im Jahr 2004 endete zwar der Niedergang der Lohnquote in der Gesamtwirtschaft, allerdings kam es in den folgenden Jahren auch zu keiner Erholung. Wirtschaftskrisen werden zwar immer mit sinkender Lohnquote in Verbindung gebracht, jedoch war das Ausmaß des Lohnquotenrückgangs deutlich höher als der Produktionsrückgang. Insbesondere im privaten Sektor folgten massive Lohnsenkungen, auch weil die Angst den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren unter den ArbeiterInnen anstieg. Mit Entlassungsdrohungen setzten die Unternehmensorganisationen die Gewerkschaften unter Druck, dramatische Lohnsenkungen und Entlassungen ohne Abfindungen hinzunehmen.

Als die Krise schließlich überwunden wurde und sich die Profitaussichten wieder gebessert hatten, waren es weiterhin die ArbeiterInnen, die die Last der Anpassung zu tragen hatten. Die Krise erzeugte einen "Hysteresis-Effekt[10]", der die Verhandlungsposition der Gewerkschaften für eine lange Zeit schwächte. Der Schock der Krise und die für ultimativ erklärte Notwendigkeit, den Exportsektor wettbewerbsfähig zu halten, wurden zum dominanten Tenor des UnternehmerInnendiskurses. Die Gewerkschaften erholten sich kaum nach dem Einbruch in der Beschäftigung. Viele der verbliebenen Gewerkschaftsmitglieder und ArbeitnehmerInnen sahen sich mit einem Verlust ihrer materiellen Lebensbasis und hohen Schulden konfrontiert, was militante Verhandlungen nicht gerade erleichterte. Dies ist ein Schicksal, das die ArbeiterInnen in vielen Ländern in Krisensituationen teilen. Diwan (2001) definiert Krisen als Episoden von Verteilungskämpfen, die Verteilungsängste hervorrufen. Crotty und Lee (2004) heben die Rolle von Krisen hervor, um radikale neoliberale Restrukturierung durchzusetzen, die unter demokratischen Bedingungen und in normalen ökonomischen Zeiten nicht möglich wären.

Unmittelbar nach einer Krise werden Auflagen und Konditionen des IWF viel eher akzeptiert, um bailing-out Kredite zu erlangen und die internationalen GläubigerInnen zu schützen. Meist steigt zugleich die Staatsverschuldung, da Bürgschaften an das Finanzsystem und an verschuldete Unternehmen übernommen werden. Um die steigenden Staatsschulden bedienen zu können, wird das Erzielen von Primärbudget-Überschüssen zur vordringlichen Aufgabe des Nationalstaates erklärt. Durch die Privatisierungen von meist profitablen Unternehmen zu niedrigen Preisen und exklusive Lizenzvergabe an ausländische KapitalgeberInnen sollen zusätzliche Mittel zur Schuldentilgung aufgebracht werden. Wenn Regierungen sich dazu entscheiden, auf Steuererhöhungen zu verzichten, bzw. sie dazu verpflichtet werden, verbleibt die Last der Schuldenrückzahlung auf Seiten der ArbeiterInnenschaft. Eine Sanierungsmaßnahme auf die häufig zurückgegriffen wird, sind Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst.

Die Wirtschaft erholte sich schnell unmittelbar nach der Krise und die Produktion erreichte das Vor-Krisenniveau. Der Fall der Lohnquote dauerte allerdings wesentlich länger an. Die langsame Erholung der Lohnquote nach der Krise von 1994 wurde 2001 wieder rückgängig gemacht. Die Lohnquote (in der Manufaktur) ist sogar niedriger als 1994 und sogar um 59,4 Prozent niedriger als 1979.

Die Hauptursache für das Schrumpfen der Lohnquote während der Krise ist der Wertverlust der Reallöhne, der teilweise auf den Inflationsschub durch die Abwertung zurückzuführen ist, teilweise auf das Schwinden der Verhandlungsmacht durch sinkende Beschäftigung. Abbildung 2 zeigt die jährliche Veränderung der mit dem Konsumentenpreisindex bereinigten Reallöhne in der verarbeitenden Industrie. Die Reallöhne sanken in den Jahren nach den Krisen von 1994 um 30 Prozent und 2001 um 24,5 Prozent. Der leichte Anstieg im Jahr 2004 ist vernachlässigbar und auch im Jahr 2007 befinden sich die Reallöhne immer noch um 21,5 Prozent unter dem Niveau von 1979 - obwohl in diesen drei Jahrzehnten beachtliche Produktivitätssteigerungen erfolgten.

Der Inflationsschub durch die Währungskrise verschärfte die Lohnverluste und reduzierte den Anteil der LohnbezieherInnen am Volkseinkommen. Aufgrund der Importabhängigkeit der Türkei führte die Währungsabwertung zu einem Preisanstieg von importierten Waren und allgemeinen Inputkosten für die Ökonomie. Der pass-through-Effekt der Abwertung auf inländische Preise generierte einen dramatischen Anstieg der Inflation, wenngleich auch die nominale Abwertung der Währung höher ausfiel. Das Ausmaß des Schocks hängt zum einen mit der Importabhängigkeit der Ökonomie zusammen und zum anderen mit der oligopolistischen Unternehmensstruktur, die eine Veränderung der Importpreise umgehend an die KonsumentInnen weiterleitet. Diese Preisschocks kommen nicht nur unerwartet, sondern treffen die Löhne der ArbeiterInnen besonders hart. Die mit Arbeitslosigkeit konfrontierten ArbeiterInnen sind überwiegend nicht in der Lage, ihre Nominallöhne an die Preissteigerungen anzupassen. In dieser Zeit nutzen die Unternehmen die ungleichen Machtstrukturen, um die angestiegenen Inputkosten durch Lohnsenkungen auszugleichen. Die Abwertungsrate der türkischen Lira betrug 1994 169,5 Prozent und 2001 96 Prozent. Das Resultat war ein drastischer Verfall der Reallöhne und der Lohnquote während der Währungskrisen.

Selbst wenn nicht nur die Krisenperioden betrachtet werden, ist lediglich eine schwache Erholung der Lohnquote festzustellen. Dies widerspricht den Erwartungen orthodoxer Wirtschaftstheorien, denen zufolge eine wirtschaftliche Öffnung und Handelsliberalisierung - in Ländern mit relativ günstigen Arbeitskosten - zu mehr Beschäftigung und höheren Löhnen führe. Die Türkei hat mit der weitreichenden Öffnung und Handelsliberalisierung in den 1980er Jahren im buchstäblichen Sinne einen Exportboom vor allem in der verarbeitenden Industrie erlebt, der sich in den 1990er Jahren nach dem Abschluss der Zollunion mit der EU fortsetzte (Onaran 2009). Dieser Exportanstieg wurde von einem signifikanten Anstieg der Importe begleitet, die durch die Zollsenkungen beflügelt wurden. Das Handelsdefizit im Produktionsbereich, das bereits in der Importsubstitutionsära hoch war, vergrößerte sich aufgrund des aufgewerteten Wechselkurses und der 1995 beschlossenen Zollunion in den 1990er Jahren deutlich.


Beschäftigung und Arbeitslosigkeit

Nach annähernd drei Dekaden extensiver Liberalisierung in der Türkei gingen das Andauern hoher Arbeitslosigkeit und der Rückgang beschäftigungswirksamer Kapazitäten Hand in Hand mit geringeren Lohnkosten. Dieses Phänomen ist jedoch nicht spezifisch für die Türkei. Die Stagnation oder die Abnahme der Beschäftigung im industriellen Bereich kann auch in den osteuropäischen und lateinamerikanischen Ländern beobachtet werden (Onaran, 2008; Pollin et al, 2005). Dies zeigt, dass die Zunahme von globalem Wettbewerb zu einem Rückgang beschäftigungswirksamer Kapazität trotz ökonomischen Wachstums, insbesondere im Produktionsbereich, geführt hat.

Für die Türkei kann gesagt werden, dass die Periode nach 2001 durch ein beschäftigungsloses Wachstum, ein so genanntes jobless-growth, geprägt war, das vor allem für die ArbeiterInnen schmerzhaft war. Unmittelbar nach der Krise 2001 stieg die landesweite Arbeitslosigkeit auf 8,5 Prozent an, besonders in den urbanen Räumen (siehe Abbildung 3)[11]. Die Arbeitslosigkeit in den Städten stieg 2001 von 11,9 Prozent auf 14,6 Prozent 2002. Eine Erholung der Beschäftigungszahlen begann erst fünf Jahre später, die Arbeitslosenrate lag allerdings im Juni 2008 weiterhin höher als im Jahr 2001 (12,2 Prozent in den Städten und 10,2 Prozent insgesamt). Darüber hinaus haben die Turbulenzen auf den Finanzmärkten und die folgende Schwächung des Wirtschaftswachstums die erfolgte Erholung am Arbeitsmarkt wieder revidiert - die vollen Auswirkungen müssen noch abgewartet werden.

Frauen und Jugendliche sind von Ausmaß und Auswirkungen der Arbeitslosigkeit noch stärker betroffen. Die Frauenarbeitslosigkeit in den Städten liegt bei 15,6 Prozent, und das bei einer ohnehin geringen Erwerbsquote in den Städten von 20,6 Prozent (Jänner-Juli 2008). Aufgrund der niedrigen Frauenerwerbsquote liegt auch die generelle Erwerbsquote der urbanen Bevölkerung bei lediglich 39,7 Prozent. Die Krise von 2001 führte zu einem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit - im Jahr 2000 lag die Frauenerwerbsquote noch bei 17,2 Prozent. Beschäftigungsmöglichkeiten zu ergreifen, wenn auch oft prekäre, war für Frauen eine Überlebensstrategie - vor allem in jenen Haushalten, in denen der männliche "Ernährer" seinen Job verloren hatte. Parallel zur steigenden Frauenerwerbstätigkeit ist jedoch auch die Arbeitslosigkeit unter Frauen gestiegen, ihre Arbeitslosenrate stieg von 13 Prozent im Jahr 2000 über 16,6 Prozent (2001) auf 18,7 Prozent im Jahr 2002.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, der Mangel an erschwinglichen Kindertagesstätten und die niedrigen Löhne auf dem Arbeitsmarkt, führen zu einem (systematischen) Ausschluss von vielen Frauen aus Erwerbsverhältnissen. Die Türkei nutzt somit nicht die vollen produktiven Kapazitäten und Leistungen ihrer weiblichen Bevölkerung. Auch wenn Frauen, die nicht einer Lohnarbeit nachgehen, durch die unsichtbare Hausarbeit produktiv sind, reflektiert dies nicht nur einen Bruchteil ihrer produktiven Leistungen, sondern verstärkt die Ungleichheit durch zunehmende Exklusion aus dem ökonomischen und sozialen Leben sowie aus politischen Entscheidungsprozessen. Dadurch wird die Verhandlungsmacht von Frauen sowohl gegenüber ihren Männern zu Hause als auch im sozialen Leben geschwächt. Nichtsdestotrotz reicht es nicht aus, Frauen zur Partizipation am Arbeitsmarkt zu ermutigen, die Türkei muss eine gezielte makroökonomische Beschäftigungspolitik umsetzen, die mit einem höheren Beschäftigungsziel für Frauen kombiniert ist. Um die Interessen der Frauen und auch der ArbeiterInnen im Allgemeinen zu stärken, reicht es nicht aus, zusätzliche und gute Jobs zu schaffen, sondern es bedarf auch einer generellen Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust. Die Arbeitszeitverkürzung ist speziell auch notwendig, um eine gerechtere Verteilung der bezahlten und der unbezahlten Arbeit zu erreichen. Zusätzlich bedarf es einer Sozialisierung der care-Arbeit, indem öffentliche Arbeitsplätze im Bereich der Kindererziehung, Pflege, Gesundheit und Bildung geschaffen werden.

Oft wird der geringe Beschäftigungsanstieg in der Türkei und in anderen Entwicklungsländern, aber auch in entwickelten Industrieländern, auf Arbeitsmarktrigiditäten zurückgeführt. Die Analyse der Arbeitsmarktentwicklung nach dem Strukturanpassungsprogramm zeigt jedoch, dass die ArbeiterInnen die gesamte Last der ökonomischen Umorientierung hin zu einem neoliberalen, international ausgerichteten Wachstumsmodell getragen haben. Der türkische Arbeitsmarkt war kein Hindernis für die Strukturanpassung, im Gegenteil, die drastische Flexibilisierung der Reallöhne war ein essentieller Bestandteil, einen rigide nach oben gerichteten Trend der Profitraten zu ermöglichen und nachhaltig fortzusetzen (Onaran / Yentürk, 2002). Die institutionelle Struktur des Arbeitsmarktes, die durch ungenügende Regulierungen zum Schutz von ArbeiterInnenrechten und einen geringen Grad an Verbindlichkeit dieser Regulierungen charakterisiert ist, die markante Erosion der Stärke der Gewerkschaften in den vergangenen drei Dekaden[12], die Abwesenheit eines Arbeitslosenversicherungssystems bis 2002, das niedrige Niveau des gesetzlichen Mindestlohns,[13] der weit verbreitete informelle Sektor[14] (der mittlerweile so groß ist wie der formelle nicht-agrarische Privatsektor), in dem noch geringere Löhne als der Mindestlohn üblich sind, und eine sogar im formellen Sektor fehlende adäquate Indexierung der Löhne an die Inflation, erzeugen ein ernstes Glaubwürdigkeitsdefizit von Argumentationen, die Arbeitslosigkeit auf Arbeitsmarktregulierungen und -verzerrungen zurückführen (Onaran 2002).

Die Geschichte der Strukturanpassung in der Türkei zeigt, dass Veränderungen im Arbeitsrecht einen entscheidenden Beitrag zum Rückgang der Lohnquote geleistet haben. Die Militärgesetze, die zwischen 1980 und 1983 in Kraft waren, verboten gewerkschaftliche Aktivitäten und setzten Streiks und Arbeitskämpfen administrativ ein Ende. Das Grundgesetz von 1982 und die entsprechende Arbeitsgesetzgebung schränkten ArbeiterInnenorganisationen, kollektive Tarifverhandlungen, Streiks und Arbeitsniederlegungen und somit den gesamten gesellschaftlichen Rahmen für gewerkschaftliche Aktivitäten entscheidend ein. Das Streikrecht wurde auf Unstimmigkeiten in kollektiven Tarifverhandlungen limitiert, Gewerkschaften wurden jegliche politische Aktivitäten sowie formelle und informelle Verbindungen zu politischen Parteien verboten. Diese restriktiven Regulierungen wurden auch in der Folgeperiode, nach der Rückkehr zum parlamentarischen Regime, beibehalten. Das Ausmaß der gewaltsamen Zerschlagung linker Organisationen erzeugte auch nach dem Ende der Militärdiktatur einen zusätzlichen Zerfall der Organisationsmacht und des politischen Engagements der ArbeiterInnenklasse.

Die Türkei hat zuletzt ihr Arbeitsrecht 2002 verändert und einen weiteren Schritt Richtung Arbeitsmarktflexibilisierung gemacht (Taymaz/Özler 2003). Erstens wurde eine gesetzliche Basis für Teilzeitbeschäftigung und befristete Beschäftigung geschaffen. Es wurde erwartet, dass die UnternehmerInnen die Lohnkosten durch befristete Anstellung und Auslagerung reduzierten. Zweitens ermöglicht das neue Gesetz, die Kosten für Entlassungen von MitarbeiterInnen niedrig zu halten. Drittens wurde die MitarbeiterInnenuntergrenze für Unternehmen, ab der der Beschäftigungsschutz zur Anwendung kommt, auf 30 erhöht.


Schlussfolgerung

Der massive Einbruch der Lohnquote und der Reallöhne sind die aufschlussreichsten Indikatoren, um die politische Ökonomie und den Klassencharakter hinter dem militärischen Eingriff von 1980 und den folgenden drei Dekaden des Neoliberalismus zu verdeutlichen. Die Stabilität dieser Politik durch verschiedene Regierungen hindurch - von Mitte-Rechts bis Mitte-Links, diversen Koalitionsregierungen und der jetzigen pro-islamischen Regierung - ist erstaunlich. Dieser durchgehende Anti-ArbeiterInnen-Konsens wurde durch die Ängste und die Machtlosigkeit der ArbeiterInnenbewegungen nach 1980 - sowohl der Gewerkschaften als auch der politischen Organisationen - begünstigt und nachhaltig ermöglicht. Eine Umorientierung ist heute mehr denn je eine politische Frage und kein technisches Problem.

Seit 1980 wurde die Integration der Türkei in die Weltwirtschaft und ein Anstieg der Profitabilität der großen Unternehmen primär durch die Senkung der Reallöhne und einen Rückgang der Binnennachfrage erzielt. Der Anstieg der Exporte beruhte in dieser Phase nicht auf neuen Investitionen und technologischem Fortschritt, sondern mehrheitlich auf der intensiveren Nutzung der in der Planwirtschaftsära in den 1960er und 1970er Jahren aufgebauten Produktionskapazitäten. Die Vernachlässigung von investitionsgeleiteten Produktivitätssteigerungen limitierte ebenfalls potentielle Überschusseffekte (spill-over) von Exporten auf die Beschäftigung und Löhne. Festzustellen ist, dass der spätere Investitionsanstieg zwischen 2002 und 2005 bisher nicht in der Lage war, den negativen Trend der Beschäftigung und der Löhne umzudrehen. Des Weiteren stellte sich heraus, dass die schuldenfinanzierte Investitionstätigkeit - die wiederum von Finanzkapitalflüssen abhängig ist - insbesondere in Zeiten von globalen Turbulenzen auf den Finanzmärkten besonders instabil und nicht nachhaltig ist. Die Abhängigkeit der Türkei von internationalen Kapitalflüssen und die in den Post-1990ern stattgefundenen Aufschwung-Krise-Zyklen hatten deutliche und nachhaltige negative Auswirkungen auf die Lohnquote.

Entgegen einer neoliberalen Perspektive stagniert die Beschäftigung trotz sinkender Löhne und steigender Arbeitsmarktflexibilisierung. Es lässt sich eindeutig belegen, dass die Beschäftigung sensibler auf Nachfragesteigerung reagiert als auf Lohnsenkungen (Onaran / Aydiner 2006). Investitionen sind die Lokomotiven, die Nachfrage und Beschäftigung schaffen, und zugleich ist die inländische Nachfrage der maßgebliche Faktor, der die Investitionen anregt. In diesem Zusammenhang sind Löhne, die von neoliberaler Politik lediglich als Kosten rezipiert werden, in Wirklichkeit wichtige Komponenten der Binnennachfrage. Wenn Löhne niedrig gehalten werden, werden Produktion und Investitionen und demzufolge auch die Beschäftigung niedrig gehalten (Onaran / Yentürk 2001; Onaran / Stockhammer 2005). Diese Einsicht deutet darauf hin, dass das Kapital privilegierende Einkommensumverteilung langfristige das Wachstumspotential negativ beeinflusst. Steigende Profite wurden anstatt in Investitionen in physisches Kapital und Maschinen zunehmend in Finanzinvestitionen kanalisiert. Die größten 500 Industrieunternehmen in der Türkei verzeichnen in ihren Bilanzeinnahmen einen steigenden Anteil an Zins- und Finanzinvestitionseinkommen (Istanbul Chamber of Industry 2003).

Dieser Prozess ist nicht spezifisch für die Türkei. Die globale Krise des Kapitalismus und die Finanzialisierung bewirken eine generelle Stagnation bei Investitionen und hohe Arbeitslosenraten mit sinkendem Arbeitseinsatz in entwickelten und sich entwickelnden Ländern. Ein gerechter Ausweg aus dieser Krise benötigt eine grundsätzliche Neudefinition der globalen Spielregeln. In Entwicklungsländern wie der Türkei wird der steigende globale Wettbewerbsdruck auf die ArbeiterInnen abgewälzt. Die Abhängigkeit von globalen Exportmärkten und der destruktive Einfluss der spekulativen Kapitalflüsse macht es für Länder wie die Türkei schwierig, einem stabilen Entwicklungspfad zu folgen.

Marktbasierte Rezepte können keine Lösung für die beschriebenen Probleme und Konflikte liefern. Es wäre auch naiv zu glauben, dass eine Rückkehr zur import-substituierenden Entwicklung der 1970er Jahre unter den derzeitigen internationalen und heimischen Machtkonstellationen eine Möglichkeit für die Entwicklungsländer darstellen würde. Dies würde eine fundamentale Änderung der globalen Machtverhältnisse zwischen den ArbeiterInnen und den nationalen wie internationalen Bourgeoisien benötigen, vor allem wenn berücksichtigt wird, dass es die letztgenannten sind, die von der Schwächung der ArbeiterInnenbewegung profitieren. Wenn es aber, um Alternativen verwirklichen zu können, notwendig ist, die Machtverhältnisse radikal zu ändern, warum sollen wir dann innerhalb der Grenzen kapitalistischer Entwicklung bleiben? Der Schlüssel liegt darin, eine Brücke zu schlagen zwischen den aktuellen Problemen und den Bedürfnissen der Menschen nach einem breiten Projekt eines egalitären, solidarischen, demokratischen und partizipativen Sozialismus, in dem die Wirtschaft den Bedürfnissen der Menschen und nicht den Profiten dient.

Nach Jahren der Zerstörung und schließlich der globalen Krise ist es heute legitimer denn je, für ein alternatives Wirtschaftsmodell einzutreten, das auf folgenden Punkten aufbaut: Vollbeschäftigung, Löhne, von denen sich leben lässt, internationale Arbeitsstandards, steigende, sich international angleichende Mindestlöhne sowie eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf - vorerst - 35 Stunden. Um diese Ziele erreichen zu können, bedarf es einer internationalen Koordinierung und einer Entwicklungsstrategie, die die Interessen der arbeitenden Menschen in entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern gegen den globalen Kahlschlag der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und den sich verschlechternden Arbeitsbedingungen zusammenbringt.

Wenn die GegnerInnen einer gerechteren Gesellschaft stark und auf internationaler Ebene organisiert sind, sollten es die BefürworterInnen auch sein. Teil einer solchen Strategie muss es sein, die Ziele internationaler Handelsbeziehungen dahingehend zu redefinieren, dass Entwicklung möglich und ein Ausgleich zwischen der internationalen Einkommensverteilung verwirklicht wird. Folglich müsste auch die althergebrachte Idee der komparativen Kostenvorteile durch eine Handelsstrategie kooperativer Vorteile und dynamischer Entwicklungswege ersetzt werden. Die Vorherrschaft des internationalen Finanzkapitals kann und muss durch Kapitalkontrollen und internationale Steuern eingedämmt und reguliert werden. Die Verschuldung vieler Entwicklungsländer, die auf koloniale Strukturen und das daraus folgende Ungleichgewicht in den internationalen Beziehungen zurückgeht, stellt nach wie vor ein Hemmnis für alle Entwicklungsprojekte dar, daher ist die Streichung der ausländischen Schulden mehr als notwendig. Progressive Vermögenssteuern auf Finanz- wie auch auf Nicht-Finanzvermögen könnten eine Lösung für die sich immer weiter fortsetzende Ungleichheit der Reichtumsverteilung und die sich daraus ergebenden Ungleichheitsfallen sein. Die gewonnenen Mittel sollten zur Finanzierung einer radikalen Umstrukturierung der Produktionsbasis, die auf öffentlichen Investitionen und einem öffentlichen Finanzierungssystem beruht, eingesetzt werden.

Ziel öffentlicher Investitionen sollte nicht nur ein höheres Ausmaß an Gleichheit, gute Beschäftigungsbedingungen und eine nachhaltige Entwicklung sein, sondern auch die Ermöglichung von mehr Demokratie und Partizipation. Die große Mehrheit des (wirtschaftlichen) Eigentums und der Entscheidungen muss kollektiv sein bzw. kollektiv erfolgen, basierend auf einem Co-Management der BewohnerInnen und ArbeiterInnen. Diese Alternative soll aber nicht mit der bürokratischen zentralistischen Planung der ehemaligen Sowjetunion oder anderer osteuropäischen Länder verwechselt werden, denn diese hatten nichts mit einer sozialistischen Utopie gemein. Unsere Utopien müssen sich von den nicht-partizipativen bürokratischen Erfahrungen der Vergangenheit lösen und kreativ danach fragen, wie die Intelligenz der Menschen und die vorhandenen technologischen Möglichkeiten vereint werden können, um ökonomische Entscheidungen unter den Bedingungen des Kollektiveigentums zu koordinieren.


Özlem Onaran ist Privatdozentin am Institut für Arbeitsmarkttheorie und -politik an der Wirtschaftsuniversität Wien, wo sie auch habilitiert ist. Sie hat an der Technischen Universität Istanbul promoviert. Sie ist verbunden mit dem Political Economy Research Institute (PERI) der Universität von Amherst/Massachusetts. Davor arbeitete sie an der Technischen Universität Istanbul, der University of Massachusetts, der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und bei der Yapi Kredi Bank. Ihre Forschungsinteressen sind Globalisierung, Entwicklung, Finanzkrise, Verteilung, Beschäftigung, Wachstum. Sie publizierte in Büchern und Journalen wie z.B. World Development, Eastern European Economics, Cambridge Journal of Economics, Labour, Applied Economics, Structural Change and Economic Dynamics...
Mail: ozlem.onaran@wu-wien.ac.at


Anmerkungen:

[1] Der vorliegende Artikel ist eine aktualisierte und erweiterte Version von "Die Türkei in der globalen Ökonomie: Was sind die Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse" publiziert in: Perspektiven auf die Türkei - Ökonomische und gesellschaftliche (Dis)Kontinuitäten im Kontext der Europäisierung, Hrsg. Ataç, I., Sener, U., Kucuk, B., Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster, 146-164, 2008. Die Autorin dankt Käthe Knittler für die Übersetzung sowie Bernhard Dorfer, Ilker Ataç, Ulaç Sener, Fikret Senses und Ziya Önis für Kommentare.

[2] Unter Verwendung von Teilen der deutschen Übersetzung von Ulaç Sener der in Anm. 1 erwähnten früheren Fassung dieses Artikels.

[3] Für eine detaillierte Darstellung dieser Periode siehe Yentürk (1999) und Onaran (2007).

[4] Für eine detaillierte Übersicht des Anti-Inflationsprogramms siehe Uygur (2001), Yeldan (2002), Akyüz/Boratav (2003) und Boratav/Yeldan (2006).

[5] Die AKP hat ein Naheverhältnis zum islamisch-konservativen UnternehmerInnenverband MÜSIAT. Abgesehen von einigen großen Unternehmen setzt sich dieser Verband jedoch hauptsächlich aus mittelständischen Unternehmen zusammen.

[6] Der im Frühjahr 2006 in der Öffentlichkeit ausgetragene Konflikt um die Ernennung des neuen Zentralbankpräsidenten ist ein exemplarischer Fall für diese Machtkämpfe.

[7] Von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde Klage beim Verfassungsgericht erhoben und das Verbot der AKP aufgrund anti-säkularer Aktivitäten verlangt. Der Verfassungsgerichtshof entschied im Sommer 2008 zugunsten der AKP. Nichtsdestotrotz ist der Prozess ein Indikator für die fragile Beziehung zwischen der AKP und der Elite im Land.

[8] In der Periode nach 2001 überlappten sich die Ziele der IWF-Programme und die Maßnahmen zur Erreichung der Kriterien für die EU-Mitgliedschaft (vgl. Ataç/Grünewald 2006).

[9] Die Lohnquote ist definiert durch das Produkt von Durchschnittslohn/ArbeiterIn mit der Anzahl der Beschäftigten, dividiert durch das BSP der Ökonomie (bzw. durch den Anteil der Wertschöpfung in den produktiven Sektoren)

[10] Der Hysteresis-Effekt bezeichnet in der Wirtschaftswissenschaft die Abhängigkeit von vorhergehenden Ereignissen, also eine Entwicklung, bei der nach einem Schock bzw. einer Krise die Ausgangsposition nicht mehr hergestellt wird, sondern, wie beispielsweise bei einer schockhaften Wirkung auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitslosigkeit auch nach dem Schock höher als vor der Krise bleibt.

[11] Die Daten für den restlichen Artikelteil stammen aus den Household Labor Force Surveys des Institutes für Statistik in der Türkei.

[12] Die Rate der gewerkschaftlichen Organisierung variiert zwischen 11 Prozent und 58 Prozent, die Abdeckung mit Verträgen zwischen 10 und 20 Prozent (Ilkkaracan/Levent 2006).

[13] Zum Vergleich: Der halbjährlich festgelegte Mindestlohn beträgt für die Periode Januar bis Juni 2008, bei einem Wechselkurs von Mitte April 2008, 304 Euro brutto (608 YTL) und 217 Euro netto (434 YTL). Für Kinderarbeit (unter 16 Jahren) liegt der Nettolohn noch darunter, nämlich bei 185 Euro.

[14] 50 Prozent der gesamten Beschäftigung sind bei keiner Sozialversicherungsinstitution gemeldet.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb.1 S.51: Lohnquote an der Wertschöpfung, in Prozent (1970-2006)
Abb.2 S.52: Jährliche prozentuale Veränderung der Reallöhne (CPI bereinigt), Stand: März 2008
Abb.3 S.54: Arbeitslosigkeit, Stand Juni 2008

Raute

Günes Koç

Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei lässt sich ins 19. Jahrhundert zurückführen. Die Frauen innerhalb der Istanbuler Eliten fanden in der Suffragettenbewegung nach dem englischen Modell ein Vorbild, waren aber auch auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität, nach einem "eigenen Weg". Die Suche nach "einem selbstbestimmten Weg" setzte sich in den als "zweite und dritte Welle der Frauenbewegung" bezeichneten Frauenbewegungen in der Türkei fort. Osmanische Frauen verstanden Frauenbewegung als Rechtebewegung und als Aktivismus für Gleichheitsfeminismus[1], aber auch für Differenzfeminismus[2]. Die Herausgabe unterschiedlicher Frauenzeitungen in mehreren Sprachen (osmanisch, französisch, griechisch), ihre Teilnahme an der "Jungtürkenbewegung", an der konstitutionellen Bewegung, der Kampf um die Öffentlichkeit für Frauen, die Gründung unterschiedlicher Frauenorganisationen sowie die aktive Organisation einer Frauenbewegung waren wichtige Meilensteine für die Entwicklung der Frauenbewegung als moderne soziale Bewegung (z.B. Cakir 1996; Yaraman 2001).

Feministinnen wie Fatma Aliye Topuz, Nezihe Muhiddin und Halide Edip waren Teil der Eliten, die aus dem BildungsbürgerInnentum und aus den "hofnahen" Schichten stammten. Aber diese Frauen bezeichneten sich als Feministinnen, was in einer patriarchal dominierten politischen Kultur einer Revolution gleichkam. Sie hatten einen universalistischen Anspruch, der die Mobilisierung von muslimischen Frauen, aber auch von Frauen aus religiösen und ethnischen Minderheiten umfasste.

Fatma Aliye Topuz (1862-1936) wird als die erste weibliche Schriftstellerin der türkischen Literatur bezeichnet. Sie veröffentlichte insgesamt fünf Romane. Fatma Aliye war eine konservative Verteidigerin der Frauenrechte, sie trat nicht für eine Modernisierung des Systems ein und war Gegnerin der Republik. Allerdings behauptete sie, dass in einer islamischen Gesellschaft die rechtliche Gleichstellung der Frauen möglich und an der Geschlechterungleichheit nicht der Glaube, sondern die patriarchale Unterdrückung durch die Männer schuld sei (Cakir 1996). Sie verfasste Artikel über Frauenprobleme und Gleichberechtigung in der "Hanimlara mahsus Gazete" (dt. "Die Frauenzeitschrift"). Fatma Aliye publizierte neben Romanen noch andere Bücher wie Biographien von Philosophen oder berühmter Frauen im Islam und veröffentlichte auch Artikel in französischen Zeitschriften. Obwohl sie konservative Ansichten hatte, legte sie ihren Schleier ab und ließ sich fotografieren. Aus diesem Grund ist ihr Konservativismus zwar als eine Skepsis gegenüber der Verwestlichung der Kultur zu verstehen, nicht aber als Glaube an die Unveränderbarkeit der religiösen Sitten.

Nezihe Muhiddin (1889-1958) war eine Feministin, die den Begriff des Feminismus sowohl durch die Herausgabe einer Frauenzeitschrift als auch durch die Gründung eines Frauenvereins geprägt hat. Sie war für Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen, war bereits während und seit Abdülhamit II.[3] in den Befreiungsbewegungen aktiv und war Aktivistin von "Ittihad ve Terakki" ("Komitee für Einheit und Fortschritt")[4]. Sie forderte bereits 1908 das Frauenwahlrecht sowie das Recht der Frauen auf politische Aktivität und ihre Beteiligung als politische Führungskräfte. 1923 gründete sie die Frauenpartei, die von der kemalistischen Regierung allerdings als zu radikal befunden wurde, weil sie das Frauenwahlrecht sowie das Recht der Frauen, als Nationalrätin zu kandidieren, zum Ziel hatte. Somit ist die türkische Frauenpartei als erster und einziger Versuch der Gründung einer Frauenpartei in der türkischen Republik zu bezeichnen. Danach gründete Nezihe Muhiddin den türkischen Frauenverein. Dieser Verein versuchte, bei den ersten Wahlen mit einem "feministischen Mann"[5] zu kandidieren, um überhaupt seine politischen Ziele einbringen zu können. Der Kandidat trat jedoch wegen Verhöhnung durch die Männer zurück. Unter den politischen Forderungen des TKB fand sich auch jene nach dem Eintritt der Frauen ins Militär sowie jene nach dem Recht der Frauen auf Reden in Moscheen. Wenn davon ausgegangen wird, dass Versammlungen in Moscheen und die dort gehaltenen Reden eine wichtige politische Funktion hatten, ist diese Forderung der Frauen als ein Weg, männerbündische Strukturen[6] zu durchbrechen, zu verstehen. Der TKB wurde von der CHP (Republikanische Volkspartei der Türkei) auf Grund der hohen Anzahl ihrer Mitgliederinnen, nämlich 1000 Frauen und Filialen in 4 Städten, sowie wegen Angst vor Radikalisierung und Unkontrollierbarkeit geschlossen.

Muhiddin sah daraufhin keine Möglichkeit zur politischen Aktivität in der Türkei mehr und zog sich zurück. Sie konzentrierte sich ab diesem Zeitpunkt auf die Literatur und veröffentlichte zehn Romane, rund 300 Geschichten und Theaterstücke (Zihnioglu 2003). Muhiddin war zweimal verheiratet, legte ihren Mädchennamen allerdings nie ab. Sie wird heute noch von den Feministinnen als wichtige Persönlichkeit in der Frauengeschichte und der politischen Geschichte der Türkei betrachtet, ihre Werke werden wieder aufgegriffen. Ein Versuch, ihr Leben und ihre Ideen wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, war die Herausgabe ihrer Biographie durch die Feministin und Autorin Yaprak Zihnioglu.

Halide Edip Adivar (1884-1964) war eine Frauenrechtlerin, die im Befreiungskampf (Kurtulus Savasi) eine aktive Rolle gespielt hat. Sie schrieb in vielen Zeitungen und arbeitete während des Kriegs als Journalistin. Sie nahm an den Befreiungsbewegungen seit der II. Mesrutiyet, der zweiten konstitutionellen Bewegung[7], aktiv teil. Sie war auch eine der ersten Frauen, die in der Öffentlichkeit - bei einer politischen Versammlung - vor Männern eine politische Rede hielten. Adivar geriet nach der Gründung der Republik ebenfalls mit der Regierung in Konflikt und ging für 14 Jahre ins Exil. Während ihrer Auslandsaufenthalte schrieb sie mehrere politische Texte auf Englisch und nahm an politischen und wissenschaftlichen Konferenzen teil. Sie hat insgesamt 21 Romane, vier Erzählungen und zwei Theaterstücke geschrieben. Nach ihrer Rückkehr war sie Literaturprofessorin an der Universität Istanbul und Vorsitzende des Instituts für englische Literatur sowie im Jahre 1950 als Nationalratsabgeordnete tätig. (Durakbasa 2002).

Die osmanische Frauenbewegung stand unter dem Einfluss der nationalistischen Bewegungen. Der Befreiungskampf und die Gründung der Republik wurden auch unter dem Blickwinkel der Befreiung von den "Unterdrückern" verstanden. Eine ethnische Nationalisierung trat allerdings erst mit der Gründung der türkischen Republik in den Vordergrund. Ab diesem Zeitpunkt ist auch von einer anderen Art der Frauenbewegung zu sprechen, die von der zweiten und dritten Welle der Frauenbewegung in der Türkei als "Staatsfeminismus" und als "kemalistische Frauenbewegung" bezeichnet wird (z.B. Kandiyoti 1997). Die Frauenpartei wurde bereits kurz nach ihrer Gründung 1923 verboten. Die Gründung der Frauenpartei und des Vereins der Vereinigung türkischer Frauen TKB waren die letzten Versuche der Frauen, die durch die osmanische Frauenbewegung mobilisiert wurden.

Stattdessen hatte sich der Staatsfeminismus als Form der kemalistischen Modernisierung etabliert, der die Frauenbewegung als Aktivismus lediglich im Sinne von Hilfsorganisationen betrachtete. Das Wahlrecht der Frauen wurde 1934 von der CHP unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt. Dies wird als eine politische Emanzipierung der Frauen von "oben" interpretiert. Dieser Interpretation müssen allerdings unbedingt die Forderungen der Frauenbewegung und der feministischen Bewegung entgegengestellt und betont werden, dass die feministische Bewegung zuvor schon jahrelang um die politischen Rechte der Frauen gekämpft hatte. Deshalb sind diese Rechte auch nicht als von "oben" erteilte und erhaltene Freiheiten für Frauen zu betrachten. Durch den Staatsfeminismus und später auch durch die linken Bewegungen ist die Frauenbewegung für lange Jahre - bis zu den 1970er Jahren - in einen Stillstand geraten. Auch wenn in den 1960er Jahren von einer starken linken Bewegung und von starken Demokratiebewegungen zu sprechen ist, von einer Frauenbewegung ist in dieser Zeit nicht die Rede.


Fortsetzung der feministischen Bewegung oder eine neue Frauenbewegung nach einem langen Bruch

Der 8. März als internationaler Frauentag wurde zum ersten Mal 1920 von den kommunistischen Frauen im Untergrund gefeiert. Bis ins Jahr 1974 ist keine weitere Feier des 8. März bekannt. Es war "ilerici kadinlar birligi", die "Emanzipierte Linke Frauenvereinigung", die 1975 erstmalig wieder den 8. März in der Türkei feierte (Kilic 2007, 7). Der internationale Frauentag wie auch die Frauenbewegung bekamen allerdings erst nach 1980 wieder eine wichtige politische Funktion. 1980 ist das Jahr des Militärputsches und gleichzeitig auch großer Verhaftungswellen, der Unterdrückung der sozialen Bewegungen sowie der Flucht vieler AktivistInnen ins Exil. Die Militärregierung dauerte drei Jahre lang, 1983 wurde in den ersten allgemeinen Wahlen nach der Militärregierung mit einer Mehrheit der Stimmen die liberal rechtskonservative Partei Anavatan (ANAP, Mutterlandspartei) an die Regierung gebracht. Die Aktivistinnen der sozialen und linken Bewegungen waren in Haft, im Exil oder wegen starker Repression untätig. Die Frauen aus den urbanen und gebildeten Milieus, darunter meist Frauen mit einer linken Geschichte und/oder Akademikerinnen, hatten angefangen, sich während den 1980er Jahren in den Wohnungen zu treffen und gemeinsam feministische Literatur zu diskutieren, über ihre sozialistische und linke Geschichte zu reflektieren und auch die patriarchalen Verhältnisse in den linken Bewegungen selbst zu analysieren. Die Übersetzung der feministischen Literatur aus dem "Westen" war eine wichtige Aktivität jener Frauen, die Fremdsprachenkenntnisse besaßen und gleichzeitig auch in türkischer Sprache die feministische Terminologie weiterentwickeln wollten.

Diese Diskussionsrunden wurden durch die Frauen als "Bewusstseinserhöhungsgruppen" bezeichnet. Mit diesem Begriff wurde die Notwendigkeit betont, dass Frauen untereinander ihre Erfahrungen austauschen, dass sie über ihre Geschichte und über die bisherigen sozialen Analysen reflektieren, dass die Frauen die Politisierung "des Privaten"[8] betreiben und so die traditionellen emanzipatorischen Bewegungen, die Familie, den Staat und alle Werte aus einem kritischen und feministischen Blickwinkel in Frage stellen. Diese "Bewusstseinserhöhungsgruppen" verbreiteten sich schnell in vielen Großstädten und waren vorerst als Lesekreise und Diskussionsgruppen organisiert. Die Notwendigkeit, einen öffentlichen Diskurs über die feministischen Themen und feministische Politik zu führen, drückte sich sehr bald in der Gründung von feministischen Zeitschriften aus. Die Herausgabe einer feministischen Seite in der Zeitschrift "Somut" war der erste öffentliche politische Ausdruck dieser Frauen. Frauenzeitschriften wie "Pazartesi" oder "Kaktüs" folgten kurz darauf als unabhängige feministische Publikationen.[9]

Die wichtigste politische Aktivität, die durch die Diskussionen der "Bewusstseinserhöhungsgruppen" und die in den Zeitschriften geführten politischen Diskurse hervorgebracht wurde, war die Thematisierung der Gewalt. Gewalt war aus mehreren Gründen ein wichtiges Thema: Der erste Grund war der Militärputsch und die dadurch ausgeübte physische und politische Gewalt. Der zweite Grund für die Thematisierung der Gewalt reflektierte eine wichtige Dimension der Gewalt, die weder durch die linke Bewegung, noch durch den kemalistischen Staatsfeminismus bisher beachtet wurde, nämlich die Gewalt in der Privatsphäre. Gewalt in der Privatsphäre bedeutete die Auseinandersetzung mit Gewalt in der Familie, in der Arbeit oder auf der Straße. Die Frauenbewegung thematisierte zum ersten Mal das Thema sexuelle Belästigung. Unter der Thematisierung von sexueller Gewalt wurde die Kritik an den gesetzlichen Strafmilderungen (nach dem TCK 438, türkisches Strafrecht) im Falle der Vergewaltigung einer Sexarbeiterin ebenso verstanden wie die Kritik an den Strafmilderungen bei so genannten "Ehrenmorden". Beides wurde Gegenstand des Kampfes gegen die Gewalt. Sexuelle Belästigung wurde auf jeder Ebene und in jeder sozialen Schicht der Gesellschaft angesprochen und als Unterdrückungsmechanismus sichtbar gemacht. Sexuelle Belästigung in der Arbeit, auf der Straße oder innerhalb der Familie waren heikle Themen, die Frauen nicht fremd waren, aber zum ersten Mal politische Sichtbarkeit erhielten. In dieser Sichtbarmachung spielte vor allem die Beziehung der unterschiedlichen Gewaltformen zum Patriarchat eine wichtige Rolle (Karakus: 2007, 9).

Die erste öffentliche Demonstration gegen Gewalt wurde 1987 von den Feministinnen in Yogurtcu Parki Istanbul organisiert. Die Kampagne gegen "die physische Gewalt des Mannes gegenüber der Frau, die sich in Form von Schlagen oder Prügeln meistens innerhalb der Familie" zeigt, war Folge dieser Anti-Gewaltdemonstration. 1989 wurde von Feministinnen und Frauengruppen gegen sexuelle Belästigung mobilisiert (Sirman: 2007, 15). "Unser Körper gehört uns. Nein zur sexuellen Belästigung!" hieß die Kampagne, die später den Namen "mor igne" (dt. "Violette Nadel") erhalten hat. Im Rahmen dieser Kampagne gegen sexuelle Belästigung wurden an die Frauen violette Nadeln verteilt. "Violette Nadel" symbolisierte die Ablehnung jeglicher Form patriarchaler Gewalt, die sich gegen den Körper der Frauen richtet. 1990 wurde die Kampagne "bedenimiz bizimdir" (dt. "Unser Körper gehört uns") durchgeführt. Die Frauen forderten Selbstbestimmung über ihren Körper und die Ablehnung und Bekämpfung jeder Form des traditionellen, religiösen und patriarchalen Ehrenkodexes, der über den Körper der Frauen entscheidet. Die "Violette Nadel" wird heute noch von der dritten Welle der Frauenbewegung als eine wichtige Protestbewegung, welche die Frauenbewegung und die feministische Kritik erneut in Gang gesetzt hat, bezeichnet. Die gemeinsame Herausgabe des Buches "bagir herkes duysun!" (dt. "Schrei und lass deine Stimme von jedem/jeder hören!") war ein wichtiger Ausdruck dieser Anti-Gewalt Kampagnen (Karakus: 2007, 8).

Im Zuge der Anti-Gewaltproteste und der Politik gegen Gewalt bekämpfte die feministische Bewegung auch Gesetze, welche die Arbeitserlaubnis der Frauen dem Ehemann oder dem Vater überließen oder die den Mann als "Oberhaupt der Familie" bezeichneten (159. Paragraph der TCK / Türkisches Strafrecht). Das Thema der Sexualität, die jeder Frau selbst überlassen werden und nicht auf den ehelichen Rahmen reduziert werden soll, wurde von der feministischen Bewegung ebenfalls als politisches Diskursfeld eröffnet. Eine weitere Protestform waren Gruppenscheidungsprozesse, die im Jahre 1990 von einer Gruppe feministischer Frauen und profeministischer Männer durchgeführt wurden. Als Grund für die Scheidungen wurde die Ablehnung der patriarchalen Familiengesetze angegeben. Dies waren wichtige symbolische Akte, die durch die Mobilisierung der Feministinnen und der Frauenbewegung gesetzt wurden.

Weitere wichtige politische Akte der zweiten Welle der Frauenbewegung waren Aufmärsche der Frauen in den Nächten. Feministinnen in Istanbul machten mit der Parole, dass "die Nächte auch den Frauen gehören", auf die Gefahren der durch die Männerdominanz segregierten Städte in der Nacht aufmerksam. Sie bezeichneten die Männerdominanz in der Nacht als Unterdrückungsmechanismus des Patriarchats und organisierten Frauenaufmärsche in den Nächten, um diese für die Frauen zurückzugewinnen. Eine weitere Form dieses politischen Kampfes von Frauen war das Besetzen von nur von Männern besuchten Kaffeehäusern und Nachtlokalen. Das Aufheben der Geschlechterstereotypen, Kritik an der "heiligen Familie" sowie Kritik an der patriarchalen Trennung der Frauen in "heilige", "ehrenhafte" und "Huren" wurden - neben den oben benannten politischen Aktionen - durch einen Bordellbesuch der Frauen am 8. März und durch die Zusammenarbeit mit Sexarbeiterinnen unterstützt.

In Summe kann über die zweite Welle der Frauenbewegung in der Türkei gesagt werden, dass sie auf theoretischer wie auf praktischer Ebene eine tiefgreifende Patriarchatskritik in der Gesellschaft übte und einen neuen feministischen Diskurs eröffnete. Die Anzahl der Frauen, die die Antigewaltpolitik der Feministinnen und den Kampf auf Gesetzesebene unterstützten, ist nicht zu unterschätzen. Beteiligt waren nicht nur Frauen in den urbanen Teilen des Landes, die zum BildungbürgerInnentum gehörten, sowie Eliten, sondern auch Hausfrauen und Frauen aus sozial schwachen Milieus. Im Vergleich zur ersten Frauenbewegung kann festgestellt werden, dass die zweite Welle der Frauenbewegung eine breite Mittelschicht erreicht hatte und nicht mehr als Teil einer Modernisierungsbewegung agierte, sondern eine Patriarchatskritik sowohl am Staat als auch an gesellschaftlichen Institutionen und an den linken Bewegungen übte. Auch wenn die Bewegung von Feministinnen mit einer linken Geschichte und mit großteils immer noch linker Identität in Gang gesetzt wurde, hatte die Bewegung eine viel breitere und vielfältige Masse von Frauen erreicht (z.B. Tekeli 1995).

Die Frauenbewegung ab Mitte der 1990er Jahre, die auch als dritte Welle der Frauenbewegung bezeichnet wird, kann ohne den Weg, den die zweite Welle der Frauenbewegung eröffnete, nicht verstanden werden. Die erkämpften gesetzlichen Veränderungen waren teilweise auch die Folge des politischen Sichtbarmachens der zweiten Welle der Frauenbewegung: Die Strafmilderung im Falle der Vergewaltigung einer Sexarbeiterin wurde aufgehoben. Der Passus, wonach der Mann das Oberhaupt der Familie ist, wurde ebenfalls aus dem Familiengesetz gestrichen. Dass Frauen, wenn sie arbeiten wollen, ihren Mann oder ihren Vater um Erlaubnis fragen sollten, wurde ebenso als rechtswidrig erklärt. Die Frauenbewegung in den 1990er Jahren und seit 2000 sieht immer noch die Beobachtung der Gesetze aus einem feministischen Blickwinkel und den Kampf um Gleichberechtigung vor dem Gesetz als notwendige Kampfstrategie. Der Kampf um die Gleichberechtigung vor dem Gesetz wird als zwar nicht hinreichendes, aber notwendiges feministisches und emanzipatorisches Prinzip bezeichnet.


Die dritte Welle der Frauenbewegung von der Mitte der 1990er Jahre bis heute

Auch wenn die dritte Welle der Frauenbewegung sich auf der Grundlage der zweiten Welle konstituiert hat und Feministinnen der zweiten Welle in der dritten Welle immer noch aktiv sind, unterscheidet sie sich doch in einigen wichtigen politischen Merkmalen. So sind Diskussionen über Differenz und Identität innerhalb der Frauen, die auch Zielsetzungen und politische Forderungen der Frauen bestimmen, in den Vordergrund getreten. Gemeint sind hauptsächlich ethnische und religiöse Identitäten, die durch diesbezügliche Themen und Gruppierungen neue Diskurse innerhalb der Frauenbewegung und der feministischen Debatte eröffnet haben. Gruppen wie Radikalfeministinnen, Anarchafeministinnen, sozialistische Feministinnen, muslimische, kemalistische, kurdische oder armenische Feministinnen oder Frauenbewegungen beziehen sich auf unterschiedliche Identitäten und Differenzen, die aus den Polarisierungen um ethnische Fragestellungen sowie um religiöse und sozioökonomische Fragestellungen entstanden sind (Bora/Günal 2002). Es ist aber auch von den hybriden Identitäten innerhalb der Frauenbewegung zu sprechen, die sich zu unterschiedlichen Gruppen und Identitäten parallel zugehörig fühlen. Eine wichtige Polarisierung ist zwischen den kemalistischen Frauen, die sich der Frauenbewegung zugehörig fühlen, einerseits und den kurdischen und islamischen Frauenbewegungen andererseits zu beobachten.

Die kurdische Frauenbewegung ist im Laufe der 1990er Jahre entstanden. Die ethnische Fragestellung, der Krieg und die demokratischen Rechte der KurdInnen sind die zentralen Themen der kurdischen Feministinnen. Während sie teilweise als unabhängige kurdische Feministinnen organisiert sind, sind sie auch stark innerhalb der kurdischen DTP (Demokratik Toplum Partisi / Demokratische Gesellschaftspartei) aktiv.

Die Kopftuchfrage wiederum - d.h. die Aufhebung des Verbots des Tragens von Kopftüchern an Universitäten sowie die Zulassung von Frauen mit Kopftüchern zu Ämtern und auch ins Parlament - ist das wichtigste politische Thema der muslimischen Frauen. Die Debatte um die Freiheit des Kopftuchtragens der Frauen wird seit den 1990er Jahren heftig in der Öffentlichkeit geführt und hat sich in Form der Organisation von Studentinnen und islamischen Frauen sowie in Demonstrationen und Protestaktionen geäußert. Teilweise wurden diese Frauen von den kemalistischen Frauen und von den Kemalisten als Militante der islamistischen Bewegung beschuldigt, die den Laizismus in der Türkei bekämpfen wollen, andererseits wurden sie von einigen Feministinnen und auch von den Liberalen als neue Akteurinnen der Demokratiebewegung betrachtet. Für diese Teile der feministischen Bewegung waren diese Frauen nun in der Öffentlichkeit sichtbar und wollten ihren Platz in der Öffentlichkeit einnehmen.

Der politische Kampf der sich als muslimische Frauen bezeichnenden Frauen wurde als Auseinandersetzung sowohl gegen das kemalistische Paradigma, das den "Frauen mit Kopftuch keine Existenzmöglichkeit außerhalb der Privatsphäre mehr lassen soll", als auch gleichzeitig gegen die patriarchalen Islamisten, die die Frauen innerhalb der Privatsphäre halten möchten, geführt. Viele muslimische Frauen, die auch durch die Kopftuchfrage mobilisiert wurden, haben aktiv Wahlkampagnen für die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi / Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) durchgeführt und sind immer noch in der AKP oder im Vorfeld der AKP aktiv. Es wurden auch einige islamische Frauenorganisationen gegründet, die sich als gläubige Feministinnen innerhalb des islamischen Paradigmas bezeichnen.

Die kemalistische Frauenbewegung ist ab der Mitte der 1990er Jahre durch die ethnische Fragestellung gegen den so genannten "Separatismus" (KurdInnen), aber auch durch die religiösen Identitätsfragen gegen "die schleichende Islamismusgefahr" wieder aktiv geworden. Die kemalistische Frauenbewegung ist vom Staatsfeminismus insofern zu unterscheiden, als sie den Kemalismus als eine laizistische und Unabhängigkeitsbewegung für die Türkei versteht und keine Kritik am Staat scheut, wenn es um die gesetzliche Gleichberechtigung der Frauen geht. Sowohl gegen die unterschiedlichen Gewaltformen als auch für politische Partizipation und gesetzliche Gleichstellung solidarisiert sich die kemalistische Frauenbewegung mit der breiten Masse der Frauenbewegung trotz der ideologischen Differenzen.

Innerhalb der feministischen Bewegung gibt es auch eine andere Antwort auf die Kopftuchfrage, die sich von der kemalistischen Frauenbewegung und von einigen feministischen Gruppierungen unterscheidet. "Birbirimize sahip cikiyoruz" (dt. "Wir solidarisieren uns untereinander") wurde am 26. September 2008 als eine Initiative von Frauen gegründet - von Feministinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen oder "nur" Aktivistinnen, die in der Kopftuchfrage die Frauen selbst als Akteurinnen betrachten und der Meinung sind, dass es allein die Entscheidung der Frauen selbst sein soll, wie sie sich anzuziehen haben. Den wichtigsten Aspekt macht dabei die Einsicht in die Unfreiheit des Körpers der Frauen innerhalb der patriarchalen Gesellschaft aus. Die Frauen sollen, egal wie sie es wollen, über ihren Körper selbst bestimmen, und das soll auch nicht durch Gesetze geregelt werden. Dabei werden die konservativ-islamischen Körperpolitiken der Islamisten wohl kritisiert, aber auch Brücken der Solidarität mit den sich als muslimische Frauenrechtlerinnen bezeichnenden Frauen gebildet, um die patriarchale Kontrolle der Islamisten über die Frauen(körper) gemeinsam zu kritisieren.


Trotz der Differenzen eine gemeinsame Frauenbewegung

Die Thematisierung der Gewalt und die Benennung des Privaten als Politisches war zwar ein wichtiger politischer Diskurs, der von der zweiten Welle der Frauenbewegung eröffnet wurde, dessen Rahmen wurde aber von der dritten Welle der Frauenbewegung ausgeweitet. In den 1990er Jahren hatte der kriegerische Konflikt zwischen türkischer Armee und PKK im Osten der Türkei auch die Frauenbewegung hinsichtlich Gewalt und Krieg sensibilisiert. Die feministische Bewegung vertrat als Antwort auf diesen Krieg eine antimilitaristische Position. Militarismuskritik und die Unterstützung der Militärdienstverweigerer hat einen heute noch viel breiter gewordenen Block der Kriegs- und MilitarismusverweigerInnen geschaffen. Es gibt nicht nur Männer, die den Militärdienst verweigern und antimilitaristische Propaganda betreiben, deren Folge auch Freiheitsentzugsstrafen sind, sondern auch Frauen, die sich als Militärdienstverweigerinnen deklarieren und Protestaktionen organisieren.

Die politische Reichweite und die Organisation der Militärdienst- und KriegsverweigerInnen haben in den letzten Jahren zugenommen. Dabei spielen auch Kriege wie jene in Afghanistan, im Irak, im Libanon oder im Gazastreifen eine wichtige Rolle im verstärkten Aktivismus pazifistischer Organisationen.

Die Frauenbewegung spielt im Friedensdiskurs sowie in der Solidaritätsbewegung mit den durch Kriege Unterdrückten eine zentrale Rolle. Für die feministische Bewegung in der Türkei ist nicht nur die Solidarität mit den Frauen in den Grenzregionen, die von den Kriegen betroffen sind, ein wichtiges politisches Ziel, sondern auch jene mit allen Frauenbewegungen, die sich in den nahöstlichen Ländern befinden, auch mit der Frauenbewegung in Israel, die ebenfalls ein Teil der Friedensbewegung ist.

Über die Frauenbewegung seit Mitte der 1990er Jahre kann also gesagt werden, dass die Differenzen zwischen verschiedenen Gruppierungen der Frauenbewegung, die es davor gab, kein Hindernis dafür waren, dass die Frauen gemeinsam für die gesetzliche Gleichberechtigung und gegen Gewalt aktiv wurden. Eine weitere wichtige gemeinsame Forderung der Frauenbewegung ist die Gründung und staatliche Förderung von Frauenhäusern. Der Kampf um die feministischen Frauenhäuser wurde allerdings schon durch die zweite Welle der Frauenbewegung eröffnet: Mor Cati, das erste Frauenhaus, wurde 1990 im Zuge der Kampagnen und Protestakte der Frauenbewegung gegründet und ist ein wichtiges Beispiel für ein unabhängiges Frauenhaus mit feministischen Prinzipien, das von der feministischen Bewegung ins Leben gerufen und um dessen Existenz immer wieder gekämpft werden musste.

"Kadin Anayasayi izleme kurulu" (dt. "Frauenverfassungs-Beobachtungsgruppe") wurde 2004 mit dem Ziel von gesetzlichen Veränderungen, wie zum Beispiel der Durchsetzung der Frauenkommission im Parlament, gegründet. Die gesetzlichen Veränderungen bezüglich der "Ehrenmorde", d.h. die Abschaffung von Verletzung der "Ehre" als Strafmilderungsgrund nach dem Strafrecht, wurden durch den Druck der Frauenbewegung, der auch durch die Frauenverfassungsbeobachtungsgruppe ausgeübt wurde, durchgesetzt. Forderungen wie jene nach mehr Frauenhäusern und nach einer Frauenkommission im Parlament wurden teilweise durchgesetzt. Erst nach jahrelangem Kampf wurde am 29. Jänner 2009 die parlamentarische "Kadin erkek esitlik komisyonu" (dt. "Geschlechtergleichberechtigungskommission") gegründet.

Politische Partizipation sowohl im parlamentarischen System als auch als Akteurinnen der Demokratiebewegung ist für die Frauenbewegung schon immer sehr wichtig gewesen. KADER (Verein zur Unterstützung der Frauen in der Politik) ist 1997 mit der Zielsetzung gegründet worden, unabhängig von den ideologischen Orientierungen der Frauen Kandidaturen von Frauen sowohl innerhalb der politischen Parteien als auch bei allgemeinen und lokalen Wahlen - als unabhängige Frauen oder Kandidatinnen politischer Parteien - zu unterstützen. Über die Forderung für eine 40%-Frauenquote in den politischen Parteien betreibt KADER wichtige Lobbyarbeit, aber auch die kontinuierliche Thematisierung durch die Frauenbewegung übt wichtigen Druck auf die politischen Parteien in der Türkei aus. Bisher sind ÖDP (Özgürlükler ve Demokrasi Partisi / Partei der Freiheit und Demokratie) und DTP (Demokratik Toplum Partisi / Demokratische Gesellschaftspartei) die beiden einzigen Parteien innerhalb des parlamentarischen Spektrums, die den Forderungen nach der 40%-Frauenquote nachgekommen sind. Sowohl durch die Frauen in den politischen Organisationen als auch durch die unabhängige Frauenbewegung wurde die Gründung von eigenen Frauenflügeln in den politischen Organisationen und viel mehr weibliche Partizipation und politischer Kampf um die Partizipation auf den Führungsebenen auch innerhalb der politischen Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum möglich gemacht.

Gewalt ist immer noch ein wichtiger Punkt, der in der Regel die Frauenbewegung trotz ihrer Differenzen vereinigt. Die Frauengruppen äußern sich als politische Verteidigerinnen in den "Frauenmorden", die im Namen "Ehre" geschehen. Obwohl sie rechtlich gesehen nicht als Verteidigerinnen der ermordeten Frauen akzeptiert werden, verfolgen die Frauengruppen die Prozesse, die in diesen Fällen geführt werden, und positionieren sich als kollektive Verteidigerin der ermordeten Frauen. Dieser symbolische Akt ist durch die Frauenbewegung der dritten Welle zu einer Tradition gemacht worden. Einen weiteren wichtigen Protest und eine klare Positionierung in den Mordfällen zeigen die Frauen durch die Teilnahme an den Beerdigungen der ermordeten Frauen. In vielen Fällen wird die Beerdigung dieser "unehrenhaften" Frauen von ihren Familien nicht einmal durchgeführt. Die Frauengruppen übernehmen in diesen Fällen die Beerdigung. "Ehrenmorde" wurden durch das Gesetz als "Töre cinayetleri" (dt. "Sittenmorde") bezeichnet. Diese Beschreibung wird von der Frauenbewegung kritisiert, weil nach dieser Auffassung die Ehrenmorde als ethnisches Problem dargestellt werden. Durch die Zuschreibung von kurdischen Traditionen als Grund für diese Frauenmorde wird die Unterdrückung von Frauen und der Mord an Frauen im Namen der "Ehre" innerhalb der türkischen Gesellschaft subtil geleugnet. KAMER ist eine der wichtigen feministischen Frauenorganisationen, die in Diyarbakir die Gewalt in der Privatsphäre und die Ehrenmorde bekämpft und die sich mit der Frauenbewegung im Westen solidarisiert.

Eine weitere Form der Frauenbewegung, die vor allem seit 2000 stärker zu beobachten ist, kann als "Projektfeminismus" bezeichnet werden. Der Aufschwung des so genannten Projektfeminismus beginnt 1999, als in Folge des großen Marmara-Erdbebens unterschiedliche Projektgruppen entstanden sind. Auch mit der EU-Beitrittsdiskussion sind mehrere zivilgesellschaftliche Projekttöpfe entstanden, die die Entstehung unterschiedlicher Projektgruppen möglich machten. Projektfeminismus erfüllt teilweise die Sozialstaatsfunktion und ist für die Förderung sozial schwacher Frauen in unterschiedlichen Problemfeldern wie Gewalt in der Familie, Alphabetisierungskurse, Nachhilfeunterricht für Mädchen, Berufsausbildungskurse, Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit oder Verbesserung der Wohnqualität der Frauen aktiv. Die AktivistInnen des so genannten Projektfeminismus sind in der Regel gebildete Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht.

Der Projektfeminismus wird von der feministischen Frauenbewegung aus unterschiedlichen Gründen kritisiert: Erstens wird ihm die Kurzsichtigkeit vorgeworfen, die Frauenfrage vom jeweiligen Ablaufdatum des Projektes abhängig zu machen und somit auch die Frauenfrage zu entradikalisieren. Die Rolle des Staats und des Patriarchats in der Frauenfrage werden so durch den Projektfeminismus für sekundäre Probleme gehalten. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Projektfeminismus wegen seiner finanziellen Abhängigkeit weder am Staat, noch an den Institutionen, durch die die Projekte gefördert werden, Kritik übt. Aber auch die positiven Aspekte dieser Projekte werden betont, wie zum Beispiel die geleisteten konkreten Hilfestellungen für Frauen oder auch die damit einhergehenden Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen. Die Kritik am Projektfeminismus wird vor allem als Warnung vor den Gefahren der politischen Konsequenzen verstanden.[10]


Die Kategorien Gender und Sex werden auch durch andere politische Formen hinterfragt

Die 1990er Jahre waren parallel zur Vervielfältigung der Frauenbewegung auch für die Geburt der Homosexuellen- und Bisexuellen-Bewegung, aber auch der Transgender-Bewegung wichtig. Die ersten Bewegungen wie Lambda Istanbul oder die Gay-Lesben-Bewegung in Ankara sind in diesen Jahren entstanden. Von der Geburt dieser Bewegungen an gab es immer starke Berührungspunkte mit feministischer Theorie und Praxis. Lambda Istanbul wurde von der religiös konservativen AKP-Regierung mit der Beschuldigung, die "Moral" zu gefährden, mit der Schließung des Vereins bedroht und verklagt. Gegen den Beschluss über das Verbot von Lambda Istanbul wurde Berufung eingelegt, der Prozess ist derzeit noch am Laufen[11]. Heute gibt es trotz mehrerer Versuche der Verhinderung der Homosexuellenbewegung eine gewichtige Anzahl trans-, homo- und bisexueller AktivistInnen, die sich in Gruppen oder Vereinen politisch organisieren. Polizeigewalt, Versuche gesetzlicher Unterdrückung und patriarchale Gewalt erschweren zwar die politische Organisation und die gesellschaftliche Sichtbarkeit, die Solidarität zwischen diesen Gruppen und der feministischen Bewegung ist allerdings sehr stark und es wird in vielen politischen Fragestellungen eine gemeinsame Linie vertreten.

Eine neue Bewegungsform ist als Männerbewegung, die sich gegen patriarchale Gewalt und als profeministisch äußert, ebenfalls im Zuge der Gender- und Geschlechterdiskurse in der Türkei entstanden. Diese Gruppe bezeichnet sich als "Wir sind keine Männer" im Sinne des "herrschenden" Verständnisses: Das türkische Wort "erk", das Macht oder "Herrschaft" bezeichnet, ist Teil des türkischen Wortes für Mann "erkek". Diese Gruppe agiert als Männergruppe, die sich als antisexistisch, antipatriarchal, antimilitaristisch und antihomophob bezeichnet. Im Rahmen einer Demonstration am 19. April 2008 in Istanbul ist diese Gruppe erstmals an die Öffentlichkeit getreten.


Abschließende Bemerkungen

Die Frauenbewegung in den 1990er Jahren und seit 2000 hat sowohl die politischen Parteien als auch die linke Bewegung, die sozialistische Bewegung und die Bewegung der KurdInnen stark beeinflusst. Die politische Kategorie, dass "das Private politisch ist", war für die sozialen Bewegungen etwas Neues. Sie hat durch den jahrelangen Kampf der Frauenbewegung eine reale politische Dimension auch für die Wahrnehmung der linken Bewegungen selbst bekommen. Die abstrakten Ziele der Geschlechtergleichberechtigung wurden als konkrete Zielsetzungen in der Politik formuliert, mit denen sich die emanzipatorischen Bewegungen ebenfalls auseinandersetzen mussten. Nicht nur die politische Parole "Das Private ist politisch", sondern auch die weiteren politischen Analysen und Positionierungen der Frauenbewegung haben wichtige Kategorien in der Gesellschaftsanalyse eröffnet. Mehrere Frauenzeitschriften und feministische Zeitschriften haben auf verschiedenen Ebenen Tradition in der Theoriedebatte möglich gemacht.

Die Feministinnen der zweiten Welle der feministischen Bewegung haben auf unterschiedliche Arten und Weisen die Feminismusdebatte und ihre Erfahrungen in die dritte Welle der feministischen Bewegung hineingetragen. Sowohl die Frauenbewegung als auch die feministische Bewegung haben eine viel breitere Masse von Frauen erreicht. Die dritte Welle der Frauenbewegung hat aber auch das Erbe der ersten Frauenbewegung durch die akademische Sichtbarmachung ihrer Werke und politischer Taten wieder ins Gedächtnis gerufen. Es gibt seit den 1980er Jahren eine wichtige Tradition des akademischen Diskurses, die sich in Form der Frauenforschungsinstitute an den Universitäten, aber auch außerhalb der universitären Wissenschaftsproduktion durch die Frauenzeitschriften äußert. Generationen feministischer Schriftstellerinnen, Journalistinnen oder Kolumnistinnen sowie Künstlerinnen sind durch die Mobilisierung der Frauenbewegung entstanden. Gerade die feministischen Frauen in diesen Berufsgruppen haben viel zur Auseinandersetzung mit und zur Dekonstruktion von gesellschaftlichen Tabus beigetragen.

Heute gibt es in der Türkei nach Angaben aus 2005 über 226[12] Frauengruppen, in Form von Frauenorganisationen, -vereinen, Lobbygruppen, feministischen Gruppierungen, Frauenzeitschriften und feministischen Zeitschriften, Frauenbibliotheken, Yahoogruppen, Blogs und Internetzeitungen oder Organisation feministischer Filmemacherinnen. Die massenhafte Teilnahme an den Feiern des Internationalen Frauentages am 8. März ist ein sichtbares Zeichen dafür, welchen Umfang die Frauenbewegung in der Türkei erreicht hat.

Darüber, wie der 8. März gefeiert werden soll, gibt es allerdings immer noch Uneinigkeiten innerhalb der Frauenbewegung. Die feministische Bewegung verteidigt eine Position, die behauptet, dass der Internationale Frauentag eine reine Frauendemonstration sein soll, während einige Frauen von den gemischten linken Organisationen den 8. März gemeinsam mit Männern feiern wollen. In den Diskussionen setzt sich meistens die Linie der feministischen Frauenbewegung durch, obwohl es auch separate Aufmärsche linker Gruppierungen gibt.

Abschließend ist noch zu sagen, dass heute die Zeitschrift Amargi eine wichtige Funktion in der Theoriebildung, der Debatte über Aktivismus und feministischer Gesellschaftskritik erfüllt. Amargi ist eine dreimonatlich erscheinende feministische Zeitschrift und wird seit 2005 von Forscherinnen, Akademikerinnen und Aktivistinnen aus der zweiten und dritten Welle der Frauenbewegung herausgegeben. Das Sozialist Feminist Kollektiv ist ebenfalls eine Gruppe und Zeitschrift, die seit Februar 2009 existiert und eine unabhängige feministische und sozialistische Theoriebildung und Gesellschaftsanalyse anstrebt.


Günes Koç ist Dissertantin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien und arbeitet zum Thema Frauenbewegung in der Türkei. Ihre wissenschaftlichen Forschungsinteressen sind Frauenbewegung in der Türkei, Staat und Reformbewegungen im Iran, Migration in und nach Europa. Sie ist freiberufliche Journalistin.


Anmerkungen:

[1] Wird auch synonym als Radikalfeminismus verwendet, beruft sich auf Geschlechtergleichheit. Behauptet, dass die Geschlechterungleichheit aufgrund der gesellschaftlichen und kulturellen Ungleichheit entstanden ist.

[2] Behauptet, dass die Geschlechterdifferenz naturgegeben oder genetisch vorgegeben ist und dass es für die feministische Bewegung nicht um die Einebnung der Differenz, aber um die Gleichstellung beider Geschlechter gehen soll.

[3] Abdülhamit II. war von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reiches.

[4] Jungtürkische Partei

[5] Dieser Ausdruck gehört dem TKB (Zihnioglu 2003).

[6] Kreisky, Eva (1992), Der Staat als "Männerbund". Der Versuch einer feministischen Staatssicht, in: Elke Biester et al. (Hg.), Staat aus feministischer Sicht, Berlin, S. 53-62.

[7] Abdülhamid II. verkündet am 23. Dezember 1876 eine Verfassung (türk. Mesrutiyet), die ein parlamentarisches System eingeführt hätte, die er jedoch 1878 wieder außer Kraft setzt. Ab 1907 gibt es eine Bewegung für die Wiedereinsetzung dieser Verfassung. 1908 erzwingen die Jungtürken die Wiederinkraftsetzung der seit 1878 suspendierten Verfassung von 1876 (II. Mesrutiyet) und setzen den nur widerwillig kooperierenden Sultan 1909 schließlich ab.

[8] "Die Politik des Privaten" bedeutet gleichzeitig zu zeigen, dass "das Private politisch ist". Dieses Motto war für die zweite Frauenbewegung in der Türkei eine wichtige politische Kategorie, die durch die feministische Bewegung eröffnet wurde. Die Wahrnehmung der Politik, die Definition des Politischen und des Subjekts der gesellschaftlichen Emanzipation wurden durch die feministische Bewegung und die Frauenbewegung in Frage gestellt.

[9] Zu den "Bewusstseinserhöhungsgruppen" in den 1980er Jahren bietet der Artikel von Sule Aytac einen guten Überblick (Aytac: 2008, 41-44).

[10] Siehe dazu das Amargi-Heft über den Projektfeminismusdiskurs innerhalb der Frauenbewegung: Amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift (2006): Hast du ein Projekt? (Projen var mi?), Winter, 3.

[11] Der zweijährige Prozess scheint jetzt zu Ende gegangen zu sein. Das regionale Gericht in Ankara hat das Urteil des Berufungsgerichts übernommen, wonach die Satzung von Lambda nicht gegen bestehende Gesetze verstößt - und zwar im Augenblick. Für den Fall, dass Lambda in Zukunft homosexuelles Verhalten oder Transidentität propagieren sollte, könnte ein neues Verbotsverfahren eingeleitet werden. Die Provinzregierung in Istanbul kann gegen das Urteil in Berufung gehen. Ob sie das tut, ist noch nicht absehbar, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Insofern könnte das jetzt auch nur eine Verschnaufpause für Lambda Istanbul sein.Quelle: Transgenderradio vom 15.5.2009; http://www.transgenderradio.de/news/sendung0509.html

[12] Diese Anzahl entstammt dem Bericht der Frauenorganisation "ucan süpürge / fliegender Besen":
http://www.ucansupurge.org/index.php?option=com_content&task=view&id=2325&Itemid=77.


Literaturangaben:

Aytac, Sule (2008): Bewusstseinserhöhung (Bilinc Yükseltme), in: amargi 3 aylik feminist dergi (Amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift), Winter, 11, S. 41-44.

Berktay, Fatmagül/Kerestecioglu, Inci Özkan/Cubukcu, Sevgi Ucan/Terzi, Özlem/Forsman, Zeynep Kivilcim (Hg.) (2004): Die soziale Lage der Frauen in der Türkei und in der Europäischen Union. Fortschritte, Probleme, Hoffnungen (Türkiye'de ve Avrupa Birligi'nde Kadinin Konumu: Kazanlimlar, Sorunlar, Umutlar, Istanbul.

Bora, Aksu/Günal, Asena (2002): Feminismus in den 90er Jahren in der Türkei (90'larda Türkiye'de feminizm), Istanbul.

Cakir, Serpil (1996): Die osmanische Frauenbewegung (Osmanli kadin hareketi), Istanbul

Durakbasa, Ayse (2002): Halide Edip, Türkische Modernisierung und Feminismus (Halide Edip, Türk Modernlesmesi ve Feminizm), 2. Aufl.

Kandiyoti, Deniz (1997): Cariye's, Schwestern, BürgerInnen. Identitäten und gesellschaftliche Veränderungen (Cariyeler Bacilar Yurttaslar. Kimlikler ve Toplumlar Dönüsümler), Istanbul.

Karakus (2007): Die Spur der violetten Nadel darf nicht vergehen (Mor ignenin izi silimesin), in: amargi 3 aylik feminist dergi (Amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift), Frühling, 4, S. 8-10.

Kilic, Zülal (2007): 8. März - woher wohin? (8 Mart - Nereden Nereye?), in: amargi 3 aylik feminist dergi (amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift), Frühling, 4, S. 6-7.

Kreisky, Eva (1992), Der Staat als "Männerbund". Der Versuch einer feministischen Staatssicht, in: Elke Biester et al. (Hg.), Staat aus feministischer Sicht, Berlin, S. 53-62.

Sirman, Nükhet (2007): Die Beziehung der Frauen in der Türkei zur Gewalt (Türkiye'de feministlerin siddetle iliskisi), in: amargi 3 aylik feminist dergi (Amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift), Frühling, 4, S. 15-18.

Tekeli, Sirin (1995): Die Frauen in den 80er Jahren in der Türkei aus dem Blickwinkel der Frauen (1980'ler Türkiye'sinde Kadin Bakis Acisindan Kadinlar), Istanbul, 3. Aufl.

Yaraman (2001): Von der formellen Geschichte zur Frauengeschichte... (Resmi Tarihten Kadin Tarihine Elinin Hamuruyla Özgürlük).

Zihnioglu, Yaprak (2003): Nezihe Muhiddin, die frauenlose Revolution, die Frauenvolkspartei, die Frauenvereinigung (Nezihe Muhiddin, Kadinsiz Inkilap, Kadinlar Halk Firkasi, Kadin Birligi), Istanbul.

Broschüre des Vereins der emanzipierten Frauen (1996): ...und wir sind alle gelaufen... Verein der emanzipierten Frauen (1975-1980), Istanbul.

Zeitschriften:

Amargi - dreimonatige feministische Zeitschrift (2006): Hast du ein Projekt? (Projen var mi?), Winter, 3.

Internetadressen:

http://www.ucansupurge.org/index.php?option=com_content&task=view&id=2325&Itemid=77

Raute

Hülya Osmanagaoglu

Ohne Feminismus kein Sozialismus
Aus dem Türkischen von dose

Sozialistischer Feminismus beruft sich auf die Kapitalismuskritik des Marxismus, Frauenunterdrückung kann jedoch nicht auf Klassenunterdrückung reduziert werden, sondern es muss ein eigenes Herrschaftssystem Patriarchat angenommen werden, das als ebenso grundlegend wie der Kapitalismus angesehen wird.

Während im Kapitalismus die Produktionsverhältnisse auf der Ausbeutung der Arbeit der ArbeiterInnenklasse durch das Kapital basieren, tritt das Patriarchat als Herrschaftssystem der männlichen Kontrolle und Herrschaft über Frauen im Prozess der Reproduktion, im Privaten und in der Familie in Erscheinung. Die Verschränkung der einander ergänzenden kapitalistischen und patriarchalen Herrschaftsstrukturen bedeutet, dass auch der Widerstand dagegen feministische und antikapitalistische Ansätze verbinden muss. Insofern formuliert sozialistischer Feminismus eine umfassende Antwort auf die patriarchalen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Mit dem Begriff "patriarchaler Kapitalismus" wird die materielle Grundlage des Patriarchats im Kapitalismus, nämlich männliche Kontrolle über weibliche Arbeitskraft, ausgedrückt. Männer sichern diese, indem sie verhindern, dass Frauen Zugang zu den entscheidenden Produktionsmitteln haben, aber auch indem sie die weiblichen Körper kontrollieren. Aus diesem Grund stützt sich die materielle Basis des Patriarchats nicht nur auf das Großziehen der Kinder in den Familien, sondern auf alle gesellschaftlichen Strukturen, die männliche Herrschaft über die weibliche Arbeitskraft ausüben (Hartmann, 1992).

SozialistInnen dagegen nähern sich (im Allgemeinen) der Analyse von Frauenunterdrückung im besten Fall innerhalb des Rahmens an, dass die kapitalistische Produktionsweise aus den geschlechtlichen Ungleichheiten Profite zieht. In der Umsetzung ihrer Analyse in Politik jedoch gehen sie davon aus, dass Frauenunterdrückung ein Resultat des Kapitalismus sei, und fallen somit einen Schritt zurück.

Heutzutage wird im Sprachgebrauch fast aller SozialistInnen der Begriff Männerherrschaft als moralische Kategorie verwendet, um eine Eigenschaft des Kapitalismus zu bezeichnen - dies ist unzureichend, um das Patriarchat und seine inneren Dynamiken zu beschreiben. Das patriarchale Herrschaftsverhältnis nicht als grundlegend anzusehen, führt dazu, dass der Widerstand gegen Männerherrschaft auf den Widerstand gegen eine Ideologie reduziert wird. Dies bedeutet weiters, dass Männerherrschaft lediglich als Überrest kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse begriffen wird, der mit der Aufhebung des Privateigentums endet. Wird die Priorität der Frauenorganisierung nur aus sozialistischem Blickwinkel legitimiert, so werden die Richtlinien der Frauenkämpfe von den Bedürfnissen des Sozialismus bestimmt.

Die Prioritäten des sozialistischen Widerstandes greifen meist zu kurz: Sie bedeuten Kampf gegen Armut, wenn uns der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen am dringlichsten erscheint. Widerstand gegen die neue Sozialgesetzgebung kann so zum Kampf gegen den politischen Islam werden. Mitunter tritt sogar der Beschützerreflex gegenüber Vergewaltigern unter dem Vorwand des Schutzes der "sozialistischen Organisation" auf den Plan. Die Konsequenz ist immer dieselbe: Die Bedürfnisse des sozialistischen Kampfes haben Vorrang.

So war Zhenotdel zwar das einzige Organisationsmodell für Frauen, auf das sich die gesamte sozialistische Bewegung in der frühen Sowjetunion in ihrer Gespaltenheit einigen konnte (ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt). Das Ziel von Zhenotdel war jedoch nicht, den Kampf um die Befreiung der Frauen (also Feminismus) - wie den Klassenkampf - gegen ein konstituierendes Herrschaftsverhältnis zu führen, was schließlich doch die Einengung des Tätigkeitsfeldes sozialistischer Frauen bedeutete.


Zhenotdel - die Frauensektion der Bolschewistischen Partei

Im November 1918 fand - u.a. auf Vorschlag von Lenin - der erste von Frauen organisierte Arbeiterinnenkongress statt (darunter Nadeschda Krupskaja, Inessa Armand und Alexandra Kollontai). Nach diesem Kongress, einem ersten Schritt der parteigebundenen Organisierung von Frauen, wurde im Zuge der darauf folgenden Aktivitäten 1919 Zhenotdel, die Frauenorganisation der Bolschwistischen Partei, gegründet. Diese Organisation galt mehr oder weniger die gesamte Zeit des Realsozialismus hindurch als Modell zur Organisierung von Frauen, und gilt teilweise noch heute als solches. Sie war die Konsequenz der bolschewistischen Auffassung, sich der Frage der Befreiung der Frauen zu stellen. Am eindruckvollsten spiegeln diesen Zugang folgende Aussagen von Lenin wider:

Ohne Millionen von Frauen auf unsere Seite zu ziehen, können wir die Diktatur des Proletariats nicht verwirklichen. Der Aufbau des Sozialismus ist ohne sie nicht denkbar. Wir müssen also einen Weg finden, sie zu erreichen (...) Die Partei muss Organe haben, die ihr den Kontakt zu und die Kontrolle über (...) breite Massen von Frauen ermöglichen. (Cliff, 1981:163)[1]

Es sollten jetzt keine gesonderten Frauenorganisationen entstehen. (...) Doch in der Partei brauchen wir einen entsprechenden Apparat, der die Verantwortung dafür trägt, dass das Selbstbewusstsein der Massen der Frauen gehoben wird und die Frauen lernen, ihre Rechte für den Aufbau des Sowjetstaates, das heißt einer besseren Zukunft, zu nutzen. (Kollontai, 1986:73)[2]

Wenn wir davon ausgehen, dass Lenins Einstellung im Verhältnis zum Großteil der Partei fortschrittlich war, dann ist verständlich, warum jene Rechte, die Frauen in der selbst von radikalen FeministInnen als "sexuelle Revolution" in der frühen Sowjetunion bezeichneten Zeit (Millet, 1987) erreicht hatten, so einfach wieder zurückgenommen werden konnten. Aber, Lenin eingeschlossen, lässt sich der Zugang der BolschewikInnen zur Frauenfrage im Allgemeinen auf die Einbindung von Frauen in die Lohnarbeit bei gleichzeitiger Verringerung der Arbeitslast im Haushalt sowie die Anbindung von Frauen an den Sozialismus zusammenfassen. Die zeitgenössischen sozialistischen VordenkerInnen - auch jene, die sich intensiv und ernsthaft mit der Unterdrückung von Frauen auseinandersetzten, wie Krupskaja, Armand, Zetkin und Kollontai - machten die Unterdrückung von Frauen ganz und gar von kapitalistischer Ausbeutung und der dazugehörigen Ideologie abhängig und gingen von der Überlegung aus, dass mit der Abschaffung des Kapitalismus samt zugehöriger Ideologie die Männerherrschaft ebenfalls verschwinden werde. Deswegen war der Gedanke an eine eigenständige Frauenorganisation nicht vorstellbar und wurde als bürgerlicher Feminismus abgestempelt. Unter der Prämisse, dass die Herrschaft des Arbeitermannes über die Arbeiterin von kapitalistischer Ideologie erzeugtes falsches Bewusstsein wäre, gingen sie davon aus, dass der gemeinsame Kampf von Frauen und Männern auf dem Weg zum Kommunismus dieses Problem lösen werde.

Weibliche Identität wurde mit Mutterschaft gleichgesetzt, dementsprechend war die Hauptbegründung für die eingeführten Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit die Gewährleistung der heiligen(!) Mutterschaftspflichten - selbst bei Einbindung der Frauen in den Produktionsprozess. In ihren Erinnerungen an Lenin schreibt Kollontai folgendes:

Wladimir Iljitsch vertrat die Ansicht, dass (...) die Frau eine wertvolle schöpferische Kraft (sei), doch sie habe auch das Recht und die Pflicht Mutter zu sein. Die Mutterschaft sei eine große gesellschaftliche Verpflichtung. (...) Worauf es ankommt, ist, dass sie auch in der Praxis befreit wird. Diese Befreiung bedeutet, dass ihr die Möglichkeit gegeben wird, ihre Kinder großzuziehen und zu erziehen und dabei ihre Pflichten als Mutter mit der gesellschaftlichen Arbeit in Einklang zu bringen. (Kollontai, 1986:75)[3]

Dank der intensiven Organisierungsleistungen des Zhenotdel - der gegründet wurde, um Frauen für den Kampf für den Sozialismus und die Partei zu gewinnen - stieg der Frauenanteil in der Partei von 7,4% im Jahr 1920 auf 13,1% im Jahr 1927. 1923 waren 1.449.000 Frauen gewerkschaftlich organisiert, 1957 bereits 2.569.000, was 26% der Gesamtmitgliedschaft entsprach (Rosenberg, 1990:105).

Die Einstellung der bolschewistischen Partei änderte sich in dieser Zeit nicht. Die Ansicht, dass Mutterschaft die eigentliche Aufgabe von Frauen sei, blieb vorherrschend. Durch die Gebärfähigkeit bleibt die weibliche Verfügungsgewalt über den eigenen Körper beschränkt: der weibliche Körper unterliegt einer Art staatlicher Kontrolle, die Moralvorstellung wird von Monogamie beherrscht, die Gleichheit von Frauen und Männern wird lediglich auf ihre Arbeitskraft beschränkt. Kollontais Aussagen sind bereits ein Indiz dafür, dass die erreichten juristischen Rechte in späteren Jahren so leicht zurückgenommen werden konnten:

Am achten Sowjetkongres (...) brachte ich als Mitglied der Sowjetexekutive einen Antrag ein, der dahin lautete, dass die Sowjets auf allen Gebieten dazu beitragen, die Frau als gleichberechtigt zu betrachten und sie demgemäß zur Staats- und Kommunalarbeit heranzuziehen. Nicht ohne Widerstand gelang es mir, diesen Antrag zu stellen und zur Annahme zu bringen. (...) Eine heiße Diskussion entstand, als ich meine These über die neue Moral veröffentlichte, denn unser Sowjet-Ehegesetz ist nicht wesentlich fortschrittlicher als die gleichen Gesetze, war zwar von der Kirche getrennt, aber es gab doch die in anderen fortschrittlich demokratischen Ländern. Die Ehe, Zivilehe und obwohl das uneheliche Kind gesetzlich dem ehelichen gleichgestellt wurde, bestand praktisch noch viel Heuchelei und Ungerechtigkeit auf diesem Gebiete. Wenn man von der "Unsittlichkeit" spricht, die die Bolschewisten propagieren, so sollte man nur unsere Ehegesetze einer genauen Prüfung unterziehen und man würde da sehen, dass wir in der Ehescheidungsfrage auf dem Niveau von Nordamerika und in der Frage des unehelichen Kindes noch nicht einmal so weit wie Norwegen sind. (Kollontai, 1992:47-48)[4]

Um den Sozialismus vor der Freiheit der Frauen zu schützen, wurden der weibliche Körper und die Sexualität weiterhin vorrevolutionären Werturteilen unterworfen, es setzten sich die rückschrittlichsten Einstellungen der Gesellschaft als Konventionen durch. Obwohl die VordenkerInnen der Bolschewistischen Partei, einschließlich Lenin, mit dem Ziel des freien Menschen angetreten waren, bestand weibliche Freiheit in ihrer Vorstellung darin, frei zu arbeiten und am sozialistischen Kampf teilzunehmen. Das Recht auf Kontrolle über den weiblichen Körper und über die weibliche Sexualität sollte die Gesellschaft innehaben, wie folgende Zitate Lenins aus den Erinnerungen Clara Zetkins zeigen:

Clara, Ihr Sündenregister ist noch größer. Es wurde mir erzählt, dass in den Lese- und Diskussionsabenden der Genossinnen besonders die sexuelle Frage, die Ehefrage behandelt werde. Sie sei Hauptgegenstand des Interesses, politischer Unterrichts- und Bildungsgegenstand. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als ich das hörte. (...)

Nun gewiss! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist? Wichtiger als alles ist aber die soziale Seite. Wassertrinken ist wirklich individuell. Zur Liebe gehören zwei, und ein drittes, ein neues Leben entsteht. In diesem Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, eine Pflicht gegen die Gemeinschaft. (Zetkin, 1979:250-256)[5]

Zhenotdel, der 1919 Kampagnen zur Befreiung der Frauen vorangetrieben hatte, war bereits 1930 vollkommen von der Partei und der Regierung vereinnahmt und organisierte die Kampagne "Kollektivierung zu 100 Prozent". Nachdem Zhenotdel nicht als unabhängige Organisation gegründet worden war, hatte er nicht die Kraft, Frauen gegen Parteibeschlüsse zu verteidigen und wurde bereits 1932 aufgelöst. Innerhalb von 20 Jahren verloren die Frauen mehr oder weniger alle juristischen Erfolge, die sie in der Oktoberrevolution erreicht hatten. Die Hoffnungen, die sie in die Parteihierarchie, in den Aufbau des Sozialismus und somit in ihre männlichen Genossen gesetzt hatten, beförderten nicht nur ihre Niederlage ohne jeden Widerstand, sondern beeinflussten die Analysen bezüglich der Organisation von Frauen in allen nachfolgenden sozialistischen Projekten und Organisationen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Die neuerliche Verbindung von marxistischer Theorie mit einer breiten Frauenbewegung musste auf die Zweite Frauenbewegung warten, die die Mängel in der Praxis und der Organisierung von Frauen reflektierte.


Die SozialistInnen und der Feminismus in der Türkei

Unter dem Einfluss der feministischen Bewegung der 1990er Jahre und aufgrund der Erkenntnis der spezifischen Auswirkungen der kapitalistischen Verhältnisse auf Frauen, entwickelten mehr oder weniger alle aktiven Gruppierungen der sozialistischen Bewegung in der einen oder anderen Form eine abhängige Frauenorganisation innerhalb ihrer Organisationsstrukturen. In den eigenständigsten Beispielen solcher Frauenorganisationen, in der ÖDP und der SDP[6], zeigte sich eine konkrete Spaltung zwischen einer Frauenbewegung und einer feministischen Bewegung im Zusammenhang mit dem Kampf um die Befreiung von Frauen. Diese sicherlich ideologisch, politisch und/oder organisatorisch abhängigen Frauenorganisationen, die im öffentlichen Raum politische Aktionen gegen Diskriminierung, Sexismus und Ausbeutung setzten, sahen sich in ihren Aktivitäten in den letzten zehn Jahren in vielen Fällen Seite an Seite mit der feministischen Bewegung. Bis zur Novamed Kampagne 2007[7] entwickelte sich ein Mit- und Nebeneinander der Feministinnen und der sozialistischen Frauen, wobei die kurdische Frauenbewegung als Katalysator diente (im Allgemeinen wollen beide Seiten mit kurdischen Frauen zusammenarbeiten). Die politischen Thesen und Forderungen, die in den Vordergrund traten, resultierten jedoch zu einem großen Teil nicht aus einer gemeinsam vertretenen Frauenpolitik, sondern drückten vielmehr die frauenspezifischen Elemente oppositioneller gesellschaftlicher Politik aus. Das hatte Auswirkungen auf die Frauenbewegung: Einerseits ist ihre gebrochene Stimme angesichts einer politischen Linie, die noch immer die Verbindung zwischen Öffentlichem und Privatem entkoppelt, fast gar nicht mehr zu hören. Andererseits verstellt ein abgenutzter ideologischer Kampf die Sicht auf die Unterdrückung von Frauen.

Die begrenzten Vorstellungen der sozialistischen Bewegung verringern die Möglichkeiten der sozialistischen Frauen, sich in der ArbeiterInnenklasse zu verankern, obwohl auch sie sich schwerpunktmäßig auf die Organisierung in den Stadtteilen konzentrieren und darauf hin arbeiten, Kampfformen im informellen Sektor zu entwickeln. Sie organisieren in der Regel Putzarbeiterinnen und Heimarbeiterinnen, die nach Stücklohn bezahlt werden, usw. unter dem Dach von Kooperativen, um eine stärkere Position gegenüber dem Kapital sicherzustellen, verfolgen aber keine entsprechenden politischen Aktivitäten, um dieselben Frauen ihren Männern gegenüber zu stärken, mit denen diese unter einem Dach zusammenleben müssen. Während im Rahmen fast aller Arbeiten in den Stadtteilen Gesundheitsseminare für Frauen veranstaltet werden, bleibt es die Aufgabe der Feministinnen, das Gesetz Nr. 4320[8] zu erklären. Die SozialistInnen schaffen es nicht, die Frauen gegen ihre Ehemänner zu Hause in derselben Art aufzubringen, wie gegen die UnternehmerInnen, für die sie Stückarbeit machen. Einerseits bleiben sie in ihrer politischen Arbeit im ideologischen Rahmen ihrer Organisation, andrerseits wollen sie nicht den Abbruch der Beziehung der Ehemänner mit den zu Hause widerständigen Frauen riskieren. Der Druck der Ehemänner, die ihre Vorteile gefährdet sehen, beeinflusst die Positionen, da diese Ehemänner großteils die potentielle Zielgruppe der sozialistischen Organisationstätigkeiten in der Stadtteilarbeit sind. So kommt es dazu, dass die männlichen Kader der Organisationen unmittelbar eingreifen und damit natürlich auch ihren eigenen Nutzen verteidigen.

Die Analysen der Entwicklung des Kapitalismus durch die sozialistischen Bewegungen kommen nicht zur Einsicht, dass der Kapitalismus ein patriarchaler ist. Es sind kaum Spuren eines Standpunktes anzutreffen, der von der Wechselwirkung und Verschränkung von Klassendynamiken und Dynamiken der Geschlechterordnung ausgeht. Es sind nur die Feministinnen, die in ihren sozialen Zusammenhängen die Rolle des Patriarchats diskutieren. Um es mit anderen Worten zu sagen: Analysen der Geschlechterordnung sind kein integraler Bestandteil der Kapitalismusanalyse und des Verständnisses vom Sozialismus, sondern bleiben eine Art ideologische Ergänzung (Savran, 2007). Durch die Trennung von privat und öffentlich wird in der sozialistischen Bewegung der Irrtum fortgesetzt, dass Frauen befreit werden könnten, wenn im Kampf gegen "Männer und Männerherrschaft" der Teil "Männer" weggelassen wird. Das bedeutet, den Zusammenhang zwischen den Prügeln vom Ehemann zu Hause, der Monotonie der Erziehungsarbeit für die Kinder und beim Bügeln sowie dem geringeren Lohn trotz gleicher Arbeit unsichtbar zu belassen.


2007 - wie offensichtlich wurde, dass SozialistInnen den Feminismus brauchen

Die wirkungsvolle Unterstützung des 2006 beginnenden Novamed-Streiks durch einen Aufruf der feministischen Bewegung und einer von der Frauenbewegung initiierten Kampagne hat 2007 gezeigt, wie sehr Klassenkampf die feministische Bewegung braucht, wenn es um die auf unsichtbarer Frauenarbeit aufbauende Produktion geht. Da die Hausarbeit noch immer auf dem Rücken der Frauen lastet, ist es wichtig zu betonen, dass gegen Männer und gegen das Kapital zugleich gekämpft werden muss, da beide verantwortlich für die Last der Hausarbeit sind. Unter neoliberalen Bedingungen verdienen Frauen nicht nur zu wenig Geld, um den Aufwand der Hausarbeit zu verringern, sondern zusätzlich werden Bedingungen legalisiert, die die UnternehmerInnen aus ihren ohnehin begrenzten Verantwortlichkeiten entlassen. Als Teil flexibler Produktion sind Frauen gezwungen, Sklavenbedingungen zu ertragen - sei es in Auftragsmanufakturen in den so genannten "Werkstätten unter dem Stiegenaufgang", sei es bei Stückarbeit in Heimarbeit oder in Freihandelszonen, wie am Beispiel Novamed zu sehen ist. Ihre Arbeitskraft ohne jeden Schutz und ohne Sozialversicherung sichert über die Senkung der Herstellungskosten den Anstieg der Profite. Frauen bleibt die Wahl, entweder die völlige Armutsabhängigkeit vom Ehemann zu akzeptieren oder sich zusätzlich zur Bürde der Hausarbeit in der Lohnarbeit zu verdingen und dabei als Frauen besonders ausgebeutet zu werden. Gleichzeitig wird im Rahmen der Genderpolitik der EU immer wieder wiederholt, wie wichtig das Ansteigen der weiblichen Beschäftigungsrate ist. Was das für Frauen konkret bedeutet, wird jedoch im Unklaren gelassen. Das Ziel der EU Beschäftigungsstrategie ist die Erhöhung der Erwerbsrate von Frauen unter den Bedingungen weiterer Flexibilisierung des Arbeitskräftemarkts, der Beschneidung der ArbeiterInnenrechte, flexibler Beschäftigungsverträge und Teilzeitjobs (Rubery, 2005). Der konkreteste Ausdruck dieses Trends ist die Resolution, die 2006 bei einem vom Unternehmerverband TISK[9] veranstalteten Treffen zur Frauenbeschäftigung verabschiedet wurde:

Es sollen Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Frauen geschaffen werden, etwa dadurch, dass für Frauen, die das erste Mal in einem Arbeitsverhältnis stehen, ein Teil der Arbeitgebersozialversicherungsprämien vom Staat übernommen wird.

Es müssen flexible Strukturen zur Absicherung einer Balance zwischen Erwerbs- und Familienleben eingeführt werden, entsprechend den Rechten der Frauen in der EU.

Eigene Beschäftigungsbüros sollen, wie in den EU-Staaten, als Bestandteil der bevorstehenden Gesetzesänderungen die Funktion übernehmen, befristete Beschäftigung abzusichern.

Das Ziel ist, die noch bestehenden sozialen Rechte der Frauen zu beschneiden, das Recht auf Kinderbetreuung und die Beschränkungen für Nachtarbeit sowie Überstunden aufzuheben und zu ermöglichen, dass Frauen in der Lohnarbeit unter schlechteren Bedingungen als Männer arbeiten. Die Machtlosigkeit der Gewerkschaften und die auf patriarchaler Männerbürokratie aufgebaute ideologische Hegemonie bestärken das Kapital in diesem Vorgehen. Um kurzfristige ökonomische Vorteile zu wahren, schließen die Gewerkschaften jene Möglichkeiten aus, mit denen sie langfristig die gesamte Klasse (auch die Frauen) einbinden könnten. Sie verfolgen dabei eine Politik der geschlechtlichen Blindheit (Brenner 1998). Die SozialistInnen wiederum ignorieren, dass der Schwerpunkt der Ausbeutung im Neoliberalismus auf Frauenarbeit beruht und die Allianz zwischen Kapitalismus und Patriarchat in diesem Prozess materiell und ideologisch ist.

Egal, ob es um Frauenerwerbsarbeit oder um die Steigerung des Frauenanteils in der Lohnarbeit geht, die Lösung der Frauenarbeitslosigkeit wird in der Verkürzung der Arbeitszeiten gesucht. Jetzt ist es an der Zeit, Forderungen wie Kinderbetreuung sowie gleiche Reproduktionsrechte für Frauen und Männer wieder auf die Tagesordnung zu setzen - nicht nur wegen der lohnarbeitenden Frauen, sondern für die Klasse insgesamt. Forderungen, die offenbar im Laufe des 20. Jahrhunderts vergessen wurden. Angesichts dessen, dass der Neoliberalismus in den letzten 20 Jahren auf vermehrter Frauenarbeit beruht, können Klassenorganisationen und die sozialistische Bewegung nicht umhin, die Forderungen der feministischen Bewegung in ihre Programme aufzunehmen - auch wenn diese angesichts des hegemonialen Diktats in Zeiten der neoliberalen Plünderung mit dem Namen Globalisierung kaum diskutierbar erscheinen.

Ende 2007 gründete sich auf einen Aufruf von Feministinnen hin die "Frauenplattform für Soziale Rechte". Ihre Forderungen zeigen die grundlegende Richtung und Haltung eines solchen Kampfes. Die Gewerkschaften (KESK[10]) schützen bestenfalls das Bestehende gegen die neoliberale Plünderung, die zuletzt als "Novelle des Sozialversicherungsgesetzes"[11] daherkam. Um ihr Image zu wahren, sind die Gewerkschaften der ArbeiterInnen in Verhandlungen über das Ausmaß der Anspruchszeiten in der Höhe zwischen 8000 und 9000 Tagen für die Pensionsberechtigung verwickelt. Ihre Politik lässt eher an Zusammenarbeit mit den UnternehmerInnen denken, als an den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital.

In diesem Punkt kann nur dem "Grundsätzlichen Einspruch zur Novellierung des Sozialversicherungsgesetzes" der "Frauenplattform für Soziale Rechte" zugestimmt werden. Die Forderungen überzeugen in ihrer Radikalität, sie sind aus einer feministischen Analyse heraus entwickelt und thematisieren die Position von Frauen sowohl gegenüber dem Kapital als auch gegenüber den patriarchalen Herrschaftsbeziehungen, in denen sie leben:

Bis zur Abschaffung unserer unbezahlten Hausarbeit wollen wir nicht Gesetze, die uns angeblich gleichstellen, jedoch nur vorübergehende Vorkehrungen sind, sondern positive Diskriminierung!

Wir arbeiten doppelt, sowohl zu Hause als auch am Arbeitsplatz. So wie UntertagearbeiterInnen und ArbeiterInnen an besonders gefährlichen Arbeitplätzen Zulagen gewährt werden, verlangen wir eine geschlechtsspezifische Abnutzungszulage. In Verbindung mit dieser Zulage fordern wir einen frühen Pensionsantritt mit niedrigen Beitragsraten.

Bis gewährleistet ist, dass Haus- und Erziehungsarbeit zu gleichen Teilen von Männern übernommen wird (obgleich einige der Dienstleistungen in der Verantwortung eines Sozialstaates liegen), verlangen wir für jedes Jahr, das wir arbeiten, für unsere Leistungen zusätzliches Geld für 180 Tage.

Egal ob verheiratet oder ledig, verlangen wir für Frauen, die in keiner Lohnarbeit stehen, eine kostenlose Sozialversicherung und einen Pensionsanspruch, der nicht an den Vater oder den Ehemann gebunden ist.

Der Entwurf der Sozialversicherungsnovelle schließt alle aus - in der Mehrheit Frauen -, die im Haushalt arbeiten, PutzarbeiterInnen, LandarbeiterInnen, kostenlose FamilienarbeiterInnen und all jene, die unter dem Mindestlohn arbeiten.

Wir fordern das Recht auf soziale Sicherheit für alle Frauen, die im Haushalt arbeiten, für LandarbeiterInnen, kostenlose FamilienarbeiterInnen und für Frauen, die unter dem Mindestlohn arbeiten ungeachtet ihrer Arbeitszeiten und Arbeitsplätze. (Flugblatt der "Plattform für Soziale Rechte von Frauen", 2008)

Die sozialistische Bewegung muss erkennen, dass Frauen nicht allein mit der Überwindung des Kapitalismus befreit werden. In den täglichen Klassenkämpfen und im Widerstand gegen den Neoliberalismus müssen die auf einer Patriarchatsanalyse basierenden Forderungen der Feministinnen einbezogen werden.

Und vielleicht bedürfen die SozialistInnen zuallererst des Feminismus, während den FeministInnen endlich die Akzeptanz als unabhängiges politisches kollektives Subjekt zustehen sollte.


Anmerkungen:

[1] Eigenübersetzung der Übersetzerin.

[2] In der Übersetzung zitiert nach Kollontai, Alexandra: Ich habe viele Leben gelebt. Autobiographische Aufzeichnungen, Berlin 1982

[3] Siehe Anmerkung 2.

[4] In der Übersetzung zitiert nach Kollontai Alexandra: Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin, Berlin, Verlag Klaus Guhl (ohne Jahresangabe).

[5] In der Übersetzung zitiert nach Zetkin, Clara: Erinnerungen an Lenin, 1925, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/zetkin/1925/erinnerungen/lenin.html

[6] ÖDP: Özgürlük ve Dayanisma Partisi, Partei für Freiheit und Solidarität; SDP: Sosyalist Demokrasi Partisi, Sozialistische Demokratiepartei.

[7] Am 26.9.2006 begannen die 84 ArbeiterInnen, 82 davon Frauen, des Medizintechnik-Konzerns Novamed, einer Fresenius-Tochter in Antalya, den ersten Streik in einer Freihandelszone in der Türkei. Er dauerte 447 Tage. Gestreikt wurde für bessere Löhne und gegen die Arbeitsbedingungen, wie Sprechverbot während der Arbeitszeit, Rauchverbot auch in den Pausen, zu kurze Pausen ohne Bereitstellung von Essen. Der Konzern versuchte, die Reproduktion zu kontrollieren: Für Heiraten sollte eine Bewilligung eingeholt und Schwangerschaften sollten mit der Geschäftsleitung vereinbart werden. Am 18.12.2007 unterschrieben die türkische ChemiearbeiterInnengewerkschaft Petrol-Is und die Geschäftsleitung des Fresenius Medical Care einen Tarifvertrag. Zum Erfolg trug auch die von Feministinnen organisierte internationale Solidarität bei.

[8] Das Wegweisungsrecht bei Gewalt in der Familie wurde 2002 eingeführt.

[9] Türkiye isveren sendikalari konfederasyonu - Konföderation der Interessensvertretungen der Arbeitgeber der Türkei

[10] KESK: Kamu Emekçileri Sendikalari Konfederasyonu, BeamtInnengewerkschaft.

[11] Mit der Novellierung der Sozialversicherung wurden die geringen sozialstaatlichen Elemente in der Türkei, wie eine zwar niedrige, aber relativ frühe Pension nach 15-20 Arbeitsjahren und das Übernahmerecht der Pension des Vaters für unverheiratete Frauen abgeschafft. Die Novelle, entsprechend dem EU-Standard, bedeutet nicht nur erheblich längere Lebensarbeitszeiten, sondern schafft die verpflichtende Kinderbetreuungsmöglichkeit am Arbeitsplatz ab und verschlechtert die Leistungen der Krankenkasse. Nach einem landesweiten zweistündigen Warnstreik im März 2008 winkte die AKP-Regierung mit einem "Kompromissangebot". Die darauf eingehenden Gewerkschaften fielen damit dem sich formierenden Widerstand in den Rücken.


Literaturangaben:

Brenner, Johanna: On Gender and Class in US Labor History, Monthly Review, Ekim 1998, (Çevrimiçi), http://www.monthlyreview.org

Cliff, Tony: Kadinlarin Özgürlügü ve Sinif Mücadelesi, Çev.Samil Bestoy, Istanbul, Ataol, 1981

Hartmann, Heidi: Marksizm'le Feminizm'in Mutsuz Evliligi, Çev.Gülsad Aygen, Kadinin Görünmeyen Emegi, Der. Gülnur Savran, Nesrin Tura, Istanbul, Kardelen, 1992, sf 128-170

Kollontay, Aleksandra: Kadinlarin Özgürlügü, Çev. Yasemin Çongar, Istanbul, Yarin, 1986

Özgür Bir Kadin Komünistin Otobiyografisi, Çev.Nesrin Oral, Istanbul, Belge, 1992

Millet, Kate: Cinsel Politika, Çev. Seçkin Selvi, Istanbul, Payel, 1987

Rosenberg, Chanie: Kadinlar ve Perestroyka, Çev. Osman Akinhay Istanbul, Pencere, 1990

Rubery, Jill: Reflections on Gender Mainstreaming: An Example of Feminist Economics in Action, Feminist Economics, Routledge, Pheledelphia, 2005, Volume 11 No 5, sf 1-27

Savran, Gülnur: Feminist Elestiri Karsisinda Marksist Sol, Sol-Modern Türkiye'de Siyasi Düsünce, Istanbul, Iletisim, 2007, sf. 1146-1153

Zetkin, Klara: Lenin'in Bütün Dünya Kadinlarina Vasiyeti, Çev, Atilla Temiz, Istanbul, Sorun, 1980

Raute

Güney Isikara

Schulausbildung und Militarismus

Die türkischen Streitkräfte, ein wesentlicher Akteur der türkischen Politik, sowie ihre nationalistische Ideologie nehmen im Lehrplan der Gymnasien einen wichtigen Platz ein und werden im Fach "Nationale Sicherheit"[1] unterrichtet. Alle Studierenden müssen diesen Unterricht im zweiten Jahr der Gymnasiumsausbildung zwingend besuchen. Aber nicht nur im Fach "Nationale Sicherheit" kommen die Themen "Die Prinzipien von Atatürk" und "Die Bedeutung der Streitkräfte" zu Sprache. In einem weiteren Unterrichtsfach, "Die Prinzipien von Atatürk und Geschichte der türkischen Revolution", geht es um den Verlauf des Befreiungskrieges von 1919 bis 1922, das Leben von Atatürk und die von ihm initiierten Reformen. Die Lehrpläne dieser Unterrichtsfächer werden vom militärischen Generalstab vorbereitet und von Offizieren in Uniform unterrichtet. Militarismus und Schulausbildung sind so eng miteinander verstrickt. Im Folgenden soll die Entwicklung des Unterrichtsfaches "Nationale Sicherheit" dargestellt werden.


Vom "Militärdienstunterricht" zum Fach "Nationale Sicherheit"

Der Unterricht in "Nationaler Sicherheit" hieß ursprünglich "Militärdienstunterricht" und wurde in Gymnasien seit 1926 zwingend unterrichtet. Der Zweck dieses Unterrichts laut den Richtlinien für nationale Sicherheit, die 1965 veröffentlicht wurden, war: "Parallel zu anderen Fächern werden Sie im Laufe der Zeit mit der Hilfe des Unterrichts in nationaler Sicherheit im Sinne der Lehren Atatürks erkennen, warum wir in den zukünftigen Kriegen für unsere Heimat sterben und töten müssen. Dadurch werden Sie zu bewussten Helden."[2] Die Konditionierung der Individuen im Ausbildungsalter zum Töten und Sterben, egal wofür und warum, ist eine der wichtigsten Ursachen der sozialen und gesellschaftlichen Gewalt. Als ob die Gewalt im Alltag und in den Medien nicht genug präsent wäre, wird in diesen Lernmaterialien das Töten und Sterben verherrlicht, anstatt für das Leben und die Toleranz einzutreten.

Auch im Lehrbruch des Schuljahrs 2007/08 finden sich die gleichen Gedanken, bloß leicht umformuliert: "Die Heimat ist für uns das Brot (Geschenk) unseres Schwertes. Wir mögen sie immer mehr als uns selbst und sind bereit, jederzeit unser Leben für sie opfern."[3] "Der beste Ausdruck der Treue zu unserer Heimat ist es, das Leben gerne für sie opfern, wenn es nötig ist."[4] Ziel und Zweck des Unterrichts in "Nationaler Sicherheit" wird in diesem Lehrbuch folgendermaßen zusammengefasst: "Der Zweck der Ausbildung in nationaler Sicherheit ist es, die türkische Jugend zum Schutz und zur Verteidigung der von Atatürk errichteten Republik zu erziehen. Dieser Unterricht hilft gleichzeitig dazu, die benötigte Bereitschaft der Jugend zu fördern, sich in diesem Sinne zu engagieren."[5]

Auch wenn die heutigen Lehrinhalte im Vergleich zur Vergangenheit weniger offen Gewalt verherrlichen, bleibt die inhaltliche Ausrichtung im Wesentlichen unverändert. Im Jahre 1998 wurde der Lehrplan bezüglich der Darstellung der türkischen Streitkräfte sowie des Militärdienstes überarbeitet und wird seitdem nach zwei Dokumenten unterrichtet: "Der Kemalismus und die Prinzipien von Atatürk - nationale Gemeinschaft und Solidarität" sowie "Die Lage der Türkei, die Bedrohungen durch die Nachbarländer und unsere Beziehungen zu internationalen Institutionen." Wie an der Themenstellung ersichtlich, geht es vor allem um Politik und Außenpolitik. Wenn überhaupt, dann wird in türkischen Gymnasien in diesen Fächern über Politik gesprochen. Man kann sogar sagen, dass dies der einzige Unterricht ist, in dem man über Politik sprechen "darf". Dass Politik eine Angelegenheit des Militärs ist, wird durch den Unterricht durch zumeist uniformierte Offiziere unterstrichen.

Nachdenklich muss auch die Aussage über die erweiterten Funktionen und Aufgaben der türkischen Streitkräfte stimmen, die da lautet: "Die türkischen Streitkräfte sind die bedeutendste Schule."[6] Anstatt zu hinterfragen, warum Menschen im Militärdienstalter nicht schreiben und lesen können, wird mit Fotos und Berichten die Ausbildung in verschiedenen - auch berufsbildenden - Fächern im türkischen Militär gepriesen und dadurch die türkischen Streitkräfte als geradezu heldenhafte Organisation dargestellt. Wenn wir jedoch die Sozialausgaben mit den Ausgaben für das Militär vergleichen, liegt eine bessere Lösung für Bildung und Ausbildung der Menschen auf der Hand. Aufmerksamkeit verdient auch eine Aussage im Abschnitt: "Die speziellen Gesetze der türkischen Streitkräfte": "Die Militärausbildung wird mit echten Waffen und Kugeln durchgeführt. Das kann natürlich zu Todesfällen führen. (In allen Berufsarten können trotz aller Sicherheitsmaßnahmen Betriebsunfälle vorkommen. Solche Vorfälle kommen in allen Streitkräften vor.)"[7] Mit dieser Aussage wird klar, dass die Todesfälle beim Militärdienst für normal gehalten werden. Wie groß der Wert des menschlichen Lebens veranschlagt wird, ist aus diesen Sätzen klar erkennbar.


Welcher Kemalismus?

Der ideologisch wichtigste Abschnitt des Lehrbuches ist mit "Der Kemalismus und die Prinzipien von Atatürk - nationale Gemeinschaft und Solidarität" übertitelt und stellt den Versuch dar, allen Studierenden den durch die Streitkräfte definierten Kemalismus als einzig "richtige Ideologie" zu vermitteln. Die folgenden zitierten Beispiele könnten beliebig vermehrt werden: "Nationalismus im Sinne von Atatürk erkennt keine Ideologie an, die den Begriff Nation und die Prinzipien des Nationalismus nicht akzeptiert. Wie uns die Geschichte gelehrt hat, ist das Nationalgefühl und die wirkliche Nation kritischen Gegenströmungen immer überlegen."[8] "Unser Etatismus hat mit Kommunismus oder dem kollektivistischen Sozialismus, der die Produktionsmittel der Individuen enteignet oder kein privates Unternehmertum erlaubt, absolut nichts zu tun."[9] "Der kemalistische Populismus erachtet die soziale Gerechtigkeit, die soziale Sicherheit, die Unterstützung von ökonomisch schwachen Schichten des Volks und eine gerechte Gewinnverteilung für entscheidend, verwirft jedoch entschieden den Klassenkampf."[10]

Aus diesen Beispielen geht hervor, dass die kemalistischen Prinzipien (die in Wirklichkeit je nach momentaner Konstellation höchst unterschiedlich interpretiert und definiert werden) totalitär als einzig richtige Lehre und Orientierung erachtet werden. Auch wenn das Recht auf Gedanken- und Glaubensfreiheit betont wird, bedeutet die Überschreitung der kemalistischen Doktrin automatisch Landesverrat und Separatismus.

Auch der Begriff der "Treue" wird verwendet. Wie wird Treue nun definiert? "Ein guter Staatsbürger und guter Mensch erkennt die Treue als einen Grundwert an und verhält sich dementsprechend. Entscheidend ist jedoch, wie und welchen Prinzipien man die Treue hält. Ein guter Staatsbürger und guter Mensch hält vielen Prinzipien und Institutionen die Treue. Es ist jedoch besonders wichtig, dem Volk, dem Staat und den Gesetzen die Treue zu halten, denn diese Institutionen sichern uns ein glückliches Leben."[11] So werden die Begriffe "guter Staatsbürger" und "guter Mensch" durch den Begriff der "Treue" definiert wie auch umgekehrt. Soll aber Erziehung nicht viel mehr Klischees hinterfragen anstatt sie zu produzieren? Diese Frage wäre in einem weiteren Artikel zu erörtern. Aber die oben zitierten Beispiele lassen erkennen, wie eine Weltsicht entsteht, die nicht hinterfragt und nachdenkt, sondern nur akzeptiert.

Der letzte Abschnitt heißt "Die Lage der Türkei, die Bedrohungen durch die Nachbarländer und unsere Beziehungen zu internationalen Institutionen". In diesem Abschnitt wird die geopolitische und geostrategische Bedeutung der Türkei betont und daraus eine interessante Schlussfolgerung gezogen: "Damit unser Staat und unser Volk in der Lage ist, Lösungen für die wahrscheinlichen Krisen in unserer Region zu entwickeln, benötigen wir unbedingt starke Streitkräfte. Starke Streitkräfte sichern den Frieden, weil dadurch andere Akteure abgeschreckt werden, falsche und gefährliche Pläne zu schmieden. Dafür gibt es in der jüngsten Vergangenheit viele Beispiele."[12] Die Haltung, die Sicherung des Friedens durch starke Streitkräfte zu sichern, ist auch in der Politik virulent und verhindert eine Kontrolle der budgetären Ausgaben für das Militär. In einem Abschnitt wird auch die Existenz struktureller Konflikte behauptet, die Quelle aller Probleme läge jenseits der Grenzen der Türkei: Griechenland verfolge noch immer die "große Idee" (Megali Idea) eines Großgriechenlandes, Iran möchte die theokratische Regierungsform über seine Grenzen hinaus verbreiten und Armenien habe die Absicht, einen Teil von Anatolien ins eigene Land einzugliedern. Es zählt also die Behauptung zum Lehrplan, starke Streitkräfte wären die einzige Möglichkeit, fremde Mächte abzuschrecken und Landesverräter sowie Separatisten unwirksam zu machen.

Militarismus, Nationalismus und Klischees in den Lehrbüchern der Gymnasien sind ein wichtiger Faktor für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung und stehen in Verbindung mit sich ausbreitendem rassistischen Nationalismus, der unhinterfragten Akzeptanz der Streitkräfte als politischer Faktor und dem Vertrauen in den Staat und die Streitkräfte. Ausgehend von allen diesen Aussagen kann man als Schluss eine Frage stellen: Liegt das Problem beim Mangel an Erziehung, oder bei Erziehern und beim Erziehungssystem selbst?


Güney Isikara studiert seit 2007 Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien.
E-Mail: guney1903@hotmail.com


Anmerkungen:

[1] Türkisch: Milli Güvenlik
[2] Nationale Sicherheit I, 1965 (Milli Güvenlik Bilgileri I, 1965)
[3] Nationale Sicherheit 2007:73 (Milli Güvenlik Bilgisi 2007:73)
[4] ebd. 117
[5] ebd. 1
[6] ebd. 39
[7] ebd. 32
[8] ebd. 94
[9] ebd. 98
[10] ebd. 97
[11] ebd. 116
[12] ebd. 137

Raute

Kurze Geschichte des Widerstandes in den Gefängnissen seit 1980

Die Geschichte der Kämpfe der politischen Gefangenen in der Türkei und Kurdistan hat eine lange Tradition. Die Gefängnisse sind Orte unzähliger Widerstandsaktionen und Hungerstreiks gegen einen repressiven Staat, der gegen jegliche Art von Opposition vorgeht und dabei nicht vor Folter und Mord an den 10.000 politischen Gefangenen zurückschreckt.


• Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 werden die Militärgefängnisse in der gesamten Türkei wieder in Betrieb genommen. Insgesamt werden zur Zeit der Militärjunta (bis 1983) 650.000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen. Die Türkei wird vom ausschließlich aus Militärs bestehenden Nationalen Sicherheitsrat (MGK - Milli Güvenlik Kurulu) regiert. Die Gefängnisse sind bis 1983 durch Befehle der Militärs und Richtlinien des Ministeriums für Justiz verwaltet. Die Gefangenen werden während der Junta mit Gewalt aus den Gefängnissen geholt und unter Folter auf Polizei- und Militärstationen verhört. Am 24. März 1981 wird dieses Vorgehen durch das Gesetz Nr. 2439 legalisiert. Kurz vorher, am 3. März 1981 beginnen 14 PKK-Gefangene im Gefängnis Diyarbakir den ersten Hungerstreik nach dem Militärputsch. Sie protestieren damit gegen die unmenschlichen Haftbedingungen und gegen die Folter.

• Neben der Folter, die alle Gefangene erleiden müssen, sind Frauen einer zusätzlichen Gewalt ausgesetzt. Die Gefängniswärter zielen bei der Folter von Frauen auf ihre sexuelle Integrität ab. Auch außerhalb der Gefängnisse geht die sexuelle Gewalt weiter. Während der Transporte zu Gerichts- oder ärztlichen Behandlungsterminen sind sie immer wieder Angriffen ausgesetzt. Es werden Behandlungen vorenthalten oder Soldaten bleiben während der Behandlung im Zimmer, weshalb kein Vertrauensverhältnis zur Ärztin entwickelt werden kann. Ärzt_innen werden Ermittlungs- oder Disziplinarverfahren wegen Unterstützung "krimineller" oder "terroristischer" Vereinigungen angedroht, falls sie z.B. Folter oder Vergewaltigungen attestieren.

• Am 19. Juni 1985 wird das Gesetz Nr. 3216 verabschiedet, das eine Kronzeug_innen-Regelung einführt. Gefangene, die bereit sind, in einem Verfahren auszusagen, meistens gegen die eigenen Genoss_innen, können hiernach mit einer Hafterleichterung bzw. einer Verkürzung der Haftzeit rechnen. Entgegen den Erwartungen des Staates machen jedoch zunächst nur wenige Gefangene von dieser Regelung Gebrauch.

• In der Öffentlichkeit wird immer mehr über die Folter diskutiert, was der Arbeit der Menschenrechtsvereine und der Organisationen außerhalb der Gefängnisse, aber auch dem Widerstand der Gefangenen selbst zu verdanken ist. Das Parlament ist gezwungen, eine Untersuchungskommission einzurichten. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass bis 1985 in türkischen Gefängnissen 149 Menschen zu Tode gefoltert worden sind.

• Im März 1988 fliehen aus dem Gefängnis Metris-Istanbul 29 Gefangene auf spektakuläre Weise durch einen von ihnen gegrabenen Tunnel, der von den Gefängniswärtern unbemerkt geblieben war. Als Reaktion darauf werden in einer Nacht- und Nebelaktion alle 2.500 Gefangenen in verschiedene Gefängnisse verlegt, unter anderem auch nach Sagmalcilar-II in Bayrampasa. Dieses Gefängnis gilt als Vorläufer der Isolationsgefängnisse in der Türkei. In allen Gefängnissen boykottieren die Gefangenen den morgendlichen Zählappell, geben ihre Identität bei Verhören nicht preis und treten in den Hungerstreik. Sie schaffen es, ihre Forderungen durchzusetzen, u.a. die gemeinsame Unterbringung der im gleichen Prozess Angeklagten.

• Es gibt bereits in den 1980er Jahren so genannte E-Typ-Spezialgefängnisse[1], die mit Einzelzellen ausgestattet sind, die als Strafzellen dienen. Die Gefängnisse Bursa und Gaziantep haben Kleingruppenzellen (4-6 Personen), deren Türen jedoch ständig geöffnet sind. Die Gefangenen einer Zelle können sich mit anderen einen Hof teilen und es gibt gemeinsame Küchen und Gemeinschafträume. Daher lassen sich die frühen E-Typ-Spezialgefängnisse nicht als Isolationsgefängnisse bezeichnen. Sie dienen allerdings schon dazu, die Gefangenenkollektive, die die Stärke der Gefangenen ausmachen, zu zerschlagen. Später erhalten auch die E-Typ-Spezialgefängnisse Isolationszellen und die Gemeinschafträume werden voneinander isoliert.

• Der Aufbau der Gefängnisse in den 1980er Jahren ermöglicht es den Gefangenen, in großen Kollektiven zu leben, in denen man sich gegenseitig helfen, unterstützen und stärken kann. In einer Zelle sind mehrere Dutzend Gefangene untergebracht, teilweise sogar nach politischen Organisationen eingeteilt. Dies ist dem Widerstand der Gefangenen zu verdanken. Die Gefangenen kochen zusammen, haben eigene Büchereien (auch wenn diese später verboten werden) und können gemeinsam Sport machen. Der türkische Staat versucht von nun an, diese Kollektive und damit die Identität der Gefangenen und ihr Leben zu zerstören.

• Im Jahre 1989 versuchen erneut Gefangene eine Flucht, diesmal in Eskisehir. Ihr Tunnel wird jedoch entdeckt, woraufhin die Haftbedingungen verschärft werden. Die Gefangenen treten in den Hungerstreik, in anderen Gefängnissen schließen sich Gefangene an. Nach 52tägigem Hungerstreik sterben zwei PKK-Gefangene bei der Verlegung ins Gefängnis Aydin. Allerdings haben die Gefangenen diesmal einen großen Erfolg zu verzeichnen. Das Gefängnis Eskisehir, extra für die politischen Gefangenen gebaut und mit einem Isolationstrakt ausgestattet, wird aufgrund der Proteste geschlossen.

• Am 16. Mai 1990 besucht eine Delegation türkischer Beamter die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim, um die Isolationshaft made in Germany zu besichtigen.

• Im Jahre 1991 wird das "Anti-Terror-Gesetz" eingeführt. Dieses Gesetz schafft den Begriff der politischen Straftaten ab und bezeichnet alle politisch motivierten Taten als "Terrorismus".

• Die Amnestiedebatten, die von Seiten der türkischen Regierung geführt werden, gelten nicht für politische Gefangene. In den türkischen Gefängnissen sitzen etwa 60.000 Gefangene. Davon sind 10.000 politische Gefangene. Diese sind aufgrund der Runderlässe, aufgrund des Anti-Terror-Gesetzes und aufgrund der türkischen Verfassung von der Amnestie ausgeschlossen. Die Artikel 14 und 87 schließen Amnestie für Staatsschutzdelikte wie Separatismus, Aufstachelung durch Förderung von Unterschieden in Sprache, Rasse, Religion u.a. aus. Vielmehr erhalten die sozialen Gefangenen Amnestie.

• Im Sommer 1991 wird das Gefängnis Eskisehir als erstes Hochsicherheitsgefängnis mit Einzelzellentrakt eröffnet. Nachdem 2 Gefangene der Organisation Devrimci-Sol erfolgreich aus dem Gefängnis Ankara geflohen waren, werden im Herbst 1991 unter Folter 206 Gefangene aus verschiedenen Knästen nach Eskisehir verlegt. Die beiden kurdischen Gefangenen Hüsnü Eroglu und Mehmet Yalçinkaya werden dabei ermordet. Unter der Parole "Wir werden in diese Särge nicht hineingehen!" treten die Gefangenen von Eskisehir in den Hungerstreik und bauen Barrikaden. Nach 30 Tagen und vielen Demonstrationen außerhalb des Gefängnisses werden alle Gefangenen in ihre ursprünglichen Gefängnisse zurückverlegt und Eskisehir wieder geschlossen.

• Am 21. September 1995 werden 3 Gefangene beim Angriff auf das Gefängnis Buca ermordet. Im Ümraniye-Gefängnis protestieren die Gefangenen gegen diese Angriffe sowie gegen die ständigen Provokationen durch Polizei und Militär und verweigern am 4. Januar 1996 den morgendlichen Zählappell. Daraufhin stürmt eine paramilitärische Sondereinheit das Gefängnis und prügelt drei Gefangene mit Eisenstangen zu Tode, 65 werden schwer verletzt. Im ganzen Land beginnen Proteste und Solidaritätshungerstreiks. Gefängnishöfe wurden besetzt, in Bayrampasa und Izmir-Buca werden Wärter als Geiseln genommen. Nach der erfolgreichen Flucht von vier Gefangenen aus Izmir-Buca erlässt die Gefängnisleitung eine weitere Verschärfung der Haftbedingungen, plündert deren Zellen, verprügelt die Gefangenen und schafft das Besuchsrecht von Verwandten und Anwälten ab. Das führt zu weiteren Kämpfen. Auch außerhalb des Knastes gibt es Hungerstreiks und Demonstrationen. Ugur Sariaslan, Turan Kiliç und Yusuf Bag verlieren ihr Leben. Der Hungerstreik wird nach 44 Tagen beendet, die Forderungen der Gefangenen erfüllt und das Gefängnis Ümraniye für kurze Zeit geschlossen.

• Nach der Wiedereröffnung am 6. Mai 1996 greift der Staat die Gefangenen im Militärgefängnis Ümraniye an, während sie von ihren Angehörigen besucht werden. 30 Gefangene sollten in das Gefängnis Gaziantep verlegt werden. Die Gefangenen wehren sich dagegen und leisten entschlossenen Widerstand. Doch die Gendarmerie und Gefängnisbeamte ermorden bei diesem Angriff 10 Gefangene.

• Ebenfalls am 6. Mai 1996 wird das 1991 aufgrund des Widerstandes der Gefangenen geschlossene Isolationsgefängnis Eskisehir wieder in Betrieb genommen. Die Gefängnisse Sagmalcilar (Bayrampasa), Buca, Ümraniye und Diyarbakir sollen geräumt und die Gefangenen in andere F-Typ-Gefängnisse[2] (Isolationshaft) verlegt werden.

Für die Gefangenen ist nun klar, dass der Staat vor nichts mehr zurückschrecken und die F-Typ-Gefängnisse unbedingt einführen will. Deshalb schließen sich die Gefangenen in einer Zentralen Gefängnis-Koordination (CMK) zusammen, um zentral Aktionen und Hungerstreiks organisieren zu können.

• Am 20. Mai 1996 treten etwa 2000 Gefangene in über 50 Gefängnissen in einen unbefristeten Hungerstreik, der ab Juli von 269 Gefangenen in Todesfasten[3] umgewandelt wird. Am 25. Juli schließen sich rund 10.000 kurdische Gefangene an. Auch soziale Gefangene führen Solidaritätshungerstreiks durch. Fünf von ihnen werden im Gefängnis Usak von faschistisch-mafiösen Gefangenen unter Duldung der Gefängnisleitung ermordet. Zwischen dem 63. und 69. Tag sterben 12 Gefangene. Nach 69 Tagen, am 28. Juli 1996, gibt der Staat bekannt, die Forderungen der Gefangenen zu erfüllen und sie nicht in Einzelhaft unterzubringen sowie das Gefängnis in Eskisehir für politische Gefangene zu schließen.

Diesen Erfolg der Gefangenen kann der Staat nicht akzeptieren. Als Reaktion ermorden und verstümmeln Sondereinheiten am 24. September 10 Gefangene im Gefängnis von Diyarbakir.

• Den Gefangenen gelingt es also, die Einführung der Isolationshaft in der Türkei verhindern und damit weiter in Gefangenenkollektiven zu "leben". Jedoch ist ihr Erfolg nicht von langer Dauer.

• 1997 beschließt der Nationale Sicherheitsrat den Bau weiterer Isolations- und Einzelhaftzellen. Der Justizminister Selçuk Oztek gibt bekannt, dass mit dem Bau von 11 F-Typ-Gefängnissen zu beginnen sei und für 6 weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen. Diese stehen unter der Kontrolle der Gendarmerie und stellen militärische Sicherheitszonen dar.

• Am 22. Juli 1998 erlässt Justizminister Oltan Sungurlu, dass der Kontakt zwischen den Gemeinschaftszellen und der direkte Kontakt mit den Wärtern verboten sei. Es folgen Angriffe auf die Gefangenen seitens der Gefängniswärter und durch Militäreinheiten. Die Gefangenen antworten mit Barrikaden und nehmen Wärter als Geiseln. Ihre Forderungen werden erfüllt und der Runderlass zurückgenommen. Gleichzeitig wird versucht, Gefangene zu Abschwörer_innen zu machen. Dafür werden ihnen "Resozialisierungsmaßnahmen" versprochen, d.h. keine Unterbringung in Isolationshaft.

• Am 26. September 1999 verübt der türkische Staat eines der größten Massaker der Gefängnisgeschichte. In Ankara-Ulucanlar werden 10 Gefangene bei einem nächtlichen Angriff von den mit Flammenwerfern, Gasbomben, Granaten, Panzern und Baggern bewaffneten Militärs ermordet und in ihren Zellen ertränkt.

• Die rechtliche Grundlage für die Einführung der F-Typ-Gefängnisse wird mit dem so genannten "Dreier-Protokoll" geschaffen, unterzeichnet von den Ministern für Justiz, Gesundheit und Inneres. Alle faktisch erkämpften Rechte werden aufgehoben. Es werden Zellendurchsuchungen angeordnet, die Besuchsrechte von Angehörigen und Anwälten massiv eingeschränkt - die Anwälte müssen Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Bei Hungerstreiks sollen Hungerstreikende von ihren "Anführern" sofort getrennt werden. Hungerstreikende in einem kritischen Zustand sollen in ein Krankenhaus verlegt und dort zwangsernährt werden, was ab einem bestimmten Stadium des Hungerstreiks zu Verkrüppelungen und ernsthaften, irreparablen Gehirnschädigungen führt. Es sollen keine Informationen aus den Gefängnissen nach außen dringen und alle Arten von Öffentlichkeitsaktionen sind in dieser Zeit vor dem Gefängnis verboten.

• Es beginnt eine umfangreiche Kampagne gegen das Dreier-Protokoll und die F-Typ-Gefängnisse. Es werden Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen, Unterschriftensammlungen und Menschenrechtsdelegationen von Ärzt_innen, Architekt_innen, Rechtsanwält_innen und Intellektuellen organisiert.

• Im Jänner 2000 kündigt der türkische Staat den baldigen Beginn der Verlegungen in die insgesamt 11 F-Typ-Gefängnisse an - die Hochsicherheitsgefängnisse für Verurteilte nach dem Anti-Terror-Gesetz. Zusätzlich werden Einzelzellen in E-Typ-Gefängnissen errichtet. Daraufhin kommt es zu Protesten innerhalb und außerhalb der Gefängnisse. Hungergestreikt wird in den Gefängnissen Ümraniye, Bursa, Cankiri und Aydin. Als die Forderungen nicht erfüllt werden, schließen sich am 19. bzw. 25. November viele Gefangene in den Gefängnissen Bayrampasa, Buca, Uçak, Ceyhan und Ankara-Ulucanlar dem Hungerstreik an, der von einigen in Todesfasten umgewandelt wird.

• Am 19. Dezember 2000 stürmen zeitgleich um 4.00 Uhr 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Gendarmen, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, unter dem Namen "Operation Rückkehr ins Leben" 20 Gefängnisse. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich etwa 1.150 Gefangene in 48 Gefängnissen im Hungerstreik, 300 von ihnen bereits im Todesfasten. Am Tag zuvor werden die Journalist_innen vor den Gefängnissen vertrieben und die Gefängnisse hermetisch abgeriegelt. Die Krankenhäuser werden angewiesen, Betten freizuhalten. Um Mitternacht werden sogar die Mobilfunkverbindungen von Türkcell und Telsim außer Betrieb genommen. Bewaffnet sind die Angreifer mit Präzisionsgewehren, Nachtsichtgeräten, Flammenwerfern, Panzern, Hubschraubern, Nerven-, Rauch- und Gasbomben, Bulldozern, Baggern, Vorschlaghämmern, Schweiß- und Bohrmaschinen. Über 20.000 Tränengas-, Nerven-, Pfeffer- und Rauchbomben werden in die Gefängnisse geworfen - in einem Gefängnis, in Çanakkale, alleine über 5.000. Bei diesem Angriff kommen 32 Gefangene ums Leben. In den Gefängnissen Ümraniye und Çanakkale schaffen es die Angreifer erst Tage später, zu den Gefangenen vorzudringen, die sich mit Barrikaden wehren. Mehrere hundert Gefangene werden schwerverletzt in Krankenhäuser eingeliefert oder verschleppt. 34 Menschen gelten bis heute als offiziell "verschwunden". Zeitgleich findet eine Repressionswelle gegen Angehörige und Menschenrechtsaktivist_innen statt. Nach der Erstürmung wird der Großteil der Gefangenen in F-Typ-Gefängnisse verlegt, wo sie ihren Hungerstreik fortsetzen.

• Im Dezember 2001 unterbreiten die Anwaltskammern aus Istanbul, Izmir und Ankara dem türkischen Justizminister Hikmet Sami Türk einen Vorschlag mit dem Namen "3 Türen, 3 Schlösser". Dieser besagt, dass jeweils drei Dreipersonenzellen miteinander verbunden werden sollen, sodass jeweils 9 Gefangene sich gegenseitig besuchen könnten. Für den Fall, dass Türk diesen Vorschlag angenommen hätte, wären die Gefangenen bereit gewesen, das Todesfasten zu beenden. Jedoch geht Türk nie auf diesen Vorschlag ein und hält weiter am Vorhaben fest, die Gefangenen voneinander vollständig zu isolieren.

• Im März 2002 veröffentlichte das "Komitee für die Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder herabwürdigender Behandlung oder Bestrafung" beim Europarat "vorläufige Beobachtungen" über die türkischen Gefängnisse, die bei einem Besuch im September 2001 gemacht wurden. Unter anderem besuchten sie die F-Typ-Gefängnisse in Sincan und Tekirdag. Entgegen den Äußerungen des Justizministers Türk stellt das Komitee fest, dass den Gefangenen weder Bibliotheken noch Werkstätten zur Verfügung stünden. Sportplatz und Studienraum dürften nur von Dreiergruppen genutzt werden, das sei keine Gemeinschaftsaktivität.

• Danach wird es still um die türkischen Gefangenen. Die Medien berichten immer weniger über das Todesfasten - mit Ausnahme von einzelnen kurzen Meldungen über weitere Tote. Auch die Unterstützungsaktionen außerhalb der Gefängnisse werden immer seltener.

• Am 28. Mai 2002 erklärt ein großer Teil der Gefangenenvertreter_innen verschiedener linker Organisationen die Beendigung des Todesfastens. Andere Gefangene setzen das Todesfasten jedoch fort.

• Seit dem Jahr 2004 ersetzt das Verbüßen der lebenslangen Freiheitsstrafe in Isolationshaft die abgeschaffte Todesstrafe. Diese dauert nach Art. 47 des türkischen Strafgesetzbuches grundsätzlich bis zum Tod des Verurteilten an und erfolgt im Gegensatz zur normalen lebenslangen Haftstrafe immer in Typ-F-Gefängnissen.

• Im Jahr 2006 wird das Gebäude der Nachrichtenagentur Associated Press in Ankara besetzt, um gegen die Isolationshaft in Typ-F-Gefängnissen zu protestieren.

• Der Istanbuler Rechtsanwalt Behiç Asçi schließt sich ebenfalls dem Todesfasten an und erreicht so, dass das Todesfasten wieder in den Medien diskutiert wird. Bülent Arinç, damaliger Parlamentspräsident, trifft sich Ende 2006 mit den Familienangehörigen Asçis und Repräsentanten nichtstaatlicher Organisationen.

• Die knapp sieben Jahre anhaltende Widerstandsaktion der Gefangenen, die von behördlichen Interventionen wie Zwangsernährung begleitet wird, wird schließlich im Januar 2007 eingestellt, nachdem das Justizministerium per Erlass eine Lockerung der Haftbedingungen angeordnet hatte.

• In und außerhalb der Gefängnisse kommen durch das Todesfasten insgesamt 122 Menschen ums Leben und ein Großteil leidet an Dauer- oder Folgeschäden, wie etwa dem Korsakow-Syndrom[4]. Nach insgesamt 293 Tagen beendet auch Behiç Asçi sein Todesfasten.

• In den Berichten des türkischen Menschenrechtsvereins IHD[5] konzentrieren sich Wahrnehmungen über Rechtsverletzungen in türkischen Haftanstalten auch im Jahre 2008 besonders auf die Typ-F-Gefängnisse. Der Erlass des Justizministeriums aus dem Jahre 2007, der den Häftlingen Kontakt untereinander im Umfang von zehn Stunden pro Woche in Zehnergruppen ermöglicht, wird demnach in keiner der Haftanstalten vollständig umgesetzt.

• Im Jahresbericht der IHD 2007 wird ferner über Zellenhaft, Beschränkung von Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkung sportlicher und kultureller Aktivitäten, mangelnde Gesundheitsfürsorge, Besuchsverbote, mehrmonatige Telefon- und Briefverbote, Verbot der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen, Beschlagnahmung kurdischsprachiger Zeitungen, Zensur, Behinderung des Wahlrechts, Diskriminierung, Willkür, Übergriffe und vielfältige und nach Ansicht des IHD ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen in den Haftanstalten berichtet. Amnesty International berichtet ebenfalls über "harte und willkürliche Disziplinarstrafen" und über Isolation von Häftlingen in Typ-F-Gefängnissen. Im Jahr 2008 starben laut IHD insgesamt fünf Insassen.


Anmerkungen

[1] Die türkischen "Typ"-Gefängnisse (A, A1, A2, A3, B, C, D, E, F, H, K1, K2, L, L1, M, T) sind genormt und werden im Gegensatz zu typlosen Strafvollzugsanstalten nach einem bestimmten, einheitlichen Bauplan gebaut.

[2] Beim Typ-F-Gefängnis gibt es 162 Zellen, wobei 59 davon Einzelzellen und 103 Zellen für drei Inhaftierte sind. Die Einzelzellen haben eine Größe zwischen 10 und 11 m² und für je zwei beziehungsweise drei Einzelzellen existiert ein Hof mit 42 oder 50 m² für den Hofgang. Die Zellen für drei Insass_innen bestehen aus 50 m². Für den Hofgang steht den Insass_innen dieser Zelle ein 50 m² großer Hof zur Verfügung.

[3] Selçuk Kozagaçli, Anwalt von todesfastenden politischen Gefangene zum Unterschied zwischen Hungerstreik und Todesfasten: "Praktisch gibt es keinen Unterschied, sondern in dem politischen Ausdruck. Während die Hungerstreikenden jederzeit unterbrechen oder aufgeben können, setzen die Todesfastenden die Aktion so lange fort, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Das kann unter Umständen ihr Leben kosten."
http://www.kurdistan-rundbrief.de/2001a/kr010801.htm

[4] Das Korsakow-Syndrom ist eine Form der Amnesie. Dabei kommt sowohl das Vergessen alter Gedächtnisinhalte vor als auch die Unfähigkeit sich neu Erlebtes zu merken. Die Merkfähigkeitsstörung kann so ausgeprägt sein, dass es den Patient_innen nicht möglich ist, sich Sachverhalte selbst für Sekunden einzuprägen. In ihrer Summe führen die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses oft dazu, dass sich die Patient_innen in ihrer örtlichen und zeitlichen Umgebung nicht mehr zurechtfinden. Neben den Gedächtnisstörungen kann eine Reihe weiterer psychiatrischer Symptome auftreten. So sind Antriebsarmut, erhöhte Müdigkeit und starke Ermüdbarkeit, Euphorie und starke Gefühlsschwankungen beschrieben. Es kann auch zu Störungen der Motorik und der Sensibilität kommen, sowie zu Symptomen wie Blässe der Haut oder verstärkten Kälteempfindungen.

[5] Insan Haklari Dernegi (IHD) ist ein türkischer Menschenrechtsverein, der am 17. Juli 1986 von 98 Personen gegründet wurde. Dazu gehörten Anwält_innen, Journalist_innen, Intellektuelle, aber vor allem Angehörige von politischen Gefangenen. Er setzt sich für die Einhaltung der Menschenrechte in allen Bereichen ein. Nach eigenen Angaben hat der IHD 34 Zweigstellen und ca. 16.000 Mitglieder_innen. Sowohl die Zentrale in Ankara als auch die Zweigstellen haben je nach Bedarf Kommissionen zu bestimmten Themen wie Kurdenfrage, Frauen, Kinder, Gefängnisse und Folter eingerichtet. Seit der Gründung hat der IHD sowohl mit rechtlichen Eingriffen in seine Arbeit als auch mit direkter Gewalt von Einzelpersonen oder nationalistisch motivierten Kreisen zu kämpfen. Dazu führt der Verein auf seiner Internetseite an, dass mehr als 400 Verfahren gegen Vorstandsmitglieder_innen des Vereins eröffnet wurden. Die Gouverneure einzelner Provinzen ließen die Zweigstellen insgesamt 30 Mal schließen.

Raute

Emilio Modena

Politisches Asyl
Zur Invalidisierung der Revolutionäre[1]

Der vorliegende Artikel erschien ursprünglich in "Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik, Nr.61, Heft 2/2008, 25. Jahrgang, Herausgeber Albert Ellensohn & Karl Fallend". Die Redaktion der Zeitschrift Grundrisse dankt dem Autor sowie den Herausgebern für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.


Die politische Ausgangslage

In den 70er Jahren entwickelte sich in der Türkei eine revolutionäre Situation. Es gab zwischen vierzig und fünfzig marxistisch-leninistische und maoistische Gruppierungen und Organisationen, die mit verschiedenen Taktiken und Strategien gegen die sozialdemokratisch geführte Regierungskoalition unter Präsident Eçevit kämpften. Die größeren hießen "Partizan", "Halkin-Kurtulusu", "Dev-Yol", "Tisip" etc. Gleichzeitig gab es eine starke, paramilitärisch organisierte faschistische Bewegung, die "Grauen Wölfe", die ihrerseits mit Attentaten und Terroranschlägen gegen die Revolutionäre vorgingen. Diese mussten sich zur Selbstverteidigung bewaffnen. Mit der Zeit war das Land in verfeindete Lager aufgeteilt und glich einem Leopardenfell: In einzelnen Schulen, Fakultäten, Dörfern und Stadtteilen herrschten die Linken, in anderen die Rechten. Die vorherrschende Tendenz war aber gesamthaft die einer großen, im Volk verankerten sozialistischen Massenbewegung, der weder die Polizei noch die Faschisten mehr Einhalt gebieten konnten. Wie schon zwei Jahrzehnte früher schlug das Militär 1980 wieder zu, setzte die demokratisch gewählte Regierung ab und errichtete eine Diktatur. Im ganzen Land wurden die bekannten Aktivisten der linksrevolutionären Gruppierungen verhaftet. Unter dem systematischen Einsatz der Folter gaben viele der führenden Leute die Namenslisten ihrer Organisationen preis, sodass es dem Militär in relativ kurzer Zeit gelang, die organisierte Macht der Linken zu brechen. Trotzdem hielten noch viele durch, und es entwickelte sich eine Guerillabewegung, die sich noch bis Mitte der 80er Jahre behaupten konnte. Dank der Unterstützung von Hilfsorganisationen in der türkischen Emigration in Europa konnten dann immer noch zahlreiche Militante ins Ausland fliehen und gelangten unter anderem nach Deutschland und in die Schweiz. Die hiesigen Hilfswerke, wie HEKS, Caritas, das Rote Kreuz oder das Arbeiterhilfswerk, unterstützten die Flüchtlinge, sodass viele von ihnen bald politisches Asyl erhielten und einige auch eine Ausbildung absolvieren konnten. Man erhielt zuerst einen Flüchtlingspass, der jährlich zu erneuern war, und nach fünf Jahren die Niederlassungsbewilligung.


Der Fall R. - die erste Therapiephase[2]

Ich lernte R. anfangs 1988 kennen, drei Jahre nach seiner Flucht. Er war mit einer Schweizerin liiert und sprach bereits relativ gut Deutsch. Er war in bäuerlichen Verhältnissen auf einem Dorf in Westanatolien aufgewachsen und mit der Familie im Alter von 12 Jahren in eine nahe gelegene Stadt umgezogen, wo er dank guter Intelligenz das Gymnasium und das Lehrer-Seminar als Werkstudent besucht hatte - ein mittelgroßer, eher dünner, drahtiger 30-Jähriger, der älter wirkte. Er war mitteilsam, fast ein wenig anbiedernd, und konnte mir problemlos seine Geschichte vermitteln, wenn er auch manchmal - an affektiv schwierigen Stellen - immer wieder lachte, aber es war kein herzhaftes Lachen, eher ein verlegenes Grinsen. Seine Arbeit als Hilfselektriker, wo er zum Teil schwere körperliche Arbeit verrichten musste, behagte ihm überhaupt nicht, außerdem wurde er von seinen Arbeitskameraden gemobbt, und er hatte Kommunikationsprobleme in der Beziehung mit seiner Schweizer Freundin. Er litt an schweren Schlafstörungen und allgemeiner Nervosität, hatte immer wieder erschreckende Alpträume und knirschte mit den Zähnen. Sein ganzer Körper wurde manchmal steif, die Muskeln verhärteten sich schmerzhaft, und er litt unter fast dauernden starken Rückenschmerzen. Er war deswegen beim Hausarzt in Behandlung, der aber nichts Organisches gefunden hatte. Die verordnete Physiotherapie helfe ihm jeweils für eine Zeit lang.

R. war mit 24 Jahren ein erstes Mal inhaftiert und im Polizeigefängnis schwer geschlagen worden. Als man ihn wieder freigelassen hatte, war er untergetaucht und lebte ein Jahr lang illegal. Er wurde aber wieder aufgegriffen, als er einmal die Mutter besuchte. Nun fing eine Odyssee durch die verschiedenen Polizei- und Militärgefängnisse an. Er war in den nächsten fünf Jahren sieben Mal inhaftiert und wurde wiederholt schwer gefoltert. Darüber konnte er kaum sprechen. Immerhin teilte er mir mit, dass er immer wieder an den Armen aufgehängt worden war, systematisch geschlagen und der Elektrofolter, inklusive im Genitalbereich, unterworfen worden war. Er sagte scherzend - aber mit bitterer Ironie -, er habe sich danach wie ein "Apache-Indianer" gefühlt, die Muskeln am ganzen Körper hätten sich verhärtet, und in der Nacht habe er die Folterszenen immer wieder in Angstträumen durchlebt. Dann überraschte mich R. mit der Bemerkung, er habe sich trotz allem stark gefühlt dank der Solidarität seiner Genossen und habe eigentlich eher Mitleid mit den anderen empfunden. Die menschlichen Probleme unter den Gefangenen hätten ihm sogar schlimmer zugesetzt als die Folter selbst. Diese fürsorgerische Haltung hat er auch nach seiner Flucht in die Schweiz weiter gepflegt. Er hilft allen und jedem, wo er nur kann. Ich habe mich gefragt, ob dieser auffallende Einsatz für die Anderen möglicherweise auf seine frühe Kindheit zurückgehe und eine Reaktionsbildung auf die Probleme mit den Geschwistern darstelle. R. war der mittlere von drei Brüdern, von denen einer sechs Jahre älter und der andere zwei Jahre jünger war. Außerdem lebte in der Familie auch eine Schwester, die der Vater mit einer anderen Frau gezeugt hatte. R. hat sich immer nach Kräften für den jüngeren Bruder eingesetzt und erzählt mir auch stolz, dass er dafür gesorgt habe, dass die Halbschwester ihren Teil des Erbes erhalten habe.

R.s Hilfsbereitschaft kannte auch in der Schweiz keine Grenzen, jede und jeder konnte zu ihm kommen, um sich bei Steuerfragen, Scheidungsklagen oder anderen amtlich-bürokratischen Problemen beraten und begleiten zu lassen. R. arbeitete sich autodidaktisch in die schwierige Materie des Sozialversicherungsrechtes ein und wurde zu einem kenntnisreichen und beschlagenen Berater, nahm aber nie Geld für diese Dienste. Mir gegenüber meinte er, er könne nie nein sagen. Außerdem fürchte er, kritisiert zu werden, was er als Kränkung erleben würde. Und - nach einer Pause - fügt er hinzu: Trotz allem, was er durchgemacht habe, könne er nicht hassen. Ich verglich ihn für mich mit Bertolt Brechts "guten Menschen von Sezuan", bloß konnte sich R. im Unterschied zur guten Prostituierten Shen Te nicht in ihren bösen Vetter Shui Ta verwandeln, wenn ihm alles zu viel wurde...

In unseren therapeutischen Gesprächen, die von einem gegenseitigen Gefühl von Respekt und Sympathie getragen waren, hatte R. das Sagen. Ich hörte meistens zu, stellte ab und zu Fragen und versuchte ihm dazu zu raten, seine berufliche Situation durch eine Umschulung zu verbessern. Ich verfasste auch ein entsprechendes Gesuch an die Invalidenversicherung, das aber nicht ganz zum Ziel führte. Immerhin besuchte der Patient einige Zeit später berufsbegleitend eine kaufmännische Weiterbildung. Meine Versuche, auf die interkulturellen Probleme in der Beziehung mit seiner Schweizer Freundin einzugehen, wurden zwar höflich zur Kenntnis genommen, fruchteten jedoch nichts. In Begriffen der Neurosenlehre ausgedrückt, hatte ich es mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu tun, die R. dazu zwang, seine Minderwertigkeits- und Schamgefühle durch Grandiosität und ein Helfersyndrom zu kompensieren. Für Andere war er in seiner angenommenen Rolle als Sozialarbeiter meistens erfolgreich, aber für sich selbst konnte er nicht profitieren. Mit der Zeit entwickelte er das Gefühl, ich könne ihm in der Therapie nichts Neues mehr bieten, sodass es gegen meinen Rat vorzeitig zu einem Abschluss kam.

Es war für mich unmöglich abzuwägen, was von der narzisstischen Problematik auf die frühere Kindheit zurückging, wie viel erst in der Adoleszenz unter den Bedingungen des politischen Kampfes neu entstanden war, und welcher Anteil mit dem "Weltverlust" unter der Folter zu tun hatte. Immerhin hatte er mir erzählt, dass er gute Erinnerungen an die frühere Kindheit auf dem Land hatte. Auch eine nahe, zärtliche Bindung an die Mutter war deutlich geworden, sodass ich annahm, dass er Neid- und Hassgefühle auf den jüngeren Bruder erfolgreich durch eine Reaktionsbildung abgewehrt, indem er ihn unter seinen persönlichen Schutz genommen hatte. In der Emigration in der Schweiz war R. erstaunlich gut gewerkschaftlich und politisch vernetzt, kannte Kreti und Pleti und wurde insbesondere auch von engagierten Frauen geschätzt, die seine guten Manieren und seinen tief empfundenen Gerechtigkeitssinn mochten, der selbstverständlich auch die Gleichberechtigung der Geschlechter mit einschloss. Was hinter der höflichen und zurückhaltenden, auch stets hilfsbereiten Haltung weniger spürbar war, waren die Größenphantasien und die tiefe Überzeugung, es im Grunde genommen besser als alle anderen zu machen und zu wissen. Zu diesem Punkt denke ich, dass sich eine narzisstische Störung besonders gut mit Hilfe einer elitären Ideologie - in diesem Fall dem Marxismus-Leninismus - kompensieren lässt. Das revolutionäre Bewusstsein deckt die Schwächen im Selbstwertgefühl zu, insbesondere, wenn sich im realen politischen Kampf Erfolge einstellen. R. war trotz der historischen Niederlage der Revolution in der Türkei subjektiv durch das Überstehen der Folter und die geglückte Flucht doch erfolgreich aus der schwierigen Situation hervorgegangen. Enttäuscht war er vielmehr vom individualistischen menschlichen Umgangsklima in der Schweiz. Resigniert meinte er, er habe erwartet, dass es in der Schweiz menschlicher zugehe als in der Türkei. Die Feindseligkeit der Schweizer Arbeiter quälte ihn und auch die Tatsache, dass vertrauensvolle Beziehungen und selbstverständliche Solidarität nur schwer herzustellen waren. Schließlich trauerte er einer Liebesbeziehung zu einer Frau in der Türkei nach, die mit ihm in der politischen Bewegung aktiv gewesen war, nach seiner Verhaftung sich aber nicht mehr getraut hatte, ihn zu heiraten. So beklagte sich R. darüber, er sei trotz insgesamt guter Integration häufiger "traurig als lustig" und oft in Gedanken abwesend.


Der Fall R. - die zweite Therapiephase

14 Jahre nach dem Erstgespräch (die erste stützende Therapie-Tranche hatte nicht viel länger als ein Jahr gedauert) ruft mich R. kurz vor den Weihnachtsferien verzweifelt an und benötigt eine dringende Besprechung. Er kommt mühsam an einer Krücke gehend in die Sprechstunde und kann kaum auf einem Holzstuhl sitzen. Dann fühlt er sich gefühlsmäßig überwältigt und kann erst einmal nichts sagen. Stattdessen grinst er wieder, es ist das bitter ironische Abwehr-Grinsen, das ich schon kenne, und das doch auch der Kontaktnahme dient. Ich übersetze die averbale Inszenierung: "Es geht mir furchtbar schlecht, aber ich werde es mit deiner Hilfe schon schaffen..." Schließlich beginnt er doch zu reden und gesteht mir und sich selbst ein, dass er wirklich große Probleme habe. Die Rückenschmerzen hätten ständig zugenommen, sodass er in seiner gegenwärtigen Arbeit als Chauffeur-Magaziner seit zwei Monaten krank geschrieben sei. Man habe in der Zwischenzeit bei ihm eine Reihe von Diskushernien festgestellt, aber er habe immer weiter arbeiten wollen[3]. Trotz Spritzen und Physiotherapie habe auch sein Hausarzt seinen Zustand verharmlost. Seit zwei Jahren habe der Orthopäde zu einer Operation der schlimmsten Diskushernie geraten. Er habe in wenigen Tagen mit dem Chirurgen einen Operationstermin im Kantonsspital W. vereinbart. Gleichzeitig leide er weiterhin an Schlafstörungen, spüre eine gewaltige Spannung im ganzen Körper und leide unter Kopfschmerzen. Und er habe noch mehr Probleme... Erst jetzt kann er mir erzählen, dass er nach der Trennung von seiner damaligen Schweizer Freundin unter Lebensgefahr illegal in die Türkei gereist sei, um dort eine Frau aus seiner Gegend zu suchen. Das sei zunächst gut gegangen, die Frau sei zu ihm nach Zürich gekommen, und sie hätten vor 13 Jahren geheiratet. Sie hätten zwei Kinder, einen elfjährigen Sohn und eine sechs Jahre alte Tochter. Aber die Ehe sei nicht glücklich verlaufen. Die Frau sei unzufrieden gewesen, obschon er alles für sie getan habe, ja, ihr sogar eine Ausbildung ermöglicht, indem er eine Zeit lang als Hausmann die Kinder betreut habe. Vor einem Jahr hätte sie sich gerichtlich getrennt. Er müsse 1.500 Franken Alimente bezahlen und dürfe die Kinder nur alle zwei Wochen übers Wochenende sehen. Aber die Frau hintertreibe seine Besuchsrechte und verfolge ihn mit ihrem Hass. Sie habe ihn sogar grundlos wegen Drohung und Tätlichkeiten angezeigt (was nicht stimmte). Er habe manchmal schlimme Suizidgedanken, er würde sich aber nicht umbringen, bevor er noch einige seiner ärgsten Folterer erschossen habe, die in der Türkei frei herumliefen.

Der Mann ist offensichtlich ernstlich depressiv erkrankt, abgesehen von den Diskushernien und der Somatisierungsstörung. Ich rate eindringlich dazu, den Operationstermin zu verschieben, mindestens so lange, bis sich die Depression aufgehellt habe. Außerdem sind die nächtlichen Muskelverspannungen derart, dass mittlerweile das ganze Gebiss abgeflacht ist. Ich verordne ein Antidepressivum, vor allem aber eine mittlere Dosis Valium über Nacht. Aber R. ist wild entschlossen, sich operieren zu lassen. Der Chirurg habe ihm versprochen, dass er danach viel weniger Schmerzen haben werde. Es kommt, wie es kommen muss: Unter der depressiven Belastung und der unverändert desolaten Scheidungssituation führen Operation und Rehabilitation nicht zu der erhofften Besserung, im Gegenteil. Anderthalb Jahre später schreibt der Patient dem Operateur den folgenden Brief (den ich nur in Bezug auf den deutschen Ausdruck redaktionell bearbeitet habe):

"Sehr geehrter Herr Dr. O.,
ich wurde von Ihnen am 14. Januar 2002 wegen einer Diskushernie L4/L5 operiert. Sie hatten mir versprochen, dass ich mich danach besser fühlen würde. Auf meine Frage haben Sie mir ferner versichert, dass das Operationsrisiko minimal sei. Heute möchte ich Sie darüber informieren, wie es sich mit meiner Gesundheit nach der Operation tatsächlich verhält.

Seit der Operation und bis zum heutigen Tag ist es mir nicht nur nicht besser geworden, sondern viel schlechter. Die Schmerzen betreffen die ganze Wirbelsäule von unten bis oben. Es ist vor allem ein Brennen. Im Brust- und Lendenbereich verspüre ich eine Art Reißen. In beiden Ellbögen verspüre ich auch dieses reißende Gefühl. Die Muskeln sind sehr hart und berührungsempfindlich. Die Lendenpartie kann ich nicht mehr strecken. Ich kann mich aber auch kaum bücken. Ich verspüre Stiche in der Lendengegend, links mehr als rechts. Auch auf der Vorderseite der Fußgelenke habe ich dieses Reißen wie bei den Ellbogen. Immer wieder schlafen die Füße teilweise ein, manchmal auch die Arme. Ich kann oft die Ferse nicht auf den Boden aufsetzen. Das Ameisenlaufen in den Beinen (rechts stärker als links) ist nach der Operation zwar besser geworden, aber ich habe es immer noch an den Fußsohlen und - wenn ich versuche, die Unterschenkel zu strecken - auch da. Es ist ein Gefühl, wie wenn ich kratzen müsste. Im Nacken bin ich völlig verspannt, was mir Kopfschmerzen bereitet.

Am Tag kann ich nicht normal sitzen, sondern muss mich immer mit Armen aufstützen und kann nur auf einen harten und hohen Stuhl. Auch so halte ich es nicht länger als eine halbe Stunde aus. Ich muss versuchen, mich immer zu bewegen und die Körperhaltung zu verändern. Obschon ich unbedingt gehen muss, um die Schmerzen zu beruhigen, kann ich doch nicht länger als eine halbe bis eine Stunde höchstens vorankommen. Ich habe dann schmerzhafte Stiche in den Knien und Schienbeinen. In der Nacht verschlimmert sich mein Zustand noch: Ich fühle mich stark verkrampft. Der Rücken ist sehr schmerzhaft und völlig blockiert. Ich muss aufstehen (obwohl ich Valium und Surmontil nehme) und Zigaretten rauchen.

Wegen der ständigen Schmerzen habe ich so viele Voltaren-Tabletten eingenommen, dass ich davon eine Magenblutung und Geschwüre bekommen habe. Ich hatte noch gewisse Hoffnungen auf den Sommer, weil ich früher in der Wärme weniger Schmerzen verspürte. Leider ist es aber jetzt nach der Operation nicht mehr so. So ist meine Hoffnung, wieder einmal arbeiten und mich normal bewegen zu können, völlig zunichte gemacht worden. Ich musste mich wider Willen bei der IV anmelden.

In der Hoffnung, mein Schicksal könne Sie dazu bewegen, in Zukunft die Indikation zur Operation sehr streng zu stellen und auch die psychische Befindlichkeit der Patienten zu prüfen, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen"

Es ist eine komplexe Situation entstanden, in welcher sich körperliche, psychosomatische und somatopsychische Zustände überlagern und interferieren. Der Neurologe diagnostiziert ein "Chronifiziertes, therapieresistentes Zerviko-Lumbovertebralsyndrom mit lumbaler Instabilität bei degenerativen Veränderungen und Protrusionen der Bandscheiben L4/L5, L5/S1, C5/C6 und C5/C7 und St. n. Diskushernie-Operation L4/L5 (Januar 02)."[4] Anderseits sind sowohl die Folgen der politischen Verfolgung und der schweren Folterungen mit dem dadurch eingebrochenen Urvertrauen, den Schlafstörungen, Alpträumen und massiven Muskelverspannungen weiterhin vorhanden, als auch die aus dem Scheitern der Ehe mit der türkischen Frau und der Streitscheidung resultierenden Kränkungen und depressiven Verstimmungen. Es besteht insgesamt eine massive verdrängte Aggressionsproblematik, die sich ohne weiteres aus einem der wenigen Träume ablesen lässt, die mir der Patient erzählt hat. Es handelt sich um einen Alptraum: "Es ist bei mir zu Hause vor langer Zeit. Im Schlafzimmer der Mutter sind fremde Leute. Darunter befindet sich ein Mann aus der Nachbarschaft, ein bekannter Rechtsextremer aus einer faschistischen Familie. Ich packe ihn. Wir kämpfen. Ich habe ein Messer. Aber ich zögere. Schließlich steche ich doch zu und töte ihn durch einen Stich in den Bauch. Ich erwache verwirrt und mit einem schlechten Gewissen."

Gewiss ist der Traum stark verdichtet und enthält übereinandergeschichtet ödipales und prägenitales Material, ganz abgesehen von den späteren adoleszenten und erwachsenen realen Erlebnissen im Kampf mit den Faschisten in der Türkei. Leider haben wir nur eine Stunde pro Woche zur Verfügung, es ist unmöglich, tieferes Material zu deuten. Ich kann aber immerhin das irritierende Zögern vor dem Zustechen und das schlechte Gewissen nach dem Aufwachen als eine Art psychoanalytischen Focus fassen: Gegen die Gewalt der Faschisten sollte man nicht zögern. Oder anders ausgedrückt: Wo es um Notwehr geht, darf das Über-Ich die freie Aggression nicht behindern. Das Ich muss zuschlagen können, allerdings nicht blind, sondern gekonnt im richtigen Moment. Ich nenne das die "Aggression im Dienste des Ich".

Der weitere Verlauf der insgesamt über drei Jahre andauernden zweiten Therapietranche, die der Patient erst probeweise während eines halben Jahres und später immer mehr auflockerte, war vom gemeinsamen Kampf gegen die Schmerzen und für Gerechtigkeit geprägt. Ich kann mich nicht erinnern, in meiner über 30-jährigen Praxis für einen einzelnen Patienten mehr Arztzeugnisse ausgestellt zu haben. Nicht nur galt es, die IV-Kommission[5] von der dauernden Arbeitsunfähigkeit und die Krankenversicherung von der Notwendigkeit der Weiterführung der Therapie zu überzeugen, es galt auch, den Rechtsanwälten und dem Beistand der Kinder beim Jugendamt die Friedfertigkeit des Mannes vorzuführen, der von der rachsüchtigen Ex-Frau mit allerlei Rechtsklagen wegen Tätlichkeiten und Drohungen eingedeckt worden war (die mit Sicherheit nicht stattgefunden hatten); ich musste mich auch mit dem Gericht, dem Sozial-, Arbeits- und Steueramt auseinandersetzen. Dabei war es zwischen uns zu einer fast perfekten Rollenaufteilung gekommen. R. saß mehr oder weniger (mit der Zeit immer weniger) schmerzverkrümmt auf dem Holzstuhl oder humpelte nervös im Zimmer umher, wobei er mir erklärte, was zu machen sei. Er behielt auch stets eine bewundernswerte Übersicht und die quasi-totale Kontrolle über die zahlreichen Akten seines komplexen Falles, wobei ihm kaum je Fehler auf den zahlreichen bürokratischen Ebenen unterliefen, mit denen er konfrontiert war. Ich musste in der Gegenübertragung seine Grandiosität aushalten und durch meine ärztliche Autorität versuchen, sein Negativimage auf der Grundlage des weit verbreiteten Vorurteils vom frauenfeindlichen und gewalttätigen Türken zu korrigieren.

Nebenbei gesagt: Ich habe zwar nicht daran gezweifelt, dass er in Wirklichkeit seine Ex-Frau nicht bedroht oder gar tätlich angegriffen hat, aber ich habe mich doch gefragt, wodurch er sich ihren Hass (der sich unter anderem in den falschen Anschuldigungen niederschlug) zugezogen hatte. Da ich die Frau nie persönlich kennen gelernt habe, bin ich auf Mutmaßungen angewiesen. Immerhin kommt es häufig vor, dass Frauen, die aus dem Mittelmeerraum zwecks Heirat von den Männern in die Schweiz geholt werden, in der Konfrontation mit den hier real-existierenden Verhältnissen enttäuscht sind. Zweitens vermute ich aus meinen eigenen Gegenübertragungsreaktionen, dass sich die Grandiosität des Patienten auch in seinem alltäglichen Privatleben in ein ständiges Besserwissen, Korrigieren und Kontrollieren niedergeschlagen haben könnte, was für die Partnerin schwer auszuhalten ist. Auch die fortgesetzte Zumutung, dankbar sein zu müssen, kann Wut und Hass erzeugen.

Ab und zu - in den schlimmsten depressiven Tiefen - musste ich noch Schlimmeres verhüten. Zum Beispiel, als sich R., der es einfach nicht mehr aushielt, in Ausnützung seiner noch weiter bestehenden politischen Kanäle auf dem Schwarzmarkt eine schwere Pistole und Munition beschafft hatte. Es gelang mir, ihn dank unseres Vertrauensverhältnisses davon zu überzeugen, dass die Waffe besser in meinem Praxis-Sekretär aufgehoben wäre, mindestens so lange, bis seine Amokphantasien wieder unter Kontrolle waren. Dann gab ich sie ihm zurück, und er verkaufte sie wieder.

Während der ganzen Therapiedauer konnte ich oft direkt beobachten, wie frische Kränkungen von Seiten der Ex-Frau oder des Beistandes, eines Anwaltes oder Richters sich unmittelbar in schmerzhaften Muskelkontraktionen (Hartspann der Rückenmuskeln) umsetzten. Immer wieder schossen dem Patienten dann auch lanzinierende (stichartige) Schmerzen ein, sodass er nicht mehr weiter reden konnte. Eine entscheidende Besserung seines Zustandes ergab sich erst nach Abschluss der Gerichtsverfahren, als er wegen der Tätlichkeiten freigesprochen und unter fairen Bedingungen geschieden worden war. Nun konnte er auch die Beziehung zu den Kindern intensivieren, die er auch unter den schwierigsten Umständen immer aufrecht erhalten hatte. Dank einer Spende von einschlägigen Hilfswerken, die mein Mitarbeiter Heinrich Bader für ihn beschaffen konnte, waren erstmals längere Sommerferien in der Türkei möglich geworden. Anlässlich der Rentenrevision zwei Jahre nach der Rentenzuteilung konnte ich erstmals in einem Schreiben an die IV mit vorsichtigem Optimismus darauf hinweisen, dass ich mir eine allfällige selbstständige Teilzeitarbeit des Patienten als Türkisch-Übersetzer oder Berater in sozialrechtlichen Angelegenheiten vorstellen könnte.


Diskussion - die Invalidisierung der Revolutionäre

R. ist kein Einzelfall. In der Praxisgruppe unserer Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse haben wir etwa zeitgleich noch vier andere PatientInnen mit politischem Asyl aus der Türkei betreut, die alle auf Grund von schweren Somatisierungsstörungen und depressiven Entwicklungen arbeitsunfähig wurden. Ich habe die Fallgeschichte von R. vorgezogen, weil ich bei ihm über den längsten Beobachtungszeitraum verfüge - der von der Zeit, als noch keine organischen Rückenbeschwerden nachweisbar waren, bis zur gegenwärtig massiven auch organischen Schädigung mit den vielfachen Diskopathien[6] reicht.

Anderseits habe ich ihn vorgezogen, weil er in seiner Besonderheit des "guten Menschen" auch etwas Typisches für die ganze Gruppe aufweist. Die auslösenden Faktoren für den zuletzt aufgetretenen Invalidisierungsprozess sind zwar bei den verschiedenen Fällen unterschiedlich - in zwei Fällen waren es Verkehrs-Unfälle, in zwei anderen die als ungerecht erlebte Kündigung von Arbeitsverhältnissen, und in allen fünf Fällen zusätzlich die Belastung durch die Trennung von langjährigen Liebesverhältnissen - der zu Grunde liegende psychoanalytische Prozess erscheint mir aber in allen Fällen der Nämliche.

Es geht auf der einen Seite darum, was David Becker in Anlehnung und Weiterentwicklung des Keilson'schen Begriffes der "sequentiellen Traumatisierung" ausführt[7] und anderseits um eine ganz bestimmte psychische Konstellation. Diese umfasst eine narzisstische Störung in Verbindung mit ausgezeichneten Ich-Leistungen, ein starkes moralisches Über-Ich und eine vorwiegend kontraphobisch strukturierte Form der Angstbewältigung. Hinzu kommt ein starkes Gruppen-Ich (Parin) und die tief verinnerlichte revolutionäre Ideologie, die zwar in die politische Niederlage geführt und entsprechend kritisch betrachtet wird, deren Glaubenskerne (Gleichheit und Gerechtigkeit) aber nach wie vor Aufrecht erhalten werden. Man könnte diese spezifische Form von Religiosität (nicht zu verwechseln mit Religion, vgl. Modena, E. 1993/2002)[8] ihrerseits in Beziehung zum Clan-Gewissen der EthnopsychoanalytikerInnen sehen. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Gruppe von Menschen, die bei allen vorhandenen individuellen Unterschieden einem Grundtypus entsprechen.

Am schwersten zu verorten ist die narzisstische Störung. Ich habe weder bei R. noch bei den anderen Revolutionären mit politischem Asyl in der Schweiz auf der Grundlage ihrer Biographien Anlass, eine sich schon in der früheren Kindheit entwickelte Form einer schweren Selbst-Pathologie anzunehmen. Gleichwohl ist bei allen die für die narzisstische Störung typische, ja nach meiner Überzeugung pathognomonische Hemmung der Aggression feststellbar[9]. Genauer formuliert geht es um die Hemmung der egoistischen Anteile der Aggression, die dazu dienen, sich im Verhältnis zu anderen selber besser zu stellen. Dagegen wird auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie, bzw. des gesellschaftskritischen Wissens über Ausbeutung und Manipulation - um Herrschaftsverhältnisse überhaupt -, die Aggression gegen die feindlichen Exponenten des Unrechtssystems ohne weiteres frei gesetzt und steigert sich regelmäßig in revolutionären Situationen bis zur Gewaltbereitschaft. Alle haben beim bewaffneten Kampf in irgendeiner Weise mitgemacht. R. beschafft sich zusätzlich auf dem Höhepunkt seiner depressiven Krise eine Waffe, mit welcher er in einer Art von Amokphantasie oder von erweitertem Suizid mehrere ehemalige Folterer umgebracht, bevor er sich selber gerichtet hätte. Sobald allerdings die Ideologie auf der Grundlage der der Niederlage nachfolgenden Selbstkritik nicht mehr trägt, ist auch diese Möglichkeit der Aggressionsbewältigung nicht mehr gegeben. Man könnte vermuten, dass der durch die reale Niederlage bedingte Verlust der Ideologie und der unbedingten Gruppenzugehörigkeit die Weiche zur Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst gestellt hat. Hinzu kommt das starke moralische Über-Ich, welches Revolutionären zumeist verbietet, sich auf Kosten von anderen selber besser zu stellen. Die Hemmung der Aggression nach außen setzt aber nicht nur den depressiven oder gar masochistischen Mechanismus der Selbstbestrafung in Gang, sondern blockiert zusätzlich auch den Weg der früheren kontraphobischen Angstbewältigung. Das Ich muss auf andere Abwehrmechanismen zurückgreifen, wobei die Gefahr einer regressiven projektiven oder sogar projektiv-identifikatorischen Verarbeitung nahe liegt.

Angesichts der konkreten Erfahrung der Verfolgung und der durchgemachten Folterungen ist es im Nachhinein kaum mehr auseinander zu halten, wie viel Ich-Regression auf frühe Abwehrmechanismen und die dadurch in Erscheinung tretende misstrauische bis paranoische Grandiosität auf Trauma-Folgen zurückgeht und wie viel davon im klassischen Sinn als neurotisch verstanden werden kann. Mit Sicherheit führen die brutale Verfolgung, die Inhaftierung und die Folterungen zu Nah-Tod-Erfahrungen, die die oralen Kernstrukturen des Ur-Vertrauens (Erikson) oder des guten inneren Objektes (Klein) in arge Mitleidenschaft ziehen und womöglich sogar zerstören. Die unmittelbare Folge kann psychoanalytisch nur eine frühe Objekt-Spaltung mit drohender Fragmentierung oder das Zurückfallen von der depressiven in die schizo-paranoische Position sein. Ich nehme an, dass eine Reparation zunächst nur durch Abspaltung oder Einkapselung des durchgemachten Horrors gelingen kann, wie sie die uruguaysche Psychologin Arregui de Azpiroz[10] bei ihren PatientInnen festgestellt und in Analogie an die Mechanismen bei autistischen Kindern versteht, die Frances Tustin beschreibt. Eine längerfristige Genesung oder auch nur anhaltende Besserung kann nur durch den langwierigen Aufbau einer neuen menschlichen Vertrauensbeziehung in einer (z.B. therapeutischen) Situation - und die damit einhergehende Wiederaufhebung der Spaltung - gelingen. Von da her gesehen gibt es keine Kurz-Psychotherapie schwer traumatisierter Menschen, wenn auch vorübergehend mit entsprechenden Techniken Symptombesserungen erzielt werden können.

Leider ist allerdings bei politischen Flüchtlingen mit dem Erreichen des politischen Asyls noch keineswegs die Abfolge der sequentiellen Traumatisierung zu Ende. Die Notwendigkeit, sich im Immigrationsland neu einzurichten führt auch nach der Überwindung des anfänglichen Kulturschocks und der Erlernung der fremden Sprache zu keinem "Normalzustand". Die in ihrem Herkunftsland intellektuell und beruflich erfolgreich gewesenen Flüchtlinge sehen sich meist dazu gezwungen, mit untergeordneten manuellen Tätigkeiten auf der untersten Sprosse der sozialen Hierarchie Vorlieb zu nehmen, eine Arbeitsrealität, die zu einer Chronifizierung ihrer narzisstischen Verwundung Anlass gibt. Hinzu kommt die Erfahrung der latenten Fremdenfeindlichkeit oder gar des offenen Ausländerhasses, was man eine real-paranoische Situation nennen könnte. Ich glaube, dass dies auch der Grund dafür ist, dass sich die politischen Flüchtlinge oft in verschworene subkulturelle Gemeinschaften unter ihresgleichen zurückziehen, ein Mechanismus, den man auch von den großen Immigrationsgruppen kennt, wie von den italienischen Fremdarbeitern in der Schweiz mit ihren "Colonie Libere" und den zahlreichen regionalen kulturellen oder religiösen Zirkeln. Auch Liebesbeziehungen mit SchweizerInnen (InländerInnen) scheitern oft an den schwer zu überwindenden kulturellen Unterschieden.

Wenn in solchen langjährigen Verhältnissen mit fortwährenden kleineren und größeren Kränkungen die Flüchtlinge das Unglück einer abermaligen schwereren Traumatisierung trifft - wie Unfälle mit ernsthaften körperlichen Folgen oder der Liebesverrat von Seiten eines Partners oder einer Partnerin - kann die seelische Widerstandskraft ganz zusammenbrechen. Die Folge sind dann schwere depressive Entwicklungen, Panikzustände und Somatisierungsstörungen, die man nur versteht, wenn man die ganze Vorgeschichte mit einbezieht. Bei R. war nach der Enttäuschung einer ersten Liebesbeziehung mit einer Schweizerin das Heimholen und die Gründung einer Familie mit einer Türkin ein Selbstheilungsversuch gewesen. Das dramatische Scheitern dieser Ehe und die Kampfscheidung haben ihn im Verbund mit den körperlichen Problemen (die Überbeanspruchung des Muskelapparates der Wirbelsäule durch die Schwerarbeit als Chauffeur-Lagerist) dekompensieren lassen. Er, der bis dahin als "guter Mensch" immer allen geholfen hatte, war nun seinerseits auf die Hilfe aller angewiesen. Was ihn - abgesehen von der Therapie - gerettet hat, ist die Tatsache, dass ihn sein politischer Freundeskreis stets unterstützte. Immer war jemand da, der ihm den Haushalt besorgt hat, wenn er es schmerzverkrümmt nicht mehr selber leisten konnte, oder der ihm Geld geliehen hat, wenn er in den Mühlen der Sozialhilfe und der Gerichtsverfahren wieder einmal finanziell völlig ausgebrannt war. Es war diese tatkräftige Solidarität von Schweizern und Türken, die ihn vor dem Schlimmsten bewahrt hat.


Emilio Modena, Arzt und Psychoanalytiker. Mitbegründer des selbstverwalteten Psychoanalytischen Seminars Zürich (1977) und der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse (1979) (www.psychoanalyse-stiftung.ch). U.a. Herausgeber von "Das Faschismussyndrom - Zur Psychoanalyse der Neuen Rechten in Europa" (Psychosozial-Verlag).
E-Mail: emodena@stipp.ch

[Der Schattenblick veröffentlicht diesen Beitrag mit der freundlichen Genehmigung des Autors.]


Anmerkungen:

[1] Beitrag zur Migrationstagung am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) vom 29.09.07 zu Ehren Marie Langers. Die Arbeit wurde von Emilio Modena verfasst nach eingehenden Diskussionen mit Heinrich Bader und Erika Meier im Rahmen der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse Zürich. Aysel Duman verdanke ich die historischen Informationen.

[2] Aus Diskretionsgründen habe ich einiges im Detail verändert.

[3] Ich habe immer wieder beobachten können, dass Emigranten aus Angst vor einer Kündigung auch dann weiter arbeiten, wenn sie sinnvollerweise aussetzen und krank geschrieben werden sollten.

[4] Dr. med. S. E. (U.) vom 18. März 2003.

[5] Die Invalidenversicherung (IV) entscheidet in der Schweiz darüber, ob ein Invalidisierungsprozess vorliegt, der zu einer Rentenberechtigung führt oder zu beruflichen Maßnahmen (z.B. Umschulung) Anlass gibt. Dazu werden die medizinischen Daten von den behandelnden Ärzten eingeholt und gegebenenfalls eine externe Begutachtung veranlasst.

[6] Diskopathien sind Schädigungen der Zwischenwirbelscheiben, die von Einrissen und Verkalkungen bis zu Ausstülpungen des weichen inneren Kernes der Bandscheibe führen (Diskushernien), die dann durch Druck auf die nahe liegenden Spinalnerven neurologische Ausfälle und Lähmungen verursachen können.

[7] Becker, D. (2007): Sozialpolitisch verursachte Traumata. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 58. S. 43-62. Und: Keilson, H. (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart (Enke).

[8] Modena, E. (1993): Religiosität und Gemeinschaftsgefühl, Widerspruch 26, neu aufgelegt in Modena, E. (2002): "Mit den Mitteln der Psychoanalyse..." www.Psychoanalyse-stiftung.ch, S. 377-387, Giessen (Psychosozial-Verlag).

[9] Modena, E. (2001b): Aggredo und Libido. Zur Entmythologisierung der Freudschen Triebtheorie, psychosozial 84, S. 15-55, und Modena, E. (2003a): Aggression und Narzissmus, Psychoanalyse - Texte zur Sozialforschung 13 (Berlin).

[10] Maria del Rosario Arregui de Azpiroz (Montevideo): "Über einen Verlust ohne Trauer" - Einige Bemerkungen zur Übertragung in der Psychotherapie mit Opfern des Staatsterrorismus. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. 1992/93 Nr. 29/30, S. 207-219

Raute

dose

Frontex - nicht in der Türkei?

Im Rahmen der Vorbereitungen des no-border camps in Dikili 2008 in der Türkei erhielt ich auf Fragen nach den Aktivitäten von Frontex in der Türkei stets abweisende Antworten. Diese liefen darauf hinaus, dass es, weil die Verhandlungen zwischen derEU und der Türkei stockten, hier kein Frontex gäbe. Angesichts der ortsungebundenen Einsätze dieser Europäischen Grenzschutztruppe stimmte mich das allerdings misstrauisch. Auf dem Camp änderte sich dieser Zugang durch den engagierten Beitrags der beiden polnischen AktivistInnen und der Beobachtungen der AktivistInnen aus Mitilini (Lesbos). Das im Hafen von Mitilini stationierte Frontexschiff läuft abends aus und kehrt in der Früh zurück, ohne jemals gerettete GrenzüberquererInnen mitzubringen - was die Besatzung als ihre Aufgabe ausgibt.

Im Rahmen einer vornehmlich internetorientierter Recherche kam dabei doch einigem auf die Spur. Nach einer kurzen Darstellung von Frontex und einer gerafften Beschreibung der Umsetzung des europäischen Grenzregimes durch den langfristigen Anwärterstaat Türkei, beschreibe ich einige dieser Aufspürungen.


Frontex als umstrittene Organisation

Frontex[1] ist eine von den EU-Mitgliedsstaaten mitgetragene, aber selbst unter den EU-ParlamentarierInnen umstrittene Agentur zur Sicherung der europäischen Außengrenze, die zwar von allen Ländern finanziert wird, aber keiner definierten Stelle untersteht[2]. 2004 wurde sie mit dem Haager Programm von den EU-InnenministerInnen ("Future group"!) als eine Art paramilitärische Organisation installiert, seit 2005 befindet sich ihr Hauptquartier in Warschau. Bekannt sind die "erfolgreichen" Einsätze im Mittelmeer (mit Namen wie Operationen "Hera I" und "Hera II", in der Ägäis "Poseidon"), bis nach Mauretanien und auf internationalen Flughäfen.[3]

Seither steigt das der Agentur zugestandene Budget von Jahr zu Jahr. Die nationalstaatliche Zusammenarbeit erfolgt je nach Staaten teilweise mit neugeschaffenen, teilweise mit bereits vorhandenen Organisationen, wie etwa in Staaten mit gesellschaftlich einflussreichem Heer, z.B. in Spanien. 2007 wurden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, der Agentur Material und Personal zur Verfügung zu stellen. Hubschrauber, Boote und Einheiten der nationalen Grenzpolizeien und Gendarmerien stellen eine "Toolbox" dar, die bei Bedarf in einzelnen Mitgliedsstaaten als schnelle Eingreiftruppe (Rabit - Rapid Border Intervention Teams) zum Einsatz kommt. Die juristischen Grundlagen zum Einsatz von PolizistInnen und Paramilitärs aus dem Ausland zu polizeilichen Funktionen im Einsatzland, also Kontrollieren, Befragen, Verhaften wurden im Rahmen der WM 2006 in Deutschland geschaffen.[4] Angesichts der Pläne der Kommission bezeichnet Bernd Kasparek die Rolle des zentralen, koordinierenden Knotenpunkts im Netz der Institutionen des "integrated border management" von Frontex als europäisches Pendant des us-amerikanischen "Department of Homeland Security", also einer übergeordneten Superbehörde, die Erkenntnisse aus den verschiedensten Institutionen zusammenbringt, Handlungsanweisungen gibt und auf globale Trends zu reagieren versucht.[5]

Die Agentur ist befugt, selbständig Kooperationen und Arbeitsvereinbarungen mit Verwaltungseinrichtungen außerhalb der Europäischen Union einzugehen, Zusammenarbeit mit Geheimdiensten ist erwünscht. Die FRONTEX-VO beschreibt in Art. 13 und 14 über die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Behörden von Drittstaaten die Türkei als "bevorzugtes Partnerland", da sie als Beitrittskandidatin in den gemeinsamen "Sicherheitsraum" eingebunden werden müsse.[6]


Und in der Türkei?

Ähnlich wie die EU-Außengrenze bereits in die nordafrikanischen Staaten hinein verlegt wurde, wird sie auch immer mehr in die Türkei hineinverlagert. Mit dem 1999 in Tampere vorgelegten Aktionsplan Irak wurden das erste Mal Transitländer in das Grenzregime einbezogen. "Die Türkei ist aufgrund ihrer geographischen Lage ein wichtiges Transitland", heißt es dort, es geht um die "Aushandlung eines Transitabkommens mit der Türkei, das es den EU-Mitgliedstaaten gestatten würde, abgelehnte irakische Asylbewerber auf freiwilliger Basis sowie zwangsweise in den Nord-Irak zurückzuführen".[7]

Seit 2001 ist der türkische Staat in das Informationssystem CIREFI (Centre for Information, Discussion and Exchange on the Crossing of Borders and Immigration)[8] eingebunden, d.h. Behörden übermitteln Daten und nehmen am halbjährlichen Austausch von PolizistInnen teil, außerdem ist er in das Frühwarnsystem zur Erkennung von Migrationsströmen und Melden gestohlener Dokumente integriert.

Die ersten Schritte in Richtung "Harmonisierung" des Grenzregimes mit jenem der EU wurden im Juni 2002 mit der Einrichtung einer Task Force on Asylum, Migration and Border Protection aus VertreterInnen von Küstenwache, Gendarmerie, Militär, Innenministerium, Außenministerium, Zollbehörden und dem Sekretariat der EU-Angelegenheiten gesetzt. Arbeitsgruppen zu legislativen Veränderungen, Erkundungsbesuchen an der Grenze, Asylgesetzgebung und zur Einführung des Schengen-Visaregimes wurden eingerichtet. Eine Reihe von Gesetzesänderungen folgte, so führte der türkische Staat nicht nur Gesetze gegen Menschenhandel und Opferschutz ein (2003-05), sondern übernahm auch die Regelungen zur Kriminalisierung von Fluchtnetzwerken und führte den bisher unbekannten Tatbestand des Menschenschmuggels ein, dessen Bestrafung 2005 noch einmal verschärft wurde. In der Zeit zwischen 2001 bis 2006 gab es dementsprechend fast 6.000 Verhaftungen vornehmlich türkischer StaatsbürgerInnen. Mit dem Großteil der Nachbarstaaten wurden Abkommen zur gemeinsamen Verfolgung von "MenschenschmugglerInnen" unterzeichnet.[9]

Die Staatsbürgergesetze wurden in Richtung Vermeidung von Schutzehen geändert, jetzt müssen auch Frauen mindestens drei Jahre verheiratet sein, um die türkische Staatsbürgerschaft beantragen zu können. 2003 wurde der Erhalt der Arbeitsbewilligung für Personen ohne türkischen Pass erleichtert, falls die/der Betroffene einen Notfall nachweisen kann.[10] Dies bedeutet konkret, dass AsylwerberInnen, die innerhalb der Türkei auf die Zusage eines Aufnahmelandes warten, und Opfer von Menschenhandel wurden, für ihr Überleben legal arbeiten können.

Ebenfalls ist eine stufenweise Anpassung der türkischen Pässe an die EU-Sicherheitsbestimmungen für Dokumente geplant. Spätestens 2012 sollen türkische Pässe, ähnlich wie EU-Pässe mit allen möglichen Erkennungskriterien, wie z.B. biometrische Fotos, Fingerprints etc., versehen sein.

Bilaterale Rückführungsabkommen für "illegal" Eingereiste oder Aufhältige sind bereits mit einem Großteil der Nachbarstaaten abgeschlossen, die ersten mit Syrien (2003) und Griechenland (2002). In der Praxis funktioniert dies vornehmlich für türkische StaatsbürgerInnen und bei Personen, die bereits vom SIS-System registriert sind oder sich als wiederholt Reisende outen. Das Rückführungsabkommen mit der EU dagegen zählt neben der Aufhebung der geografischen Einschränkung der Genfer Konvention[11] und der Weigerung, die Praxis der (für viele Staatsangehörige) direkt an der Grenze erhältlichen Visa zum Einkleben zu ändern, zu den problematischen Verhandlungspunkten mit der EU. Als Kofferhändler beispielsweise, aber auch am informellen Arbeitsmarkt stellen jedoch insbesondere StaatsbürgerInnen der früheren Sowjetunion einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Türkei dar.


EU-geforderte/geförderte Aufrüstung

Der türkische Staat hat die Grenzen militärisch gesichert, insbesonders jene im Osten zum Iran und Irak, nicht zuletzt weil es sich um mehrheitlich kurdisch bewohntes und umkämpftes Gebiet handelt. Dort ist die Militärgrenze bis zu 50 km ins Landesinnere hinein erweitert. Nur in der Stadt Van nahe der iranischen Grenze, in der ein Großteil der Asylanträge gestellt wird, übernimmt diese Aufgabe die Gendarmerie, die Militärpolizei. Sie ist angewiesen AsylwerberInnen der Polizei zu übergeben. In der Praxis jedoch wählen die Grenzwachebeamten/soldaten den einfachsten Weg und zwingen AsylwerberInnen wieder auf die andere Seite der Grenze zurück. Dieselbe Vorgangsweise also, die auf der Seegrenze in der Ägäis von griechischer Küstenwache und Frontexpersonal und auf der Landgrenze im Evros/Merictal von griechischen Grenzsoldaten angewandt wird. Die Grenze zu Syrien hingegen ist vermint. Mit der Entmilitarisierung der Landgrenze im Westen, dem Evros/Merictal zu Griechenland und Bulgarien wurde wegen des gespannten Verhältnisses zu Griechenland erst 1999 begonnen. Aktuell findet dort eine Aufrüstung mit Nachtsichtgeräten unter Aufsicht von Frontex statt. Die Seegrenzen von Ägäis, Mittelmeer und Schwarzem Meer wiederum werden von der Küstenwache, einem Teil der Marine, bewacht.

Das Strategiepapier der EU von 2003 fordert die Schaffung einer einzigen "zivilen und spezialisierten" Behörde des Innenministeriums zur Implementierung und Durchführung des Grenzregimes, und schlägt sogar einen Namen dafür vor. Die Regierungspartei AK sprach daraufhin zwar kurze Zeit von einer Entmilitarisierung der Grenzen.[12] So rekrutiert die Küstenwache seit 2003 ihr Personal nicht mehr nur aus der Marine, sondern stellt auch eigenes ein. Ernsthaft an eine Entmilitarisierung der Grenzen ist allerdings spätestens seit den Armeeangriffen von 2007 auf das Kandilgebirge in Irakisch-Kurdistan nicht mehr zu denken. Insgesamt stieß die Vorstellung eines "zivilen" Grenzschutzes bei türkischer Regierung und Behörden nicht auf große Zustimmung, dass dies der EU-Jargon für eine durchaus militarisierte Grenze ist, war für sie auf den ersten Blick offensichtlich nicht verständlich.

Der bis März 2006 in einem Twinningproject[13] dementsprechend zögerlich ausgearbeitete Action plan on integrated Border Management System war den EU-Staaten zu langsam und vor allem zeitlich zu unkonkret.[14] Ende 2007 startete der Plan on Integrated Border Management-Phase 1, der sowohl administrative und legislative Veränderungen, technische Aufrüstung in Richtung e-Governance wie Standards für das Kommunizieren von biometrischen Daten, elektronischen Informationsfluss zwischen verschiedenen Instanzen, entsprechendes Training der Beamten, aber auch technische Probe-Aufrüstung an 100 km Landgrenze und 10 ausgewählten Stellen der Seegrenze umfasste. Spezialtrainings für Grenzpolizisten fanden 2006 gemeinsam mit der spanischen und ungarischen Polizei, "Trainings gegen Menschenschmuggel" 2007 mit der deutschen Polizei statt.[15] Der Plan sieht weiters die Einrichtung von fünf "Auffanglagern" für "illegale MigrantInnen" in der Türkei vor. Aufrufe zu Widerstand dagegen stoßen auf Schwierigkeiten, da die Projektion einer "humanitären Fortschrittlichkeit" der EU in der türkischen Öffentlichkeit bis hinein in die NGOs selbst für Auffanglager gilt, die "als halb so schlimm" im Vergleich zu "türkischen" Lagern gelten.

Die zweite Phase dieses Plans sieht neben weiteren legislativen und administrativen Änderungen die technische Aufrüstung der Grenzen, wie etwa die IT-Ausstattung der 250 Grenzübergänge (inklusive Militärflughäfen) sowie den Einsatz von Nachtsichtmonitoren an See- und Landgrenzen an "übergangsfreundlichen" Punkten, vor. An der Küste sollen nicht nur die Küstenwachschiffe mit Nachtsichtgeräten ausgestattet werden, sondern auch zusätzliche schnelle Interventions- und Kontrollboote eingesetzt werden. Bezüglich der Grenzsicherung im Osten und Südosten ist Frontex in den Plan bereits dezidiert miteinbezogen. Diese Gebirgsgrenze wird wiederholt als "nicht lediglich mit physischen Barrieren sicherbar" beschrieben, und die Notwendigkeit technologischer Aufrüstung betont.[16]

Ein eigener Bereich des Tätigkeitsspektrums von Frontex ist Forschung und Entwicklung. Die Agentur betreibt hier selbst aktuelle Forschungen, lässt aber auch Studien erstellen. Technische Studien zur Verbesserung von Kontrollsystemen werden mit solchen über die Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen und Organisationen verbunden, anhand derer sich Rüstungsunternehmen im Rahmen entsprechender EU-Forschungsprogramme bewerben.[17] Gemeinsam mit dem EU Joint Research Center[18] veranstaltete die Akademie der Wissenschaft der Türkei 2006 und 2008 Sicherheitskonferenzen, zu denen neben türkischen und EU-PolitikerInnen, SicherheitsexpertInnen und -forscherInnen, aber auch Frontex und VertreterInnen von Rüstungsunternehmen geladen waren. Bei den türkischen Rüstungsfirmen, wie Havelsan, Aselsan und STM handelt es sich vornehmlich um ausgelagerte Teile des Militärs. Auf diesen Konferenzen scheint es keine Verständigungsschwierigkeiten zu geben, sondern vielmehr die rüstungstechnischen Qualitäten der türkischen Waffenindustrie EU-Anerkennung zu finden. So ist STM in OPERAMAR, einem großangelegten Projekt zur "Sicherung" der Seegrenzen, an der Konstruktion von Schiffen mit besonderen Überwachungssystemen einbezogen.[19] Aselsan und STM sind innerhalb des Programmes Talos (Autonomous Patrol System for Land Border Surveillance) zu 30% an der Konstruktion unbemannter Überwachungsroboter zur "Sicherung" der Landgrenzen beteiligt. Sie sind mit speziellen Nachtsichtgeräten für schlechte Sichtverhältnisse und hohe Temperaturschwankungen, wie etwa in den kurdischen Bergen, ausgestattet und lassen sich zu bewaffneten Kampfrobotern umrüsten. Als "zivilen" Grenzschutz fördert die EU also die Aufstandsbekämpfung in den umkämpften kurdischen Gebieten.

Im Zuge der andauernden Beitrittsverhandlungen haben der türkische Staat und die Behörden also den Großteil der EU-Vorgaben für das Grenzregime bereits umgesetzt, ungeachtet der Tatsache, dass der türkische Staat und die meisten seiner BewohnerInnen selbst außerhalb dieser "Sicherheitszone" liegt. Die Parallelen zu den Nordafrikanischen Staaten werden nicht nur in der medialen Öffentlichkeit, sondern auch von den NGO's, die in diesem Bereich tätig sind, wegdiskutiert. Ausnahmen stellen höhere BeamtInnen und erfolgreiche KünstlerInnen mit grünen Spezialpässen und von der EU definierte "AssoziationstürkInnen" dar. Wachsende einvernehmliche Zusammenarbeit bei der Militarisierung der Grenzen richtet sich gegen das Fluten von Menschen, die ihren Wohnort selbst wählen, und gegen kurdische WiderstandskämpferInnen.

Um nicht in einer Auflistung staatlicher und polizeilicher Sicherheitsvorstellungen gefangen zubleiben, möchte ich noch die geplanten No-Border-Camps von 2009 ankündigen:

NoBorderCamp 2009
25.-31. August Mitilini/Lesbos

(Kontakt: noborder.lesvos.2009@gmail.com)
http://noborder09lesvos.blogspot.com/
http://levos09.antira.info/

Danach soll ein weiteres Camp an der türkischen Seite der Ägäis stattfinden, außerdem gibt es bereits eine Vorbereitungsgruppe für ein no-border-camp in Van 2010.


Anmerkungen

[1] Frontex selbst präsentiert sich auf einer Webseite www.frontex.europa.eu/, auf der sich auch Tätigkeitsberichte finden.

[2] Timo Tohidipur: FRONTEX - Der Europäische Grenzschutz und seine Agentur.
http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=0538.

[3] Unter dem Motto keepin' an eye on the Kerberos of the EU border regime veröffentlicht Frontexwatch kritische Berichte und Analysen zu der Grenzschutzagentur: http://frontex.antira.info/.

[4] Christoph Marischka: FRONTEX geht in die Offensive 2007: in IMI-Analyse 2007/015
http://www.imi-online.de/2007.php3?id=1530

[5] Ebenda S.6.

[6] Bernd Kasparek 2008: Frontex und die europäische Außengrenze. In: Was ist Frontex? Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen. Materialien gegen Krieg, Repression und andere Verhältnisse. Nr.4/S.9-15.

[7] Grundzüge des Europäischen Migrationsregimes.
http://no-racism.net/article/44.

[8] Ciret ein 1991 gegründetes informelles Gremium u.a. zum Sammeln und zum Austausch von Informationen und statistischen Daten über die Migration in die EU, insbesondere über die Ausgangsorte und die dabei verwendeten Dokumente, koordiniert Verbindungsbeamte in den Transit- und Herkunftsländern und soll in Frontex aufgehen.

[9] Vgl. Kemal Kirisci 2007: Border Management and EU-Turkish Relations: Convergence or Deadlock. CARIM-RR-2007/03, European University Institute, Florence. elektronisch unter www.carim.org).

[10] Ebenda.

[11] Der türkische Staat hat die Genfer Konvention mit der Einschränkung unterschrieben, lediglich Flüchtenden aus Europa Asylstatus zuzuerkennen. Ein weitere Aufnahmegruppe stell(t)en Personen, die in irgendeiner Art "Türken" (z.B. aus Zentralasien) sind.

[12] Vgl. Kemal Kirisci 2007: Border Management and EU-Turkish Relations.

[13] Twinning Projects, EU-deutsch Zwillingsprojekte, sind Projekte, in denen administrative oder sicherheitspolitische Strukturen neuer oder werdender EU-Mitgliedsstaaten mit PartnerInnen der alten EU-Staaten in Richtung EU-Tauglichkeit verändert werden. Der Großteil der Kosten geht dementsprechend an die Partnerorganisationen, der kleinere Teil an die "lernenden" Behörden.

[14] Vgl. Kemal Kirisci 2007: Border Management and EU-Turkish Relations.

[15] Twinning Project code: TR 07 IB JH 04 Action Plan on Integrated Border Management-Phase 1

[16] Twinning Number: TR 08 IB JH 04 Action Plan on Integrated Border Management-Phase 2

[17] Bernd Kasparek: Frontex: Zur Militarisierung der europäischen Migrationspolitik.
http://www.imi-online.de/download/EU-Studien-35-2008.pdf

[18] JRC beschäftigt sich vor allem mit Dokumentensicherheit, hat ein Modell zur Untersuchung der Durchlässigkeit der EU-Landgrenzen entwickelt.

[19] http://www.1turk.net/haberler/h/945

Raute

Ebru Isikli

Die Massenmigration in der Türkei der 1950er-Jahre vom Land in die Städte

Aus dem Englischen von Käthe Knittler und Francois Naetar


Einleitung

Türkische IndustriearbeiterInnen kamen in den 1950er-Jahren hauptsächlich aus ländlichen Gebieten der Türkei in die Städte. Das ökonomische Umfeld dieser Jahre ist schon genau untersucht; ich versuche dagegen in diesem Artikel herauszufinden, wie die IndustriearbeiterInnen diese Zeit erlebten. Die 50er-Jahre in der Türkei hatten einige Besonderheiten bezüglich der Arbeitsbedingungen. Insgesamt gesehen, hat die Migration viele verschiedene Aspekte, wie Urbanisierung, demographische Änderungen, usw. In diesem Artikel wird nur der Aspekt der Arbeitsbedingungen behandelt.


Verschiedene Blickwinkel, die Geschichte von Arbeits- und Klassenbeziehungen zu betrachten

Methodisch möchte dieser Artikel die strukturellen Änderungen der Arbeitsbeziehungen im Kontext der täglichen Erfahrungen der ArbeiterInnen behandeln. In den Untersuchungen über die Geschichte der Arbeit können verschiedene, zum Teil in Widerspruch zueinander stehende, Herangehensweisen festgestellt werden. Auf der einen Seite wurden - vornehmlich in den 50er-Jahren in Europa - die in den Gewerkschaften und politischen Parteien organisierten ArbeiterInnen betrachtet. Änderungen der Klassenverhältnisse wurden durch Verschiebungen in ökonomischen und politischen Verhältnissen erklärt. Die ArbeiterInnenklasse war ein abstraktes Strukturkonzept.

In den späten Sechzigern entwickelte sich im Zusammenhang mit der Stärkung der politischen Bewegungen und dem verstärkten politischen Engagement der Forscher ein gesteigertes Interesse an der Alltagskultur und dem Alltagsleben der ArbeiterInnen. Eley schreibt: "Das Alltagsleben ist Brennpunkt der revolutionären Widersprüche in einer Welt entfremdeter Sozialbeziehungen" (Eley, 1989) Die Hauptaufgabe der ArbeiterInnenforschung bestand in der Suche nach einem geschichtsmächtigen Subjekt in seinen Existenzbedingungen. Das Interesse der Forscher verschob sich von der Geschichte der Klassen (der Klassenanalyse) zur Geschichte der Klassenkämpfe. Andere Fachrichtungen wie Soziologie und Psychologie wurden in die Untersuchungen miteinbezogen, um die Entwicklungen der Alltagskultur und des Alltagslebens zu verstehen. Das Erwachen der Klassenkräfte in den Kämpfen selbst wurde interessant.

In der Suche nach geeigneten Theorien war Thompson am einflussreichsten. E.P. Thompson beschrieb die Entstehung der ArbeiterInnenklasse mehr als einen Prozess der Selbstermächtigung[1] denn als ein Fortschreiten der Geschichte zu einem vorbestimmten Ende. Das stand im Widerspruch zu der marxistischen Tradition, die Klassenentstehung aus der Entwicklung der Produktivkräfte zu erklären. Die Thompsonsche Beschreibung des Klassenbildungsprozesses war durch die Erfahrungen der an ihm teilhabenden Menschen geformt. Die Betrachtung des Alltags hatte in dieser Theorie eine wichtige Bedeutung und führte dazu, dass sich viele Forscher mehr mit dem Alltag der ArbeiterInnen als mit den Gewerkschaften und politischen Parteien zu beschäftigen begannen. E.P. Thompson wiederum wurde einerseits vorgehalten, dass er einen marxistischen, vordeterminierten ArbeiterInnenklassenbegriff während seiner Archivforschungen im Kopf habe, trotz seiner Behauptung, dass die Erfahrung hier sich selbst darstelle. Andererseits wurde ihm vorgehalten, dass er die Erfahrungen der ArbeiterInnen und nicht deren Beziehungen zu den Produktionsmitteln ins Zentrum stelle[2].

Thompson empfiehlt einen gewissen Skeptizismus[3] und ein Relativieren starrer Modelle bei Forschungen, wenn der Untersuchungsgegenstand für eine dialektische Herangehensweise geeignet ist. Die dialektische Methodik besteht ja darin, durch das Aufspüren der immanenten Widersprüche einer bestimmten Argumentation zu einer vertieften Argumentation mit verbesserter Erklärungskraft zu gelangen. In diesem Sinn ist die Stärke des Thompson‹schen Ansatzes die Verbindung von Erfahrung mit Struktur. Das Schlüsselwort für Thompson ist Erfahrung - die Erfahrung der ArbeiterInnen sollen in die Untersuchungen eingehen. Nicht mehr nur den Arbeitsplatz, sondern auch das Leben abseits des Arbeitsplatzes soll in die Untersuchungen einfließen.

Thompson ist skeptisch bezüglich linearer Konzeptionen von Geschichte und weist darauf hin, dass Konzepte durch Erfahrungen an Realität gewinnen. In seinen diesbezüglichen Studien verwendet er den Begriff der "moral economy" [4], um sich auf die wirkmächtigen, aber nicht oder nur ungenügend in Gesetzen niedergelegten informellen Regeln der Subalternen zu beziehen.

Yigit Akin kritisiert in Übereinstimmung mit diesen Überlegungen das Fehlen von Studien über die Sozial- und Kulturgeschichte der Arbeit. Auch Hakan Koçak kritisiert eine Forschung, welche die offiziellen Regelungen der Arbeitsbedingungen als Ausgangspunkt ihrer Geschichtsschreibung nimmt. Er unterscheidet zwei Ansätze. Der erste interessiert sich für Verhältnisse der industriellen Arbeit, der andere für Klassen. Ersterer liefert eine Aufzählung von Änderungen in den Arbeitsbeziehungen[5], letzterer kann eine Vorstellung über Konflikte und Interaktion zwischen den Klassen liefern.

Im Sinne dieser Betrachtungen werden in diesem Artikel Erfahrungen mit strukturellen Veränderungen verbunden. Unter Berücksichtigung des Kontextes wird den Erfahrungen der Menschen mittels der Erinnerungen der interviewten ArbeiterInnen selbst auf den Grund gegangen. Obwohl es aufgrund des hohen Alters der Zielgruppe schwierig war, ArbeiterInnen zu finden, die in den 50er-Jahren in den Arbeitsprozess eingetreten waren, konnten drei Ex-Arbeiter dieser Zielgruppe interviewt werden. Es sind:

Celal Potur (1931), Et Balik Kurumu-1952 (arbeitete 25 Jahre), migrierte 1955 von Giresun nach Istanbul,

Vasfi Isikli (1931), Derby Shoes-1940 (arbeitete 26 Jahre), migrierte 1955 von Yozgat nach Istanbul,

Mehmet Özgün (1924), Akfil Textile-1955 (arbeitete 14 Jahre), migrierte 1956 von Trabzon nach Istanbul.


Kontext

Die Veränderungen kapitalistischer Gesellschaften in den 1950er-Jahren beeinflusste die Arbeitsverhältnisse und Bedingungen sowie andere Gegebenheiten des Staates in der Türkei. Die Zeichen der Zeit waren: Industrieentwicklung durch eine liberale, aber auch geplante Wirtschaft in Verbindung mit einem Mehrparteiensystem. Die vorherrschende "solidarische" Ideologie des Einparteienregimes verlor ihren Einfluss, der autoritäre Charakter des Staates wurde durch die marktwirtschaftlichen Reformen herausgefordert, die Türkei näherte sich den USA und ihrer Ideologie an, um sich besser in die Weltwirtschaft zu integrieren. Nach 1954 wurden aber Importbeschränkungen eingeführt, die der lokalen Bourgeoisie mehr Kapital zu akkumulieren gestattete. Die Marktwirtschaft verwandelte sich durch den Schutz des Heimmarktes in eine gemischte Wirtschaftsform. Topraks Periodisierung der türkischen Wirtschaftsformen liefert folgendes Bild der 50er-Jahre[6]:

• Periode der Liberalisierung: 1948-1953
• Gemischte Wirtschaft: 1954-1957
• Ökonomische Stabilisierung: 1958-1962

Die Demokratische Partei (DP) wollte den einzelnen ArbeiterInnen mehr individuelle Rechte (arbeitsfreie Tage, bezahlten Urlaub, etc.) als die CHP (Republikanische Volkspartei) zugestehen. Dabei wollte sie verhindern, dass diese sich in Klassenorganisationen zusammenschlössen. Gemeinsam war beiden Parteien, dass sie den Klassenkonflikt schlichtweg leugneten[7]. Beschränkungen für Klassenorganisationen wurden 1946 abgeschafft, und das Gewerkschaftsgesetz 1947 verabschiedet; aber Streiks waren weiterhin verboten. Man versuchte, Klassenkonflikte auf individueller Basis zu behandeln, und ähnlich den USA Organisationen der ArbeiterInnenklasse frei von Politik zu halten[8]. Makal meint, dass die DP der ArbeiterInnenklasse näher gestanden habe, da sie das Recht auf Streiks und eine unterschiedliche Behandlung von Streiks und Aussperrungen einzuführen versprach. Allerdings änderte sich diese Haltung der DP Ende der 50er-Jahre. Sie sprach nicht mehr über demokratische Rechte und hörte auf, das Recht auf Streiks zu verteidigen[9]. Die CHP ihrerseits änderte ihre Haltung zu den ArbeiterInnenorganisationen, die ausgehend von "Arbeiterbüros" in der Zeit der Mehrparteienkonkurrenz (1948) entstanden. Die 50er-Jahre kennzeichnete eine Zunahme von Betrieben, die Kredite der "Industrial Development Bank" erhielten und fordistische Produktionsformen einzuführen begannen. Dadurch gewannen die IndustriearbeiterInnen mehr und mehr an Bedeutung, obwohl sie noch keinen bedeutenden Teil der ArbeiterInnenschaft darstellten[10]. Keyder meint, dass so gut wie jeder Betrieb in den 50ern-Kredit von der "Industrial Development Bank" erhalten habe[11]. Er meint auch, dass die 50er-Jahre für die Entstehung einer Abeiterbewegung jenseits der CHP bedeutend gewesen seien[12].


Arbeitsverhältnisse während der 50er Jahre

Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung begann nicht 1950. Aber die 50er-Jahre zeichneten sich - bedingt durch die oben beschriebenen internen und internationalen Entwicklungen - durch einige Besonderheiten in Bezug auf die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse aus. Aber auch was vorher geschah, hatte eine Einfluss. Die Kriegswirtschaft des 2. Weltkriegs schränkte bestimmte Formen von Zwangsarbeit (bounded labour) mit der damit einhergehenden Ausbeutung von Kindern und Frauen ein.

Die in der Zeit des Einparteiensystems vorherrschende Ideologie der so genannten Solidarität war nichts anderes als staatlicher Dirigismus, der die Klassenbasis der Gesellschaft verleugnete, um die Einheit der Nation in den Vordergrund zu stellen[13]. Die Ideologie der Solidarität meinte, wenn alle für die Entwicklung der Gesellschaft ohne Konflikte und Kämpfe zusammenstünden, würde sich auch die Nation entwickeln. Das bedeutete, dass die gewerkschaftliche Organisation der ArbeiterInnen behindert werden sollte. Gewerkschaften mit wenig Rechten (Streikverbot) konnten nicht einmal die den ArbeiterInnen zustehenden gesetzlichen Rechte durchsetzen, geschweige denn die informellen Gesetze, die in einer von LandarbeiterInnen dominierten Gesellschaft vorherrschten. Wie gesagt: Obwohl die Anzahl der IndustriearbeiterInnen insbesondere in den großen Städten zunahm, waren sie nur ein kleiner Teil der ArbeiterInnenschaft.

Die Zeiten änderten sich schnell. Nach dem Krieg beschleunigte der Kapitalismus seine Entwicklung. Der Marshall-Plan, der den Ländern, die am 2. Weltkrieg teilgenommen hatten, Hilfe und die Integration ins kapitalistische Weltsystem versprach, beeinflusste auch die Wirtschaftspolitik der 50er-Jahre. Die politischen Veränderungen führten zum Mehrparteiensystem. Zusammen mit der Einführung von Wahlen verlor die Ideologie der Solidarität an Einfluss, Liberalismus und Planung traten in den Vordergrund (in Übereinstimmung mit den Erwartungen der Hegemonialmacht USA). Die Mechanisierung der Landwirtschaft war eines der Resultate dieser Nachkriegsperiode.

Nicht allein der durch die Mechanisierung der Landwirtschaft bewirkte Arbeitskräfteüberschuss, auch der Versuch, der Armut am Land zu entkommen, zwang BäuerInnen in die Städte zu wandern, um dort Arbeit zu finden. Im Osten der Türkei eher als im Westen zwangen auch Enclosures [14] zur Migration. Die Steigerung der Agrarproduktion infolge der Mechanisierung führte zu einem generellen Anstieg der kommerziellen Aktivitäten, der Export nahm um 50% zu, die Anzahl der Fabriken stieg genauso wie die Anzahl der ArbeiterInnen in den Fabriken; in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre erhöhte sich die Anzahl der Fabriken von 163.000 auf 324.000[15]. Der Anteil der StadtbewohnerInnen an der Gesamtbevölkerung stieg von 19% auf 26%[16]. Während also die Anzahl der IndustriearbeiterInnen stieg, verringerte sich die bäurische Bevölkerung auf dem Land durch die Migration in die Städte[17].

Die Arbeitsmöglichkeiten, die sich entweder durch die Industrie in den Städten oder durch Bau- und Infrastrukturprojekte im ganzen Land auftaten, verhießen den BäuerInnen ein besseres Leben. Die Leute, die aus den Dörfern auswanderten, waren billige Arbeitskräfte für die Industrie. Unmissverständlich stellen AkteurInnen dieser Auswanderungswelle fest, Stadtbewohner wären nicht bereit gewesen, zu den Bedingungen zu arbeiten, zu denen sie arbeiteten. Es stellt sich die Frage, wie groß der Anteil der in der Stadt aufgewachsenen ArbeiterInnen war.

Die MigrantInnen waren hauptsächlich Männer. Die Trennung von ihren Dörfern und die schwierigen Lebensbedingungen in einer ihnen völlig unbekannten Umgebung führte entweder dazu, die alten Beziehungen zum Dorf zu bewahren, oder sich neue Netze aufzubauen, die es ihnen gestatten sollten, die Erwartungen, die sie an die Stadt hatten, umzusetzen. Alles schien in der Stadt besser als im Dorf zu sein. Sie dachten keinesfalls daran, in ihre Dörfer zurückzukehren, nachdem sie sich etwas Geld erspart hatten, im Gegenteil: Sie arbeiteten noch härter, um ihre Familien ebenfalls in die Stadt zu bringen und sich dort um sie zu kümmern - vor allem wenn sie Erwachsene waren. Nicht-wirtschaftliche Faktoren zu der sie umgebenden Gesellschaft spielten eine wichtige Rolle in ihren Leben, das durch den Überlebenskampf in einer Marktgesellschaft gezeichnet war. Die Anonymität der Beziehungen einer modernen Gesellschaft mussten sie erst mühsam lernen; oder sie hatten schon einige Erfahrungen durch den für Männer verpflichtenden Militärdienst. Das Leben in einer modernen Gesellschaft erfordert idealer Weise Vertrauen in die Institutionen und Beziehungen zwischen anonymen Individuen[18]. Menschen, die kein Vertrauen in diese Art von Beziehungen haben, sind denjenigen gegenüber benachteiligt, die dieses Vertrauen durch Erziehung und Praxis besitzen. Ihre Möglichkeiten zu Veränderungen sind weniger entwickelt. Sie ziehen informelle Beziehungen zu Personen vor, in die sie Vertrauen gewinnen können. Es muss betont werden, dass an dieser Unfähigkeit Organisationen schuld sind, die Möglichkeiten für die soziale Integration in die Gesellschaft hätten bieten sollen[19].

Die Menschen, die wegen extremer Armut ihre Dörfer verließen, entwickelten allein oder kollektiv Techniken, um ihr Leben in unbekannter Umgebung zu organisieren. Diese halfen, ein nicht vollständig "freier Arbeiter" [20] zu sein, und verminderten die Gefahr, vollständig die Kontrolle über ihre Leben zu verlieren. Die Bedingungen der ersten Stadtjahre machten sie zu einer Art von "Kriegern", und ihre persönlichen Bemühungen lösten so manches Problem, für dessen Lösung öffentliche Stellen verantwortlich gewesen wären[21].


Aufbruch in die hoffnungsfrohe Ungewissheit

Die Arbeitsmigration vom Land in die Stadt war männlich dominiert. Startpunkt für das neue Leben in der Stadt waren zumeist irreguläre Arbeiten, wie beispielsweise im Baugewerbe. Oft teilten die jungen Männer ein Zimmer, und es war üblich, mehr als nur einen Job zu haben, um schnell so viel Geld wie möglich zu verdienen. Nach der ersten Zeit der Eingewöhnung und gewissen Ersparnissen holten viele ihre Familien vom Land nach, um sich und ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen, auch weil sich die Lebensbedingungen auf dem Land mit Einführung der Kriegswirtschaft[22] deutlich verschlechtert hatten.

Ein Arbeitsplatz in der Fabrik war begehrt, aber es war nicht einfach, einen zu bekommen, da man dazu meist Empfehlungen brauchte. Ein regulärer, wenn auch ein unqualifizierter, Arbeitsplatz stellte eine deutliche Verbesserung gegenüber temporären Beschäftigungsmöglichkeiten dar. Die Frage nach qualifizierter Arbeit stellte sich für viele erst gar nicht, bzw. schien es beinahe unmöglich, eine solche anstreben zu wollen. Einerseits waren sich viele ihrer Qualifikationen nicht bewusst, andererseits stellte sich die Notwendigkeit zur Qualifizierung noch nicht. Unter den ArbeiterInnen war es üblich, sich über Vor- und Nachteile der verschiedenen Arbeitsstellen auszutauschen, Arbeitsbedingungen und Bezahlung zu vergleichen und zu fragen, was vom Unternehmen zur Verfügung gestellt wird. Beispielsweise war es in staatlichen Betrieben üblich, zu Mittag ein Essen zu bekommen.

Die Fabriken konzentrierten sich häufig am Rand der Stadt in Bezirken wie beispielsweise Osmaniye oder Zeytinburnu. Die dort angesiedelten Fabriken wie u.a. Sümerbank, Aksu, Akfil, Derby, Vita gehörten hauptsächlich der Textilbranche an. Rund um die Fabriken wohnten mehrheitlich die aus dem Land zugezogenen ArbeiterInnen. Jene ArbeiterInnen, die aus den Stadtzentren zur Arbeit kamen, waren schon länger eingesessen, wenngleich auch sie meist ländliche Wurzeln hatten. Junge Männer migrierten oft in kleinen Gruppen gemeinsam in die Städte und suchten dort bei Menschen aus ihrer Herkunftsregion Anschluss. Diese erste Migrationsphase wird von vielen als Abenteuer und erfahrungsreiche Zeit beschrieben. Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt in den neuen Städten waren Freundschaften, die während der Militärdienstzeit geknüpft worden waren. Gab es keine Reise- oder sonstigen Bekanntschaften, auf die zurückgegriffen werden konnte, wurden Moscheen oder Cafés zu wichtigen Anlaufstellen, um Kontakte zu Personen aus dem Dorf oder zumindest der Region zu knüpfen. Wenn sie sich aber niedergelassen hatten und die Familien nachgezogen waren, wurden Nachbarschaftsnetzwerke zum wichtigsten Bezugspunkt. So vertrauten SchichtarbeiterInnen während der Nachtschicht ihre Familien der nachbarschaftlichen Obhut an.

Netzwerke über Bekanntschaften und Freundschaften waren jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Zugang zu Arbeitsstellen zu erlangen. Von Unternehmen eingesetzte ArbeitsvermittlerInnen suchten die Hotels der ZuwanderInnen auf, um Angestellte für die Fabrik zu finden. Die möglichen Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen wurden von den ArbeitsvermittlerInnen üblicherweise[23] wesentlich besser dargestellt, als sie tatsächlich waren. Diese ersten Arbeitsgelegenheiten waren für die wenigsten, die gerade erst ihren Unterhalt als ArbeiterInnen zu verdienen begonnen hatten, befriedigend. Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen war es schwierig, in der Stadt das Überleben zu sichern, eine Rückkehr ins Dorf war allerdings auch keine Option.

Die städtische Lebensweise wurde in den Dörfern mit Neugierde wahrgenommen. Vor allem die Kleidung der in die Dörfer auf Besuch kommenden Verwandten schürte diese Neugierde, war doch die Kleidung der sichtbarste Ausdruck von Urbanität. Es war nicht ausschlaggebend, ob viel oder kein Geld mitgebracht wurde, das Leben in der Stadt galt jenem auf dem Land auf jeden Fall als überlegen. Die Stadt stand für Abenteuer, die allen offen standen, und für die Möglichkeit bzw. den Beginn eines besseren Lebens. Die migrierenden Männer und Familien, die später nachkommen sollten, hofften auf die Möglichkeiten, die sich in der Stadt bieten sollten. In den folgenden Jahren wurden auch die besseren Bildungschancen der Kinder zu einem entscheidenden Migrations-Motiv[24].

Sich in einer Stadt fest niederzulassen, war für Abenteurer nicht üblich, sie reisten von Stadt zu Stadt. Viele waren noch sehr jung - zwischen 14 und 20 - und sammelten so bereits Erfahrungen für ein kommendes Leben in der Stadt. Hatten sie genug Geld für städtische Kleidung und die Rückfahrkosten verdient, kehrten sie wieder in ihre Dörfer zurück. Männliche ArbeitsmigrantInnen, vor allem jene der ersten Generation, verdingten sich überwiegend durch befristete Arbeitsverhältnisse - beispielsweise als Zement- oder Bauarbeiter. Sobald sich andernorts eine bessere Arbeit fand, wurde das ursprüngliche Arbeitsverhältnis gekündigt und die neue Arbeit angenommen. Arbeitsangebote wurden verglichen, alle Möglichkeiten erwogen. Ganz egal, wo, ob zuerst in Istanbul und dann in Adana oder Aydin: Arbeit wurde angenommen und dann, wenn sich woanders Besseres fand, wieder weitergezogen. Üblicherweise wurde in kleinen Gruppen, mit Freunden, gereist. Bei Ankunft in der Stadt lösten sich die "Reisegruppen" oft wieder auf. Wurde hingegen das Ziel verfolgt, sich in der Stadt niederzulassen, war es nicht unüblich, gemeinsam ein Haus, meist am Stadtrand - in den Gecekondus -, zu mieten, allerdings nur solange, bis genügend Geld für den Familiennachzug und eine eigene Wohnung verdient war.

Oft reiht sich ein Übergangsjob an den nächsten, bis ein regulärer Arbeitsplatz gefunden werden konnte. Die Möglichkeit eines fixen Arbeitsverhältnisses bot die Fabrik. Kontakt konnte über Freunde hergestellt werden, oder man ging direkt dorthin, um nach Arbeit zu fragen.

Zwei Arbeitsverhältnisse zu haben, war keine Seltenheit. Das erste Arbeitsverhältnis war oft ein regulärer Job, der zweite - beispielsweise als Warenauslieferer - nur vorübergehend. Nicht selten war der reguläre Job Ursprung für den zweiten; fehlerhafte Produkte wurden weiterverkauft, oder - als Kühlschränke noch rar waren - Eis, das in der Fabrik bezogen werden konnte, verkauft.

Der enge Kontakt vieler FabriksarbeiterInnen zu ihren Dörfern resultierte in einer hohen Fluktuation in der Fabrik. Männer wie Frauen waren nach wie vor wichtige Arbeitskräfte für die landwirtschaftliche Arbeit in ihren Heimatregionen. Im Sommer verließen viele die Fabrik, um bei der Feldarbeit zu helfen. Obwohl dies dem regulären Charakter der industriellen Arbeit zuwider lief, wurden diese irregulären Arbeitsunterbrechungen akzeptiert, da ein hoher Bedarf an Arbeitskräften bestand[25].

Staatliche Betriebe zählten zu den beliebtesten Arbeitsplätzen, nicht weil die Arbeitsbedingungen so viel besser gewesen wären, sondern weil hier zu Mittag Essen und einmal im Jahr Kleidung ausgegeben wurde. Wie einer der Interviewpartner erzählte, war es schwierig, eine solche Stelle zu bekommen: "Vor den Fabriken haben sich Leute auf Arbeitssuche versammelt, bei den privaten Unternehmen war es leichter, eingestellt zu werden. Bei den staatlichen war es weitaus wichtiger, Referenzen vorlegen zu können."

Dennoch waren nicht alle ArbeiterInnen in staatlichen Betrieben regulär beschäftigt. Auch hier gab es (vor allem für die unqualifizierte Arbeit) befristete Arbeitsverhältnisse. Regulär Beschäftigte genossen den Vorteil, Zugang zu langfristigen Krediten zu haben, und so den Kauf von Wohnungen finanzieren zu können - für befristet Beschäftigte bot sich diese Möglichkeit nicht. In sozial abgesicherten Arbeitsverhältnissen war es üblich, sich den Urlaub ausbezahlen zu lassen. Oft wurde über mehrere Jahre hinweg kein Urlaub in Anspruch genommen. Wenn auch ein Grund dafür der höhere Verdienst war, so war der Wunsch, als "guter Arbeiter" anerkannt zu werden, ein weiterer Motivationsgrund. Ein "guter Arbeiter" zu sein, war auch ein Weg, sich den Ansprüchen des neuen Lebens in der Stadt anzupassen, und die Fabrikarbeit wurde auf jeden Fall als Verbesserung gegenüber jener Zeit angesehen, als ein anstrengender, zeitlich befristeter Vertrag den anderen ablöste. Sich Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben anzueignen, ein technisches Verständnis zu entwickeln, die Bereitschaft, Überstunden zu leisten und paternalistische Beziehungen zu beherzigen, waren der beste Weg, um ein "guter Arbeiter" zu werden. Diese Erwartungen wurden auch gegenüber den neu Hinzukommenden reproduziert.

Der Eintritt in die Fabrik war nach den harten Jahren der befristeten Arbeitsverhältnisse für die meisten kein traumatisches Erlebnis. Ich hätte zwar Berichte über Ängste, Unwohlsein und Sorgen erwartet, ähnlich Chaplins Erfahrung in Modern Times, aber keiner der Interviewpartner sprach über seine ersten Erfahrungen mit der Fabrikdisziplin und dem neuen Zeitregime. Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Grund in dem Bedürfnis liegt, sich als erfolgreich im Anpassen an das neue Leben zu präsentieren und somit keine Schwäche und Unsicherheit zuzulassen, oder ob die Fabrikarbeit einfach der vorhergehenden Arbeitsperiode vorzuziehen war. Beschreibungen über Anpassungsprozesse an den neuen Zeitrhythmus und die Fabrikordnung lassen sich eher in Romanen und Erzählungen finden[26]. Akin beschreibt in seinen Arbeiten die Anstrengungen, die mit der Durchsetzung neuer disziplinierender Methoden verbunden waren, wie den Wandel der Zeitverwendung, der mit dem Wechsel von der Landwirtschaft in die Fabrik einhergeht[27]. Nichtsdestotrotz galt es sich an Disziplin und Produktivitätszwänge anzupassen. Die großen Menschenmassen und die Maschinen erzeugten Unbehagen. Im Vergleich zu den vorhergehenden Arbeitserfahrungen bedeutete die Fabrik einen regulären Job und finanzielle Absicherung. Auch bestehende Arbeitsrechte, wie der Anspruch auf Überstundenzahlungen, wurden erlernt und genutzt. Unter KollegInnen und NachbarInnen wurden Erfahrungen ausgetauscht und Informationen weitergegeben.

"Um zu zeigen, dass ich ein guter Arbeiter bin, bin ich immer etwas später von der Arbeit gegangen. Am Ende des Monats bekam ich zusätzliches Geld. Ich fragte danach, wofür dieses Geld sei, und sie sagten mir, dass ich es für die geleisteten Überstunden erhalten hätte. Sie haben die Stunden gezählt und honoriert."

Sich an die neuen Bedingungen anzupassen und dem Bild eines "guten Arbeiters" zu entsprechen, konnte auch zu Konflikten mit den nachgezogenen Bekannten und Verwandten führen: "Ich habe einige Leute aus meinem Dorf entlassen. Ich habe ihnen einen Job verschafft, und sie waren faul. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen zurück in ihr Dorf gehen."

Kinderarbeit war üblich. Viele ArbeiterInnen zogen es vor, dass ihre Söhne sie bei der Fabrikarbeit unterstützten und so das Familieneinkommen aufbesserten, als dass sie ihre Zeit spielend auf der Straße verbrachten. Auch die Vorgesetzten ermutigten ihre ArbeiterInnen, die Kinder in die Fabrik zu mitzunehmen: "Warum bringst du dein Kind nicht mit? Es ist doch besser, wenn es etwas lernt, als nur auf der Straße zu sein." Einer der Interviewpartner berichtete stolz, vielen Kindern aus der Nachbarschaft Arbeit in seiner Fabrik verschafft zu haben.

Viele der Frauen, die ihren Männern aus dem Dorf in die Stadt nachfolgten, gingen offiziell keiner Arbeit nach. Doch dieses Bild bestand mehr in den Köpfen der Männer[28]. Frauen verrichteten überwiegend Arbeiten, die zuhause gemacht werden konnten. Die weiblichen Nachbarschaftsnetzwerke informierten über verschiedene Arbeitsmöglichkeiten. So wurden beispielsweise Arbeiten von Textilfabriken übernommen, Lebensmittel für die Konservenherstellung zubereitet oder die Wäsche für allein stehende Männer gewaschen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda war für Männer und Frauen die erfolgreichste Methode der Jobvermittlung.

Auch wenn die Männer nicht gern sahen, dass ihre Frauen einer Lohnarbeit nachgingen, so galt diese Einstellung nicht mehr für ihre Töchter. Eine erwerbstätige Tochter zu haben, symbolisierte die Integration in die städtische Lebensweise, vorausgesetzt allerdings, der Arbeitgeber galt als vertrauenswürdig und war von jemand empfohlen worden. Ihre Frauen sollten nicht arbeiten; wenn es aber die Töchter taten, entsprachen sie dem städtischen Lebensstil. Die Männer versuchten auch, in derselben Fabrik Arbeit für ihre Töchter zu finden, um sie besser im Auge zu haben. Im Gegensatz zu den Buben begannen die Mädchen erst etwas später zu arbeiten.

Jene wenigen MigrantInnen, die im Stadtzentrum lebten, hatten eher Zugang zum kulturellen Leben der Stadt und den vielfältigen Angeboten, vor allem für Frauen boten sich hier mehr Möglichkeiten. Erfahrungen mit dem multiethnischen Charakter der Stadt wurden gemacht; einige hatten amerikanische oder griechische NachbarInnen. Ein Interviewpartner erzählt, wie er einen guten Bekannten, mit dem er schon einige Male geplaudert hatte, auf der Straße fragte, ob er mit ihm gemeinsam das Morgengebet in der Moschee sprechen wolle. Nach Rückfrage erfuhr er den Grund für dessen Ablehnung: Er war nicht moslemisch.

MigrantInnen, die im Stadtzentrum lebten, verbrachten ihre Freizeit beispielsweise auf den Prinzen-Inseln[29] und in Parks. Frauen verbrachten ihre Freizeit gemeinsam mit Freundinnen ebenfalls an diesen Plätzen. MigrantInnen im Zentrum und männliche MigrantInnen, die am Stadtrand wohnten, genossen die Vorzüge der Stadt und erforschten die Möglichkeiten, die ein Leben in der Stadt zu bieten hat. Keyder hebt allerdings hervor das, dass die städtische Kultur den Massen zunächst verschlossen blieb[30]. Die ArbeiterInnenklasse konnte aber Zugang dazu erlangen, wenngleich dies für Migranten leichter war als für Migrantinnen. Migranten gaben einen Teil ihres Geldes ohne ihre Familien für Vergnügungen im Zentrum aus. Viele holten auch Grundschulabschlüsse nach, um ihre (Arbeits-)Chancen in der Stadt zu verbessern.

Die Klassendifferenzen wurden im Stadtzentrum sichtbarer als an der Peripherie. Eine der Töchter der Interviewten bemerkte, sie habe bereits als Kind gemerkt, dass zwischen ihr und den "Offiziellen" ein Unterschied bestand, obwohl sie damals noch nicht einmal gewusst habe, was "offiziell" bedeute. Kontakt zu den Herkunftsdörfern wurde aufrechterhalten, wenngleich sich die Gründe dafür wandelten. So stellten die Nahrungsmittel vom Dorf eine kleine, aber dennoch willkommene Unterstützung für die StädterInnen dar; und den Neuankömmlingen vom Dorf wurde Unterkunft gewährt, bis sie selbst genug verdienten.


Schlussfolgerungen

Die Migration der 1950er-Jahre war von der Hoffnung auf ein besseres Leben und den Beginn eines sozialen Aufstiegs getragen. Die Beziehungen zu den Herkunftsdörfern waren vor allem zu Beginn - durch die regelmäßige Rückkehr in den Sommermonaten - sehr eng und blieben auch später durch weitere Unterstützungsleistungen aus den Dörfern aufrecht. Arbeitsmöglichkeiten bestanden in privaten oder öffentlichen Unternehmen. Die Investitionen stiegen aufgrund der amerikanischen Unterstützungsprogramme schnell an.

Die Vereinzelung in der Landwirtschaft, die Atmosphäre des Mehrparteiensystems und die Nachkriegssituation zogen viele in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom Land in die Stadt. Auch der abenteuerliche Charakter der Städte war für viele ein wichtiger Grund um das eintönige Leben auf dem Land gegen ein Leben in der Stadt zu tauschen. Den Problemen, die das Leben in der Stadt mit sich brachte, wurde auf verschieden Weisen begegnet, dabei wurden unterschiedliche Taktiken entwickelt. Nach Makal sind vor allem vier Merkmale der 1950er-Jahre wesentlich für die Klassenbewegung der 1960er-Jahre: die auf individueller Ebene gesammelten Arbeitserfahrungen, dass die Arbeitsplätze zu einem Ort von Arbeitskämpfen wurden, die Ansiedlung der ArbeiterInnen rund um die Fabrik und die daraus resultierende Herausbildung von Klassenbewusstsein, und die Stärkung von Gewerkschaften[31].

Die Kontakte und Beziehungen der ArbeitsmigrantInnen waren vorerst auf Verwandte und Personen aus dem Herkunftsdorf beschränkt und dehnten sich später auf die erweiterte Nachbarschaft und Arbeitskontakte aus. Die Regeln der Industriedisziplin wurden erlernt, aber die zweite Generation war den Verheißungen der Stadt gegenüber schon weitaus skeptischer.

Keyder zeigt, dass MigrantInnen der zweiten Generation ein ausgeprägter klassenspezifisches Verhalten zeigten, und zwar zunehmend in dem Maße, in dem die Peripherien stärker mit den Stadtzentren interagierten. Es scheint auch, dass das noch weniger klassenspezifische Verhalten der ersten Generation stärker auf den Anerkennungswunsch in der Stadt abzielte, da sie Angst hatte, von den Möglichkeiten urbanen Lebens ausgeschlossen zu werden. Die MigrantInnen der zweiten Generation hingegen waren bereits StadtbewohnerInnen, die sich den unzureichenden Lebensbedingungen in der Stadt widersetzten. Sie verglichen ihre Lebensbedingungen in den Städten mit jenen ihrer Eltern, während diese die Vorzüge der Stadt noch gegenüber den meist schlechteren Lebensbedingungen auf dem Land sahen.

Kartal unterscheidet so zwei Phasen urbanen migrantischen Lebens: Eine erste, in der sich die Menschen selbst als "relativ wohlhabender" als zuvor wahrnahmen, und eine zweite, in welcher sie sich als "relativ benachteiligt" sahen. Aus diesen Gründen neigten erstere auch zur Wahl konservativer Parteien, zweitere hingegen zu Parteien, die eine Änderung des bestehenden Systems versprachen.

Die IndustriearbeiterInnen der 1950er-Jahre gehörten zwar einer gemeinsamen Klasse an, sie konstituierten aber keine homogene Masse. Ohne die Heterogenität der Alltagserfahrungen zu leugnen, gewinnen sie doch erst durch den gemeinsamen Kontext an Bedeutung. Sonst hätten wir nur die Erinnerungen, aber keine gemeinsamen Anknüpfungspunkte, um Antworten auf aktuelle Fragen geben zu können. Wie Yigit Akin zeigt, sind individuelle Erfahrungen äußerst wichtig für die Geschichte der ArbeiterInnen. Erfahrungen sind nicht bloß Anekdoten, sie geben uns vielmehr Anhaltspunkte für die Politik von heute.


Literatur und Anmerkungen:

[1] E.P. Thompson, The Making of the English Working Class, Harmondsworth: Penguin Books, 1968

[2] Richard Johnson, "Thompson, Genovese, and Socialist Humanist History", History Workshop, 6, 1978, pp. 79-100

[3] Vefa Saygin Ögütle & Güney Çegin, Sosyo-Tarihsel Teorinin Sinifla Imtihani, Duvar, 2007, p 88

[4] E.P. Thompson, Custom in Common, London: Penguin, 1993. In diesem Buch entwickelt Thompson das Konzept der "moral economy".

[5] Hakan Koçak, 50‹leri Isçi Sinifi Olusumunun Kritik Bir Ugragi Olarak Yeniden Okumak, Çalisma ve Toplum, 2008/3

[6] Zafer Toprak, ATA Lecture Notes: http://www.ata.boun.edu.tr/Faculty/Zafer%20Toprak/ATA_522_PART3_fall2007.ppt

[7] Ahmet Makal, Türkiye‹de Çok Partili Dönemde Çalisma Iliskileri: 1946-1963, Imge Kitabevi, 2002

[8] Mustafa Delican, Cumhuriyet Döneminde Türk Endüstri Iliskileri, Isçi Sendikalarinin Dünü, Bugunü, Sosyal Siyaset Konferanslari, Kitap 51,
http://www.calisma.org/index.php?option=com_content&task=view&id=2275&Itemid=59

[9] Ahmet Makal, Ameleden Isçiye, Iletisim Yayinlari, 2007

[10] ArbeiterInnen beschäftigt in Industrie und Handwerk: 8,7%, Zafer Toprak, ATA Lecture Notes,
http://www.ata.boun.edu.tr/Faculty/Zafer%20Toprak/ATA_522_PART4_fall2007.ppt

[11] Çaglar Keyder, Türkiye'de Devlet ve Siniflar, Iletisim Yayinlari, 1989

[12] Zafer Toprak, ATA Lecture Notes,
http://www.ata.boun.edu.tr/Faculty/Zafer%20Toprak/ATA_522_PART4_fall2007.ppt

[13] Ahmet Makal, Ameleden Isçiye, Iletisim Yayinlari, 2007. Das Konzept der "Solidarität" stammt ursprünglich aus Dürkheims "organic solidarism".

[14] "Encloseure" (dt. Einhegung) in der Türkei ist der Prozess, bei dem Gemeindeland privatisiert wird und die BäuerInnen dadurch gezwungen werden vom Land in die Städte zu siedeln. Das bekannteste Beispiel ist England im 18. Jahrhundert. Teilweise geschah ähnliches auch im Osten der Türkei.

[15] Ibid. P.169

[16] Ibid. P.171

[17] "The percentage of peasantry was 83% in 1945 and 71% in 1955": Zafer Toprak, ATA Lecture Notes,
http://www.ata.boun.edu.tr/Faculty/Zafer%20Toprak/ATA_522_PART4_fall2007.ppt

[18] Vgl. Giddens, The Consequences of Modernity, Polity Press, Stanford, 1992 by Oguz Isik&Melih Pinarcioglu in "Nöbetlese Yoksulluk", Iletisim Yayinlari, 2001

[19] ibid.

[20] "Freier Arbeiter" wird hier im Marxschen Sinn verwendet: Er besitzt nichts als seine Arbeitskraft, um zu überleben.

[21] Sema Erder, Kentsel gerilim: enformel iliski aglari alan arastirmasi, 1997

[22] Zur Zeit der Kriegswirtschaft musste ein Teil der Ernte an offizielle Stellen abgeführt werden. Dies führte zur Verarmung der Landbevölkerung und zu Konflikten mit den Behörden.

[23] Die ArbeitsvermittlerInnen nehmen in den Arbeitsbeziehungen der damaligen Perioden eine wichtige Rolle ein - eine weiterführende Untersuchung wäre lohnend.

[24] Zeki Erdogmus, Kirsal bölgelerden Ankara, Kibris-Bayraktar Ilkokulu gecekondu bölgesine göç ve göçedenlerin kentlilesmesi, Hacettepe Üniversitesi Yayinlari, 1978. Nach einer Studie von Zeki Erdogmus, basierend auf einer quantitativen Befragung in den gecekondus von Ankara, stellt der Wunsch nach einer guten Ausbildung für die Kinder den drittwichtigsten Migrationsgrund dar.

[25] Yildirim Koç, 1923-1950 Döneminde CHP‹nin Isçi Sinifi Korkusu, Mülkiyeliler Birligi Dergisi, Cilt 8, Sayi: 170, p: 43-44

[26] Als Beispiel seien, Lilo Linke, Mustafa Kemal Türkiyesi: Modern Türkiye Seyahatnamesi, Ikarus Yayinlari, 2008 und die Romane von Orhan Kemal genannt.

[27] Yigit Akin, "Erken cumhuriyet dönemi emek tarihçiligine katki: Yeni yaklasimlar, yeni kaynaklar", Tarih ve Toplum Yeni Taklasimlar, Volume:2, p92, 97, 98, und Yigit Akin, Gürbüz Yavuz Evlatlar, Erken Cumhuriyette Beden Terbiyesi ve Spor, Iletisim Yayinlari, 2004

[28] Die Interviewpartner haben selbst nicht über Frauen in der Lohnarbeit berichtet, aber die beim Interview anwesenden Mütter und Töchter haben es bestätigt.

[29] Die Prinzeninseln sind für ihren bourgeoisen Lebensstil bekannt.

[30] Çaglar Keyder, Türkiye‹de Devlet ve Siniflar, Iletisim Yayinlari, 1989, p:170

[31] Ahmet Makal, Türkiye‹de Çok Partili Dönemde Çalisma Iliskileri: 1946-1963, Imge Kitabevi, 2002

Raute

Pelin Tan

Istanbul: Widerstand im Stadtteil und gegenkultureller Raum


"... Räume können niemals vollkommen kapitalisiert werden. Sie besitzen immer die Eigenschaft, etwas anderes zu werden."[1]
K. Gibson-Graham


Stadterneuerung in Istanbul

Am frühen Morgen des 28. August 2008 begannen die Bulldozer der Stadtverwaltung die Baracken von aus der Stadt Adana[2] stammenden Roma-Saisonarbeiter_innen zu zerstören. Unter Polizeischutz demolierten sie die Häuser der Einwohner_innen des Istanbuler Stadtteils Sulukule. Die Bewohner_innen einiger Stadtteile Istanbuls und lokale Autoritäten befinden sich in den letzten Jahren in andauernden Konflikten und Auseinandersetzungen. Eine Reihe von Bezirken wie Sulukule, ökonomisch wenig entwickelt und ethnisch auffällig, stehen im Zentrum der Stadterneuerung. Die Umstrukturierung dieses heruntergekommenen Bezirks bedeutet hier keine Verbesserung der materiellen und sozialen Bedingungen, sondern die Vertreibung der Bewohner_innen, um Projekte zu verwirklichen, die den Wert für den städtischen Markt steigern. In den letzten drei Jahren haben sich Bewohner_innen zusammen geschlossen, um gemeinsam ihre Wohnrechte zu verteidigen. In Zusammenarbeit mit Akademiker_innen, unabhängigen Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und anderen bemühen sich diese Nachbarschaftsinitiativen, Möglichkeiten eines gegenkulturellen Raumes anzubieten, nicht nur über ihre Wohnrechte zu diskutieren, sondern um ein kollektives soziales und alltägliches Leben herzustellen.

TOKI[3] (die Wohnunraumentwicklungs-Verwaltung der Türkei) und die lokalen Verwaltungen sind die Hauptakteur_innen der städtischen Entwicklungsprojekte in der Türkei. Sie präsentieren sich als lokale Version neoliberaler städtischer Umstrukturierung und Erneuerung. TOKI ist offiziell eine staatliche Abteilung mit dem Ziel, günstige Wohnungen für arme Menschen zu errichten. TOKI ist aber ein privates Unternehmen, das in Zusammenarbeit mit den Autoritäten als städtisches Räumungsunternehmen handelt, um arme und ethnisch auffällige Communities zu vertreiben. Die Firma KIPTAS[4], von der Istanbuler Stadtverwaltung ins Leben gerufen, ist eine weitere Akteur_in, die sich am Bau und Verkauf von Wohnungen auf Kreditbasis beteiligt[5]. Alle diese in Bautätigkeiten involvierten Akteur_innen sind eine weitere lokale Variante dessen, was David Harvey als Neoliberalismus beschreibt, "...der eine komplexe Veränderung der Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat bedeutet, wobei die staatlichen Institutionen aktiv werden, um am Markt orientierte regulatorische Einrichtungen zu fördern."[6] Die Stadtpolitik dient dazu, Bewohner_innen zu vertreiben und die Besitz- und Eigentumsverhältnisse zu verändern. Dabei nutzen lokale und ausländische Investor_innen Istanbuls Image als Marketing-Instrument und bedienen urbane Ängste (Terrorismus, Erdbeben, Unsicherheit), um städtische Säuberungen und Umstrukturierungen durchzusetzen.

Wie verbinden sich die globalen Strategien einer neoliberalen Ökonomie mit dem lokalen Diskurs[7], in dem nicht nur der städtische Raum kapitalisiert wird, sondern auch die sozialen Beziehungen, die diesen strukturieren? Um die Veränderungen des Neoliberalismus vom 20. zum 21. Jahrhunderts zu erklären, spricht Neil Smith von einer neuen Form, in dem "nicht die nationale Macht, sondern die des Staates auf einer anderen geografischen Ebene organisiert und ausgeführt wird."[8] Wie können wir Smiths Definition des "neuen" Neoliberalismus auf Istanbul anwenden? Wir wissen, dass der Putsch vom September 1980 den Weg für die Unterstützung durch den IMF frei machte, um das Land in der globalen Ökonomie zu positionieren. Ab den 1980ern erhielten die Stadtverwaltungen finanzielle Zuwendungen von der Regierung (verbunden mit einem Politikwechsel), um die Stadtviertel zu erneuern. LED (Local Economic Development) verweist in diesem Kontext auf die Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen, lokalen Planer_innen und globalen Kapitalvertreter_innen, die über die großräumigen städtischen Veränderungen und die damit verbundenen Projekte zur Gentrifizierung bestimmen. Sie verwandeln dabei das Land von Staatseigentum in private Armut. Die Beeinflussung der städtischen und ökonomischen Politik machen sowohl die Akzeptanz von Gecekondular[9] und deren Integration in die kapitalistische Organisation des städtischen Raumes[10] möglich wie auch die Ausdehnung der "Enklaven / Gated Communities". Auch nach 2000 wurden unter den Titeln "städtische Renovierung" oder "städtische Entwicklung" Projekte in großem Ausmaß fortgesetzt, um die Zerstörung und den Wiederaufbau durch die abstrakten Diskurse über urbane Angst, Ökologie, kulturelles Erbe und Naturkatastrophen (z.B. Erdbeben) zu legitimieren.

Die Politik der urbanen Umstrukturierung und Erneuerung (Artikel 5366) [11], welche die Stadtbehörden autorisiert, städtische Erneuerung und Entwicklung durchzuführen, beschleunigte 2005 die in Istanbul beschlossene Legitimierung aktueller Projekte der Stadterneuerung. Diese Politik erlaubt es, jeden Platz oder jeden Bezirk in Istanbul als städtisches Erneuerungsgebiet zu definieren und damit Eigentumsrechte, städtische Planung, und die Anwendung architektonischer Projekte zu kontrollieren.


Unterschiedliche Bedingungen in den Stadtteilen

Entsprechend der Zusammenarbeit der Akteur_innen der neuen städtischen Politik werden in den im Visier der lokalen Verwaltungen stehenden Stadtvierteln die gleichen Prozesse der urbanen Säuberung durchgeführt. Diese Viertel zeigen aber unterschiedliche geografische Lagen, soziale Strukturen, Community-Identitäten und in unterschiedlichem Ausmaß erlittene Schäden. Die verschiedenen Charakteristika der Viertel erfordern eine lokale Politik und spezifische Formen der Organisierung und der Solidarität. Diese Unterschiede will ich an der Entwicklung einiger Fälle aufzeigen.

Der Bezirk Tarlabasi besteht aus einigen Wohnviertel in der Nähe von Taksim-Beyoglu (geografisch eines der Hauptzentren von Istanbul). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Migrant_innen aus Anatolien. Durch den kurdisch-türkischen Bürgerkrieg in den 1990ern wurden sie zur Migration aus den östlichen und südöstlichen Regionen gezwungen[12]. Weiters wohnen in Tarlabasi auch vor Bürgerkriegen und Grenzkonflikten geflohene illegalisierte afrikanische und asiatische Migrant_innen[13]. Die früheren Bewohner_innen von Tarlabasi waren hauptsächlich nicht-muslimische Teile der Bevölkerung des Osmanischen Reiches. In den letzten Jahren wurde dieser Bezirk als heruntergekommen abgestempelt und die heterogene arme Bevölkerung wird (als ethnisch auffällig, transsexuell...) sozial nicht akzeptiert. Schließlich werden alle urbanen Klischees bedient, um diesen Ort als gefährlich und unsicher zu beschreiben. Die Bevölkerung ist informell im Dienstleistungssektor beschäftigt, vermutlich in Taksim-Beyoglu. Die Verwaltung von Beyoglu arbeitet mit TOKI und der Baufirma GAP zusammen, um diesen Bezirk für "bessere" Schichten zu adaptieren. Die Stadterwaltung begründet die Veränderungen des Bezirks mit einem Erneuerungs- und Renovierungsplan. Der Artikel 5366 erlaubte der Stadtverwaltung, Druck auf die Besitzer_innen auszuüben, Gebäude und Wohnungen unter ihrem Wert zu verkaufen. Die Bewohner_innen wurden erst nachträglich informiert, als die Baufirma am 4. April 2007 einen Vertrag unterzeichnete. Um ihre Wohnrechte zu wahren und gegen die Zwangsmaßnahmen der Verwaltung aktiv zu werden, gründeten sie eine Vereinigung zum Schutz und zur Verteidigung ihrer Rechte als Eigentümer_innen und Mieter_innen von Tarlabasi. Diese Nachbarsschaftsinitiative stoppte den Verhandlungsprozess zwischen der Stadtverwaltung und den Besitzer_innen, bis die Rechte der Bewohner_innen durch die Verwaltung und GAP berücksichtigt werden. Tarlabasi ist ein Beispiel für ein heruntergekommenes, ethnisch auffälliges "Ghetto"-Gebiet. Die Stadtverwaltung will nicht nur den materiellen Zustand der baulichen Umgebung verbessern, indem Fassaden und Wohnungen renoviert werden, sondern sie will die Ersetzung der ansässigen Bevölkerung durch eine erwartete homogene reichere Klasse.

Im Frühjahr 2008 wurde die Öffentlichkeit Istanbuls Zeuge massiver Straßendemonstrationen durch die Bewohner_innen des Bezirks Basibüyük, darunter viele Frauen und Mütter[14]. Erstmals gingen Hausfrauen auf die Straße, um der Polizei entgegenzutreten, die die Bewohner_innen mit Tränengasgranaten angriff. Basibüyük ist ein früherer "gecekondu"-Bezirk in Maltepe (dem Ostteil von Istanbul) auf einem Hügel mit Blick auf den Bosporus. In der Vergangenheit wurde er als Peripherie der Stadt gesehen. Zuletzt wählten 73% der Bevölkerung von Basibüyük die AKP, was bedeutet, dass die Politik dort auf keinen Fall links dominiert ist, sondern im Gegenteil eher konservativ und rechtsgerichtet. Der politische Charakter dieses Viertels unterscheidet sich von vielen anderen Vierteln, die als linksorientiert und ethnisch auffällige Minderheits-Wohnviertel gelten. Diese "gecekondu" Umgebung wurde durch die Errichtung von Infrastruktur (Elektrizität, Wasser, Gas) gefördert, was sich seit 1984 in Wahlerfolgen für die konservative lokale Verwaltung ausdrückte. Jetzt wird dieser Stadtteil, wie andere auch, durch städtische Erneuerung bedroht. TOKI und die Verwaltung von Maltepe in Basibüyük planen ein Projekt zur Errichtung von Luxusvillen. Interessant ist in diesem Fall, dass TOKI Sozialwohnungen in einer wenig entwickelten Gegend von Basibüyük errichtet und 6500 Familien dorthin umsiedeln will. TOKI bietet den Familien einen relativ niedrigen Preis für ihre Häuser, zwingt sie aber, Kreditvereinbarungen für ihre neuen "sozialen" Wohnungen einzugehen. Das bedeutet, dass sie weniger Geld für ihr Eigentum bekommen als sie für ihre von TOKI gebauten Apartments zahlen müssen. Die Familien akzeptierten diese Vereinbarungen nicht, die Konflikte auf der Straße und der Widerstand gegen die Stadtverwaltung und die Polizei dauerten mehrere Monate an.

Ein anderes Beispiel ist Ayazma[15]. Die Bewohner_innen von Basibüyük fürchteten das gleiche Schicksal wie die Menschen in Ayazma. Ayazma ist ein stark migrantisch geprägtes Viertel in der Nähe des 2001 errichteten olympischen Stadions - und Ergebnis erzwungener Migration. Fast alle Familien dort wurden genötigt, ihr Wohnviertel zu verlassen, die Stadtverwaltung ließ ab 1. Februar 2007 ihre Häuser dort zerstören. Fast 880 Häuser, ursprünglich in den 1980ern errichtet, wurden abgerissen[16], 650 Familien wurden zum Umzug in einen anderen Bezirk gezwungen, weit weg vom Stadtzentrum, wo sie in "sozialen" Wohnungen leben müssen, die sich die meisten von ihnen nicht leisten können. Einige kehrten in ihre Heimatregionen zurück, andere kamen in der Nähe bei Verwandten in Istanbul unter und ein Rest versucht in Ayazma in Zelten zu überleben.

Das Wohnviertel Gülsüyü Gülensu, im Osten von Istanbul gelegen, kann als erfolgreiches Beispiel für Widerstand gegen lokale Autoritäten gelten. Ebenso ein früheres "gecekondu" fand sich dieses Viertel auf einer Liste von Plänen zur städtischen Erneuerung. Bis sie einen offiziellen Brief von der Stadtverwaltung bekamen, wussten die Bewohner_innen allerdings nichts davon. Als Antwort darauf sammelten sie 7000 Unterschriften und eröffneten 32 Gerichtsverfahren, um "Nein" zur Umstrukturierung zu sagen[17]. Desweiteren etablierten sie die Gülsüyü-Gülensu-Nachbarschaftsinitiative gemeinsam mit einer Plattform der Nachbarschaftsinitiativen von Istanbul (Viertel, die ebenfalls von staatlich geförderter "Erneuerung" bedroht sind). Die heutigen Bewohner_innen leben seit den 1970ern in Istanbul und auch die heutige Generation bildet eine starke linke Community.

Wieder ein anderes Beispiel ist Sulukule, das wegen einer andauernden Kampagne um Wohnrechte in den türkischen Medien sehr präsent ist. Sulukule ist der Bezirk auf der historischen Halbinsel, auf der die Mehrheit der Roma seit dem osmanischen Reich leben. Heute sehen sie einer gewaltsamen Aussiedlung entgegen. Unter Benutzung des Artikel 5366 beschlossen die staatlichen Autoritäten, die Behausungen des Viertels ab dem 13. Dezember 2006 zu zerstören. TOKI bot Sozialwohnungen in Tasoluk an, im Nordosten von Istanbul, weit außerhalb des Stadtzentrums. Sowohl Wohneigentümer_innen wie auch Mieter_innen versuchen Wege zu finden, um in ihrem Viertel zu bleiben, nicht nur um in ihren Häusern und Straßen weiter zu wohnen, sondern auch wegen der ansonsten zu erwartenden ökonomischen Verschlechterungen.

In der letzten Zeit sehen sich die Bewohner_innen der Stadtviertel (aber auch der Communities im Allgemeinen) sozialer Segregation ausgesetzt, zwischen den Armen, ethnisch auffälligen Communities und dem Rest der städtischen Bevölkerung. Alle fürchten die Unsicherheit ihrer zukünftigen Lebensverhältnisse wie auch der Ghettoisierung ihrer Wohnorte. Darüberhinaus ist die Bedrohung durch "doppelte Armut" eine konkrete Folge der Beschäftigung der Bewohner_innen im informellen Dienstleistungssektor, durch die sie die so genannte flexible Arbeit der städtischen Ökonomie repräsentieren. Wenn dann die Communities weit außerhalb der Stadt angesiedelt werden, verlieren sie deshalb ihre Jobs oder müssen als Pendler_innen mehr Geld für Mobilität ausgeben, als sie sich leisten können.


Gegenkulturelle Räume, sanfter Aktivismus

Entsprechend dem Hintergrund des Viertels und seiner Bewohner_innen zeigen die oben diskutierten Beispiele unterschiedliche Formen von Widerstand und unterschiedliche Resultate. Immer geht es um die Zusammenarbeit lokaler Verwaltungen und TOKI, autorisiert durch den Artikel 5366, wobei Projekte der städtischen Erneuerung und Umstrukturierung zu Säuberungen und Umsiedlungen genutzt werden. Viele Kampagnen in den letzten drei Jahren wurde in Zusammenarbeit mit Akademiker_innen, NGOs, unabhängigen Aktivist_innen, Journalist_innen und Künstler_innen durchgeführt. Kulturelle Veranstaltungen, künstlerische Interventionen, Forschungsprojekte und Kampagnen versuchen dabei nicht nur Aufmerksamkeit zu erregen, sondern die Informationen, was sich tatsächlich in den Wohnbezirken Istanbuls abspielt, an die Öffentlichkeit zu tragen.

Mein Hauptaugenmerk liegt darin, wie kulturelle Interventionen und Gesten städtische gegenkulturelle Räume im urbanen Kontext stimulieren können, wie Kritik der Institutionen eine Rolle im gegenkulturellen Diskurs spielen kann und wie und wo Aktivist_innen und Bewohner_innen partizipieren können und eine gemeinsame Grundlage finden, um ihre Wohngegenden zu repräsentieren. In einem Gespräch mit Toni Negri[18] wird über "sanfte Formen" des Aktivismus und urbane Projekte diskutiert, die Kollektivitäten auf einer Mikroebene der Wohnviertel erzeugen. Es wird argumentiert, dass ""sanft" bedeutet, dass das politisch Transversale außerhalb des biopolitischen Diagramms existieren kann" und dieses biopolitische Diagramm "ist der Raum, in dem die Reproduktion des sozialen Lebens (sozial und politisch) in allen seinen Dimensionen kontrolliert, integriert und ausgebeutet wird." Hier bedeutet die politische Transversalität eine Art von Zerstreuung von Machtverteilungen. Im Gespräch geht es um unterschiedliche urbane Kämpfe und Kollektive, die sich mit ihren eigenen Praktiken und ihrer Macht am städtischen Aktivismus beteiligen. Was sich in Istanbul an oppositionellen urbanen Bewegungen in den Stadtvierteln tut, kann so als sanfte Form des Aktivismus beschrieben werden.

Einige Nachbarschaftsinitiativen, etwa in Basibüyük, Gülsüyü-Gülensu und Sulukule, werden von Gruppen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen unterstützt. Vor dem Hintergrund einer politischen und zivilgesellschaftlichen Vergangenheit entwickelte die Nachbarschaftsinitiative von Gülsüyü-Gülensu in Zusammenarbeit mit Dayanismaci Atölye (solidarity stüdyo, aus Studierenden für Stadtplanung und Akademiker_innen der Mimar Sinan University of Istanbul bestehend) ein Konzept, das eine partizipatorische Planungspraxis ermöglicht. Inzwischen begannen die Bewohner_innen von Gülsüyü-Gülensu ein Projekt, das sie "Stadtgarten, Stadtökologie" nennen, um der staatlich organisierten städtischen Umstrukturierung zu widerstehen, indem sie Gemüse auf Brachflächen, in Hinterhöfen und Gärten des Bezirks pflanzen. 2004 wurde die Plattform der Nachbarschaftsinitiativen von Istanbul[19] gegründet, die inzwischen fünfzehn unter Drohung einer städtischen Erneuerung stehende Wohnviertel vertritt. Diese Plattform organisierte eine Reihe von Kundegebungen und Veranstaltungen und sie beteiligte sich auch an Workshops und Konferenzen[20]. In den Stadtvierteln plant die Plattform Vorführungen von Dokumentationen über städtischen Widerstand in der ganzen Welt in Zusammenarbeit mit Künstler_innen, Filmemacher_innen, Kurator_innen und Schriftsteller_innen. Der Vorsitzende der Nachbarschaftsinitiative von Gülsüyü-Gülensu erklärt, dass sie sich weder als links noch als rechts sehen, dass religiöse und ethnische Identität keine Bedeutung habe, sondern dass sie sich nur organisieren, um ihre Wohnrechte als allgemeine Menschenrechte zu verteidigen[21].

Genügen aber die urbanen Kämpfe mit Demonstrationen und Diskussionen, um die Aktivitäten der TOKI, der lokalen Autoritäten und der polizeilichen Kontrolle in der Stadt zu verhindern? Armut, schlechte Ausbildung (viele kurdische Menschen verstehen kein Türkisch, die meisten Bewohner_innen können nicht schreiben und verstehen die offiziellen Papiere nicht, die sie von den Verwaltungen bekommen) und viele andere Gründe behindern noch immer die Solidarität unter den städtischen Aktivist_innen. In einem Artikel fragt Jean François Perouse, warum die oppositionellen zivilgesellschaftlichen Bewegungen gegen die staatlichen Erneuerungsprozesse in der urbanen Sphäre generell, aber auch spezifisch in den Wohnvierteln, so schwach sind.[22] Am Beispiel von Ayazma benennt er einige Gründe für deren Scheitern[23]: die Unsicherheit der lokalen Bevölkerung (wegen der erzwungenen Migration), die schlechte Bewertung der informellen und flexiblen Arbeit, die weite Entfernung von den Stadtzentren, die Komplexität der Besitzverhältnisse sowie ein Mangel an kommunaler Identität.

Sulukule ist das bekannteste Beispiel für kulturelle und künstlerische Interventionen. Diese wurden von der Sulukule Plattform[24] (eine nicht-hierarchische Gruppe von Bewohner_innen und interdisziplinär agierenden Menschen) angeregt. Einige Architekt_innen und Aktivist_Innen anderer Bereiche initiierten die interdisziplinäre Plattform 40 Gün 40 Gece Sulukule (40 Tage, 40 Nächte Sulukule), die von mehreren NGOs und Universitäten unterstützt wurden und öffentliche Aktivitäten in Gang setzte, um den Bezirk und seine Menschen zu verteidigen[25]. Die Plattform arbeitet auch mit Rechtsanwält_innen der Architekt_innenkammer von Istanbul zusammen, um staatliche Aktivitäten vor Gericht zu verhindern. Am 17. Mai 2007 wurde ein Abkommen zwischen all jenen Gruppierungen unterzeichnet, die in diesem Fall involviert oder an ihm interessiert sind, unter ihnen Universitäten, Stadtverwaltungen, NGOs und auch die begleitenden Initiator_innen. Zusammenarbeit und Organisation auf Stadtteilebene ist so möglich, um aktuelle Veranstaltungen zu organisieren, die lokalen Netzwerke können aber nicht nur für die Partizipation in den Siedlungen genutzt werden, sondern auch durch die Protagonist_innen in den anderen Tätigkeitsfeldern. Der Medienaktivismus durch die Benutzung von Blogs und digitale Kommunikation, durch die viele Bürger_innen aus anderen Feldern zu kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen in die Stadtviertel eingeladen wurden, ist eine Form der zivilgesellschaftlichen Organisation. Seit etwa die Tarlabasi Association die Kommunikation mit der Verwaltung von Beyoglu einstellte und deren unzumutbaren die Eigentumsverhältnisse betreffende Vorschläge ablehnte, gelang es in Zusammenarbeit mit Stadtforscher_innen und Akademiker_innen die Medienaufmerksamkeit auf das Problem zu lenken. Die fortdauernden Aktivitäten der Nachbarschaftsinitiativen können auch institutionelle Diskussionen in Bezug auf die Bedeutung von "Kultur" oder "soziale Identität" in einer segregierten städtischen Sphäre beeinflussen. Im Allgemeinen präsentieren Akademien, kulturelle Institutionen (Museen, Kunst-Institutionen) oder das Kulturhauptstadtprojekt Istanbul 2010 eine hygienische, normalisierte städtische Kultur, die heterogene Elemente der Gesellschaft und im Allgemeinen jede Art von oppositioneller politischer Agenda zugunsten eines repräsentativen Multikulturalismus ausschaltet. In diesem Fall ziehen die Nachbarschaftsinitiativen vor, mit lokalen städtischen Kollektiven, unabhängigen Wissenschaftler_innen, Akademiker_innen und Künstler_innen zusammenzuarbeiten.

George Yudice[26] zeigt, dass lokale Graswurzelbewegungen effektiver sein können als NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit sozialdemokratischen politischen Gruppen verbunden sind. Als Mikro-Kollektive im städtischen Raum, haben die Nachbarschaftsvereinigungen das Potential, sich mit "sanftem Aktivismus" durchzusetzen.


Pelin Tan ist Soziologin und Kunsthistorikerin in Istanbul. Im Winter 2008 war sie als Gastprofessorin für Architektur an der Universität Nürnberg. Sie ist Mitherausgeberin und Redakteurin von Muhtelif, Magazin für zeitgenössische Kunst. Außerdem ist sie Mitglied der Sulukule Plattform.


Anmerkungen:

[1] "Mekan tabanli küresellesme": Devrim için yeni bir tahayyül ("Space based globalization": A new imaginary for a Revolution"), p.52-55, Birikim, 205-206, May-June 2006, Istanbul

[2] Fünftgrößte Stadt der Türkei.

[3] www.Toki.gov.tr/english

[4] www.kiptas.com.tr

[5] Mehr über TOKI, KIPTAS und deren Beziehungen zur türkischen Regierung und Minister Tayyip Erdogan: Ayse Çavdar, "Tayyip Usülü Kamulastirma", p.22, Express (social-political magazine), June-July, 2008.

[6] Harvey, David (2006): Spaces of Global Capitalism. A Theory of Uneven Development. New York: Verso, S. 102.

[7] Der nostalgische Geschmack einer ottomanisch-türkischen Identität versucht eine ultra-nationalistische und konservative Ideologie mit islamischem Hintergrund zu fördern.

[8] Smith, Neil (2002): New Globalism, New Urbanism: Gentrification as Global Urban Strategy. In: Antipode, S. 429.

[9] Gecekondu ist die Bezeichnung für ein Haus, das Menschen auf von ihnen besetztes staatliches Land "nachts hingestellt" (die wörtliche Übersetzung von gecekondu) haben. Der Begriff geht auf eine vormoderne Verordnung zurück, die besagt haben soll, dass ein Haus, das "über Nacht" auf öffentlichem Grund und Boden errichtet worden ist, nicht mehr abgerissen werden darf. (Anm. derive) Gecekondular ist der Plural.

[10] Weitere Infos in Murat Güvenç&Oguz Isik: "The newcomers were in most cases deprived of the means to build a multi-storey structure for themselves, since the practice of users building their squatter houses was already a thing of the past.", p.212, chapter 10, A Metropolis at the Crossroads: The Changing Social Geography of Istanbul under the Impact of Globalization, in book Of States and Cities, Partitioning of Urban Space, Ed. P.Marcuse&R.van Kempen, Oxford University Press, 2002.

[11] Article 5366: www.tbmm.gov.tr/kanunlar/k5366.html

[12] 60% der Bevölkerung sind Kurd_innen, der Rest sind meist Türk_innen aus der Schwarzmeerregion.

[13] Pelin Tan, Grenzpolitiken und Stadt-Betrachtungen, Self-Service City: Istanbul", in: Stephan Lanz/Orhan Esen (Hg.): metroZones 4, B-Books, Berlin, 2004.

[14] Pinar Ögünç, Bayibüyük'ün derdi büyük kadinlar, Radikal Newspaper, Istanbul, 17.05.2008
www.radikal.com.tr/Default.aspx?aType=HaberDetay&ArticleID=878045&Date=21.05.2008&CategoryID=41

[15] Ayse Çavdar, Basibüyük'ün derdi de büyük, Aktüel Magazine, Istanbul, 29.05.2008

[16] Jean Francois Perouse, Kentsel Düsler, Radikal Newspaper, Istanbul, 24.06.2007

[17] Müjgan Halis, Üniversiteliler Gülsuyu mahallesinde Sabah Newspaper,Istanbul, 17.03.2007
http://arsiv.sabah.com.tr/2007/03/17/cpsabah/hob103-20070311-102.html

[18] Toni Negri, Constantin Petcou, Doina Petrescu, Anne Querrien, "What makes a biopolitical space?", (Paris, 17 september, 2007), www.eurozine.com/articles/2008-01-21-negri-en.html

[19] www.imdp.blogcu.com

[20] November 2006: Urban Transformation Conference, Ankara; 9.-10. Juni 2008: Dwelling Rights Workshop, Ankara; 11.-13. Juli 2008: Social-economical Impacts of Urban Transformation, Istanbul, organisiert von Pelin Tan / Osman Kavala.

[21] Gepräch mit Erdogan Yildiz, Istanbul Neighbourhoods Platform, Express, Mai 2008.

[22] Jean Francois Perouse, Kentsel Dönüsüme karsi Ayazma'da neden yerel bir muhalefet olusamadi ?, Istanbul Magazine, April 2008.

[23] Ibid.

[24] www.sulukuleplatform.blogspot.com

[25] Interview mit Asli Kiyak Ingin (Aktivistin und Architektin, Mitbegründerin der Sulukule-Plattform) von Pelin Tan
www.arkitera.com/soylesi_68_asli-kiyak-ingin.html, http://40gun40gece-sulukule.blogspot.com

[26] George Yudice, p.82-108, The Globalization of Culture and the New Civil Society, The Expediency of Culture uses of culture in the Global Era, Duke University Press, Durham and London, 2003.

Raute

Dorothea Härlin

Pilotprojekt Türkei: Ein neuer Angriff auf unser Wasser - eine neue Stufe im kapitalistischen Akkumulationsprozess?


"Thousands have lived without love, not one without water."[1]


Wir Menschen bestehen zu ca. 70% aus Wasser. Kein Leben auf diesem Planeten ohne Wasser. Höchstens die Luft könnte als lebensnotwendiger betrachtet werden. Und doch sind es weltweit über 1 Milliarde Menschen - jede/r sechste also -, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Nach UN Berichten leiden 2,6 Mrd. Menschen unter den hygienischen Folgen aufgrund von Wassermangel. Das alles wissen wir längst, es ist nachzulesen in unendlich vielen Texten, auch in den Hochglanzbroschüren der großen Wasserkonzerne, die dagegen Abhilfe versprechen. Dass hier der Bock zum Gärtner gemacht wird und unser Wasser heute in einem bisher ungeahnten Ausmaß bedroht ist, das soll im folgenden aufgezeigt werden. Es wird aber auch um den längst dagegen angetretenen Widerstand gehen, denn so einfach lassen wir uns das Wasser nicht abgraben!

Auf dem Europäischen Sozialforum (ESF) im September 2008 in Malmö begann Susan George ihre Rede auf der Gründungsveranstaltung des Europäischen Wassernetzwerkes mit einer Vision: "Stellt euch mal kurz vor, wir leben hier auf dem Mars", so begann sie[2], und dann erzählte sie die Geschichte einer Delegation, die auf den Planeten Erde geschickt wurde, um nach neuen Anlagemöglichkeiten zu suchen. Sie kommt begeistert zurück, denn sie wurde fündig. "Dort gibt es ein Gut", berichtet sie, "das jedes Lebewesen braucht, das aber knapp ist und nicht beliebig zu vermehren." Das ideale Wirtschaftsgut nach der Logik des kapitalistischen Marktes, eine Gewinnquelle ohne Ende also. Die Marsmenschen jubeln und kaufen das gesamte Wasser auf dem Planeten Erde. Seit nicht einmal 20 Jahren haben nicht die Marsmenschen, sondern die Strategen der Weltbank in trauter Eintracht mit der OECD[3] und den großen Wasserkonzernen diese Profitquelle entdeckt. Die kurze Geschichte der Wasserprivatisierung begann mit dem Kauf schon bestehenden Wassermanagements bis dato in kommunalem Besitz... Ausgangsland war Frankreich, wo traditionell die Wasserwirtschaft zu einem Großteil in privaten Händen ist. Genauer genommen sind es 6 bis 8 Hände, je zwei von Suez, Veolia (ehemals Vivandi) und Saur.[4] Etwas später dann entdeckte RWE diese sagenhafte Quelle und sprang mit dem Kauf der Londoner Wasserwerke auf das Boot auf. International heißen sie deshalb noch heute "Thames Water", obwohl sie 2008 das Ganze an einen australischen Fond weiterverkauften. Die dringend notwendige Instandhaltung der aus Victorianischer Zeit stammenden Rohrleitungen drohte die Profitquelle zum Versiegen zu bringen, da die Londoner Aufsichtsbehörde keine Preiserhöhungen mehr genehmigte. Ihren Anteil an den Berliner Wasserbetrieben dagegen behalten sie, hier sind die Verträge ja noch weit vorteilhafter[5].

Die Pariser Wasserwirtschaft wird Ende 2009 wieder in kommunale Hände zurückkommen. Was von der kritischen Wasserbewegung als großer Sieg gegenüber dem inzwischen zur Nummer 1 aufgestiegenen Konzern Veolia gefeiert wurde, könnte sich beim zweiten Hinsehen als ein neuer Trick entpuppen. Auch in Paris sind die hundertjährigen Rohrleitungen verrottet, es muss viel ins Wassernetz investiert werden. Ist es da nicht günstiger, wenn "Veolia Enviroment" die teure moderne Technik der Pariser Kommune verkauft? Zahlen werden dann die französischen Steuerzahler, der Profit fließt dagegen weiter in die Kassen des weltweit größten Wasserkonzerns Veolia[6]. Das kann nur verhindert werden, wenn WasseraktivistInnen ihre wachsamen Augen weiter auf Management und Politik richten.

Manche linke Analysten höre ich in diesen Tagen der Weltwirtschaftskrise, die durch den Kollaps auf den Finanzmärkten ausgelöst wurde, sagen: "Der Neoliberalismus ist am Ende" und sie beklagen, dass den GlobaliserungskritikerInnen der Feind verloren gegangen sei. Genaueres Hinsehen z.B. am Thema Wasser beweist das Gegenteil. Die jetzige Krise wird genutzt, um eine neue Phase der kapitalistischen Akkumulation einzuläuten. Das krisengeschüttelte, aber qua Bestimmung weiterhin profitgierige Kapital sucht neue Rettungsanker zu werfen in einem der wenigen noch nicht total durchkapitalisierten Bereiche, der öffentlichen Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf der letzten öffentlichen Güter (die Engländer haben dafür den schönen Begriff "commons") wie Bildung, Wasser, Bahn, Rentenversicherungen, Gesundheitsversorgung u.v.m. stehen zur Disposition, soweit sie noch nicht verscherbelt wurden.

Unter dem hehren Ziel der Rettung des Klimas steht durch den Emissionshandel bereits auch die Luft zum Verkauf bereit und die Commerzbank wirbt schon mit Anlagemöglichkeiten in die Luft. Noch eindeutiger ist es beim Thema Wasser. Ging es bisher im Wesentlichen um den Verkauf schon bestehenden Wassermanagements, so droht jetzt die Ressource Wasser schlechthin unter den Hammer der Profitgeier zu kommen.


Geplante Privatisierungen von Wasser in der Türkei

Ein Einstieg mit Paukenschlag wird derzeit in einem der Musterländer des Neoliberalismus, der Türkei, geplant. Nach allen uns vorliegenden Quellen plant die türkische Regierung den Ausverkauf aller Gewässer. Die Nutzungsrechte für Seen, Flüsse, Quellen bis hin zum Grundwasser sollen für 49 Jahre Privaten überlassen werden. Unbestimmt und offen ist, in welchem Zustand und zu welchen Bedingungen die Gewässer dann zurückgegeben werden. "Ausverkauf aller Gewässer" scheint mir deshalb ein eher verharmlosender Begriff für die hier geplante Ungeheuerlichkeit. Noch immer fragen viele SkeptikerInnen, die sich das einfach nicht vorstellen können, nach Beweisen. Wir (Das globale Water Justice Movement / Bewegung für Wassergerechtigkeit) stützen uns auf Interviews mit dem alten und neuen Umweltminister aus den Jahren 2007 und 2008. Da wird z.B. der Euphrat bereits mit 950 Mio $ veranschlagt, der Tigris mit Mio 650 $. Ein sachkundiger Blick in den Haushalt von 2009 weist Einnahmen von ca. 3.1 Mrd. $ aus diesem geplanten Verkauf auf.

Und dann ist da noch das 5. Weltwasserforum vom 16.-22. März 2009 in Istanbul[7]. Nicht umsonst wurde 2006 auf dem 4. Weltwasserforum in Mexiko Istanbul als der nächste Austragungsort gewählt. Denn was die türkische Regierung plant, kann getrost als Pilotprojekt der weltweit agierenden Wasserkonzerne bezeichnet werden. Schon jetzt wurden und werden einzelne Gewässer in verschiedenen Ländern verkauft. Die CDU in Kiel z.B. plant den Verkauf der holsteinischen Seen, in Chile, seit Pinochet das Musterland der Privatisierung, wurden auch schon ganze Flüsse verkauft. Der Wandlitzsee wurde bereits für 400.000 Euro verkauft, mal sehen, was Fischer, Schwimmer oder Bootsfahrer an Gebühren zahlen dürfen. Aber dass eine Regierung gleich sämtliche Gewässer zur Disposition stellt, das bedeutet eine neue Stufe der Wasserprivatisierung.

Karl Marx beschreibt die Einhegung des Gemeindeeigentums (enclosure) in England als die erste Phase des kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Nichts anderes scheint jetzt zu geschehen: das bisher unangetastete Allgemeingut Wasser, soll der menschlichen Gemeinschaft enteignet werden und in privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Hände übergehen.[8] In der indonesischen Verfassung findet sich der wohl weltweit längste Absatz zum Thema Wasser. Ein ehemaliges indonesisches Mitglied der Weltbank schrieb profilaktisch schon einmal die Möglichkeit der Veräußerung der Wolken hinein! Unsere Phantasie reicht nicht aus, um ihre Begierlichkeiten[9] zu erahnen! Ich möchte all das eine weitere Phase im kapitalistischen Akkumulationsprozess nennen.


Wir sind überall!

Wir sind überall! So wie das Wasser sich immer einen Weg zu bahnen weiß, so finden wir an unendlich vielen Orten andere Wege gegen diesen Privatisierungswahn. Das deutlichste Zeichen setzten die BolivianerInnen, vorwiegend Indigene, im Wasserkrieg in Cochabamba. Die Regierung von Uruguay setzt sich gemeinsam mit anderen lateinamerikanischen fortschrittlichen Regierung und dem Netzwerk "Red Vida" vehement für die Verwirklichung des Modells Public-Public-Partnership (PuPs) ein. Das Modell setzt nicht auf Geld, sondern auf solidarische technische Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch über Grenzen hinweg. In vielen Kommunen wie z.B. Grenoble haben sich BürgerInnen das Wasser zurückgeholt und den korrupten Bürgermeister hinter Gitter gebracht. Andere, wie die HamburgerInnen, hatten es leichter, sie konnten den Verkauf ihrer Wasserwerke per Volksentscheid noch gerade verhindern und gelegentlich finden sich selbst in Deutschland und anderswo aufrechte Bürgermeister, die den Wassergeiern keinen Zugriff gewähren.

Im Rahmen der Weltsozialforen trifft sich seit 2001 die globale Wasserwiderstandsbewegung, und ihre Versammlungen wurden immer größer, ihre Vernetzung immer dichter. Auf dem diesjährigen Weltsozialforum 2009 in Belem fanden unter vielen Wasserveranstaltungen auch zwei Treffen statt zur Vorbereitung des Widerstands gegen das 5. Weltwasserforum in Istanbul. Für die Entscheidung für Istanbul als nächstem Konferenzort auf dem 4. Weltwasserforum in Mexiko mag ein Grund auch die Hoffnung gewesen, dass in der Türkei der Widerstand geringer ausfallen werde als auf dem kampferprobten lateinamerikanischen Kontinent. Immerhin sitzen alle Köpfe des selbsternannten Welt Wasser Rates, dem Think Tank und Organisator des Weltwasserforums, alle in Europa, nämlich in den Vorstandsetagen von Suez und Veolia[10].


Ein aufmunternder Rückblick auf das 5. Weltwasserforum in Istanbul

Doch es kam anders: In demokratischen, transparenten und äußerst partizipativen Debatten mit 150-300 Menschen aus mindestens 50 Ländern berieten wir, was jeweils zu tun war. "Dies ist das letzte WWF in dieser Form", betonte Maude Barlow immer wieder unter großem Applaus. Ob uns das gelungen ist, wissen wir noch nicht genau, sicher ist jedoch, dass wir mehr als noch auf dem 4. WWF in Mexiko 2006 dieses konzerngesteuerte Forum gründlich delegitimiert haben, eine Meldung, die selbst die hiesigen Medien nicht verschweigen konnten. Außerhalb geschah das durch Demonstrationen und zwei äußerst anregende und informative Gegenforen, innen durch mutige kritische Stimmen von geladenen Gästen wie der Chefberaterin des Präsidenten der UN Generalversammlung, Maude Barlow, durch Gewerkschafter aus vielen Ländern und NGOs, v.a. aber auch durch einige offiziell geladene lateinamerikanische RegierungsvertreterInnen. In Mexiko verweigerten 2006 am Ende vier Regierungen die Unterschrift unter das offizielle Abschlusskommuniquee, diesmal waren es 25 Länder die eine alternative Erklärung unterzeichneten mit der klaren Forderung nach "Wasser als Menschenrecht", konnte sich das offizielle WWF doch nur zu der Formulierung "need of water" durchringen. Und immerhin sehnzehn Staaten forderten zusätzlich, dass das nächste Weltwasserforum im Rahmen der UN durchzuführen sei. 25 Länder, darunter aus Europa Spanien und die Schweiz neben mehreren afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern, Sri Lanka und Bangladesch, das ist ein deutliches Zeichen. Es ist das Ergebnis einer immer breiter werdenden Widerstandsbewegung gegen die Vermarktung des Lebenselixiers Wasser, die stolz darauf ist, dass die Rechnung der Gegenseite nicht aufging. Denn es war unübersehbar, dass die allgegenwärtige und äußerst repressiv auftretende türkische Polizei bei den Organisatoren des Forums, dem Weltwasserrat, die Hoffnung geweckt hatte, sie könnten diesmal ungestört sich als die Retter der weltweiten Wasserprobleme präsentieren. So protestierten sie nicht als zwei Aktivistinnen das Transparent "No risky dams" hochhielten und 10 Sekunden später von der Polizei verhaftet und am folgenden Tag des Landes verwiesen wurden. Und dennoch haben wir ihnen Risse in ihre Fassade gerissen. Wir hoffen, ihnen ihre Pläne der Preiserhöhung, das einzige, was ihnen in der Zeit der Krise einfiel und den Bau unendlich vieler Stauseen in der Türkei und vielen anderen Teilen der Welt durch unseren Widerstand ebenfalls zerstören zu können. Dazu brauchen wir viel Kraft, vorwiegend auf lokaler Ebene, unser Erfolg in Istanbul gegen das Weltwasserforum und die solidarische Vernetzung untereinander gibt uns dafür viel Rückenwind und hat uns allen Mut gemacht.

Zum Schluss als Mutmacher und ein kleines Beispiel zum Mitmachen für jedermann und jedefrau: Als auf der 1. Europäischen Sommerakademie von Attac im August 2008 ein türkischer Arzt uns über die Ungeheuerlichkeit in der Türkei informierte, entstand spontan das Projekt SuKo (su = türkisch Wasser, Ko = Koordination). Hauptziel des Projekts ist zuerst durch Informationspolitik eine breite Basis für den Widerstand zu schaffen in Deutschland, in Europa (über das Europäische Wassernetzwerk und Aquattac) und vor allem auch in der Türkei. Inzwischen beteiligen sich auch schon Ver.di, der BUND, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Kulturverein aus der Türke "Allmende" und den in "Gegenwind" zusammengeschlossenen KämpferInnen gegen den Ilisu-Staudamm. Geheimhaltung und Desinformation war und ist schon immer die Waffe der Gegenseite gewesen, dem wollen wir entgegentreten! Mehr Informationen dazu sind auf zwei Webseiten zu finden, dort sind alle uns bisher bekannten Quellen aufgeführt, aber auch der Weg zu einer Unterschriftenliste, die kurz vor dem Weltwasserforum in einer spektakulären Aktion der türkischen Regierung übergeben werden sollen, ein Flyer als Basisinformation und unser berühmter WIM-Aufkleber (WIM = Wasser Ist Menschenrecht), ein kleiner Zettel als Weg zu einer grenzüberschreitenden Webseite[11]. SuKo versteht sich als Mosaiksteinchen im Global Justice Water Movement und in der Widerstandsbewegung gegen das illegitime 5. Weltwasserforum und da kann eigentlich jede/r mitmachen, auch wenn er/sie sonst auf anderen Baustellen des globalen Widerstands buddelt.


Dorothea Härlin, Jahrgang 1947, ist seit dem G8-Treffen in Genua 2001 bei Attac aktiv. Ihr Berliner Standbein steht im Augenblick v.a. im ATTACafé, einem Treffpunkt bei dem jeden Mittwoch debattiert, Aktionen vorbereitet, Filme angesehen oder internationale Gäste eingeladen werden und seit 4 Jahren arbeitet die am Schwerpunkt Wasserlokal und global Mit ihrem sog. Spielbein nahm sie an verschiedenen internationalen Foren (WSF, ESF, europäisches Attac Treffen u.a..) teil und bringt dieses Wissen im bundesweiten Attac Rat in der AG Internationales ein.
E-Mail: dorotheahaerlin@gmx.de


Anmerkungen:

[1] W.B. Auden, First Things First, zitiert nach "Notes For Un Panel On Emerging Issues" Rede gehalten von Maude Marlow am 10.12.2008 vor der UN Generalversammlung als "Senior Advisor on Water to the President of the United Nations General Assembly", anlässlich des 60. Jahrestags der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ich empfehle die Lektüre der hervorragenden Rede, die ist u.a. auf Englisch zu finden auf www.attac.de/wasser.

[2] Hier ist die Rede von Susan George sinngemäß, nicht wörtlich nacherzählt. Mehr zu finden zu dem Europäischen Netzwerk ist auf der demnächst entstehenden Webseite und der von attac (s.u.)

[3] OECD = Organization for Economic Cooperation and Development, siehe u.a. die Einladung zur Pressekonferenz vom 23.11.2006 durch die OECD-World Bank Forum on water and sanitation zu der Veranstaltung vom 29.-30.11.2006 unter dem Titel: "Public-Private-Partnership on Water Supply and Sanitation-Recent Trends as New Opportunities".

[4] Das bisher weltweit privatisierte Wassermanagement, zum Glück erst ca. 5% insgesamt, liegt zu 2/3 in Händen von Suez und Veolia, das restliche Drittel teilen sich Großkonzerne: RWE, Saur, Bechtel und wenige andere. Diese Konzernen firmieren aber unter schiedlichen Namen, so dass sie nicht immer gleich zu erkennen sind.

[5] Zur weiteren Information sei hier auf den äußerst informativen Film "Wasser unterm Hammer" von Leslie Franke und Hermann Lorenz verwiesen. Mehr dazu auf www.WasseruntermHammer.de

[6] Veolia kann unter den globalen Wasserkonzernen als der agressivste bezeichnet werden, da es mit "Veolia Enviroment" zusätzlich zum Aufkauf von Wasserwerken sich als die Nummer 1 in Umwelt- und Wassertechnik anbietet und damit praktisch eine zweite Einnahmequelle eröffnet hat. Dies bedeutet nicht, dass die Wasserpolitik von Suez, mit denen sie auch oft gemeinsam auftreten, zu verharmlosen sei. Dazu zwei Hinweise aus dem Kulturbereich: 1. Das Theaterstück "Das Blaue Wunder" der Berliner Compagnie, das Programmheft dazu alleine ist wie ein Nachschlagewerk zum Thema Wasser ein Blick auf ihre Webseite wert: www.BerlinerCompagnie.de. 2. Leslie Franke und Hermann Lorenz arbeiten im Augenblick an einem neuen Film mit dem Titel "Water Makes Money", dazu mehr auf www.kerntv.de

[7] Zu diesem in unsere Augen illegitme Forum laden die großen Wasserkonzerne zum 5. Mal von der UN über die OECD über Regierungsvertreter bis zu kleinen NGOs alle ein, in Istanbul rechnen sie mit ca. 15.000 TeilnehmerInnen. Mehr dazu ist zu finden unter www.worldwaterforum5.org und zum Widerstand www.peopleswaterforum.org

[8] In Anlehnung an die bisher unveröffentlichten Ausführungen von Nick Hildyard, Mitarbeiter des Corner House in Berlin im Rahmen der 1. Speakers Tour von SuKo, mehr dazu unter http://www.thecornerhouse.org.uk/ www.attac.de/wasser

[9] Eigene Wortschöpfung, zutreffend, obwohl im Duden noch nicht auffindbar.

[10] Im Präsidium der meisten in den letzten Jahren entstandenen Organisationen, die vorgeben, weltweit für das Wasser verantwortlich zu sein finden wir die hochrangige Vertreter der Konzerne Suez und Veolia. Diese Organisationen heißen u.a. Weltwasserrat, European Water Partnership oder Aquafed, sie sprießen wie Pilze aus dem Brüsseler Boden.

[11] Mehr dazu auf www.wer-ist-wim.de/ www.suhak-nedir.org/ www.who-is-wim.org und noch einmal www.attac.de/wasser.

Raute

Kurze Geschichte Kurdistans ab 1920

Kurdistan ist je nach Definition und Schätzung mit 490.000 bis 530.000 km² ungefähr so groß wie Frankreich und umfasst zurzeit Teile der Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien. Es gibt bis heute allerdings keine genaue geographische Definition von Kurdistan. Dieser kurze Geschichtsabriss behandelt schwerpunktmäßig jenen Teil Kurdistans, der seit 1923 innerhalb der Grenzen der Türkei liegt.


• Die erste Teilung Kurdistans zwischen dem Osmanischen Reich und dem Reich der Safawiden (Persien) wird 1639 besiegelt. Die damalige Teilung ist auch heute noch an der fast identisch verlaufenden Grenze zwischen der Türkei und dem Iran sichtbar.

• Nach der Niederlage und dem Zerfall des Osmanischen Reichs, das im 1. Weltkrieg mit Deutschland und Österreich-Ungarn zu den Kriegsverlierern zählt, billigt der Vertrag von Sèvres den Kurd_innen 1920 das Recht auf Selbstbestimmung zu. Die südwestlichen Gebiete Kurdistans als französischer Einflussbereich werden Syrien zugeschlagen. Großbritannien wird Mandatsmacht im heutigen Irak, der die südöstlichen kurdischen Landesteile erhält.

• Zur gleichen Zeit organisiert Mustafa Kemal (Atatürk) den Widerstand gegen jene europäischen Staaten, die Istanbul besetzt halten, und gegen die griechische Armee, die bis nach Anatolien vorgedrungen ist. Die Kemalisten propagieren eine Regierung beider Völker (Kurd_innen und Türk_innen) und binden auf diese Weise die kurdischen Stammesführer und Scheichs in den Krieg gegen die Besatzungsmächte und Griechenland ein. Die Nationalisten in Ankara lehnen den Vertrag von Sèvres ab und erklären sich zur rechtmäßigen Regierung. Dieser Krieg, der je nach Perspektive "Befreiungskrieg" oder "Griechisch-Türkischer Krieg" genannt wird, endet mit dem Sieg der türkischen Armee.

• 1923: Der Vertrag von Sèvres wird im Vertrag von Lausanne zugunsten der Türkei revidiert. Die neuen Machtverhältnisse zwischen der Türkei und den Besatzungsmächten Großbritannien, Frankreich und Italien werden vertraglich festgeschrieben. Von den Versprechungen des Vertrages von Sèvres gegenüber den Kurd_innen ist keine Rede mehr. Das Siedlungsgebiet der Kurd_innen befindet sich von nun an in vier Staaten: in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien.

• 28. Oktober 1923: Die Türkische Republik wird ausgerufen. Obwohl es im Lausanner Vertrag anders geregelt ist, gibt es keinen Platz für andere Völker in der Türkei. Es beginnt die Politik der Zwangsassimilation.

• 1928: In den kurdischen Gebieten wird die gesamte zivile und militärische Verwaltung unter die Kontrolle eines "Generalinspekteurs des Ostens" gestellt. Als Antwort darauf brechen in fast allen Regionen Aufstände aus.

• 1930: Große Widerstandsbewegung in der Region des Berges Ararat - der Ararat Aufstand. Die politische Forderung lautet: Unabhängigkeit für die Kurd_innen. Aufgrund einer gemeinsamen Vereinbarung zwischen dem Iran und der Türkei (1932) werden iranische und türkische Truppen gegen den kurdischen Aufstand eingesetzt.

• 1932: Ankara verkündet ein Gesetz zur Deportation und Versprengung der Kurd_innen. Mehrere 100.000 Kurd_innen werden nach Zentral- oder Westanatolien deportiert.

• 1936-1938: Bewaffneter Widerstand der Kurd_innen von Dêrsim (türkisch: Tunceli), der brutal niedergeschlagen wird, danach erfolgen erneut Deportationen (Dêrsim Genozid).

• 1937: Saadabad-Abkommen zwischen der Türkei, dem Irak, dem Iran und Afghanistan, in dem auch ein koordiniertes Vorgehen bei der Bekämpfung der Kurd_innen vereinbart wird.

• 1945 wird die kurdische Nationalkleidung, der Sal Sapik, verboten, ebenso der Gebrauch der Sprache in der Öffentlichkeit.

• 1946: Aufhebung des Kriegszustandes in den kurdischen
Provinzen.

• April 1946: Gründung der KDP Irak (Partîya Demokrata Kurdistanê - PDK) durch Mustafa Barzani. Die Gründung erfolgt im iranischen Teil Kurdistans in Zusammenhang mit der Entstehung einer kurdischen Republik in Mahabad, die weniger als ein Jahr existiert. Nach dem Tod Mustafa Barzanis übernimmt 1979 Masud Barzani die Führung. Die KDP gilt als konservative Partei, die im Wesentlichen die Interessen der Stammes- und Clangesellschaft vertritt. Sie ist die zweite große Kurdenfraktion im Nordirak neben der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die 1975 aus einer Abspaltung der KDP unter Führung von Dschalal Talabani entsteht. Mit Unterstützung von Saddam Hussein kämpft die KDP in einem Bürgerkrieg gegen die PUK, die vom Iran unterstützt wird. In den Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien PUK und KDP im Irak kommen etwa 3000 Menschen ums Leben. Beide gemeinsam kämpfen an der Seite der Türkei im "Südkrieg" zu Beginn der 1990er Jahre gegen die PKK. Zur Wahl eines Übergangsparlaments nach dem Irak-Krieg schließt sich die KDP mit der PUK, sowie weiteren kleineren Parteien, zur Demokratischen Patriotischen Allianz Kurdistans (auch Kurdische Allianz genannt) zusammen. Das Wahlbündnis gewinnt bei der Wahl am 30. Januar 2005 25,7 % und somit 71 von insgesamt 275 Sitzen in der irakischen Nationalversammlung.

• 1950/51: Kurdische Familien aus Dörfern in der Region Wan werden zwangsdeportiert. In ihren Häusern werden türkische Familien aus Bulgarien und Jugoslawien angesiedelt.

• 1960: Am 27. Mai putscht das Militär unter Führung von General C. Gürsel gegen die Regierung von Menderes, der hingerichtet wird. Eine verfassungsgebende Versammlung wird einberufen, die eine neue türkische Verfassung ausarbeitet. Diese ist bedeutend liberaler als die vorhergehende, garantiert aber keine erweiterten Rechte für die Kurd_innen. Der so genannte "kurdische Separatismus" wird in der neuen Verfassung zum Staatsverbrechen erklärt. Anfang November wird in der türkischen Zeitung Yeni Istanbul berichtet, dass es erneut zu neuen Massendeportationen kurdischer Familien gekommen sei.

• 1965: Gründung der Kurdischen Demokratischen Partei der Türkei, KDP-Türkei. Sie ist als erklärt kurdische Partei in der Türkei automatisch illegal und betätigt sich ausschließlich konspirativ. Sie unterhält enge Beziehungen zur KDP im Irak unter Führung Mustafa Barzanis.

• Zum ersten Mal dürfen ausländische Besucher_innen nach Nordkurdistan (Türkei) einreisen. Die Region war seit 1925 "für Ausländer verbotenes Militärgebiet". In dieser Zeit beginnen auch große Demonstrationen gegen Hunger, Armut und ethnische Diskriminierung.

• 1967: Das "Gesetz zur Kulturpflege" bestimmt ein Verbot kurdischer Literatur, Zeitungen und Musik.

• 1969: Von der KDP-Türkei spaltet sich ein Flügel ab, der sich weiter links orientiert und die völlige Unabhängigkeit Kurdistans anstrebt. Aus diesem Flügel gehen die "Revolutionären Kulturvereinigungen des Ostens" (türkisch: Dogu Devrimci Kültür Dernegi) hervor, die als reine Kulturvereinigung legal sind. Ihr Ziel ist, die türkische und Weltöffentlichkeit über das kurdische Problem und über die Repressionen in den kurdischen Regionen zu informieren. In den folgenden Jahren geht die türkische Armee gegen diese Kulturvereinigungen massiv vor. In der Regierung wird darüber diskutiert, einen "türkischen Gürtel" entlang der Grenzen zum Irak und Syrien einzurichten, analog zum "arabischen Gürtel", mit dem Syrien zehntausende kurdische Bäuer_innen aus den grenznahen Dörfern umzusiedeln gedachte.

• 1971: Am 12. März putscht das Militär erneut. Linke Parteien und Organisationen werden verboten. Eine "starke Regierung" wird eingesetzt. Mehrere tausend "kurdische Separatist_innen" werden verhaftet und eingesperrt. Sie werden vor Ausnahmezustandsgerichten abgeurteilt. Damit soll auch der von dem erfolgreichen kurdischen Kampf im Süden (Nordirak) überspringende Funken rechtzeitig ausgetreten werden.

• 1972: Deportation von mehr als 3000 Bäuer_innen aus der Provinz Hakkari (Culêmerge).

• 1973: Im Oktober wird wieder eine parlamentarische Regierung eingesetzt. Bülent Ecevit, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei CHP, wird Präsident.

• 1976: Im November kommen bei einem schweren Erdbeben in der Region Wan mehrere tausend Menschen ums Leben. Viele sterben an den Folgen ihrer Verletzungen und werden Opfer der Winterkälte. Mehr als 100.000 kurdische Bäuer_innen und ihre Familien werden obdachlos. Der örtliche (türkische) Militärkommandant wird in einer Zeitung zitiert mit dem Satz: "Lasst die Leute doch sterben, es sind ja nur Kurden."

• 1976 und die folgenden Jahre: Europäische Journalist_innen und in den kurdischen Grenzgebieten arbeitende ausländische Arbeiter_innen berichten von ständiger Bedrohung, Verfolgung, Erniedrigung der kurdischen Bevölkerung, insbesondere der Frauen in den Gebieten des Ausnahmezustands in Nordkurdistan. Tausende kurdische Familien werden aus ihren Dörfern deportiert.

• 1978: Es kommt zu großen Streiks gegen die zunehmende Wirtschaftskrise. Rechtsextreme Todesschwadronen der "Grauen Wölfe" greifen aktiv führende Streikende an.

• 27. November 1978: Die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, wird gegründet.

• 23. Dezember 1978: 31 kurdische Einwohner_innen von Meresh (Kahramanmaras) werden von Rechtsextremen ermordet und 150 weitere verletzt, die meisten von ihnen Alevit_innen. Die Mörder werden dabei vom Geheimdienst unterstützt. Wenige Tage später verhängt Ecevit den Ausnahmezustand über acht kurdische Provinzen, ebenso wie über die Zentren der Streikbewegung: Meresh, Sivas, Istanbul, Ankara und Adana.

• 1979: Im April wird der Ausnahmezustand auf sechs weitere kurdische Provinzen erweitert.

• 12. September 1980: General Evren putscht mit Unterstützung der NATO. Stationierung der schnellen Eingreiftruppen der NATO im Herzen Kurdistans, in Wan und Batman. Evren begründet den Putsch auch damit, "zu den Quellen des Kemalismus zurückkehren" zu wollen und "die separatistischen Umtriebe zu bekämpfen". Der Putsch richtet sich eindeutig gegen die starken linken und kommunistischen Kräfte in der Türkei. Tausende von politischen Gefangenen werden gefoltert und zum Tode verurteilt. Die PKK zieht sich in den Libanon zurück. Türkische und kurdische oppositionelle Gruppen gehen ins Exil, die meisten nach Europa.

• 1982: Großer Hungerstreik in den Gefängnissen.

• 10. August 1982: Durch ein Referendum wird eine neue Verfassung angenommen. Gegenüber den Kurd_innen enthält sie die restriktivsten Gesetze seit Gründung der Türkischen Republik. Fortgesetzte Bombardierungen und Razzien in kurdischen Dörfern.

• 15. August 1984: Die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, nimmt den bewaffneten Kampf gegen das türkische Regime auf. Die Hoffnung der Militärs, die "Banditen" in kürzester Zeit zu besiegen, wird nicht erfüllt. In den folgenden Jahren wächst die PKK zu einer Massenbewegung mit zeitweilig 30.000 Kämpfer_innen an. Die türkische Armee antwortet mit einem Krieg, in dem bis heute 35.000 Menschen starben und 4000 Dörfer zerstört wurden.

• 16. März 1988: Flugzeuge des irakischen Militärs greifen die kurdische Stadt Halabja im Irak mit Giftgas an. Über 5000 Menschen fallen diesem Angriff zum Opfer. Aufgrund der großen Flüchtlingswelle von Kurd_innen aus dem Süden werden in den kurdischen Gebieten der Türkei mit internationaler Unterstützung Flüchtlingslager eingerichtet.

• 1990: Zu Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest, beginnen sich Serhildan (Volksaufstände) zu entwickeln. Es kommt zu einer Massenbewegung, die der palästinensischen Intifada vergleichbar ist.

• Juni 1990: Die HEP, die Partei der Arbeit des Volkes (Halk Emek Partisi - zunächst legale kurdische Partei), wird gegründet. Die Gründungsmitglieder sind ehemalige kurdische Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei der Türkei, die die SHP aus Protest verlassen hatten. Die SHP hatte den Parteiausschluss der Abgeordneten angedroht, nachdem diese in Paris an einer Konferenz über Kurdistan teilgenommen hatten.

• Ministerpräsident Özal spricht im Juli 1990 zum ersten Mal von "seinen kurdischen Mitbürgern".

• 10. August 1990: Beim Europarat in Straßburg geht eine offizielle Note der türkischen Regierung ein, dass in den kurdischen Gebieten der Türkei fortan die Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind.

• April 1991: Vor dem Ansturm irakischer Truppen fliehen Hunderttausende von Kurd_innen in die Türkei und den Iran. Die Türkei berichtet von 250.000 südkurdischen Flüchtlingen auf ihrem Boden. Allerdings hält sie die Flüchtlinge in den Bergen fest. Die Zahl steigt ständig. Täglich sterben in den provisorischen Lagern bis zu 1000 Menschen. Durch Einrichtung der Alliierten Schutzzone (UN-Resolution Nr. 688) werden die Flüchtlinge aus der Türkei in den Süden (Nordirak) zurückgeführt.

• Juli 1991: Der HEP-Politiker Vedat Aydin wird ermordet.

• Die HEP ist seit 1991 als erste kurdische Partei im Parlament vertreten, sie erringt durch ein Wahlbündnis mit der SHP 19 Sitze im Parlament. Leyla Zana legt ihren Amtseid als Abgeordnete in kurdischer Sprache ab und wird zu langjähriger Haft verurteilt.

• August 1992: 70 Prozent der kurdischen Stadt Sirnak werden durch türkisches Militär mit schweren Waffen vernichtet.

• September 1992: Der 70jährige Journalist, Schriftsteller und Mitbegründer der HEP, Musa Anter, wird in Diyarbakir ermordet.

• 5. bis 30. Oktober 1992: Gemeinsamer Krieg der türkischen Armee, der KDP und der PUK gegen die PKK in Südkurdistan (Irak), der "Südkrieg". Die KDP und die PUK führten in den 1990er Jahren zahlreiche Militäroperationen gemeinsam mit der türkischen Armee gegen die PKK durch.

• Oktober 1992: Der deutsche freie Journalist Stefan Waldberg wird bei seiner Rückkehr aus Südkurdistan (Irak) in die Türkei festgenommen. Wegen angeblicher Kuriertätigkeit für die PKK wird er im Jänner 1993 zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. International wird dieses Urteil von diversen Medienverbänden, bis hin zum renommierten PEN-Club, als Kriminalisierung von kritischem Journalismus bewertet. Insgesamt verbringt Stefan Waldberg ein Jahr und zwei Monate in verschiedenen türkischen Gefängnissen.

• November 1992: Es finden Wahlen zum kurdischen Exil-Nationalparlament statt (europaweit und in den GUS-Staaten).

• Februar 1993: Deutsche Politiker_innen, Anwält_innen und Organisationen erstatten Strafanzeige gegen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord an den Kurd_innen.

• 20. März bis 5. Mai 1993: Die PKK ruft einen einseitigen Waffenstillstand aus.

• Mai 1993: Die DEP (Demokrasi Partisi) wird gegründet, sie ist Nachfolgepartei der HEP, die im Juni verboten wird.

• 2. Juli 1993: Alevitisches Kulturfestival in Sivas. Nach dem Freitagsgebet findet eine islamisch-fundamentalistische Kundgebung vor dem Madimak-Hotel statt, in dem alevitische Musiker_innen, Schriftsteller_innen, Dichter_innen und Verleger_innen logieren. Aus der Menschenmenge heraus werden Brandsätze gegen das Hotel geworfen. Da das Hotel aus Holz gebaut ist, breitet sich das Feuer schnell aus. Dabei verbrennen 35 Menschen. Wegen der wütenden Menschenmenge draußen vor dem Hotel können die Bewohner_innen des Hotels nicht ins Freie, bis sie schließlich vom Feuer eingeschlossen sind. Obwohl Polizei und Feuerwehr frühzeitig alarmiert werden, greifen sie erst nach rund acht Stunden ein.

• September 1993: Der kurdische DEP-Abgeordnete im türkischen Nationalparlament Mehmet Sincar wird in Batman ermordet. Nizamettin Toguc, ebenfalls DEP-Abgeordneter, wird schwer verletzt.

• Oktober 1993: Die kurdische Stadt Lice wird durch türkisches Militär zerstört.

• November 1993: Die PKK wird in Deutschland verboten.

• 10. Dezember 1993: Am Internationalen Tag der Menschenrechte stürmen türkische Sicherheitskräfte die Zentralredaktion der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem in Istanbul und verhaften insgesamt 210 Mitarbeiter_innen.

• März 1994: Sechs kurdische DEP-Abgeordnete des türkischen Parlaments werden verhaftet, nachdem ihre Immunität aufgehoben wurde.

• Kurd_innen demonstrieren gegen das Verbot von kurdischen Neujahrsfesten in Deutschland mit Autobahnblockaden. In der Nähe von Mannheim verbrennen sich zwei junge Kurdinnen aus Protest gegen die deutsche Politik. In der Türkei wird zum ersten Mal auf staatliche Anordnung hin das kurdische Newroz gefeiert.

• Die Kommunalwahlen werden von der DEP boykottiert. Als Grund werden unzureichende Bedingungen für freie und demokratische Wahlen genannt.

• Juni 1995: Die DEP wird verboten, die Nachfolgepartei HADEP (Halkin Demokrasi Partisi) wurde bereits im Mai 1994 gegründet, da das Verbot der DEP absehbar war.

• März 1995: Die YAJK (Union zur Befreiung der Frauen Kurdistans - Frauenarmee) wird gegründet.

• März/April 1995: Die türkische Armee marschiert mit 50.000 Soldaten in die kurdischen Gebiete des Nordirak ein.

• Mai 1995: Der erste kurdische Fernsehsender Med-TV beginnt regelmäßig Sendungen in kurdischer, türkischer, assyrischer und arabischer Sprache in ganz Europa, Nordafrika und den Mittleren Osten auszustrahlen.

• 27. Mai 1995: Seit diesem Zeitpunkt versammeln sich die "Mütter der Verschwundenen" jeden Samstag in Istanbul mit Fotos ihrer vom Staat verschleppten und ermordeten Angehörigen. Sie protestieren gegen die Politik des Verschwindenlassens in der Türkei und in Kurdistan.

• Juli 1995: In den Gefängnissen der Türkei und Kurdistans treten über 10.000 kurdische politische Häftlinge in den Hungerstreik. Außerhalb der Gefängnisse schließen sich mehrere Tausend Kurd_innen als Unterstützer_innen diesen Hungerstreikenden an. Eine Teilnehmerin des Solidaritätshungerstreiks in Berlin, die 41-jährige Gülnaz Baghistani, stirbt an Herzversagen.

• Dezember 1995: Abdullah Öcalan ruft in einer Sendung des kurdischen Fernsehsenders Med-TV den zweiten einseitigen Waffenstillstand nach 1993 mit der Türkei aus.

• Bei den Parlamentswahlen in der Türkei erreicht die HADEP 4,3 % der gesamten Stimmen.

• 1996: Das Jahr 1996 ist geprägt von Kämpfen in den Gefängnissen. Diese werden von türkischen und kurdischen politischen Gefangenen gemeinsam getragen und richten sich gegen die Verlegung von mehr als 450 politischen Gefangenen in verschiedene, über das ganze Land verteilte Haftanstalten und insbesondere in das Isolationsgefängnis Eskisehir. Über 10.000 Gefangene beteiligen sich daran, 13 Gefangene sterben an den Folgen von Hungerstreiks bzw. Todesfasten. Es kommt zu Zugeständnissen des türkischen Staates an die Gefangenen. Ende September 1996 folgt jedoch blutige Rache, als Sondereinheiten zehn kurdische politische Gefangene im Gefängnis von Diyarbakir ermorden und verstümmeln (Näheres siehe Kasten zur Geschichte der Kämpfe der Gefangenen in der Türkei).

• 1997: Die türkische Armee beginnt gemeinsam mit der irakisch-kurdischen Partei KDP eine Großoffensive gegen die Stellungen der PKK-Guerilla in Südkurdistan (Irak).

• Jänner 1998: Der kurdische Student Ümit Cihan Tarho wird in der Inönü-Universität in Meledi (Malatya) von türkischen Faschisten (Graue Wölfe) angegriffen und ermordet.

• Mai 1998: Es wird ein Attentat auf Akin Birdal, den Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins (IHD), in Istanbul verübt, das er schwerverletzt nur durch Zufall überlebte.

• 28. August 1998: Abdullah Öcalan verkündet während einer internationalen Telekonferenz im kurdischen Med-TV den dritten einseitigen Waffenstillstand der PKK nach 1993 und 1995.

• 9. September 1998: Öcalan muss seinen Aufenthaltsort in Syrien verlassen, nachdem die Türkei Syrien mit Krieg gedroht hatte.

• Oktober 1998: Andrea Wolf (Ronahi), eine deutsche Guerillakämpferin bei der ARGK (Nationale Volksbefreiungsarmee Kurdistans - bis 2000 militärische Organisation der PKK), wird bei Catak im Norden Kurdistans bei einer Operation der türkischen Armee gefangen genommen und anschließend hingerichtet.

• November 1998: Abdullah Öcalan trifft in Rom ein. Zehntausende Kurd_innen aus ganz Europa machen sich auf dem Weg nach Rom, um ihre Sympathie zu bekunden.

• Jänner 1999: Öcalan verlässt Italien zunächst mit unbekanntem Ziel und trifft dann in Moskau ein. Er beabsichtigt, in den Niederlanden vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal den Völkermord des türkischen Staates am kurdischen Volk anzuzeigen. Er reist weiter nach Griechenland. Er landet schließlich Anfang Februar in Kenia.

• 15. Februar 1999: Abdullah Öcalan wird in einer Geheimdienstoperation aus Kenia (aus dem Haus des griechischen Botschafters in Nairobi) in die Türkei entführt. Hunderttausend Kurd_innen auf der ganzen Welt gehen auf die Straße und protestieren heftig gegen die Verschleppung von Öcalan. In Europa, insbesondere in Deutschland, kommt es zu mehreren Besetzungen griechischer Konsulate.

• 17. Februar 1999: Bei einem Protest vor dem israelischen Konsulat (es gab Hinweise auf die Mitwirkung des israelischen Geheimdienstes an der Entführung Öcalans) in Berlin schießen Sicherheitsbeamte des Konsulats mit Maschinenpistolen gezielt auf Menschen. Vier Kurd_innen, darunter eine 18jährige Kurdin, werden erschossen. 18 Personen werden zum teilweise schwer verletzt und 229 Kurd_innen von der Polizei festgenommen.

• 17. April 1999: In Bonn demonstrieren knapp 200.000 Menschen für die Freiheit von Abdullah Öcalan. Es ist die größte Demonstration der Kurd_innen in Europa.

• Bei den Parlaments- und Kommunalwahlen in der Türkei erreicht die HADEP knapp 5 % der Stimmen und verfehlt damit den Einzug ins Parlament. In den meisten kurdischen Provinzen wird sie stärkste Partei und stellt von nun an 39 Bürgermeister_innen.

• 29. Juni 1999: Das türkische Staatssicherheitsgericht
verurteilt Abdullah Öcalan zum Tode.

• August 1999: Öcalan ruft die PKK auf, ab dem 1. September den bewaffneten Kampf in der Türkei einzustellen und alle bewaffneten Einheiten aus dem türkischen Staatsgebiet abzuziehen.

• Jänner 2000: Die türkische Regierung verschiebt die Vollstreckung des Todesurteils und will bis zum Ende des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshofes abwarten.

• Anfang März 2000: Die PKK stellt der Öffentlichkeit ein Friedensprojekt vor und richtet dieses an die Türkei.

• 21. März 2000: In Kurdistan, der Türkei und im Nahen Osten feiern Menschen zu hunderttausenden Newroz. Allein in Diyarbakir (Amed) kommen 300.000 Menschen zusammen. Weitere hunderttausende in Batman, Wan und Mersin.

• Oktober bis Dezember 2000: Die PUK unter Talabani beginnt mit militärischen Angriffen gegen die PKK-Guerilla. Mit dem Einmarsch türkischer Truppen im Dezember wird die Lage zunehmend kritischer.

• November 2000: Am HADEP-Kongress in Ankara beteiligen sich rund 100.000 Menschen.

• Dezember 2000: Der türkische Staat greift die politischen Gefangenen in den Gefängnissen an, die gegen die Einführung der Isolationshaft einen Hungerstreik bzw. Todesfasten begonnen haben. Sondereinheiten stürmen 20 Gefängnisse. Bilanz: mehr als 30 tote Gefangene. Mehrere hundert Gefangene werden schwerverletzt in Krankenhäuser eingeliefert oder verschleppt. 34 Menschen gelten bis heute als offiziell "verschwunden" Der Hungerstreik wird nicht beendet. Im Frühjahr fordert er weitere dutzende Tote, weil die türkische Regierung nicht auf die Forderungen der Gefangenen eingeht. (Näheres siehe Kasten zur Geschichte der Kämpfe der Gefangenen in der Türkei).

• Februar 2001: Wirtschaftskrise in der Türkei. Die türkische Lira wird um bis zu 30 % abgewertet, die Inflation steigt wieder rapide an. Es finden landesweite Proteste statt.

• Anfang März 2001: Die PKK ruft die kurdische Bevölkerung beim Newroz zum Serhildan (Volksaufstand) auf, um den türkischen Staat dazu zu zwingen, von der verschärften Politik gegenüber der Opposition abzukommen. In Kurdistan und in der Türkei feiern etwa 2 Millionen Menschen das Newroz-Fest, allein eine halbe Million in Amed/Diyarbakir.

• Juni 2001: Kurd_innen in Europa beginnen die Kampagne der "Selbstidentifikation". Zehntausende Menschen zeigen sich bei Staatsanwaltschaften als PKKler_innen an. Sie fordern die Anerkennung der Kurd_innen als ethnische Gruppe, die kulturellen und politischen Rechte und die Aufhebung des PKK-Verbotes.

• 2002: Aufhebung der Todesstrafe in Friedenszeiten und Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft. Öcalan sitzt seit dem 15. Februar 1999 in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. Von dort meldet er sich mit Hilfe seiner Anwälte in Form von Gesprächsprotokollen zu Wort.

• Die HADEP kandidiert gemeinsam mit anderen Organisationen als DEHAP (Demokratik Halk Partisi) bei der Parlamentswahl 2002 und verfehlt die Zehnprozenthürde.

• 2003: Die kurdischen Politiker Mehmet Yumak und Resul Sadak reichen eine Klage gegen die Sperrklausel (Zehnprozenthürde) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Am 30. Januar 2007 verkündet der Gerichtshof das Urteil, wonach die Sperrklausel nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.

• März 2003: Die HADEP wird verboten, gegen die DEHAP ein Verbotsverfahren eingeleitet.

• 2004: Im Juni beendet die kurdische Guerilla einen fünfjährigen einseitigen Waffenstillstand und greift wieder zu den Waffen, da es zu keinen wirklichen Zugeständnissen des Staates an die kurdische Bevölkerung gekommen war und das Militär seine Angriffe intensivierte.

• 24. Oktober 2005: Die DTP (Demokratik Toplum Partisi) wird gegründet. Die DEHAP löst sich angesichts des Verbotsverfahrens im November 2005 selbst auf und übergibt ihre Büros der DTP.

• 2005-2007: Die kurdische Bewegung sammelt 3 Millionen Unterschriften für die Kampagne "Ich akzeptiere Abdullah Öcalan als politischen Willen des kurdischen Volkes".

• Oktober 2006: Die HPG (seit 2000 Name der militärischen Organisation der PKK) verkündet erneut einen einseitigen Waffenstillstand.

• 9. Juni 2007: Die türkische Armeeführung erklärt in Absprache mit der Regierung das Gebiet um Siirt, Hakkari und Sirnak zu einer vom Militär kontrollierten "Sicherheitszone", was Ähnlichkeit mit dem Notstand der frühen 1990er Jahren hat.

• 17. Oktober 2007: Die Resolution für grenzüberschreitende Militäroperationen im Nordirak wird von der türkischen Nationalversammlung angenommen. Mit dieser Resolution, die auf ein Jahr beschränkt ist, darf die Regierung in Ankara das Militär ohne jegliche Konsultationen mit dem Parlament in den Nordirak schicken.

• 21. Februar 2008: Die türkische Armee startet mit der Operation "Sonne" die 25. Bodenoffensive seit 1983 in den Nordirak, an der schätzungsweise 10.000 Soldaten beteiligt sind. Bei den Zusammenstößen mit der PKK kommt es zu heftigen Widerständen. Die Operation endet am 29. Februar. Der Generalstab gibt bekannt, dass 237 Militante der HPG getötet wurden. Die eigenen Verluste werden mit 24 getöteten Soldaten und 3 getöteten Dorfschützern angegeben. Die HPG beziffert ihre Verluste auf 9 Angehörige der Guerilla und behauptet, dass über 100 Soldaten getötet wurden.

Raute

Anja Flach im Gespräch mit Minimol[1]

"Frauen- und Volksräte versuchen, Funktionen zu übernehmen, um den Staat überflüssig zu machen"

Anja Flach ist Mitarbeiterin der Informationsstelle Kurdistan (ISKU). Sie war von 1995 bis 1997 als Internationalistin in den Bergen Kurdistans und teilte dort das Leben von Guerilla-Einheiten der kurdischen Befreiungsbewegung. Auf Basis ihrer Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit entstand das 2003 erschienene Buch "Jiyanekê din - ein anderes Leben. Zwei Jahre bei der kurdischen Frauenarmee". 2007 veröffentlichte sie "Frauen in der kurdischen Guerilla. Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis in der Frauenarmee der PKK". Für dieses Buch, das eine leicht überarbeitete Fassung ihrer Magisterarbeit im Fachbereich Ethnologie der Universität Hamburg darstellt, interviewte die Autorin kurdische Frauen, die in verschiedenen Phasen am Guerilla-Kampf der PKK teilgenommen haben. Das vorliegende Gespräch wurde anlässlich zweier Veranstaltungen zu den Geschlechterverhältnissen in Kurdistan und in der Guerilla im April 2009 in Wien geführt.


Grundrisse: Kannst du kurz sagen, was dich dazu motiviert hat, nach Kurdistan zu gehen und dort die Guerilla zu begleiten?

Anja Flach: Anfang der 1990er Jahre war ein deutscher Freund von mir zur Guerilla in Kurdistan gegangen und so kamen wir in Kontakt mit der kurdischen Bewegung. Wir lernten relativ schnell auch aktive Frauen kennen, die teilweise schon in der Guerilla gekämpft hatten, u.a. eine Syrerin, die verletzt war. Wir haben dann mit deutschen und kurdischen Frauen ein Frauenkomitee in Hamburg aufgebaut und uns mit der Arbeit der kurdischen Frauenorganisation befasst. Der Aufbau der Frauenarmee, der 1995 beschlossen wurde, war damals gerade aktuell. 1994 bin ich das erste Mal selbst mit einer Delegation nach Kurdistan gefahren. Es war unheimlich beeindruckend, dass dort so große Teile der Bevölkerung sichtbar hinter dem Kampf standen, und dass das eine Bewegung war, die alle Generationen umfasste. Vor allem haben mich die Frauen beeindruckt, die unter solchen Bedingungen so entschlossen kämpfen. Es wurde uns dann der Vorschlag gemacht, dass wir für einige Monate dorthin fahren und an einer Frauenkonferenz in Kurdistan teilnehmen können. Da sagte ich, ja das mache ich. Während der Vorbereitung sagte man uns, eigentlich ist es besser, ihr geht für ein ganzes Jahr ... und das konnte ich mir dann auch vorstellen, und aus einem Jahr wurden dann später fast drei Jahre.

Grundrisse: Anfang der 1990er Jahre fanden in zahlreichen Dörfern und Städten Volksaufstände (serhildan) statt. Frauen waren in diesen Volksaufständen maßgeblich beteiligt. In der Folge schlossen sich viele Frauen der Guerilla an. Kannst du kurz erklären, was das an Dynamik in den Geschlechterverhältnissen einerseits innerhalb der Guerilla und andererseits in der kurdischen Gesellschaft auslöste? In deinen Büchern stellst du sehr konkret und plastisch dar, welche Probleme im Geschlechterverhältnis in einer gemischten Guerilla-Armee auftauchen, z.B. dass auch Frauen nicht bereit sind, Befehle von Frauen entgegenzunehmen oder dass sich die geschlechtliche Arbeitsteilung quasi naturwüchsig auch in der Guerilla durchsetzt. Was führte denn dazu, dass zunächst eigene Fraueneinheiten gegründet wurden und dann in weiterer Folge eine eigenständige Frauenarmee, die auch eine eigene von den allgemeinen Kräften getrennte Führungsstruktur hat? Das war ja ein sehr langwieriger Prozess war. Kannst du diesen Prozess erläutern?

Anja Flach: Die Bewegung ist in den 1970er Jahren entstanden, aus einer Studentenbewegung, die es ja überall auf der Welt gab, gegen den Vietnamkrieg. Im Zusammenhang mit den weltweiten Befreiungsbewegungen ist auch die PKK entstanden, also aus einem studentischen Umfeld heraus. Und schon damals war die Geschlechterfrage in Kurdistan Thema, die Unterdrückung der Frau. Es gab noch keine eigene Frauenorganisierung zu der Zeit, aber es war eigentlich schon angelegt. Es gab Diskussionen über die Rolle der Frau und darüber, dass es keine Befreiung geben kann, ohne die Rolle der Frau zu verändern. Das war von Anfang an eine ganz starke Tendenz in der PKK. In der Praxis in der Guerilla hat sich dann gezeigt, dass die Frauen sich nicht entwickeln oder ihre Forderungen nicht durchsetzen können, wenn sie sich nicht eigene Strukturen schaffen und das wurde dann auch relativ schnell angegangen. In der Zeit, in der ich da war, also Mitte der 1990er Jahre, war die Hochphase, wo das so richtig losging, dass mit Begeisterung begonnen wurde, die Ergebnisse aus den Diskussionen, die ganz lang geführt wurden, auch umzusetzen. In den 1980er Jahren waren nur einige wenige Frauen bei der Guerilla und die hatten natürlich sehr viele Probleme, weil da Leute von den Dörfern kamen - ohne Bildung. Die feudalen und patriarchalen Strukturen wurden in der Guerilla reproduziert. Dann wurde begonnen, Frauen in Gruppen zu organisieren und dadurch ging die Diskussion los. In den 1990ern wurden Fraueneinheiten aufgebaut, die den ganzen Alltag und alles selbst organisierten und so ist das langsam entstanden.

Grundrisse: Eine Sache, die der PKK immer wieder vorgeworfen wird, ist das Beziehungsverbot unter PKK-Kadern. Du behandelst das in deinen beiden Büchern relativ ausführlich. Einerseits schreibst du darüber, dass dieses Beziehungsverbot zur Entwicklung der kollektiven Handlungsfähigkeit der Frauen innerhalb der Guerilla beigetragen hat. Andererseits auch darüber, dass dieses Beziehungsverbot in den letzten Jahren gelockert wurde und nun offener und ehrlicher über Bedürfnisse nach Liebesbeziehungen gesprochen wird. Kannst du uns dazu etwas erzählen?

Anja Flach: Wie gesagt, ich habe das in meinem zweiten Buch recht ausführlich behandelt. Man kann das nicht in wenigen Worten erklären. Dazu muss man die kurdische Gesellschaft und die Rolle der Ehe darin verstehen. Alles hat seine Zeit. Eine Gesellschaft, in der eine Frau ermordet wird, weil sie angeblich am Brunnen mit einem Mann gesprochen hat, ändert sich nicht in wenigen Jahren, das ist ein langer Prozess. Die Frauen hätten unter der Propaganda des türkischen Staates, bei der PKK würden Frauen nur geduldet, da sie den Männern sexuell zu Diensten ständen, keine sexuellen Beziehungen führen können. Der Krieg ist auch kein Ort dafür. Es mussten überhaupt erst einmal freie genossenschaftliche Beziehungen entstehen, zwischen Männern und Frauen. In der Guerilla habe auch ich selbst die freiesten Beziehungen zwischen Männern und Frauen erlebt, die es geben kann. Wirkliche genossenschaftliche Liebe. Aber das ist wirklich ein Thema, dass nicht in wenigen Sätzen abgehandelt werden kann.

Grundrisse: Kannst du etwas zum traditionellen Begriff der "Ehre" und zur Umdeutung des Begriffes durch die Frauen der PKK sagen?

Anja Flach: Das Konzept "Ehre" in den traditionellen mittelöstlichen Gesellschaften beschreibt einen ganzen Komplex von Traditionen. Es ist den Frauen einer Familie verboten, Beziehungen mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann einzugehen. Es reicht allein schon die Behauptung, eine Frau habe solche Kontakte, um die Ehre einer Familie zu "beschmutzen". Beispielsweise, die Behauptung eine Frau sei irgendwo gesehen worden, wie sie mit einem Mann geredet habe. Frauen müssen jungfräulich in die Ehe gehen. Verstößt eine Frau gegen diese Regeln, verletzt sie damit die Ehre - namûs - ihrer Familie und diese gilt als lekedar - befleckt. Dabei hat es keinerlei Bedeutung, ob die Frau mit dem (sexuellen) Kontakt einverstanden ist. Frauen und Mädchen erscheinen so in der kollektiven Wahrnehmung als großes Risiko. Sie selbst können sich schützen, indem sie Handlungen vermeiden, die als Schande (eib) gelten, und wiederum durch entsprechende Handlungen vermögen sie es, ihr eigenes Prestige und die Ehre des Hauses zu mehren. Diese Situation kann soweit führen, dass männliche Familienmitglieder, um die Ehre wieder herzustellen und den eigenen sozialen Tod zu verhindern, die Frau töten. So kommt es zu Morden im Namen der Ehre. Nun hat die kurdische Frauenbewegung am 25. November[2] letzten Jahres mit einer Kampagne "Wir sind niemandes Ehre, unsere Freiheit ist unsere Ehre" begonnen. Seit vielen Jahren ist es in der kurdischen Bewegung Thema, dass die Würde des Menschen nicht mit der Kontrolle der Sexualität der Frau, sondern mit der politischen Selbstbestimmung und Freiheit zu erreichen ist. So ist das Motto der Kampagne zu begreifen. Es ist ehrlos, eine Frau anzugreifen, es ist ehrenwert, für die Befreiung Kurdistans, für Sozialismus und die Befreiung der Frauen zu kämpfen. Die Zeit war jetzt reif für diese Kampagne. Überall finden Veranstaltungen statt, in Kurdistan, überall in der Diaspora, im kurdischen Fernsehen, in allen Publikationen der kurdischen Bewegung. Schulungen für Frauen und Männer finden zu diesem Thema statt. Frauenschutzhäuser werden eröffnet, Frauen werden durch Prozesse begleitet etc. Unser diesjähriges Zîlan[3] Frauenfest in Gelsenkirchen am 6. Juni wird unter diesem Motto stehen.

Grundrisse: Nach 1999 entstanden ja zahlreiche Frauenorganisationen im türkischen Teil Kurdistans. Welche Organisationen sind das und was sind deren Zielsetzungen abgesehen von der Kampagne, die du gerade beschrieben hast? Wie sieht denn das Basisorganisationsmodell, dessen Ziel es ist, durch gesellschaftliche Selbstorganisierung herkömmliche Hierarchien überflüssig zu machen und aufzulösen, konkret aus? Und kannst du auch etwas zur Frauenquote in gemischten kurdischen Organisationen und zur Doppelspitze der DTP[4] sagen?

Anja Flach: Was machen die Frauen in der Zivilgesellschaft? Für diese Frage bin ich leider nicht ganz die richtige. Ich war ja selbst nur einmal und auch nur kurz außerhalb der Guerillagebiete in der Türkei. Das war 1994. Diese zivilen Organisationen sind ja immer wieder verboten worden, also DEP, dann HADEP und immer wurde sofort eine Folgepartei aufgebaut, die hatten ja immer schon eine neue Partei in petto. 1994 waren in diesen Organisationen fast nur Männer, in den ganzen zwei Wochen, die ich dort war, hab ich nur mit einer Frau geredet, die hat bei Özgür Politika gearbeitet, also bei der Zeitung, und hat aber, glaub ich, hauptsächlich Kaffee gekocht. Von den Männern hatten viele studiert, das waren natürlich die Söhne von Aghas, also Großgrundbesitzern. Solche Leute waren damals in den zivilen Organisationen, und die anderen sind in die Berge gegangen. Das hat sich sehr stark verändert, es gibt dort eine ganz andere Struktur jetzt. Und die Frauen haben dort überall die Avantgarde-Funktion in den Organisationen, so wie ich das höre und auch sehe im kurdischen Fernsehen hier. Frauen wie Sebahat Tuncel[5], die wurde von den KurdInnen in Istanbul ins Parlament gewählt und ist dann aus dem Knast rausgekommen. Wenn ich solche Frauen im Fernsehen sehe, geht mir wirklich das Herz auf. Das hat es vor 20 Jahren nicht gegeben, da ist wirklich etwas geschaffen worden durch diese zivilgesellschaftliche Organisierung. Vor allem nach 1999, da wurden in fast jedem Dorf, in fast jeder Stadt Frauenräte gegründet. Und die demokratische freie Frauenbewegung ist quasi eine Organisation, die wie in der Guerilla funktioniert. Die in der Guerilla entwickelten Organisationsmodelle sind in die Zivilgesellschaft übernommen worden, eben auch mit der Frauenquote von 40 Prozent und immer eine Doppelspitze, also dass in jeder Organisation ein Mann und eine Frau an der Spitze sein müssen. Und die Frauenräte und die Volksräte versuchen eben auch Funktionen zu übernehmen, um den Staat überflüssig zu machen. Wenn es jetzt z.B. zwischen zwei Familien Streit gibt wegen irgendwas, dann würde man sich hier ans Gericht wenden und dort wendet man sich eben an die Justizkommission des Volksrates und die entscheiden dann da drüber ...

Grundrisse: Das erinnert mich stark an Fatsa[6]. Kennst du Fatsa? Das ist eine Stadt am Schwarzen Meer in der Türkei, die damals ca. 20.000 EinwohnerInnen hatte. Diese Stadt, in der die Dev Yol[7] sehr stark war, war 1979/80 einige Monate selbstverwaltet, es gab auch Volkskomitees und da war das auch so was ganz Entscheidendes, dass die Gerichte überflüssig wurden ...

Anja Flach: Ja, und so werden ganze Bereiche des Staates überflüssig gemacht, dadurch dass die Menschen sich selbst organisieren, also auch Bildung usw., weil vom Staat kommt ohnehin nicht viel Nützliches ...

Grundrisse: Kannst du uns etwas zur wirtschaftlichen Situation im türkischen Teil Kurdistans erzählen? Und zu deren Auswirkungen einerseits auf die Binnenmigration und andererseits auf das Geschlechterverhältnis? In den Guerillagebieten und auch darüber hinaus sind ja ca. 4000 Dörfer von der türkischen Armee zerstört worden. Wie ist das Stadt-Land-Verhältnis in der PKK, wo doch durch die Vertreibung aus den Dörfern und die Entvölkerung ganzer Landstriche sehr viele GenossInnen in die Städte gezwungen wurden. Wie sieht die städtische Arbeit der PKK aus?

Anja Flach: Es gibt dort eigentlich keinerlei Industrie, die Leute leben zum größten Teil von der Landwirtschaft. Und die Flüchtlinge in den Städten sind von der Landwirtschaft abgeschnitten. Für die Frauen heißt das erst einmal eine extreme Verschlechterung, weil sie am Dorf zumindest ihre eigenen Arbeitsbereiche haben und sich mehr oder weniger frei bewegen können. Die Bewegung versucht Alternativen zu schaffen, versucht kleine Nähwerkstätten, Bäckereien usw. in Frauenhand aufzubauen. Aber es sind halt kleine Projekte, da kannst du auch nicht so viel damit erreichen für Millionen von Flüchtlingen. Die ökonomische Situation der Flüchtlinge ist extrem schlecht. Städte wie Diyarbakir oder Batman sind stark angeschwollen. In der Westtürkei gibt es auch viele Kurdinnen und Kurden und hier in Europa lebt noch einmal ungefähr eine Million von kurdischen Flüchtlingen. Und dazu kommen jetzt noch diese Staudammprojekte, wo riesige Landmengen unter Wasser gesetzt werden sollen. Da wird es zusätzlich viele Flüchtlinge geben. Am Ilisu-Staudamm-Projekt[8] sind auch Österreich, Deutschland und die Schweiz beteiligt. Auch wenn dieses Projekt jetzt gerade an der Kippe steht, weil die Finanzierung nicht mehr gesichert ist, bleibt es dennoch ein strategisches Projekt der Türkei. Denn es geht darum, die Landmassen und eben auch die Bevölkerung weiter zu teilen durch diesen riesigen Stausee und den Menschen ihre letzten ökonomischen Möglichkeiten zu nehmen. Es ist also wirklich ein Vernichtungsprojekt.

Grundrisse: Gibt es konkrete Strategien zur Wiederbesiedelung der von der Armee zerstörten und entvölkerten Dörfer?

Anja Flach: Die Leute versuchen immer wieder, in ihre Dörfer zurückzukommen. In Diyarbakir z.B. gibt es eine sehr hohe Arbeitslosigkeit, und natürlich versuchen die Leute zurückzukommen in ihre Dörfer. Daran werden sie aber vom Militär gehindert. Außerdem sind die Dörfer total zerstört, die sind so richtig niedergebrannt, nur noch Berge von Steinen. Die Menschen haben auch nicht die Mittel, das wieder aufzubauen. Es gibt eine Organisation namens GÖÇ-DER, ein Verein zur Unterstützung der Flüchtlinge, die versucht, durchzusetzen, dass die Flüchtlinge eine Wiedergutmachung bekommen. Der türkische Staat ist ja etliche Male vom Europäischen Gerichtshof wegen dieser Dorfzerstörungen und Vertreibungen verurteilt worden. Es wird auf verschiedene Arten versucht durchzusetzen, dass die Leute in ihre Dörfer zurückgehen können und es dann auch Mittel gibt, die Dörfer wiederaufzubauen.

Grundrisse: Du schreibst, dass die kurdischen Aghas (Stammesfürsten), die von den feudalen Strukturen profitierten, mit der türkischen Regierung verbündet waren und die PKK die einzige gesellschaftliche Kraft war, die dem ein Gegenkonzept entgegengestellt hat. Der türkische Staat hat das System der Dorfschützer (korocu) installiert. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der Retribalisierung gebraucht? Kannst du uns erklären, wie dieses Dorfschützersystem funktioniert?

Anja Flach: Das Dorfschützersystem stellt eigentlich eine paramilitärische Organisation dar. Das sind meistens Stammesorganisationen, die vom Staat Geld bekommen, um gegen die PKK zu kämpfen. Das sind Kurden. Das Prinzip "Teile und Herrsche", also die Kurden gegeneinander kämpfen lassen, das hat der türkische Staat schon von Anfang an angewandt, also die Bewaffnung von kurdischen Stämmen, dass sie gegen die PKK kämpfen. Meines Wissens nach gibt es 60.000 bewaffnete Dorfschützer, die gegen die PKK kämpfen. Die Abschaffung dieses Dorfschützersystems ist eine der dringendsten Forderungen der kurdischen Bewegung. Es gibt Stämme, die freiwillig die Waffen genommen haben, was auch wieder eine Geschichte hat in Kurdistan, warum das so ist. Es gibt aber auch Stämme oder Gruppen oder Einzelne, die gezwungen wurden, gegen die PKK zu kämpfen, weil sie sonst umgebracht worden wären. Ich selbst bin auch auf solche Dorfschützer gestoßen in Kurdistan, die offiziell gemeinsam mit der türkischen Armee gegen die PKK gekämpft haben und mit der Armee zu Militäroperationen raus fahren mussten. Sie wurden vorne auf die Wagen draufgesetzt, sozusagen als Kanonenfutter. In Wirklichkeit haben sie aber heimlich die PKK unterstützt und sind nachts in die Berge gekommen, um Lebensmittel zu bringen oder so. Es gibt Familien, die dadurch gespalten sind, in solche, die bei der Guerilla sind, und andere aus der gleichen Familie sind Dorfschützer, stehen also auf der anderen Seite. Dieses Dorfschützersystem ist ein unheimlich perfides System, das auch innergesellschaftlich sehr viel kaputt macht.

Grundrisse: Dass das funktioniert, hat doch wahrscheinlich auch ökonomische Gründe, denn in den Dörfern in den umkämpften Gebieten gibt es wohl nicht mehr so viele Lebensgrundlagen für die Bevölkerung?

Anja Flach: Nein, natürlich nicht. Die Dörfer sind zerstört. Die Almwirtschaft ist verboten gewesen, ist zum Teil, glaub ich, immer noch verboten, das weiß ich nicht ganz genau. Die Leute dürfen ihr Vieh nicht auf die Alm bringen, weil sie dort mit der Guerilla in Kontakt kommen, was aber ihre traditionelle Lebensgrundlage darstellt. Dadurch haben sie natürlich auch keine Existenzgrundlage und sind so gezwungen, dieses Geld vom Staat zu nehmen und die Waffen, um gegen die PKK zu kämpfen. Oder sie müssen sonst irgendwie klarkommen, aber es ist schwierig, denn die Ökonomie ist total am Boden.

Grundrisse: Du hast erwähnt, dass das eine Geschichte habe, dass es auch kurdische Stämme gibt, die freiwillig die Waffen genommen haben und gegen die Guerilla kämpfen. Welche Geschichte ist denn das? Hat das vielleicht damit zu tun, dass es in den 1980er Jahren zu Grausamkeiten der kurdischen Guerilla gegen ZivilistInnen kam und auch "Säuberungen" innerhalb der PKK stattfanden (Hinrichtungen von u.a. Intellektuellen)? Kannst du erklären, wie es dazu kam bzw. was dagegen unternommen wurde?

Anja Flach: Mitte der 1980er Jahre gab es nur wenige Guerillagruppen in den Bergen von Botan[9]. In der Gründungsgruppe der Guerilla nach dem Militärputsch 1980 waren ideologisch gefestigte KämpferInnen, aber in den Bergen schlossen sich schnell viele DorfbewohnerInnen an, die teilweise keine Bildung hatten und einzelne Guerillagruppen unter ihre Kontrolle brachten. Die Gruppen waren wenige und sie hatten manchmal monatelang keinen Kontakt zueinander, es gab z.B. auch noch keinen Funk. Ein Beispiel ist Hogir. Hogir war ein Kommandant, der Ende der 1980er Jahre als Banditenkönig von der türkischen Presse protegiert wurde und diese Rolle dann auch spielte, er raubte Dörfer aus und ließ Intellektuelle hinrichten, auch wurden Frauen vergewaltigt. Diese als "Hogir-Praxis" bekannte Phase und ihre Verurteilung wurde in den 1990er Jahren intensiv in der PKK diskutiert. Gut ist, dass alles sehr gründlich aufgearbeitet und veröffentlicht wurde, nichts wurde unter den Teppich gekehrt. Es gab Einzelfälle von Grausamkeiten und es dauerte einige Zeit, bis die Parteiführung wieder die Kontrolle über alle Gruppen erreicht hatte. Diese Banden haben der PKK sehr geschadet. Auch wenn das jetzt schon mehr als 20 Jahre her ist und die PKK diese Phase und die Personen, die darin verwickelt waren, verurteilt hat, gibt es Dörfer und Stämme, die die PKK bis heute ablehnen und teilweise als Dorfschützer gegen die PKK kämpfen.

Grundrisse: Wie viel türkisches Militär ist denn präsent? Wie muss frau sich das vorstellen? In den Städten gibt es Kasernen, aber in den Bergen ... das Gebiet ist ja sehr weitläufig und auch unzugänglich.

Anja Flach: Ich habe es ja selbst nur von den Bergen aus gesehen. In den Städten sind Militärkasernen, die sind total eingeigelt und sitzen auf einem Berg drauf, wo alles drum herum gesichert ist. Das Militär kann sich da nicht wirklich wegbewegen, weil die Berge Guerilla-Gebiet sind. Die türkische Armee kann sich nicht überall frei bewegen, eigentlich nur mit großen Militäroperationen oder mit Hubschraubern. Letztendlich sind sie auf ihre Kasernen beschränkt und können nur die Städte kontrollieren. Die Berge kontrolliert die Guerilla.

Grundrisse: Und das ist immer noch so?

Anja Flach: Ja, das ist immer noch so. Es gab 1999 einen Rückzug der Guerilla hinter die Grenze in den irakischen Teil Kurdistans, in ein Gebiet entlang der irakisch-iranischen Grenze, das von der Guerilla Meder[10]-Verteidigungsgebiet genannt wird. Dieses Gebiet beansprucht die Guerilla, da wird kein türkisches Militär reingelassen, keine irakischen Peschmerga[11] und keine US-Armee. Das ist ein riesiges Gebiet im Nordirak, das unter der Kontrolle der Guerilla steht. Aber auch in die Türkei ist die Guerilla nach und nach wieder reingegangen und ist jetzt eigentlich überall wieder präsent, wie vorher auch. Der Rückzug 1999 in dieses Meder-Verteidigungsgebiet erfolgte, um die Möglichkeit für eine politische Lösung neu zu öffnen. Denn seit Anfang/Mitte der 1990er Jahre besteht ein strategisches Gleichgewicht, wo sich wirklich nicht mehr sehr viel verändert. Das türkische Militär hat immer wieder mal neue Waffensysteme, dann haben sie ein paar kleine Erfolge. Bis die Guerilla wieder eine neue Taktik gefunden hat, um diese neuen Waffensysteme auszuhebeln, dann ist wieder alles im Gleichgewicht. Im Grunde genommen bewegt sich seit Mitte der 1990er Jahre überhaupt nichts. Und um da dran was zu ändern, muss man eine politische Lösung finden, weil es kein mit Waffengewalt befreites Kurdistan geben wird.

Grundrisse: Wenn die PKK keinen eigenen Staat Kurdistan mehr will, sondern eine Lösung innerhalb einer demokratisierten Türkei, was heißt das in Hinblick auf die anderen Teile Kurdistans? Ist der Versuch einer gemeinsamen Lösung für ganz Kurdistan jetzt aufgegeben?

Anja Flach: Nein, im Gegenteil. Der syrische und der iranische Teil waren damals in den 1990er Jahren eigentlich immer Rückzugsgebiete, wo die PKK keine eigenen bewaffneten Aktionen gemacht hat. Im Iran hatte die PKK z.B. Krankenhäuser, in Syrien war bis 1999 die zentrale Parteischule der PKK. Es gab keine Organisation, die darauf abzielte, auch dort etwas zu verändern. Die Arbeit war hauptsächlich auf die Türkei bezogen - und auf den irakischen Teil Kurdistans -, aber am meisten auf die Türkei, denn da kam die Bewegung ja her. Inzwischen hat sich das verändert. 1999 wurde die PKK gezwungen, die Parteiführung aus Syrien weg zu verlegen, denn der türkische Staat drohte im Falle der Nichtausweisung Abdullah Öcalans damit, Syrien zu bombardieren. Dadurch hat sich die Situation sehr stark verändert. Im Iran wurden auch eigene Organisationen aufgebaut, die in der KONGRA-GEL[12] organisiert sind, also in der Dachorganisation. Im Iran gibt es inzwischen auch eine starke kämpfende Guerilla, die gegen die Unterdrückung im iranischen Teil Kurdistans kämpft. Davon hört man hier leider nur sehr wenig. Es sind dort auch etliche PKK-Kämpferinnen und Kämpfer inhaftiert, die im letzten Jahr auch einen großen wochenlangen Hungerstreik gemacht haben. Etliche PKK-KämpferInnen sind auch schon hingerichtet worden. PJAK heißt dort die Organisation, also Partei für ein freies Leben. Aktuell ist gerade eine Vertreterin der iranischen Organisation von der Hinrichtung bedroht, Zeynep Celaliyan, da gibt es eine Kampagne dagegen. Es finden ständig Hinrichtungen und auch extrem heftige Militäroperationen in Kurdistan/Iran statt. Andererseits gibt es einen unglaublichen Zulauf zur Guerilla von der Jugend, aber davon kriegt man hier gar nichts mit.

Auch wir kriegen da nicht soviel mit, wie notwendig wäre. Wir können Delegationen in die Türkei schicken, die sich die Situation dort angucken, da ist ja im Moment die zivile Organisierung ganz stark. Die DTP hat gerade in 99 Gemeinden die Kommunalwahlen gewonnen und stellt in der Hauptstadt des türkischen Teils Kurdistans, in Diyarbakir, den Bürgermeister. Das ist quasi, wie wenn die PKK dort den Bürgermeister stellt, von so einer großen Millionenstadt. Das alles können wir von hier aus mitverfolgen, aber was im Iran passiert, das ist total schwer. Man kann keine Delegationen hinschicken, die sich mal umhören und Interviews machen. Das war jahrelang in der Türkei auch nicht möglich, oder fast nicht möglich. Wenn du dort mit einer Delegation hingefahren bist, hast du vom ersten Tag an den Geheimdienst auf den Fersen gehabt und du konntest keinen Schritt machen, ohne die Leute vor Ort zu gefährden. Das hat sich schon ganz gewaltig verändert, obwohl die Repression immer noch extrem ist. Im Grunde müssten wir heute diese Delegationen in den Iran schicken, weil dort die Bedingungen noch um ein Vielfaches härter als im türkischen Teil von Kurdistan sind.

Es gibt auch seit kurzem einen kurdischen PKK-nahen Fernsehsender, Newroz-TV, der für Iranisch Kurdistan sendet. Es gibt die Befürchtung, dass der kurdische Sender Roj-TV[13], der mit einer Lizenz, die über Dänemark läuft, betrieben wird, geschlossen wird. Dass diese Schließung Teil des Deals ist, der der Türkei angeboten wurde, damit Rasmussen[14] NATO-Chef werden kann. In Deutschland ist Roj-TV bereits verboten. Obama hat da quasi auf Erdogan eingeredet. Es kann also gut sein, dass dieser Satellitenzugang bald weg ist. Obama war gerade eine Woche im Amt, da hat er schon die Kurden verraten. Wir haben nichts anderes erwartet, aber es ist dennoch bitter.

Grundrisse: Kannst du etwas dazu sagen, wie denn die politische Lösung aussehen soll, die die PKK anstrebt?

Anja Flach: Die PKK strebt langfristig eine demokratische Föderation des Mittleren Ostens an. Der Weg zur Befreiung von fremder Herrschaft muss notwendig über die Auflösung überkommener und antidemokratischer Strukturen in Staat, Gesellschaft und Mentalität der mittelöstlichen Völker gehen. Die PKK hat konkrete Vorschläge für eine Lösung der kurdischen Frage in jedem der Länder, in denen Kurden leben - Türkei, Iran, Irak und Syrien -, im Rahmen einer Demokratisierung der gesamten Region entwickelt. Sie verbindet den Kampf gegen religiöse Rückständigkeit und lokale Nationalismen mit der Zurückweisung positivistischer eurozentristischer Konzepte der Modernisierung und westlicher politischer Dominanz. Das Hauptinstrument des Kampfes sind zivilgesellschaftliche Organisationen auf der Graswurzelebene. Die Mittel sind der Serhildan, der Volksaufstand, und die Organisierung auf allen Ebenen. Das System, das die PKK anstrebt, nennt sie "Demokratischer Konföderalismus". Seit 2005 gibt es Bemühungen, das System des demokratischen Konföderalismus praktisch umzusetzen.

Grundrisse: Was waren die politischen Gründe für die Abspaltung der Fraktion rund um Osman Öcalan, den Bruder von Abdullah Öcalan, im Jahr 2003? Werden da verschiedene politische Strategien verfolgt? Welche Teile der PKK kämpfen noch bewaffnet?

Anja Flach: Dazu kann ich auf jeden Fall etwas sagen, weil mich das total wütend macht. Hast du mal den Film "Bêrîtan" von Halil Uysal[15] gesehen, da wird die ganze Geschichte um Osman Öcalan aufgerollt. Dadurch dass er der Bruder von Abdullah Öcalan ist, bringt man ihm natürlich einen gewissen Respekt entgegen. Er war schon lang in der Guerilla, und einer von denen, die immer wieder versucht haben, in der PKK eine nationalistische Linie durchzusetzen. Es gab immer dieses Angebot von den Amerikanern, wenn ihr mit uns zusammenarbeitet, dann wird es auch ein freies Kurdistan geben, aber eben nach den Bedingungen der USA. Das versuchen die ja auch gerade in Irakisch Kurdistan durchzusetzen, also ein Kurdistan nach amerikanischer Facon. Und Osman Öcalan wollte eigentlich schon immer auf so eine Linie einschwenken. Zum Bruch kam es dann 2003. Das sind die unterschiedlichen politischen Strategien, von denen in deiner Frage die Rede ist. Es gibt einerseits die PKK-Linie, die es schon immer gibt, die auf einen Sozialismus und auf die Frauenbefreiung hinwirkt. Aber es gab immer eine nationalistische Strömung, der es "nur" um ein freies Kurdistan ging, unter welchen Vorzeichen auch immer, und das ist diese Osman Öcalan Linie.

Grundrisse: Und dass es gerade 2003 zum Bruch kam, das hat aber schon mit dem Irakkrieg zu tun ...

Anja Flach: Ja, natürlich hatte das mit dem Irakkrieg zu tun, denn da kamen noch einmal die konkreten Angebote für dieses freie Kurdistan, dass man also eine Lösung für das gesamte Kurdistan finden würde, aber eben unter amerikanischen Vorzeichen. Die PKK hat das abgelehnt und Osman Öcalan hat ja gesagt. Es war vielleicht nicht so eine offene Diskussion, aber im Grunde ging es darum, und es ging auch darum, nach der Festnahme Abdullah Öcalans Prinzipien der PKK auszuhebeln. Da wurde gleich versucht, z.B. die Frauenorganisation aufzulösen. Es wurde eine Einheitslinie heraufbeschworen und gesagt, jetzt stellen wir die Frauenfrage mal hintenan. Das waren die Flügelkämpfe, die stattfanden.

Grundrisse: Im Führungsgremium der PKK saßen ca. 10 Leute oder? Wie viele sind da bei der Spaltung mitgegangen? War das Osman Öcalan allein? Wie sollen wir uns da die Kräfteverhältnisse vorstellen?

Anja Flach: Nein, das waren schon mehrere. Im Grunde waren das alles Leute, die aufgegeben haben. So muss man das letztlich sehen. Die haben quasi das Angebot angenommen, ein ziviles Leben in Irakisch Kurdistan zu führen. Und so eine Möglichkeit, ein ziviles Leben zu führen, gab es vorher nicht. Wenn du bei der Guerilla warst, dann warst du das auf Lebenszeit, denn es gab ja keine Möglichkeit auszusteigen. Osman Öcalan hat ein 18jähriges Mädchen aus einer iranisch-kurdischen Familie mitgenommen und später geheiratet. Er war zu diesem Zeitpunkt um die 50 Jahre alt, das widerspricht nun wirklich jeder PKK-Ideologie ...

Grundrisse: Also, das heißt, die Fraktion um Osman Öcalan kämpft jetzt nicht mehr? Es gibt gar keine abgespaltene Organisation? Das war einfach ein Ausstiegsszenario?

Anja Flach: Nein, die haben sich zur Ruhe gesetzt. Osman Öcalan hat eine Bäckerei aufgemacht oder so etwas in der Art. Die melden sich schon immer wieder mal per Internet zu Wort, aber das nimmt ja keiner ernst. Die USA haben natürlich auch schnell bemerkt, dass diese Strategie nicht aufgeht, weil sich niemand denen angeschlossen hat. Und die, die sich angeschlossen haben, haben sich im Anschluss sofort zur Ruhe gesetzt. Es gibt natürlich schon welche, die diese nationalistische Linie propagieren, aber niemand hat eine Gegenorganisation aufgebaut, so wie das hier verkauft wurde.

Grundrisse: Die Leute rund um Osman Öcalan bilden nicht eine Fraktion der PKK, die immer noch organisiert ist und kämpft?

Anja Flach: Nein, im Gegenteil, die gibt's eigentlich gar nicht mehr, die haben sich aufgelöst in ihre Bestandteile.

Grundrisse: Was heißt denn das, dass es zuvor nicht möglich war, aus der Guerilla auszusteigen? Geht es da um die Illegalisierung und Verfolgung durch den türkischen Staat? Oder gab es auch Repressalien von Seiten der PKK gegen Leute, die aussteigen wollten? Wenn ja, warum und welcher Art?

Anja Flach: Es gab kein Land, wohin jemand, der nicht mehr kämpfen konnte, hingehen konnte, keinen Platz auf der Welt. Ausstieg hieß immer überlaufen und Verrat begehen. Jetzt gibt es die föderale Region Kurdistan im Nordirak. Aber für die Frauen ist das auch keine Alternative, die Frauen finden dort keine Arbeit, um sich zu ernähren, das ist für Frauen nicht vorgesehen. Sie müssen sich zwangsläufig in Abhängigkeit von einem Mann begeben, oder sich prostituieren. Wer die PKK verlassen will, sollte das nicht heimlich tun, sondern offen und ehrlich. Es kann sein, dass Leute müde werden, nicht mehr kämpfen können, das ist normal. Sie können das sagen und dann gehen, niemand wird etwas dagegen haben.

Grundrisse: Wie ist das Verhältnis / die Position der PKK zum "autonomen kurdischen Gebiet" im Irak?

Anja Flach: Dieses Meder-Verteidigungs-Gebiet ist ein relativ großes Gebiet innerhalb der kurdischen Föderation unter der Kontrolle der PKK. Es gibt natürlich Bestrebungen, dieses Gebiet mit aller Gewalt wegzubekommen. Und das wird über Talabani und Barzani versucht, also über die PUK und KDP[16]. Da gibt es immer wieder neue Ideen und eine davon war, dass KDP und PUK auch wieder militärisch gegen die PKK kämpfen. Aber KDP und PUK wollen das nicht, das trauen sie sich jetzt auch nicht mehr, weil die Bevölkerung in der kurdischen autonomen Region das einfach nicht mittragen würde. Die Bevölkerung hat die Schnauze voll vom Krieg Kurden gegen Kurden. Deswegen gehen sie nicht so weit, aber sie unterstützen Militäroperationen der Türkei in dieser Region, sie unterstützen, dass die USA dort alle möglichen Waffensysteme aufbaut und Drohnen in diesem Gebiet fliegen lässt, auch um den Iran zu kontrollieren. Und sie versuchen, die PKK politisch wirkungslos zu machen, sie verbieten die Organisationen, die dort aufgebaut wurden. Es ist ein sehr schwieriges Verhältnis.

Grundrisse: Welche Position vertritt die PKK denn zur Frage des EU-Beitritts der Türkei?

Anja Flach: Es ist schon so, dass die PKK sich von einem EU-Beitritt der Türkei eine Demokratisierung erhofft. Die DTP hat ja vor kurzem die Kommunalwahlen in vielen Städten und Gemeinden in Kurdistan gewonnen. Und dann sind innerhalb der letzten zehn Tage 250 Mitglieder der DTP festgenommen worden und auch von der Demokratischen Freien Frauenbewegung sind etliche Frauen in den letzten Tagen verhaftet worden. Und es gibt schon die Hoffnung, dass es durch einen Beitritt zur EU nicht mehr so ohne Weiteres möglich ist, Parteien zu verbieten und Leute so einfach einzukassieren. Es gibt von der kurdischen Bewegung den Wunsch, dass die Türkei näher an die EU rangeht, in der Hoffnung auf Demokratisierung und dadurch mehr Möglichkeiten zu haben, sich zu bewegen. Inwieweit das realistisch ist, ich weiß es nicht, aber ich glaube schon, dass es vielleicht doch mehr Spielraum eröffnet. Also z.B. wird ja behauptet, Kurdisch wäre jetzt nicht mehr verboten, aber das stimmt gar nicht. Kurdisch ist immer noch verboten.

Grundrisse: Was heißt das genau, dass Kurdisch in der Türkei immer noch verboten ist?

Anja Flach: Es dürfen z.B. keine Sprachkurse für Kurdisch organisiert werden, es gibt auch keinen Kurdischunterricht an Schulen. Man darf in öffentlichen politischen Veranstaltungen nicht Kurdisch sprechen. Auf der Straße schon, aber bei öffentlichen und offiziellen Anlässen nicht, da kann man immer noch Strafen dafür kriegen. Im Parlament darf auch nicht Kurdisch gesprochen werden.

Grundrisse: Wie war das, als du damals in den 1990er Jahren nach der Zeit im kurdischen Guerillagebiet zurück nach Deutschland gekommen bist? Das muss ja ein irrer Kulturschock gewesen sein. Am Ende deines ersten Buches, das auf Tagebuchaufzeichnungen beruht, schreibst du, dass du dir eigentlich gar nicht vorstellen kannst, wie das sein wird, das Zurückkommen.

Anja Flach: Also, ich war ja insgesamt zweieinhalb Jahre in Kurdistan. Und je länger man da war, man ist ja die ganze Zeit in den Bergen gewesen, also weitab von Informationsquellen, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass man dort in den Bergen, in der Einsamkeit, die Welt besser versteht, als wenn man mitten in diesem Trubel ist. Es wurde dort ja auch viel diskutiert und Analysen über die Weltlage wurden gemacht. Zur Guerilla macht man sich ja auch falsche Vorstellungen, also wirklich ... man kämpft ja nicht die ganze Zeit, also in den zweieinhalb Jahren, in denen ich dort war, da war ich vielleicht insgesamt zwei Stunden in Gefechten ... einerseits ist man sehr viel unterwegs und zweitens spielt Diskussion, Ausbildung, Fortbildung auch eine ganz wichtige Rolle. Und dann kommt man zurück und ist so voller Energie und Kraft und denkt, all die positiven Dinge, die man aufgenommen hat, die möchte man auch weitertragen, in die Metropole zurücktragen. Diese Begeisterung, die ich dort empfunden habe, wollte ich auch hier den Leuten vermitteln, die gemeinsam kämpfen, in Deutschland oder in Hamburg oder wo auch immer. Da bin ich echt gegen die Wand gelaufen, muss ich ehrlich sagen. Denn das hat sich von dort aus nicht so angefühlt, dass es so schwer ist, hier überhaupt irgendetwas zu bewegen. In Kurdistan ist so viel Bewegung und Energie und Dinge passieren so schnell, werden so schnell umgewälzt, dass man sich eigentlich gar nicht vorstellen kann, dass das hier alles so schwerfällig ist und dass sich die Leute hier so wenig bewegen wollen. Das war für mich ein sehr großer Schock. Und dann hab ich natürlich sehr viel an Diskussionen nicht mitbekommen, die hier in zweieinhalb Jahren gelaufen sind.

Und dann wieder in so einem Metropolenalltag klarzukommen, das war auch ein ganz schöner Schock. Wobei ich mir dort andere Sachen vorgestellt hab, die mich schocken würden, als es dann tatsächlich war. Ich hab immer gedacht, dass der Verkehr und die Menschenmassen, dass mich das unglaublich schocken wird, aber das war gar nicht so extrem. Aber dieses ganze Konsumangebot, das hat mich echt vom Hocker gehauen. Weil ich hatte zweieinhalb Jahre überhaupt kein Geld gesehen oder in der Hand gehabt. Wir hatten Reis, Bohnen und Linsen und das war's, und Tee und vielleicht mal Zucker. Dann kommt man hier in den Supermarkt und da stehen 40 Sorten Joghurt und man ist fassungslos, welche man jetzt kaufen soll. Dieses Überangebot an Konsumwaren, das hat mich wirklich wochenlang fertig gemacht. Es ist mir total schwergefallen einzukaufen.

Und dann kam natürlich auch gleich die Repression, also es gab 129a Verfahren gegen mich und meine GenossInnen, mit denen ich dort gewesen war. Es gab Hausdurchsuchungen. Im 129a Verfahren wurde uns vorgeworfen, wir würden nach dem Vorbild der RAF eine terroristische Organisation in Deutschland aufbauen und hätten eine militärische Ausbildung gemacht in Kurdistan

Grundrisse: Und wie ist das Verfahren ausgegangen?

Anja Flach: Ja, das ist natürlich irgendwann eingestellt worden. Aber das hat natürlich auch wieder Leute abgeschreckt, diese Diffamierung. In Deutschland spielt das eine ganz extreme Rolle, dass auch die Linke Lügen vom Staatsschutz direkt übernimmt und verbreitet, allen voran die Grünen und die TAZ. Dieser Angriff von der Linken auf die revolutionären Bewegungen, da wird extrem diffamiert. Also im Grunde sind das ja Leute, die aufgegeben haben und andere, die noch kämpfen, angreifen. Und das hat in Deutschland auch wirklich eine große Rolle gespielt, um die PKK zu isolieren, also auch das Verbot der Organisation 1993 und es gab eigentlich immer nur eine ganz kleine Solibewegung, die die PKK in Deutschland unterstützt hat, immer nur ganz wenige aus dem linksradikalen Spektrum. Du kannst dich natürlich gegen Diffamierungen nicht wehren, wenn deine Organisation verboten ist, weil die PKK kann gegen Lügen, die über sie verbreitet werden, gerichtlich nicht vorgehen, weil es sie offiziell ja gar nicht gibt in Deutschland. Und sie können im Grunde jede Lüge über die PKK in Deutschland verbreiten und das tun sie auch.

Grundrisse: In deinem ersten Buch ganz am Ende schreibst du, dass wir in den Metropolen von der PKK lernen könnten und sollten. Ich verstehe das nicht ganz, ist nicht die politische, gesellschaftliche und ökonomische Situation in Deutschland oder Österreich eine ganz andere als in Kurdistan? Und das Konzept des bewaffneten Kampfes steht ja hier auch nicht auf der Tagesordnung.

Anja Flach: Ja, ich würde auch nicht sagen, dass der bewaffnete Kampf hier eine Perspektive bietet, aber es gibt schon so Ansätze und Methoden, die die PKK entwickelt hat, wo wir uns auf jeden Fall eine Scheibe abschneiden können. Wenn z.B. das kurdische Fernsehen verboten wird, Med-TV, da haben die schon das nächste in Vorbereitung, die senden gleich am nächsten Tag mit Roj-TV weiter. Die machen halt einfach weiter, lassen sich von Repression und Druck nicht beeinflussen. Hier sind die Bewegungen oft Jugendbewegungen, mit 30 hören die meisten Leute auf. Das ist in der PKK auch ganz anders. Man organisiert sich auf allen Ebenen und man organisiert auch alle Gesellschaftsbereiche, z.B. auch Mütter ...

Grundrisse: Ja, das stimmt natürlich, wenn man sich überlegt, wie eine Gesellschaft verändert werden kann, wie das funktionieren kann, dann braucht es Strukturen, in denen auch nicht junge Menschen Platz haben und vor allem auch Frauen mit Kindern, das ist ja hier ein großes Problem ...

Anja Flach: Und die haben ja nicht nur bewaffnete Organisationen, die haben Volksräte in den Städten ... es gibt ja die Idee, so ein Camp zu machen im Oktober, wo Leute aus Europa mal hinfahren können und sich das vor Ort anschauen können, wie das funktioniert, die Basisorganisierung dort.

Grundrisse: Dieses Internationale Camp findet vom 5. bis 9. Oktober 2009 im Rahmen des Mesopotamischen Sozialforums in Amed[17]/Diyarbakir (Nordkurdistan/Türkei) statt.

Anja Flach: Das Camp soll außerhalb der Stadt Diyarbakir sein, wo auch Leute aus allen Ländern Europas sich beteiligen können. Es gibt auch Vorbereitungstreffen, wo die Leute auch darauf vorbereitet werden sollen, wie die Situation ist, wie man sich dort verhält, das ist ja mitten in einem Kriegsgebiet. Aber auch zur Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten. Deshalb gibt es verbindliche Vorbereitungsseminare und es gibt auch Veranstaltungen, wo auch unsere Veranstaltung heute auch ein Teil davon sein wird. Es ist auf jeden Fall geplant, nach Hasankeyf zu fahren, zum Ilisu-Staudamm-Projekt. Es gibt verschiedene Workshops und Projekte vor Ort und sicher wird man auch mit der Frauenbewegung zusammen kommen.

Grundrisse: Danke für das Gespräch!


Anmerkungen:

[1] Alle kurdischen Begriffe, Organisationen, Parteien, Institutionen, Medien und Persönlichkeiten, die nicht im Interview oder den Anmerkungen erklärt werden, finden sich im Kasten zur Geschichte Kurdistans wieder.

[2] Der 25. November ist der internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen.

[3] Zeynep Kinaci, alias Zîlan, sprengte sich im Jahre 1996 inmitten einer Militärparade im Stadtzentrum von Dersim (türk.: Tunceli) in die Luft und tötete mindestens sechs türkische Soldaten. Seit 2004 findet jährlich ein Frauenfestival im Ruhrgebiet statt, das ihren Namen trägt: das Internationale Zîlan Frauenfestival.

[4] Die DTP (Demokratik Toplum Partisi) ist eine legale kurdische Partei in der Türkei, die am 24. Oktober 2005 gegründet wurde.

[5] Bei den Wahlen zum türkischen Parlament im Juli 2007 ist es der DTP mit Hilfe der Aufstellung von "unabhängigen" KandidatInnen erstmals gelungen, eine Gruppe von 22 Abgeordneten in das Parlament zu entsenden. Kurz nach ihrer Registrierung als Abgeordnete im Parlament hat diese Gruppe erwartungsgemäß einen Antrag auf die Bildung einer Fraktion gestellt. Ein besonderer Fall in dieser Gruppe ist die Abgeordnete Sebahat Tuncel, die in Istanbul mit rund 90.000 Stimmen aus dem Gefängnis gewählt worden ist. Sebahat Tuncel saß unter dem Vorwurf des Verdachts auf Mitgliedschaft in der PKK in Untersuchungshaft und wurde aufgrund des Wahlergebnisses und der damit einhergehenden parlamentarischen Immunität aus dem Gefängnis entlassen. Bei dieser Wahl wurden 51 Sitze im Parlament (9.2%) an Frauen vergeben. Damit hat sich der Frauenanteil mehr als verdoppelt. 15 der 51 Frauen kommen aus Wahlbezirken im Südosten der Türkei.

[6] Das Experiment einer kollektiven Selbstverwaltung in Fatsa, einer türkischen Kreisstadt am Schwarzen Meer, zwischen Oktober 1979 und Juli 1980 wurde durch militärische Intervention gestoppt. Im Oktober 1979 wurde der Schneider Fikri Sönmez als unabhängiger Kandidat mit 62% der Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Sein Programm sah eine Selbstverwaltung vor, bei der die Vorschläge aus lokalen Komitees kamen, von der Verwaltung auf Praktikabilität geprüft wurden, um sodann in den Komitees beschlossen und umgesetzt zu werden. Schon bald nach den Wahlen wurde ein Aktionsprogramm beschlossen. Dazu gehörte das Anlegen von Straßen. In Eigenarbeit wurde mit tatkräftiger Unterstützung von Menschen aus umliegenden Ortschaften das Vorhaben in 6 Tagen erledigt. Zu weiteren Maßnahmen gehörte die Verbilligung des öffentlichen Transportes und kostengünstigere Herstellung von Brot. Bekannt wurde das Experiment in Fatsa durch ein Volksfest ("Fatsa Halk Senligi") vom 8. bis zum 14. April 1980. Bei der "Punktoperation" (nokta operasyon) durch das türkische Militär waren insgesamt 10 vermummte Personen anwesend, von denen sich später herausstellte, dass 5 als militante Rechtsextremisten gesucht wurden. Diese zeigten auf Verdächtige und sorgten für die Festnahme von 390 Personen, von denen jedoch nur 6 in Untersuchungshaft kamen. Unter ihnen war der Bürgermeister Fikri Sönmez. Er wurde, wie andere auch, unter schwerer Folter verhört. Bis zum Militärputsch vom 12. September 1980 beruhigte sich die Situation in und um Fatsa nicht. Am 12. Januar 1983 wurde vor einem Militärgericht das Verfahren gegen 759 Angeklagte aus Fatsa und Umgebung eröffnet. In 268 Fällen forderte der Militärstaatsanwalt die Todesstrafe. Am 4. Mai 1985 verstarb Fikri Sönmez im Gefängnis an Herzversagen. Bis zum Jahre 1988 war die Zahl der Angeklagten auf 811 angestiegen. 8 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt.

[7] Dev-Yol oder Devrimci Yol (Revolutionärer Weg) betrat zum ersten Mal am 1. Mai 1977 mit der ersten Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift die politische Bühne. Dev-Yol betrachtete sich selbst eher als Bewegung, obwohl sie marxistisch-leninistische Organisationsprinzipien verfolgte. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele Prozesse gegen AnhängerInnen der Organisation geführt.

[8] Der Ilisu-Staudamm ist ein Teil des türkischen Südostanatolien-Projekts (türk. GAP - Güneydogu Anadolu Projesi)). Dieses Wasserkraftwerk soll den Tigris kurz vor der Grenze zu Syrien und Irak im überwiegend kurdisch bewohnten Südosten des Landes aufstauen. Die entscheidende Rolle bei dem Projekt spielen Deutschland, Österreich und die Schweiz: Abgesichert mit Kreditbürgschaften dieser drei Länder, finanziert mit zinsgünstigen Krediten von deren Banken, gebaut durch deren Unternehmen. Zigtausende von Menschen müssten ihre Heimat verlassen, Siedlungen und wertvolles Ackerland würden geflutet. Der Plan steht zudem im Widerspruch zu internationalen Abkommen, da die Nachbarstaaten Syrien und der Irak nicht konsultiert wurden. Etwa 400 Kilometer des Tigris und seiner Nebenflüsse würden zerstört, durch Einstau flussaufwärts und durch den Schwallbetrieb flussabwärts des Kraftwerkes. Unterhalb des Dammes würden künstliche Flutwellen das Ökosystem vernichten. Über 200 bekannte archäologische Fundstätten würden vernichtet, darunter die berühmte antike Stadt Hasankeyf. Im Jänner 2009 haben Deutschland, Österreich und die Schweiz angekündigt, aus dem Ilisu Staudammprojekt nach einer Frist von 180 Tagen auszusteigen. Erst danach kann der Ausstieg endgültig vollzogen werden. Die Entscheidung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz bedeutet, dass die Lieferverträge der europäischen Baufirmen - die Andritz AG, die im Besitz der STRABAG befindliche deutsche Züblin AG und der Schweizer Generatorenlieferant Alstom - suspendiert werden und diese jetzt keine Lieferungen an das Projekt vornehmen können. Auch die europäischen Banken - Bank Austria/UniCredit, DekaBank und Société Générale - können ihre zugesagten Kredite nicht auszahlen. Insgesamt fehlen der Türkei damit ca. 500 Mio. Euro, die angesichts der Finanzkrise nicht so leicht zu ersetzen sind.Quelle: http://www.stopilisu.com/

[9] Kurdische Bezeichnung für ein Gebiet in Zentralkurdistan in den türkischen Provinzen Siirt und Bitlis, eines der Kerngebiete der kurdischen Guerilla.

[10] In der kurdischen Geschichtsschreibung gibt es eine starke Tendenz, die Kurden als direkte Nachfahren der Meder zu begreifen. Dies ist aber unter GeschichtswissenschafterInnen nicht unumstritten.

[11] Peschmerga (Kurdisch: Pêsmerge) ist der kurdische Begriff für die irakisch-kurdischen Kämpfer. Der Begriff Peschmerga, was übersetzt "Die dem Tod ins Auge Sehenden" (pês nach vorn + merg Tod) bedeutet, existiert seit den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Peschmerga bezeichnen sich insbesondere die bewaffneten Einheiten der KDP und der PUK (siehe Anm. 16).

[12] Der Volkskongress Kurdistan (Kongra Gelê Kurdistan, Kongra-Gel) wurde im November 2003 gegründet und ist die Nachfolgeorganisation des KADEK, der wiederum Nachfolgeorganisation der PKK war. Seit 2005 betrachtet sich der Kongra-Gel nicht mehr als Organisation, sondern vielmehr als Parlament innerhalb des Koma Civakên Kurdistan Systems. Als Koma Civakên Kurdistan oder KCK (etwa: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) bezeichnet sich eine organisatorische Struktur in Kurdistan, die die Umsetzung des von Abdullah Öcalan am 20. März 2005 deklarierten "Demokratischen Konföderalismus" zum Ziel hat. Sie soll die Keimzelle einer nichtstaatlichen Gesellschaft bilden.

[13] Roj TV ist ein kurdischsprachiger Fernsehsender in Dänemark, der seit März 2004 über Satellit ausgestrahlt wird. Die Vorgänger von Roj TV waren MED-TV und MEDYA-TV. Roj TV sendet mit einer dänischen Lizenz aus der belgischen Sendezentrale in Denderleeuw, in der über 100 Menschen aus ganz Europa arbeiten. Die türkische Regierung versucht seit November 2005, Dänemark zur Schließung von Roj TV zu bewegen.

[14] 54 Bürgermeister der kurdischen DTP aus dem Südosten der Türkei haben 2005/2006 per Bittschrift den Premierminister Dänemarks, Anders Fogh Rasmussen, gebeten, Roj TV nicht zu schließen. Anders Fogh Rasmussen wurde beim NATO-Gipfel Anfang April 2009 zum neuen NATO-Generalsekretär ernannt und trat vom Amt des dänischen Regierungschefs zurück. Laut Spiegel online vom 5.4.2009 soll die Türkei umfangreiche Zugeständnisse für die Aufgabe des türkischen Vetos gegen die Ernennung Rasmussens erhalten haben, u.a. sicherte er der Türkei auf dem NATO-Gipfel zu, ein Verbotsverfahren gegen Roj TV in Dänemark einzuleiten.
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,617553,00.html

[15] Bêrîtan, Kurdistan 2006, Regie: Halil Uysal, Jinda Baran, Dersim Zerevan. Der Film erzählt die Geschichte der Kommandantin Gülnaz Karatas, Codename Bêrîtan. Bêrîtan, die aus Dersim stammt und sich 1991 der kurdischen Befreiungsbewegung anschloss, während sie an der Universität Istanbul studierte. Bei der Guerilla prangerte sie Missstände offen an und legte sich mit traditionell denkenden KommandantInnen an, die den Frauen in der Bewegung nur Hilfsaufgaben übertragen wollten. Der Film erzählt den letzten Tag im Leben von Bêrîtan, in immer neuen Rückblenden wird dessen Vorgeschichte fassbar. Der oberste Kommandant ihres Frontabschnitts ist Osman Öcalan. Am Ende ist sie allein umzingelt von Peschmergas der KDP und bringt sich um, um nicht in deren Hände zu fallen. Der Regisseur des Films und Dokumentarfilmer Halil Uysal starb 2008 während den Dreharbeiten zu einem anderen Film bei Gefechten mit der türkischen Armee (ebenso wie weitere Crewmitglieder).

[16] Die KPD Irak (Partîya Demokrata Kurdistanê - PDK) wurde im April 1946 durch Mustafa Barzani im iranischen Kurdistan in Zusammenhang mit der Entstehung einer kurdischen Republik in Mahabad, die weniger als ein Jahr existierte, gegründet. Nach dessen Tod übernahm 1979 Masud Barzani die Führung. Die KDP gilt als konservative Partei, die im Wesentlichen die Interessen der Stammes- und Clangesellschaft vertritt. Sie ist die zweite große Kurdenfraktion im Nordirak neben der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die 1975 aus einer Abspaltung der KPD unter Führung von Dschalal Talabani hervorging. Mit Unterstützung von Saddam Hussein kämpfte die KDP in einem Bürgerkrieg gegen die PUK, welche vom Iran unterstützt wurde. Zwischen den Konfliktparteien PUK und KDP im Irak kamen etwa 3000 Menschen ums Leben. Beide gemeinsam kämpften mit der Türkei im Oktober 1992 im "Südkrieg" gegen die PKK. Die KPD und die PUK führten in den 1990er Jahren zahlreiche Militäroperationen gemeinsam mit der türkischen Armee gegen die PKK durch. Zur Wahl eines Übergangsparlaments nach dem Irak-Krieg schloss sich die KDP mit der PUK, sowie weiteren kleineren Parteien, zur Demokratischen Patriotischen Allianz Kurdistans (auch Kurdische Allianz genannt) zusammen. Das Wahlbündnis gewann bei der Wahl am 30. Januar 2005 25,7 % und somit 71 von insgesamt 275 Sitzen in der irakischen Nationalversammlung.

[17] Amed ist der kurdische Name von Diyarbakir.


Bücher von Anja Flach:

Jiyaneke din - ein anderes Leben. Zwei Jahre bei der kurdischen Frauenarmee, Mezopotamien Verlag, Köln 2003

Frauen in der kurdischen Guerilla - Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis in der Frauenarmee der PKK, PapyRossa Hochschulschriften, Band 71, Köln 2007


Raute

Yasar Hür

Risse im Grund: Geschichte einer Revolution

Zuvor ein paar einleitende Worte. Nachdem ich erfahren hatte, dass noch Texte für die "Türkei-Ausgabe" der grundrisse erwünscht sind, mir jedoch die Zeit fehlte, um einen recherchierten Artikel zu verfassen, möchte ich nun mit einem Essay, einer Geschichte zu einem Thema beitragen, dass wohl meinen "Background" darstellt: die Linke aus der Türkei. Das meint tatsächlich nicht die Linke "in" der Türkei, sondern "aus" der Türkei, weil jener Background sich nicht jenseits des Bosporus abspielt, sondern im Hier, es ist der Ground für unzählige Linke aus der Türkei in Österreich.

Mit der Migration tausender Linker in Zeiten, wo es alle 10 Jahre traditionell zu einem faschistischen Putsch der Kemalisten in Ankara kam, begann eine politische Bewegung im Exil, die, anfangs noch motiviert, oftmals desillusioniert von der Kälte und Ratlosigkeit der Linken im Westen, schlussendlich als unteres Kleinbürger_innentum vor dem sich drehenden Dönerfleisch seine Lebenszeit absitzt, in notorischen Lokalitäten Nostalgien austauscht, wenn es gut kommt, wenige von ihnen, sich auf einer Großdemo gegen Kapitalismus, Rassismus mit damaligen Fahnen blicken lässt. Ihre zweite Generation, Kinder der politischen Migration, sind in etwa so politisch wie der Rest von Österreich, bisweilen kaum der Rede wert. Wer damals nicht flüchten konnte, aber auch nicht seine Augen verschloss vor dem, was unter erstarrter Mine zum Blick kam, das sich entsetzlich tief ansetze in der Erfahrung, fand sich in den Bergen wieder mit einer Schnellschusswaffe in der Hand und dem kollektiven Schwur bis auf den letzten Tropfen Blut jenen Staat und seine Herrschaftsapparatur zu bekämpfen, der eine ganze Generation zukunftsweisender Menschen, die in den 70er-Jahren zu Millionen die Straßen mit Hoffnung füllten, in ihrem jungen Blut ertränkt hatte...

Es folgt eine Geschichte, liebe Leser_innen der grundrisse, man betrachte sie als das, was sie ist, eine Geschichte, Story, die jedoch den Anspruch hat, geschichtlich zu sein, ein wenig Wahrheit der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die von einer Historie des Herrschaftlichen in desperate Gegenden verscharrt wurde; die Leichen liegen, damit der Gestank der Totengruft ihren versteckten Ort nicht verrate, mit Säure übergossen in den finster verschlossenen Brunnen von Cizre. Damit die Ereignisse die Gegenwart nicht berühren, die wesentlich noch dieselbe geblieben ist, soll die Gegenwart die Vergangenheit nicht ansprechen. Man möge bitte Folgendes aushalten, auch wenn die Sprache für das österreichische Gemüt zu "blumig" erscheinen könnte, möge man das Bild einer Wahrheit aushalten, die unsere ist, die des Menschen, der von dort aus noch immer um Befreiung schreit...


Risse im Grund: Geschichte einer Revolution

"Oh, Selam Yoldas! Wo seid ihr geblieben?! Unzählige Tage schon warten wir auf euch. Unsere Lage ist perisan, scheint ausweglos. Die Dörfer rund um uns wurden niedergebrannt, weil ihre Töchter und Söhne sich der Befreiung anschlossen, die Brandstifter haben uns umzingelt. Isoliert wie wir nun dastehen, haben wir weder die Kraft, die Brutalität der Armee aufzuhalten, noch die Mittel, die neuen Kämpfer zu versorgen, ihnen Bildung zu geben, geschweige die Organisation in der Bevölkerung voranzutreiben. Wenn wir im Schutze der Abenddämmerung den Munzur überqueren, um dort in unbekannten Dörfern Solidarität zu erhoffen, tragen die meisten von uns unter ihren Mänteln lediglich abgebrochene Äste, die den Anschein von Waffen erwecken sollen, ..." "Immer mit der Ruhe Yoldas, lass dich zuerst mal umarmen!" Sibel ist die bedachte Gelassenheit in Person. Seit die Organisation, die nach einer fünfjährigen Spaltung, sich wieder zusammengeschlossen hatte, wurde sie neben Lazo zur wichtigsten Person im obersten Gremium der Befreiungsarmee.

Die unendlichen Berge der Region kannte sie hervorragend. Als Tochter einer bekannten Imkerfamilie wurde sie immer öfter von der älteren Schwester Derya und deren Ehemann Yusuf, die den Honig des Familienbetriebs in ganz Dersim und darüber hinaus handelten, zu längeren Reisen mitgenommen. Entlang den klaren Bächen und wilden Flüssen, über das Grün der Weiden, durch das Dickicht der Wälder zu den entlegensten Orten menschlicher Oasen. Jede Reise bedeutete alle möglichen Hindernisse zu überwinden, ein Abenteuer folgte dem anderen, um schließlich in Symbiose mit der Natur neue Wege zu neuen Dörfern zu finden. Derya und Yusuf, das wusste Sibel nur allzu gut, ging es keineswegs um den Verkauf von Honig, das war nur eine vorgeschobene Ausrede. Sie liebten das Heimliche der Natur, die Bekanntschaft mit anderen Wandernden, freie Nomaden, ehrgeizige Händler, mystische Derwische, verliebte Musiker; und schließlich liebten sie das Kennenlernen, das Wiedersehen in den Dörfern, die sich sehr wohl des unentbehrlichen, seidenen Netzes bewusst waren, welches sie dank der Wandernden mit anderen Gemeinschaften verband. Auch wenn ihre heranwachsenden Augen immer wieder durch die Gewalt des Menschen zum empört erschrockenem Blick aufgerissen waren, der Zauber Dersims, das Staunen vor der Welt blieb Sibel zeitlos erhalten, machte die Gelassenheit ihres Wesens, das Vertrauen in eine gewisse Irrationalität, in den Moment, wo nach allem Irren in leidenden, beängstigenden Umgebungen der Weg, obwohl niemensch zuvor diesen begangen hatte, von Schritt zu Schritt immer klarer wird und beim Ankommen, bei der Vollendung der Bewegung es keines Rückblicks mehr bedarf, um in aller Deutlichkeit vor Augen zu haben, wofür man aufgebrochen war.

Das Außergewöhnliche, das Sibel ausmachte, bezeichnete eine ganze Generation von jungen Menschen dieser Region, die nun in die Großstädte wie Ankara, Istanbul, Izmir aufbrechen und sich in unterschiedliche Studien begeben, oftmals der Geisteswissenschaften, der Soziologie, Politikwissenschaften, Philosophie usw. und zurückkommen werden als zunächst naive Träumerinnen, die unendlich viele Lösungen für des Menschen Probleme gefunden hatten, doch von der Brutalität desselben Menschen empfangen wurden, von derselben Brutalität, die sie bereits als Grund der Probleme analysiert hatten. Als Sibel, die sich während des faschistischen Militärputsches in den Kulissen der Hörsäle politisierte, zusehen musste, wie einer nach dem anderen ihrer Freund_innen, Genoss_innen, die sie für ihre wohlwollende Menschlichkeit zutiefst bewunderte, in den Folterkammern des Regimes verstümmelt wurde oder ums Leben kam, als sie dann mit einem Herz, das ihr die Brust aus dem Körper zu schlagen drohte, die Zeitung in der Hand hielt, worin ein Staatsanwalt bestätigte, was über Ersin gesagt wurde, schloss sie sich den Partisanen an.

Ersin's Gesichtsausdruck, so sah ihn Sibel stets in Erinnerungen, die mittlerweile nur noch als Fragmente der Idealisierung memorierten, war voller Freude, seine Augen strahlten stets in einem herzlichen Lachen, sein witziger Charakter, der es mit schwarzem Humor oft übertreiben konnte. Wenn Sibel in Momenten des Streits sein Getue nicht mehr aushielt, attestierte sie ihm Überheblichkeit, warf sie ihm immer wieder vor, dies liege einfach daran, dass er als Einzelkind von seinen Eltern zu sehr verwöhnt, verhätschelt worden sei; es werde der Tag schon kommen, wo der Ernst des Lebens, von dem Sibel selbst bei Weiten nicht ahnen konnte, was dies zu bedeuten vermag, ihn belehren werde. Die versteckte, unsichere Liebe, die sich hinter dem Necken verbarg, kam zum Vorschein als die beiden sich nach einer langen, angenehmen Nacht, gestimmt von Alkohol und gemeinsamen Singen von arbesk, kitschigen bis freiheitlichen Liedern, in der Wohngemeinschaft Bahcivansokak zu einem Spaziergang bei Morgenröte am Bosporus entschlossen hatten. Der Horizont war zu sehr vom Nebel bekleidet, sodass die Sonne zu den Beiden nicht durchdringen konnte; doch die Gelegenheit konnte auf ein entsprechend romantisches Bild nicht abwarten, sie küssten sich, unbeholfen, in der Zurückhaltung roter Wangen, in der neugierig zarten Berührung der Lippen hallte die Tiefe einer unerklärlichen Leere, die wenige Wochen später in alle Teile Sibels stürzen würde.

Die Vorbereitungen zur Teilnahme der "Revolutionären Student_innen" an der größten 1.Mai-Demo, welche die Stadt Istanbul je erleben sollte, gaben keine weitere Gelegenheit für eine innige Zweisamkeit, stattdessen verlagerte sich das zärtliche Streicheln, Berühren, Begehren der Liebe auf flüchtig intensive Blicke, während Sibel ein dunkelrotes Tuch mit den Worten "Die freie Zukunft wird kommen!" zu einem Transparent gestaltete. Im Namen der herrschenden Klassen befürchtete das Militär die Revolution angesichts einer unendlich erscheinenden Menschenmenge, die sich am Taksim zum Tag der Arbeiter_innen sammelte, eine gesamtgesellschaftliche Überwindung forderte. Die Häuser der Stadt leerten sich auf die Straßen, feierten jene Zukunft auf dem Transparent willkommen.

Um das Geschehen aufzulösen, knüppelte die Polizei vergeblich von mehreren Seitengassen in eine unüberschaubare Masse, steigerte nochmals die Gewalt und schoss aus Maschinengewehren bis die gerade noch lebendigen Körper von vierunddreißig Demonstrant_innen schwer auf den roten Pflasterstein hinabstürzten, der bereits von ihrem eigenen Blut gefärbt war.

Die Zeit danach stand im Schatten des Ereignisses. Die Menschen waren aufgebracht, die Polizei setzte immer mehr Gewalt gegen die Bewegung ein, beauftragte oder unterstütze Faschisten, doch führte alles dies nur noch mehr zur Politisierung breiter Schichten der Bevölkerung. Das Parlament wurde schließlich für unfähig erklärt, zur Bewahrung der nationalen Sicherheit ein Krisenstab, die Militärjunta, eingesetzt, die meisten Gefangenen wurden entlassen, um die Strafanstalten mit politischen Gefangenen zu füllen. Tausende Menschen, die als zum "harten Kern" der Gefahr gehörend zusammengeworfen, konstruiert waren, wurden innerhalb weniger Tage zum Galgen geführt, mit dem Gewicht ihrer Körper am Strick ermordet.

Einer der hängenden Leichen, der noch keine 18 Jahre alt war, zuvor von einem Richter zur Volljährigkeit erhoben werden musste, damit alles sauber nach dem Recht verlief, erhoben auf den Stuhl des Rechts, der mit einem Tritt umfiel, plötzlich die Verbindung zum Boden verlor, das Gewicht am Strick scharf zuschnürte den Hals, luftlos, jeder panische Versuch der Hände sich zu lösen vergeblich, bis das hektische Zucken in den Beinen vom dunkelblauen Erstarren gänzlich erdrückt war, das tote Fleisch vom Galgen geschnitten und dem Imam zum Gebet am Fließband vorgelegt wurde. Mit "Nichts Besonderes, nur Kreatur" beruhigte sich der pflichtbewusste Imam auch bei diesem Körper und murmelte in aller Eile die heiligen Worte vor sich hin, welche die Gnade Allahs herbei beschwören solle; und dennoch konnte er sich diesmal nicht erwehren, für eine Sekunde in das außergewöhnlich junge Gesicht der noch lebendig wirkenden Leiche zu blicken. Es war das Gesicht von Ersin.

­...

Als Sibel in diesem Jahr nach Dersim kehrte, war die Kälte des Winters überstanden und der Frühling überbrachte dem Sommer seine schönsten Erscheinungen. Auf der Dachterrasse des Hauses blickte durchdrungen in die Weite des Horizonts, sah durch die Berge hindurch in all die Dörfer, die sie einst bereist hatte, fragte sich, was die Menschen während der Junta erleben mussten. Die Gedanken trugen sie immer wieder fort, obwohl sie versuchte, den Blick auf die Berge zu schärfen. Durch Hussein hatte sie in Erfahrung gebracht, dass eine Gruppe von Guerillakämpfer_innen, die seit ein paar Tagen in der Gegend war, zu ihnen ins Dorf kommen werde. Hussein kannte Sibel seit ihrer Kindheit. Oft hatten sie Reifen von Fahrrädern, die ihre Schwester von einer Handelsreise mitgebracht hatte, mit einem Stock die Straße entlang gerollt, bei der Kurve, am großen alten Baum angelangt, wo das Weitere zu steil wurde für das Spiel, sich stets gefragt, was das Fahrrad hier wohl gemacht hätte, ob es weiter gekommen wäre.

Hussein hatte seinen Militärdienst soeben beendet und verabscheute zutiefst die Machenschaften der Generäle, die Soldaten, welche ferngesteuert, ohne eine Sekunde nachzudenken, nachzufühlen, bereit waren, das Schrecklichste zu vollbringen. Ein Befehl während der Juntaherrschaft und auch noch danach genügte und sie zogen gleich durch die Straßen, brachen ohne Vorwarnung durch zerschmetterte Türen in Wohnungen ein, schlugen mit der Rückseite ihrer Gewehre kaltblütig auf die Gesichter der Menschen, sammelten alles ein, was in die Kategorie "Revolutionär" passen könnte und füllten damit das Gefängnis von Diyarbakir.

Hussein zog seine Waffe, sein Blut pulsierte so heftig, als würde es ihm gleich das Herz aus dem Leibe reißen, er drehte seinen Kopf weg zur Wand, sah, wie der Schatten seiner Hand zitterte, und drückte auf den Abzug, schoss sich, sicherheitshalber gleich zweimal, in den Fuß, damit er nicht mitarbeiten musste am Geschehen im Gefängnis, in der Hölle von Diyarbakir, das die gesamte Bandbreite menschlicher Fähigkeit zur Brutalität nochmals zur Schau stellte.

Es sei ein Unfall gewesen, erklärte er auf der Krankenstation, und verbrachte die Wochen mit Gedichten von Orhan Veli, "wäre ich doch ein Fisch in einer Flasche Raki", schrieb er auf die Wand neben seinem Kopfkissen. Sein Fuß war außergewöhnlich schnell verheilt, doch spielte Hussein vor dem Militärarzt den unfähigen Krüppel, der wiederum schrieb an seinen Vorgesetzten, dass dieser Soldat keine Tätigkeit mehr im Stehen ausüben könne. So wurde er zur Postabteilung abgestellt, wo er die Briefe und Telegramme nach ihren Empfängern zu sortieren hatte.

Manchmal brachte man ihm unter großem Gelächter Briefe von zwei naiven Gefangenen, denen versichert wurde, dass sie, wenn sie freiwillig den Penis des Soldaten bis zum Erguss bedienten, Briefe an ihre Familie, Freunde und Geliebten schreiben dürften. Diese Briefe, die in der Trauer um sie selbst Dokumente des Schreckens waren, kursierten vor Feierabend zum Vergnügen der Soldaten durch die Postabteilung:

"Liebe Schwester [...] Das Schlimmste war, als Mutter mich zum ersten Mal besuchen kam, mich gefragt hat, wie es mir geht, auf Kurdisch, so wie sie immer mit uns spricht. Die Warnung des Soldaten, sie solle damit sofort aufhören, sie sei in der Türkei und habe Türkisch zu sprechen, sonst gibt's heftig eine aufs Maul, konnte sie nicht einmal verstehen. Den wütenden Soldaten ansehend fragte sie mich: "Ey se va?" Und sie auf der einen Seite der Panzerscheibe, ich auf der anderen wurden blutig niedergeprügelt. [...] Sie durfte mich lange nicht besuchen kommen. Beim zweiten Mal, das unendlich schrecklicher war, sah sie mich nur an. Die ganze Zeit über sah sie mich nur an. Was hätte sie auch sagen können, da sie doch nicht Türkisch kann. Die Dauer der Besichtigung, 15 Minuten sah sie mich unter Tränen an, als wollte sie in einem fort sagen: 'Ah, mein Sohn, was ist das nur für eine Welt!'".

Sollte er verzweifeln angesichts der Berichte dieser Gefangenen oder angesichts der Lust am Leid, von der die ganze Militärjunta, das Herrschaftliche, getrieben war; Hussein wusste nur noch, dass er sich von hier befreien muss, für die Befreiung. Die restliche Zeit beim Militär verbrachte er damit, so viel Einsichten wie möglich über die Struktur und das Regelwerk des Militärs, des Staates zu sammeln. Er wusste, dass der bewaffnete Kampf im Entstehen war, den er mit internem Wissen über den Feind unterstützen wollte. Doch es sollte auch für ihn weiter gehen als lediglich eine Unterstützung.

An jenem Nachmittag schlossen sich Sibel und Hussein unter gemeinsamen Tränen der Guerilla, der Befreiungsarmee an.

Raute

BUCHBESPRECHUNGEN

Murat Uyurkulak: Zorn
aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Zürich: Türkische Bibliothek/Unionsverlag, 2008, 19,90 Euro


Die Revolution war einst eine Wahrscheinlichkeit, und sie war schön.

Mit diesem Satz beginnt Murat Uyurkulaks sprachgewaltiger Erstlingsroman, der 2002 in der Türkei unter dem Titel Tol - einem kurdischen Wort für Rache, Wut, Zorn - erschienen ist. Auf der letzten Seite des Buches findet sich dieser Satz in leicht veränderter, weniger vergangenheitsbezogener Form wieder.

"Wie schön ist die Revolution, wenn sie eine Wahrscheinlichkeit ist", dachte ich.

Dazwischen liegen über zwanzig Jahre, dazwischen liegt ein historisches Datum, das in der Türkei jeder/m ein Begriff ist: der 12. September 1980, der Tag des dritten Militärputsches in der Geschichte der Republik Türkei. Der 12. September 1980 stellt DIE Zäsur in der jüngeren türkischen Geschichte dar. Kaum ein Artikel zur Türkei - sei es zu Wirtschaftspolitik, Frauenbewegung, Widerstand in den Gecekondus - kommt ohne den Verweis darauf aus ... so auch in der vorliegenden Schwerpunktnummer der Grundrisse zur Türkei.

Dem Militär und der türkischen Rechten ist der Roman höchstwahrscheinlich ein Dorn im Auge, jene, die die offiziellen Parteigeschichtsschreibungen der linken Organisationen der 1970er und 1980er Jahre hochhalten, dürften jedoch auch nicht besonders glücklich damit sein. Zorn ist ein Stück wortgewaltiger Literatur, in dem die militante revolutionäre Linke im Mittelpunkt steht. Die Protagonisten sind jedoch keine disziplinierten Kader - ordentlicher, schön gefärbter, sozialistischer Realismus wird nicht geboten. Die Handlung ist bevölkert von versoffenen, verzweifelt gescheiterten, verrückt gewordenen Revolutionären. Heroisches Personal, jedoch auf eine kaputte Art - Desperados. Auf nahezu jeder Seite wird Alkohol in rauen Mengen getrunken. Dennoch: die eher anarchisch als militärisch-diszipliniert gezeichneten Charaktere sind durchaus liebenswert. Das Buch ist durchzogen von jenem Humor, der aus der Katastrophe erwächst. Das Ausmaß dessen, was der Militärputsch bedeutet hat und immer noch bedeutet, wird spürbar, der tiefe Staat[1] sichtbar.

Formal sehr dicht umgesetzt - bruchstückhaft, zerstückelt und durchaus auch ins Surreale abhebend - werden uns die Auswirkungen des Putsches, der Militärdiktatur übersetzt. Gerade die Lücken sprechen von den Traumata durch Folter, Gefängnis, Vergewaltigung, Verrat, Illegalisierung, Verfolgung und Mord ... und auch von der Sinn- und Orientierungslosigkeit des erzwungen unpolitischen Lebens danach. Nicht zuletzt geht es um die Wichtigkeit des Zeugnisablegens, des Schreibens, des Aufbewahrens und Weitergebens von Geschichte(n). Der türkischen Linken wird ein literarisches Denkmal gesetzt - ein Denkmal jedoch, das bereits eingestürzt ist, ein aus Trümmern zusammensetztes Denkmal für eine Linke, die den Untergang 1980 nicht kommen sah und sich noch (erst) zur Jahrtausendwende fragt (fragen kann), was sie denn falsch gemacht hat.

Die sind so anders, ich kann es dir gar nicht beschreiben. (Seite 311)

Besonders berührend gegen Ende des Romans die Entfremdung zwischen den alten Genossen und einer neuen Generation von Linken - die Orientierungslosigkeit der alten Linken nach dem gescheiterten bewaffneten Kampf, das Verrücktwerden an der Niederlage und am nicht Rache nehmen können für die dahin Gemetzelten, das die Welt nicht mehr verstehen, das in der Vergangenheit leben. Ganz verloren ist die verlorene Generation jedoch dennoch nicht. Den ganzen Plot hindurch baut sich größer und schneller werdend eine neue revolutionäre Welle auf. Am Schluss wird der Grat zum Revolutionskitsch überschritten, aber was heißt das schon? Ausblicke, die Hoffnung geben, geraten leicht kitschig ... das Rationale allein hat keine Perspektive, das Zynische und das Ewig-Besserwisserische schon gar nicht.

Ich verstehe nicht, was ihr gegen die Sache mit Diyarbakir habt. Was soll das heißen, die machen ihr Ding und wir das unsere? Es gibt nur ein Ding. (Seite 323)

Uyurkulak ist türkischer Türke, der Titel seines Romans kurdisch. Dies beeinhaltet neben der von ihm gegebenen Begründung, dass ihm das kurdische Wort Tol kraftvoller, eindeutiger, stärker und weniger vertraut erscheine, auch ein politisches Statement. Bei einer Lesung in Wien im Herbst 2008, die anlässlich des Erscheinens seines Romans auf Deutsch stattfand, beantwortete der Autor die Frage nach der seiner Meinung nach momentan drängendsten politischen Frage in der Türkei damit, dass die Linke endlich von ihrem Nationalismus weg kommen und eine klare Position zur KurdInnenfrage formulieren müsse.

Am Morgen rüttelte mich jemand wach. Der Rüttler rief ungeduldig: "Steh auf, Dichter, überall sind Leute auf der Straße, es gibt eine Revolution!" "Dann soll Asya nicht aus dem Haus gehen", sagte ich im Halbschlaf. Ich stand auf und verließ das Zimmer. (Seite 87)

Bald nach seinem Erscheinen 2002 entpuppte sich der Roman als Ereignis und machte den Schriftsteller Murat Uyurkulak quasi über Nacht in der Türkei bekannt. Zwei Gründe werden dafür im Nachwort angegeben. Tabubruch eins: die Geschichte der Türkei wird aus der Perspektive der revolutionären Linken geschrieben. Tabubruch zwei: Sexualität wird unverblümt dargestellt. Was zweiteres betrifft, so mag es wohl sein, dass die direkte Darstellung von Sexualität in der Türkei einer Sensation gleich kommt, das entzieht sich meinem Beurteilungsvermögen. Die Einbettung des männlichen Blicks auf Sexualität jedoch in eine Darstellung der militanten Linken, in der Frauen nahezu ausschließlich als Geliebte, Sterbende oder Monstren vorkommen und über keinerlei SprecherInnenposition verfügen, ist hart an der Grenze des Erträglichen und mitnichten etwas Neues. Spätestens beim doch sehr abgeschmackten Bild des Landes Türkei als Jungfrau erschien mir die Anstrengung, mich zum Weiterlesen zu überreden, schier unüberwindlich. Bei der Lesung in Wien von einer Frau aus dem Publikum darauf angesprochen, ob es in seinem Roman denn keine Frauenfiguren gebe, warum Frauen nur als Geliebte vorkämen, meinte Uyurkulak lapidar, er wisse um das Problem, könne aber nicht anders, da er Frauen nicht anders kenne. Das ist insofern erstaunlich, als Uyurkulak Jahrgang 1972 ist und somit mit der in den 1980er Jahren entstandenen türkischen Frauenbewegung aufgewachsen sein muss, die die einzige breite soziale Bewegung in der Zeit nach dem Militärputsch war und ihre Anfänge unter anderem aus der Auseinandersetzung der linken Frauen mit den patriachalen Strukturen in den eigenen Organisationen bezog (siehe die Artikel von ... und von ... in diesen Grundrissen). Es ist also keine unbeabsichtigte Nachlässigkeit, sondern dem Besprechungsgegenstand geschuldet, wenn in dieser Buchbesprechung die männliche Sprachform statt der gewohnten Binnen-I-Form dominiert.

Ich liebe Zorn dennoch, denn die Figuren des Buches sind mir merkwürdig vertraut, sie erinnern mich an junge türkische Linke in den 1980ern im inneren Exil an der türkischen Mittelmeerküste - wo der Alkohol in Strömen floss -, deren Fröhlichkeit etwas Verzweifeltes an sich hatte; sie erinnern mich an türkische Genossen im europäischen Exil, die am bewaffneten Kampf festhielten und dabei immer mehr in Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenenen Fraktionen der türkischen Linken selbst verstrickt waren; sie erinnern mich an türkische GenossInnen, die Verwandte, FreundInnen, Geliebte verloren haben, nach Jahren des Gefängnisses die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr wieder erkannten und noch heute Schwierigkeiten haben, einen Fuß auf den Boden der Realität zu kriegen; sie erinnern mich an türkische GenossInnen, die dem (religiösen) Wahn anheim gefallen sind; an GenossInnen, die mitansehen müssen, wie ehemalige Genossen zunächst Unternehmer und dann immer stärker Teil mafiöser Strukturen wurden; sie erinnern mich an alternde türkische Genossen, die sich in der Zusammenarbeit mit einer neuen Generation von linken Frauen und Männern immer noch als Revolutionsführer fühlen und nicht verstehen können, warum sie aufgrund ihres autoritären Verhalten aus linken Zusammenhängen rausfliegen ... und das gelegentliche Gefühl, von der Wirklichkeit überholt worden zu sein, ist mir selbst nicht fremd.

Buchbesprechung von Minimol


Anmerkung:

[1] "Tiefer Staat" ist ein in der Türkei gebräuchlicher Ausdruck für die hinter den offiziellen staatlichen Apparaten im Verborgenen liegenden Machtstrukturen, für die undurchschaubare und geheime Zusammenarbeit von Militär, Polizei, faschistischen Organisationen, Parteifunktionären, Unternehmerverbänden, Teilen von Regierungen und Verwaltungsapparaten, Geheimdiensten und Mafia.

Raute

Birgit Sauer / Sabine Strasser (Hrsg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus.

Wien: Promedia Verlag, 2008, 260 Seiten, 24,90 Euro


"(...) Die öffentliche Skandalisierung von Zwangsverheiratung und Genitalbeschneidung haben ohne Zweifel dazu beigetragen, Tabus zu brechen (...). Doch zeitigen rechtliche und politische Maßnahmen durchaus paradoxe Folgen. (...) Prohibitive Maßnahmen wie Heiratsbeschränkungen für MigrantInnen oder der Ausschluss von kopftuchtragenden Mädchen aus dem Bildungssystem[1] verstärken die soziale Ungleichheit und Diskriminierung von MigrantInnen und sie tendieren dazu, diese Gruppen als "anders", als gewalttätig zu stigmatisieren. (...) Welche Gefahren birgt der Gewaltdiskurs für die Betroffenen? Haben sie überhaupt eine Stimme in diesen Debatten, oder wird ihnen dieses Recht auf Interpretation, wird ihnen Deutungsmacht vielmehr abgesprochen? Und läuft nicht die Konzentration der wissenschaftlichen feministischen Debatte auf die Gewaltthematik Gefahr, die Viktimisierung von Migrantinnen zu reproduzieren?" (Sauer 51)

Kopftuchdebatte, Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde, Beschneidungen an weiblichen Genitalien. Seit einigen Jahren vermittelt der Mainstream-Diskurs den Eindruck, Gewalt gegen Frauen sei ein "traditionsbedingtes Kulturdelikt" - wohlgemerkt der Kultur von "Anderen" - und patriarchale Machtverhältnisse seien durch migrantische Communities nach Westeuropa importiert worden. Selbst Parteien, die sonst eher traditionelle Geschlechterverhältnisse propagieren, geben sich feministisch. So lautete ein Wahlslogan der österreichischen rechtspopulistischen FPÖ für die Wiener Landtagswahlen im Jahr 2005: "Freie Frauen statt Kopftuchzwang". Die damalige konservative österreichische Innenministerin Liese Prokop tönte in einem Interview mit der Wiener Stadtzeitung "Falter" im März 2005: "Deswegen müssen wir den moslemischen Frauen, die sich zu Hause schlagen lassen, beibringen, dass das bei uns anders ist." Feminismus von rechts? Feminismus, rassistisch gegen MigrantInnen in Anschlag gebracht? Migrantinnen als Objekte, die befreit werden müssen? Wer darf hier (nicht) öffentlich sprechen? Frauen mit Migrationshintergrund offensichtlich nur dann, wenn sie kein Kopftuch tragen und als authentische Zeuginnen für das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung von Frauen im Islam fungieren.[2]

In den insgesamt 16 Beiträgen des Sammelbandes "Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus" wird versucht, den Diskurs der vorgeblichen Frauenfreundlichkeit zu dekonstruieren, ihm differenzierte Analysen der widersprüchlichen Realität von Migrantinnen in den westeuropäischen Mehrheitsgesellschaften entgegenzusetzen, deren komplex verschränkte rechtliche Situation zwischen etwaiger Gewalt in der Familie, Familienrecht, Fremdenrecht und Erwerbsmöglichkeiten darzustellen sowie das komplizierte Verhältnis zwischen strukturellem Rassismus und Sexismus ein Stück weit zu entschlüsseln. Für die vorliegende Besprechung wurden fünf Beiträge herausgegriffen und näher behandelt, die sich einerseits vorrangig mit der Situation von Migrantinnen in Österreich beschäftigen und auch auf die Situation von Frauen in der Türkei verweisen sowie andererseits die Konstruktion des westeuropäischen Blicks auf das "Andere" (insbesondere den Islam) untersuchen.

"Gegen die Fallstricke in der Debatte um so genannte traditionsbedingte Gewalt gilt es, die spezifischen Gewaltformen gegen migrantische Frauen zu kontextualisieren, d.h. sie in der strukturellen Gewaltförmigkeit nicht nur der Minderheitsgruppe, sondern auch und vor allem der Mehrheitsgesellschaft zu verorten. Dies hat zur Voraussetzung, dass die Debatte um Geschlechtergewalt vom Kulturdiskurs entflochten werden muss." (Sauer 52)

Ferner müsse ein Kulturbegriff entessenzialisiert werden, der davon ausgeht, "dass in multikulturellen Gesellschaften abgeschlossene Kultur"kreise" unberührt und unbeeinflusst von anderen Kultur"kreisen" nebeneinander existieren. MigrantInnen hätten "ihre" Kultur aus einen fernen Land nach Westeuropa mitgebracht und schlössen sie hier von anderen Kulturen ab. Sie bleibe damit unverändert und unbeeinflusst durch das Leben in einer neuen Umgebung. Kulturen und mithin migrantische Gruppen seien zudem homogen. Differenzen und Konflikte innerhalb dieser Kulturen werden nicht gesehen." (Sauer 53) Demgegenüber steht eine Sichtweise von Kultur als dynamischen Prozess. Kulturen von MigrantInnen entstehen somit überhaupt erst im Zuge der Migration und der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft. Der statische Kulturbegriff hingegen trägt den Stempel des Orientalismus. Ein hegemonial westlicher Diskurs begreift gleichsam alle nicht-westlichen Kulturen als archaisch, gewalttätig und patriarchal. Das Eigene erscheint dagegen kultur- und traditionslos, neutral und somit universell - die westliche Moderne tendenziell gewaltlos. Der weibliche Körper wird benutzt, um die Höherwertigkeit und moralische Überlegenheit des Westens gegenüber nicht-westlichen Kulturen (insbesondere gegenüber dem Islam) zu demonstrieren.

Sawitri Saharso formuliert als Leitfrage ihres Beitrags die Frage "Ist kulturübergreifende feministische Solidarität möglich?" (Saharso 12) und stellt fest, dass Frauen aus Minderheiten als Schnittstellen in Abgrenzungsprozessen fungieren, da "(...) Genderbeziehungen sowohl von der Minderheiten- als auch von der Mehrheitsgruppe dazu verwendet (werden), um Gruppengrenzen zu markieren. Zusammengenommen schränken diese beiden Grenzmarkierungsprozesse Frauen aus Minderheiten in ihrem Versuch selbstbestimmter Emanzipation ein und erschweren Feministinnen die kulturübergreifende Koalitionsbildung." (Saharso 17)

So werden in Kulturen, die sich in der Migration als Minderheitenkulturen wiederfinden, Traditionen wiederbelebt, die davor eigentlich schon verschwunden waren, oder gar Traditionen neu erfunden, um die eigene Kultur gegen die Assimilation durch die Mehrheitsgesellschaft abzusichern. Spezifische "traditionelle" Gewaltpraxen entstehen oft erst durch den Migrationsprozess und werden durch interagierende Ausschließungsstrukturen und -diskurse der Mehrheitsgesellschaft geformt. "Geschlossene Grenzregime, die Beschränkung von Einwanderungsmöglichkeiten und die Privilegierung von Familiennachzug sind Strukturen, die eine Heirat zum Bestandteil eines Migrationskalküls jenseits von einer Wahl machen können." (Sauer 59) Konkret heißt das, dass immer rigider werdende Fremdenrechtsbestimmungen Zwangsverheiratungen von jungen Frauen fördern, da der Familiennachzug eine der wenigen legalen Möglichkeiten für Männer aus den Herkunftsländern zur Erlangung eines Aufenthaltstitels in der EU darstellt. Ferner erschweren aufenthaltsrechtliche Regelungen es Migrantinnen, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen, "wenn diese, wie in Österreich, eine selbständige Aufenthaltsgenehmigung erst nach fünf Jahren erhalten und damit ganz unmittelbar vom Ehemann abhängig sind." (Sauer 59) Re-Traditionalisierungen, die auf der Kontrolle von Frauen basieren, entstehen auch als Ergebnis von fehlenden Erwerbschancen. Soziale Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft entzieht Mädchen aus MigrantInnenfamilien die Möglichkeit zur Selbständigkeit, da sie ökonomisch abhängig bleiben. Ferner sind auch die westlichen Gesellschaften weit davon entfernt, frei von patriarchalen Geschlechterbildern zu sein, welche jene der Einwanderungsgruppen verstärken. "(...) In Bezug auf Geschlechtergewalt (geht es) viel weniger um kulturelle Differenz als vielmehr um Ähnlichkeit zwischen Einwanderungsgruppen und Mehrheitsgesellschaft" (Sauer 59).

Auch Tamar Çitak, Beraterin in der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie mit dem Schwerpunkt Migrantinnen, stellt in ihrem Beitrag fest, dass der Aufenthaltstitel nach wie vor eines der Haupthindernisse für Migrantinnen darstellt, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen. Zwar bekommen Frauen seit 2005 aufgrund einer gerichtlichen Einstweiligen Verfügung wegen Gewalt in der Familie ein weiteres Jahr Aufenthaltsrecht. Danach jedoch müssen Migrantinnen einen Einkommensnachweis sowie den Nachweis über eine "ortsübliche Unterkunft" für die Niederlassungsbewilligung erbringen. Da die meisten Migrantinnen in feminisierten Niedriglohnsektoren (oft mit nur geringfügigen Beschäftigungen) arbeiten, stellt dies eine schwere Hürde dar. "Sowohl für die Frauen als auch deren Kindern ist das traumatische Erlebnis der Gewalt in einer so erschwerten Situation kaum aufzuarbeiten. Dies erschwert darüber hinaus auch den Erwerb der deutschen Sprache. Die betroffenen Frauen sind also immer wieder mit einer enormen Existenzangst konfrontiert, muss doch ihre Aufenthaltsbewilligung jährlich verlängert werden. Dies sind prekäre Bedingungen, die einen effektiven Gewaltschutz für Migrantinnen verhindern, weil sie dadurch potenziell in der Abhängigkeit vom Ehemann verbleiben." (Çitak 154)

Wenn es also tatsächlich um die Veränderung patriarchaler Familienstrukturen und um die Stärkung von Migrantinnen gehen soll, müssen folgende grundlegende Bedingungen erfüllt sein: mehrjähriges Aufenthaltsrecht für Frauen unabhängig vom Ehemann mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Recht auf Sozialhilfe. Außerdem müssen zur Reduzierung der Zwangsheiraten sowohl Einreise als auch Aufenthalt für MigrantInnen beiderlei Geschlechts jenseits von Familienzuzug erleichtert werden. Die Haltung zu diesen Forderungen stellt meiner Ansicht nach einen sehr guten Indikator dafür dar, ob Diskurse über patriarchale Geschlechterverhältnisse ernst zu nehmen sind oder nur rassistisch gegen MigrantInnengruppen in Anschlag gebracht werden.

Zu ähnlichen Einschätzungen kommt Gamze Ongan aufgrund ihrer Praxis bei Peregrina. "Der Verein Peregrina wurde im Jahr 1984 unter dem Namen "Verein solidarischer Frauen aus der Türkei und aus Österreich" gegründet. In den 23 Jahren ihres Bestehens entwickelte sich die Organisation zu einem Bildungs-, Beratungs- und Therapiezentrum für Migrantinnen jeglicher Herkunft. Die Zielsetzung des Vereins besteht darin, in erster Linie Migrantinnen, aber auch ihre Familien bei der Bewältigung ihrer rechtlichen, psychischen und sprachlichen Lebenssituation in Österreich zu unterstützen."(Ongan 158) Seit 2005 "häuften sich die Anfragen an Peregrina bezüglich Zwangsverheiratung. Diese kamen aber in den seltensten Fällen von den betroffenen Frauen, die Schutz und Rat suchten. Eine alarmierte und besorgte Öffentlichkeit wollte Daten, Fakten, Geschichten über die Opfer der Zwangsverheiratungen hören." (Ongan 157) Der Verein wurde plötzlich prominent und für Medien und staatliche Stellen interessant. Freilich interessierte sich die Öffentlichkeit nicht sonderlich für die konkreten Fakten, die Peregrina zu bieten hatte. Niemand möchte zur Kenntnis nehmen, dass der Prozentsatz der Frauen, die Peregrina wegen Armut und aufenthaltsrechtlichen Problemen aufsuchen, weit höher ist, als jener der Migrantinnen, die aufgrund von Gewalt in der Familie in die Beratung kommen. "Es stellt sich für uns die Frage, was ausschlaggebend für die Rangordnung der Probleme ist. Reden wir vielleicht lieber über die Probleme, deren Ursprung wir den "rückständigen" Migrantinnen zuschreiben können? Solche, die vermeintlich nichts mit "uns" zu tun haben?" (Ongan 159) Seit 2007 existiert das Peregrina-Projekt "Bildungsberatung für Mädchen und junge Frauen aus der Türkei unter Einbeziehung ihrer Mütter". Aus diesem Projekt, dessen Ziel es ist, junge Frauen zu stärken, ergeben sich - jenseits von spektakulären Sensationsberichten - einige Einblicke in den Alltag und die Probleme von jungen Frauen mit Migrationshintergrund, die im Beitrag "Zuschreiben oder ernsthaftes Bekämpfen" von Gamze Ongan nachzulesen sind.

In der Türkei kämpft die seit den 1980er Jahren existierende Frauenbewegung um rechtliche Verbesserungen für Frauen und führt Öffentlichkeitskampagnen gegen Gewalt gegen Frauen, Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde durch. So wurden auf Betreiben der Frauenverbände jene Artikel des Strafgesetzbuches außer Kraft gesetzt, "die eine Strafmilderung für Vergewaltigung und Entführung von Frauen (...) vorsahen, wenn der Täter bereit war, sein Opfer zu heiraten. Diese Regelung ging davon aus, dass die Ehre der Frauen durch die Ehe wieder hergestellt würde und legalisierte in gewisser Hinsicht die Zwangsheirat." (Ongan 163)

Frauenorganisationen aus der Türkei legen Wert darauf, dass Zwangsverheiratung und Ehrenmorde erst durch die Initiative der türkischen Delegation ins Schlussdokument der UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking im Jahr 2000 aufgenommen wurden. Sie kritisieren weiters die in der EU übliche Zuschreibung von Zwangsverheiratungen, Ehrenmorden und Beschneidungen an weiblichen Genitalien zur islamischen Religion, da dies die Arbeit von Frauenorganisationen in islamischen Ländern unterminiert, die u. a. aus der Aufklärungsarbeit darüber besteht, dass weder Zwangsverheiratung noch Ehrenmord Gebote des Islams sind. (Ongan 165)

Auch in der Türkei herrscht ein Diskurs der Zuweisung von patriarchaler Gewalt an "rückständige" Kulturen. So sind die "Initiativen von KA-MER (Kadin Merkezi/Frauenzentrum) Diyabakir im kurdischen Gebiet der Türkei oder von WWHR (Women for Women's Human Rights) mit Sitz in Istanbul mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, da die "Gewalt im Namen der Ehre" nach dichotomen Mustern einerseits von Europa aus der Türkei zugeschrieben wird und andererseits innerhalb der Türkei in die östlichen Gebiete und dort vorzugsweise zu "den Kurden" verschoben wird." (Strasser 66) KA-MER ist mittlerweile in 23 Städten der ost- und südostanatolischen Regionen organisiert. Im Zuge ihrer Arbeit gegen Gewalt gegen Frauen "machte die Organisation die Erfahrung, dass Frauen einen gewissen Widerstand gegen ihre Arbeit zeigten, weil sie glaubten, die Verteidigung der Frauenrechte bedeute die komplette Ablehnung ihrer Kultur. Daher liegt der Arbeit von KA-MER der Grundsatz zugrunde: Feminismus ist für alle und jeder Frau ihr eigener Feminismus." (Ongan 165)

Kurdische Frauen verbrennen öffentlich rote Bänder, die Frauen bei der Hochzeit als Symbol der Ehrbarkeit und Unberührtheit umgebunden werden, unter dem Motto "Wir wollen niemandes Ehre sein". Auf einer Kundgebung der Frauenplattform Izmir im Jahr 2005 erklären kurdische Frauen: "Wie wollen weder für heilig erklärt noch vernichtet werden. Um der gesamten Gesellschaft mitzuteilen, dass wir für unser Recht auf Leben und für unsere Freiheit niemandes Ehre sein wollen, haben wir beschlossen, unsere Ehrbarkeit zu verbrennen."[3]

Auf dem Campus der Middle East Technical University in Ankara verkünden Aufkleber die gleiche Aussage: Ich bin niemandes Ehre! (Kimsenin namusu degilim!) Es geht hier offensichtlich "um die Kritik an der gesellschaftlichen Anerkennung der Kontrolle von Sexualität. Denn die andere Hälfte der Aufkleber im selben Stil verkündet provokant: Ich bin lesbisch und mitten unter euch! (Escinselim aranizdayim!)" (Strasser 75) Das Klischeebild der passiven Orientalin als hilfloses Opfer ihrer eigenen Kultur, das durch EuropäerInnen befreit und errettet werden muss, sagt mehr über die Überlegenheitsphantasmen in europäischen Köpfen, als über Geschlechterverhältnisse in nicht-westlichen Kulturen aus.

Buchbesprechung von Minimol


Anmerkungen:

[1] In Dänemark verbietet das Fremdengesetz seit 2002, EhepartnerInnen oder LebensgefährtInnen aus dem Ausland nachzuholen, wenn einer der beiden PartnerInnen unter 24 Jahre alt ist. In Großbritannien können StaatsbürgerInnen unter 18 seit 2003 nicht mehr für die Einreise von EhegattInnen von außerhalb der EU bürgen (jedoch schon ab 16 heiraten). In Frankreich ist das Tragen des Kopftuchs in Schulen und Universitäten generell verboten, in Deutschland in acht Bundesländern für Lehrkräfte.

[2] Die hierzulande bekanntesten sind die deutsch-türkische Soziologin Necla Kelek, deren beiden Bücher "Die fremde Braut" und "Die verlorenen Söhne" zu Bestsellern wurden, und die Rechtsanwältin Seyran Ates (Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können, 2007). Es liegt mir fern zu behaupten, dass der Islam frei von patriarchalen Machtverhältnissen wäre. Es geht hier darum, dass die bereitwillige Aufnahme und öffentliche Inszenierung durch Medien und Politik nur aufgrund der rassistischen Projektion von patriarchalen Geschlechterverhältnissen ausschließlich auf "Andere" funktioniert.

[3] Özgür Politika 25.5.2005; zitiert nach: Anja Flach, Frauen in der kurdischen Guerilla, Köln 2007, Seite 41

Raute

Ilker Ataç, Bülent Küçük, Ulas Sener (Hg.): Perspektiven auf die Türkei. Ökonomische und gesellschaftliche (Dis)kontinuitäten im Kontext der Europäisierung.

Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 2008, 363 Seiten, EUR 29.90


Durch die EU-Beitrittsdebatte ist die Türkei in den Fokus der medialen Debatten gerückt. Dabei stand und steht zwar oft die leidige Diskussion über "Islamisierung" und über die Grenzen Europas im Mittelpunkt (wo ist übrigens diese breite Debatte über die diese Grenzen angesichts der EU-Gefangenenlager für illegalisierte MigrantInnen in Libyen?), aber es gibt auch andere, ungleich sinnvollere Perspektiven auf die Türkei. Eine Vielzahl davon ist im vorliegenden Band versammelt. Nicht weniger als 15 AutorInnen beleuchten, in vier Kapitel gegliedert, die aktuellen Veränderungen sozialer und politischer Verhältnisse in der Türkei, dabei meist von neo-marxistischen oder poststrukturalistischen Theorieansätzen ausgehend. Als Einstieg in die Beschäftigung mit der Türkei ist der Sammelband wegen den oftmals spezifischen Zugängen zwar weniger geeignet, als "Update" und zur Aneignung aktueller Debatten - und als Ergänzung zu vorliegendem grundrisse-Heft erst recht - hingegen wärmstens empfohlen.

Bereits die Gliederung in vier Kapitel (1. Türkische Modernität und Projektionen auf den Westen, 2. Staat, Ökonomie und Arbeitsverhältnisse, 3. Kemalismus, Nationalismus und die kurdische Frage, 4. Geschlechterverhältnisse und feministische Politik) zeigt die thematische Breite der Beiträge. Um den ansonsten unvermeidlichen Aufzählungsmarathon bei der Besprechung von Sammelbänden zu vermeiden, möchte ich im folgenden lediglich je einen Beitrag aus jedem Kapitel herausgreifen und etwas näher betrachten.[1] Die dadurch entstehende implizite Wertung ist selbstverständlich subjektiv und soll zur Entdeckung der anderen Texte erst recht anregen.

Nach einer historisch-theoretischen Einführung durch die Herausgeber steht das erste Kapitel ganz im Zeichen methodologischer Zugriffe, vor allem hinsichtlich der diskursiven Konstitution bzw. Abgrenzung von "Ost" und "West". "Okzidentalismus: Die historische Fantasie des Modernen" von Meltem Ahiska ist dabei für manch anderen Artikel des Bandes grundlegend. Der darin entwickelte Begriff des Okzidentalismus ist weder als einfache Spiegelung des durch Edward Said geprägten Konzepts des Orientalismus zu verstehen noch als reine Entgegensetzung zu diesem. Vielmehr lotet Ahiska die räumlichen und zeitlichen Dimensionen jener Weisen heraus, in denen in der Türkei über den Westen und somit in Folge - und als "Gegenbild" - über sich selbst gesprochen wird. Dabei wird klar, dass in die Figur des "Westens" stets auch Elemente des imaginierten westlichen Blicks auf "den Osten" bzw. "die Türkei" mit eingehen. Im Zuge dessen wird, obgleich in abgrenzender Absicht, der westliche Blick selbst wieder bestätigt. Genau jene Bestätigung kann dann erneut zum Einsatz im Kampf um politische Hegemonie in der Türkei selbst werden, und zwar sowohl auf Seiten des politischen Islam (hier natürlich primär religiös, in Abgrenzung zu den christlichen Religionen konnotiert), als auch seitens des laizistischen Kemalismus.

Weiters zeigt der Text anhand der Diskussion über die Modernisierung bzw. "Zurückgebliebenheit" der Türkei gegenüber "dem Westen", welche Rolle dabei die zeitliche Dimension spielt. Da kritisiert Ahiska auch jene Ansätze, die gegen die vermeintliche Rückständigkeit der Türkei auf eine Analyse der "gleichzeitigen Zeit" im Rahmen von Modernisierungsprozessen setzen. Obgleich ein Fortschritt gegenüber starren eurozentristischen Fortschrittsmodellen, ist nicht sichtbar, wie die Besonderheiten der Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten und Regionen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems benennbar und somit auch kritisierbar werden können. Diese Aufgabe wird allerdings auch von Ahiska selbst nicht angegangen und so zeigt sich trotz des instruktiven Einsatzes des Okzidentalismus-Begriffes in kritischer Absicht wieder einmal aufs Neue, dass der Verzicht auf eine grundlegende Verknüpfung postkolonialer Repräsentationskritik mit der historischen Analyse kapitalistischer Vergesellschaftungsformen und globaler Klassenverhältnisse die Kritik ihrer Schärfe beraubt. So ist dem Autor in seinem Fazit zwar völlig zuzustimmen, dass die "drängendsten Probleme der heutigen Türkei - etwa wachsende Armut, Menschenrechtsverletzungen, Geschlechterungleichheit, ethnische Probleme und der politische Islam - [...] aufgeschoben oder schlicht undenkbar gemacht [werden] durch ihre okzidentalistische Verdrängung" (41), wie aber Gegenstrategien zu dieser Desartikulation sozialer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse aussehen können, bleibt im Unklaren. Ganz wurde ich beim Lesen des gesamten ersten Kapitels den Verdacht nicht los, dass der Diskurs über den EU-Beitritt selbst wie ein "bleierner Ruß"[2] über der Analytik türkischer Modernität liegt, was zwar bereits im Untertitel des Sammelbands selbst eingeräumt wird, jedoch andere Aspekte möglicher und notwendiger Herrschaftskritik etwas zu sehr in den Hintergrund treten lässt.

Das zweite und auch längste Kapitel beschäftigt sich mit dem Wandel von staatlichen und ökonomischen Verhältnissen in der Türkei. Der Text von Özlem Onaran über "Die Türkei in der globalen Ökonomie" und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse findet sich in einer überarbeiteten und erweiterten Version im diesem Heft, ich möchte mich aber im folgenden hier einem Beitrag widmen, der die Veränderung der Klassenzusammensetzung in der Schiffbauindustrie in Tuzla/Istanbul und die damit einhergehende massive Zunahme tödlicher Arbeitsunfälle analysiert. Drei Aspekte sind laut Asli Odman dafür maßgeblich: zum einen die Verlagerung der globalen Schifffahrtsindustrie von den europäischen Zentren in die globale Peripherie, vor allem der niedrigen Lohnkosten und miserablen arbeitsrechtlichen Situationen wegen, dann die Privatisierung und Konzentration der türkischen Schifffahrtsindustrie um Tuzla/Istanbul und drittens die radikale Informalisierung der Arbeit und damit einhergehend die Fragmentarisierung der ArbeiterInnen in diesem Bereich. Seit dem Abschluss der Privatisierung der türkischen Werften im Jahr 2000 und seit der Finanzkrise von 2001 wächst der Schifffahrtssektor in der Türkei enorm - und mit ihm die völlige Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und eben die Anzahl tödlicher Arbeitsunfälle. Letztere hat mittlerweile derartige Ausmaße erreicht, dass auch die bürgerlichen Medien gezwungen sind, darüber zu berichten und so eine gewisse Sensibilisierung der Bevölkerung erreicht werden konnte.

Dreh- und Angelpunkt der Problematik ist die Ausgliederung von rund 80 % aller Tätigkeiten und somit Beschäftigten (rund 30.000) in geschätzte 1.000 bis 1.500 Subunternehmen. Die verbliebene direkt bei den Hauptunternehmen angestellte Stammbelegschaft "genießt sozialstaatliche Garantien, geregelte Arbeitszeiten und eine relativ feste Arbeitsgarantie". (171) Für die entrechteten ProletarierInnen der Subunternehmen gilt nachgerade das Gegenteil, daher verwundert es auch wenig, wenn von 57 registrierten tödlichen Arbeitsunfällen 56 Arbeiter von Subunternehmen betrafen. Der Beitrag widmet sich aber auch den Wohnverhältnissen der meist innerhalb der Türkei migrierten Arbeitskräfte, ihren oft rassistisch motivierten Diskriminierungen im Alltag, der dahinter stehenden staatlichen Politik sowie jener der großen Unternehmerfamilien und last not least den gewerkschaftlichen Gegenstrategien und -mobilisierungen.

Die Stufenleiter der Subunternehmen und Subsubunternehmen (bis zum 5. Grad!) ermöglicht für die Hauptunternehmen eine totale Flexibilisierung des Arbeitskräfteeinsatzes und gleichzeitig eine enorme Stratifizierung zwischen den einzelnen Arbeitergruppen. Die in der Hierarchie ganz unten angesiedelten neuen Arbeiter sind dabei Unternehmer ihrer selbst, oft weder versichert noch beim Industrieministerium angemeldet - und müssen obendrein bei verspäteter Fertigstellung der zugekauften Leistungen Entschädigungszahlungen leisten. "Für die schmutzigsten und am niedrigsten bezahlten Arbeiten sowie die Schiffsreinigungsarbeiten werden Migranten aus den kurdisch- und arabischsprachigen Gebieten Ost- und Südostanatoliens [...] rekrutiert. Im Subklima von Tuzla kann man somit die Migrationshierarchie in Istanbul ablesen [...]." (172). Diese migrantischen Arbeiter leiden nicht nur unter völlig unzureichenden Wohnverhältnissen, sie werden darüber hinaus noch von höher in der Hierarchie angesiedelten Beschäftigten als Lohndrücker für die Abwärtsspirale in den Arbeitsverhältnissen verantwortlich gemacht.

Die alten Gewerkschaften wie zum Beispiel Dok-Gemi-Is standen und stehen den veränderten Verhältnissen völlig hilflos gegenüber: "Der letzte gewerkschaftliche Reflex von Dok-Gemi-Is war die Mobilisierung gegen die letzte Privatisierungswelle am Goldenen Horn im Jahr 2000." (174) Dementsprechend fühlt sich Dok-Gemi-Is lediglich den Stammbelegschaften in den Hauptunternehmen verantwortlich. Die linke, der DISK-Konföderation angehörende Gewerkschaft Limter-Is bleibt zwar mit einem Organisationsgrad von 8 % unter den staatlich geforderten 10 %, die offizielle Kollektivvertragsverhandlungen und Streiks ermöglichen, vielleicht ist es aber gerade wegen und nicht trotz dieser Tatsache, dass Limter-Is gewisse Erfolge sowohl bei der Organisierung von Arbeitskämpfen als auch in Sachen Bewusstseins-Schaffung in der Öffentlichkeit erreichen konnte. Gemeinsam mit WissenschafterInnen und ÄrztInnen wurde ein Bericht über die katastrophalen Arbeitsbedingungen erstellt, Protestaktionen vor dem Parlament in Ankara veranstaltet und im Februar 2008 schließlich - unterstützt durch ein breites Bündnis linker Gruppen, Berufsverbände und internationaler Gewerkschaftsstrukturen - ein zweitägiger de-facto-Streik zur Durchsetzung arbeitsrechtlicher Standards durchgeführt. Ob dies bislang zu einer existenziellen Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation geführt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Text von Asli Odman zeigt auf eindringliche Weise die Verknüpfung globaler kapitalistischer Transformationen mit der Entstehung nahezu rechtloser Zonen inmitten metropolitaner Regionen - und zudem wieder einmal die Notwendigkeit von organisiertem Widerstand gegen kapitalistische Zustände.


Verletzte Gemeinschaft

Am anderen, östlichen Ende Istanbuls liegt Esenyurt. Im Gefolge des Krieges zwischen der PKK und dem türkischen Staat zwischen 1993 und 1999 zerstörte die türkische Armee 3.438 (!) ländliche Siedlungen im Südosten der Türkei und vertrieb ihre BewohnerInnen. Esenyurt war einer der Orte, an denen sie ankamen. Die Anthropologin Nazan Üstündag zeichnet das Bild dieser wohl eigenartigsten urbanen Region; dies spiegelt sich bereits in den formalen Aspekten ihres Textes wider, der eben nicht nur ihrer ist: Vielmehr verkoppelt sie ihre von Psychoanalyse und Poststrukturalismus geprägten Beobachtungen unvermittelt mit Interviewpassagen mit "kurdischen vertriebenen Menschen", um so zu einem vielschichtigen Bild einer "verletzten Gemeinschaft" zu gelangen, das bei allen Schwierigkeiten und trotz aller erfahrenen Demütigungen Möglichkeiten "nicht-staatlicher Gemeinschaftswesen im urbanen Raum" (alle 254) aufblitzen lässt.

Sie zeigt die "kurdische Präsenz im Urbanen", jene unter größten Schwierigkeiten vor sich gehende Aneignung urbanen Raums durch Menschen, die von den Kampfjets und Panzern der türkischen Armee aus ihren agrarisch geprägten Gemeinschaften gerissen und an die Peripherie einer Stadt von zehn oder gar fünfzehn Millionen EinwohnerInnen katapultiert wurden. Ihr Kurdisch-Sein allein macht sie für den Staat zu Verdächtigen, zu flüchtigen Verdächtigen im Land ihrer eigenen Staatsbürgerschaft.

Aber nicht nur staatlicher und Alltagsrassismus konstituieren die Lebensverhältnisse der KurdInnen in Esenyurt, es sind auch und gerade die eigenen "Gesetze" der Gastfreundschaft, welche die allgegenwärtige Präsenz des Staates in Frage stellen: "Auch wenn viele der Anwohner(innen) Esenyurts die Geschichten der kurdischen Menschen nicht glauben und sie immer und immer wieder über ihre Vergangenheit aufragen, eröffnet ihre Eingelassenheit mit der kurdischen Sache und ihren Ideologien, die Bewältigung des Alltags und ihre geteilte Abhängigkeit von Materiellem wie Brot, Kopftuch und Herd grundsätzliche Möglichkeiten, Beziehungen zu etablieren, die nicht über die Präsenz des Staates vermittelt werden."(272) Wie aus dieser, durch Interviewpassagen mit Kurdinnen aus Esenyurt belegten Möglichkeit, eine konstituierende gemeinsame Macht jenseits staatlichen Zugriffs zu formen, auch eine politische werden kann, geht allerdings aus dem Text nicht hervor. Ein Prüfstein dafür wäre neben der Überwindung rassistischer Trennlinien wohl auch die Infragestellung herrschender Geschlechterverhältnisse.

Genau diese Infragestellung steht im Zentrum des den Sammelband auch beschließenden Beitrags von Bihter Somersan, "Geschlechterverhältnisse in der Türkei - Hegemoniale Männlichkeit und Frauenbewegung". Die Autorin zeichnet zunächst in groben Zügen die Geschichte der türkischen Frauenbewegung(en) nach, die bereits - obwohl vom herrschenden kemalistischen Diskurs verschwiegen - im Osmanischen Reich begann. Nach Gründung der Republik 1923 wurde die feministische Bewegung nach und nach in den Staatsapparat integriert - oder aber verboten. Nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1934 deklarierte "der Staatsfeminismus [...] die türkische Frau als emanzipiert und befreit. Die Phase von 1924 bis 1980 gilt als eine Lücke in der Frauenbewegung [...]." (346, Herv. i. O.)

Die zweite Frauenbewegung in der Türkei entstand nach dem Militärputsch von 1980 - und wohl auch als Gegenbewegung zur männlichen Dominanz in den linken Organisationen davor. Sie wurde zur "treibende[n] Kraft im Demokratisierungsprozess der Türkei" (ebd.), schon bald kam es allerdings erneut zu Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Bewegung zum Staat und zum "Staatsfeminismus", aber auch zwischen linken, kurdischen, islamischen und autonomen Frauen. Bereits Ende der 1980er Jahre begann die Ausdifferenzierung des türkischen Feminismus, was wechselnde Bündnisstrukturen zwischen den einzelnen Fraktionen allerdings keineswegs ausschloss. Die sexistischen Herrschaftsverhältnisse in drei zentralen gesellschaftlichen Bereichen waren es, die Mitte der 1990er Jahre linke, autonome und religiöse Feministinnen gemeinsam skandieren ließen: "Wir werden uns keinem Prediger (hoca), keinem Ehemann (koca) und keinem General (pasa) unterwerfen!" (vgl. 348)

Militarismus, sexuelle Gewalt und staatliche Diskriminierung, die patriarchale Struktur von Familie, Staat und allgegenwärtiger Armee waren - und sind - die zentralen Kampffelder, wenngleich in jüngerer Vergangenheit die Auseinandersetzung hauptsächlich auf juristischem Niveau stattfand. Angesichts der wunderbar zum neoliberalen Schwenk der türkischen Politik passenden Verschlechterungen im sozialstaatlichen Bereich - konkret die Verschlechterung in Sozialversicherungsbelangen bei unverheirateten Frauen, Witwen und arbeitenden Müttern - kam es jüngst zu breiten Bündnissen von Frauennetzwerken und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Aber auch 2005 konnte ein politischer Erfolg gefeiert werden, als sexuelle Gewalt gegen Frauen sowie Vergewaltigung in der Ehe endlich als "richtige" Straftatbestände anerkannt werden mussten, ebenso sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und häusliche Gewalt (vgl. 350). Feministische Netzwerke wie Amargi stellen in diesen Auseinandersetzungen wichtige Scharnierfunktionen zwischen verschiedenen Feminismen dar. Andererseits setzte gerade in den letzten Jahren eine verstärkte NGOisierung der türkischen Frauenbewegung ein, die aber selbst wiederum innerhalb der feministischen Szene kritisch betrachtet wird, wie ein eigener Artikel von Anil Al-Rebholz - "Zivilgesellschaft, NGOisierung und Frauenbewegungen in der Türkei der 2000er Jahre" zeigt. Aber den (und all die anderen Beiträge) müsst ihr schon selber lesen!

Fazit: Wenngleich ich mir etwas mehr soziale Bewegungen und Klassenkämpfe und ein bisschen weniger akademischen Diskurs gewünscht hätte und meines Erachtens jene Texte, die sich in Form und Inhalt vom gegenwärtigen Kanon kritisch-akademischer sozialwissenschaftlicher Analyse abheben, ruhig hätten stärker vertreten sein, führt im Rahmen einer ernsthaften Beschäftigung mit aktuellen Perspektiven aus und in der sowie auf die Türkei an diesem Buch kein Weg vorbei.

Buchbesprechung von Martin Birkner


Anmerkungen:

[1] Das Inhaltsverzeichnis sowie die Einleitung findet sich hier:
http://homepage.univie.ac.at/ilker.atac/Perspektiven.pdf

[2] "Der bleierne Ruß über dem Abendlande. Das negative Bild vom Westen im Denken der türkischen Konservativen" ist der Titel des zweiten Beitrags, verfasst von Tanil Bora.

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 10.06.09

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Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sondernummer sommer 2009, nr. 30
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
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E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2009