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GRUNDRISSE/025: zeitschrift für linke theorie & debatte, frühling 2010


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 33, frühling 2010


INHALT

Editorial

Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension!

Die Versammlung der afrikanischen ArbeiterInnen von Rosarno in Rom:
"Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel"

Martin Birkner:
Konferenzbericht: Energie, Arbeit, Krise und Widerstand

Alice Pechriggl:
Agieren. Aspekte und Psychotropen des Handelns

Robert Zion:
Eine spinozianische Grundlegung der Linken - Das ökonomische Tableau in Commonwealth
(Teil 1, der zweite Teil erscheint in grundrisse # 34)

Karl Reitter:
Kritische Bemerkungen zum Artikel von R. Zion "Eine spinozianische Grundlegung der Linken"

Robert Zion:
Anmerkungen zu Karl Reitters "Kritischen Bemerkungen zum Artikel von Robert Zion"

Philippe Kellermann:
Marxistische Annäherung an den Anarchismus?
Die Konjunktur leerer Gesten am Beispiel Wolfgang Fritz Haugs

AktivistInnen des Clandestina Network:
Barrikaden und Barrieren: MigrantInnen im "Griechischen Dezember" -
aus dem Englischen von Minimol (in Zusammenarbeit mit Birgit Mennel)

Karl Reitter:
Kritische Bemerkungen zum Marxverständnis von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth

Max Henninger:
Anmerkungen zu Fuzis Rezension von L'insurrection qui vient / The Coming Insurrection

Elisabeth Steger:
Buchbesprechung: Lucas Cejpek: Wo ist Elisabeth?

Elisabeth Steger:
Buchbesprechung: Eva Egermann, Anna Pritz (Hg.): Class works - weitere Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis

Torsten Bewernitz:
Buchbesprechung: Klassismus oder Klassenkampf?

Minimol:
Buchbesprechung: Giovanni Arrighi: Die verschlungenen Pfade des Kapitals

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Vorweg müssen wir uns bei unserem Autor Bahman Shafigh vielmals entschuldigen. In der letzten Ausgabe wurde sein Name falsch, ohne "h" geschrieben. Auf unserer Webseite (www.grundrisse.net) wurde dieser Fehler sofort behoben, für die Printausgabe der Nummer 32 ist dies rückwirkend leider nicht mehr möglich.

Alice Pechriggl untersucht in ihrem Text: Agieren. Aspekte und Psychotropen des Handelns den Handlungsbegriff im Spannungsfeld zwischen politischem Handeln, welches sich seiner Ziele und Motive bewusst, sowie des Agierens, welches von unbewussten Wünschen und Ängsten geleitet ist. Diese Thematik wird mit der Tatsache verknüpft, dass Frauen aus der Sphäre der politischen Dimension - als Frauen - ausgeschlossen werden. Robert Zion schlägt uns im Anschluss an das jüngste Buch von Hardt und Negri Common Wealth eine spinozianische Grundlegung der Linken vor. Dieser sehr umfangreiche Text musste geteilt werden, den zweiten Teil findet ihr in der nächsten Ausgabe der grundrisse. Die Spinoza Rezeption durch Robert Zion orientiert sich sehr stark an den Auffassungen von Deleuze. Gegen diese Interpretation der Philosophie Spinozas hat Karl Reitter einige kritische Bemerkungen verfasst. Robert Zion hat darauf kurz geantwortet. Diese Texte findet ihr im Anschluss an Zions Artikel. Philippe Kellermann untersucht in Marxistische Annäherung an den Anarchismus? die Auseinandersetzung mit anarchistischen Positionen durch Wolfgang Fritz Haug. Der Autor kommt zum Schluss, dass eine tatsächliche, ernsthafte Beschäftigung mit der anarchistischen Strömung keineswegs geleistet wird. Dies, obwohl vieles dafür spricht, den Konflikt zwischen Marxismus und Anarchismus als tendenziell obsolet zu überwinden.

Der Artikel Barrikaden und Barrieren: MigrantInnen im Griechischen Dezember von AktivistInnen des Clandestina Network hätte eigentlich schon in der vorherigen Ausgabe der grundrisse, dem Themenheft über Krise und globale Revolten, erscheinen sollen. Da jedoch einerseits unsere Übersetzungskapazitäten zu gering waren und wir andererseits der Studierendenbewegung aufgrund der aktuellen Ereignisse einigen Raum geben wollten, wurde sein Erscheinen auf diese Nummer verschoben. Die AutorInnen weisen darauf hin, dass der Text nun etwas veraltet erscheinen könnte, nicht in dem Sinn, dass er nicht mehr gültig wäre, sondern dahingehend, dass er sich nicht auf die momentan heißen Themen bezieht, im Besonderen was die Kämpfe um die Staatsbürgerschaft betrifft. Ebenso wird auf die gegenwärtigen heftigen sozialen Auseinandersetzungen in Griechenland nicht Bezug genommen. Dennoch beinhaltet dieser Text wichtige und für das Verständnis der aktuellen Situation nützliche Informationen.

In Kritische Bemerkungen zum Marxverständnis von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth setzt sich Karl Reitter mit der Darstellung des Marxschen Denkens auseinander, wie es im Vorwort und Nachwort des Sammelbandes Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts entwickelt wird.

Den Reigen der Buchbesprechungen eröffnet Max Henninger mit einer alternativen Sichtweise auf The Coming Insurrection: dieser Text wurde in der letzen Ausgabe von Fuzi besprochen. Elisabeth Steger rezensiert den Roman Wo ist Elisabeth? wie auch den von Eva Egermann und Anna Pritz herausgegebenen Sammelband Class works - weitere Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis. Torsten Bewernitz informiert in einer Sammelbesprechung über die neue Debatte um den Begriff des Klassismus und zeigt dessen Defizite und Verkürzungen auf. Den Abschluss bildet die Besprechung des Buches Die verschlungenen Pfade des Kapitals mit Texten von und Interviews mit Giovanni Arrighi, das nach dessen Tod posthum auf Deutsch herausgegeben wurde, durch Minimol.

Abschließend noch ein Ausblick auf die nächste Ausgabe: Neben dem zweiten Teil des Artikels von Robert Zion werdet ihr aller Voraussicht nach unter anderem auch einen längeren Text von Max Henninger Nach dem Operaismus sowie eine Analyse der aktuellen Situation im Iran durch Bahman Shafigh finden.

Aus aktuellem Anlass möchten wir euch auf einen Prozess aufmerksam machen, der weit über die unmittelbar darin Involvierten hinaus die Möglichkeit politischer Aktivitäten insgesamt bedroht. Am Dienstag, dem 2. März 2010, hat am Landesgericht Wiener Neustadt einer der größten politischen Prozesse der Zweiten Republik begonnen. Den Betroffenen wird vor allem die Bildung und Mitgliedschaft in einer Kriminellen Organisation vorgeworfen. Diese konstruierte Organisation soll für alle legalen und illegalen Aktionen mit Tierrechtsbezug seit den 1980er Jahren in Österreich verantwortlich sein. Mit diesem Gerichtsverfahren sollen auch die bereits eingeführten erweiterten und noch zu beschließenden neuen Überwachungsbefugnisse der Polizei legitimiert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh für eine erste Einschätzung des Prozessverlaufes. Der Ausgang dieses Prozesses wird jedoch jede Form der politischen Organisierung in Österreich maßgeblich beeinflussen.

Vorerst sind Prozesstermine bis Juni 2010 angesetzt, wobei jede Woche zwei bis drei Tage verhandelt werden soll. Es ist davon auszugehen, dass das in den ersten Wochen sicherlich bestehende große Interesse am Prozessgeschehen im Laufe der Zeit abflauen wird. Wir rufen daher dazu auf, das Landesgericht Wiener Neustadt über die ersten Prozesstage hinaus zahlreich zu besuchen, den Prozess zu beobachten sowie an den hoffentlich weiter stattfindenden Solidaritätskundgebungen in Wiener Neustadt und anderswo teilzunehmen.

Nähere und aktualisierte Informationen auf http://antirep2008.lnxnt.org

Wenn ihr diese Ausgabe der grundrisse in Händen haltet, wird der Bologna-Gipfel der europäischen BildungsministerInnen in Wien und Budapest sowie die Kampagne "Bologna burns" und der Gegengipfel voraussichtlich bereits vorbei sein. Wir hoffen, die Gipfel-Zeit von 11. bis 13. März war reich an heißen politischen Auseinandersetzungen!

Eure grundrisse-Redaktion

Raute

Seit einigen Monaten existiert ein Projekt, eine linke Organisierung mit gesellschaftlicher Bedeutung zu schaffen. Viele aus unserer Redaktion beteiligen sich daran aktiv. Nun gibt es eine erste gemeinsame Erklärung, die wir hiermit abdrucken. Mehr Informationen auf:
http://superlinke.blog.at/

Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension!

Dies ist ein Diskussionspapier, in dem es um die Frage nach Chancen und Möglichkeiten für eine neue linke Organisierung mit gesellschaftlicher Dimension geht. Die Diskussion ist aus der Unzufriedenheit mit den existierenden Strukturen der Linken hierzulande erwachsen, aber auch aus der Hoffnung gespeist, dass ein Neuanfang möglich, ja notwendig ist. Trotzdem ist unsere Diskussion zuallererst ein Versuch. Eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension kann nicht auf dem Reißbrett entworfen werden, sondern lebt von der Dynamik, die sie entfaltet.

Die Linke in Österreich 2010 - Stärken und Schwächen

Die radikale Linke ist heute meist in unterschiedlichsten Netzwerken tätig. Sie stellen insofern den "modernsten" Flügel der gesellschaftlichen Veränderung dar als sie die Überwindung des "klassischen Typus der Partei" (mit umfassendem Anspruch der Organisation aller Lebensbereiche) verkörpert. Die Vielfalt dieser Linken drückt sich u.a. durch Themenreichtum, Selbstverständnis, Geschlecht, Generation, Handlungsebene und -weise, Milieu aus.

Diese Stärke ist zugleich aber ihre Schwäche. Durch diese Ausrichtung besitzen diese Gruppen nämlich spezifisches Wissen und Erfahrung und organisieren sich oft ausschließlich nach den sie bestimmenden Parametern. Das kann einen reduzierten Szene-Blick fördern und engt oftmals so wohl hinsichtlich inhaltlicher wie organisatorischer Gesichtspunkte die Erweiterungsfähigkeit des eigenen Tätigkeitsbereichs ein.

Das reine Aneinanderfügen dieser Gruppen bedeutet dabei noch keine Erreichung gesellschaftlicher Bedeutung - es besteht die Möglichkeit, dass diese Summe die Summe ihre Teile nicht übersteigt (evtl. sogar verringert) und somit keine zusätzliche Dynamik erreicht werden kann. Umgekehrt bedingt das Verharren nur in separaten Strukturen die Gefahr, dass die eigene tendenzielle gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit aus der Innenperspektive nicht mehr ersehen und vor allem verändert werden kann. Der von uns angestrebten neuen Organisierung geht es also nicht nur um eine reine Koordinierung bestehender Initiativen, sondern um die Potenzierung emanzipatorischer Kräfte in allen Bereichen der Gesellschaft.

Warum eine neue Organisierung (und wie kann sie entstehen)?

Wenn der "Kommunismus die wirkliche Bewegung ist, welche den jetzige Zustand aufhebt" (Marx), so müssen Prozesse, die diese Aufhebung anstreben, im Hier und Jetzt stattfinden. Keine Organisation kann auf der politischen Ebene diese Prozesse ersetzen oder stellvertretend vollziehen. Eine Herangehensweise, in der Veränderungen nur durch vorherige Machtergreifung und -ausübung denkbar sind, lehnen wir genauso ab wie eine zynische Distanzierung vom politischen Handgemenge unter Betonung der reinen Lehre und der moralischen Überlegenheit.

Die Befreiung von Unterdrückungs und Herrschaftsverhältnissen kann unseres Erachtens nach aber nicht allein Ziel unseres Handelns sein, sondern muss im umfassenden solidarischen Umgang miteinander ihren Ausdruck finden. Die Überwindung herrschender Geschlechterverhältnisse, rassistischer Zuschreibungen und des Kapitalverhältnisses - also die Perspektive eines guten Lebens für alle - bedarf vor allem und ganz konkret des Eingreifens in Politik, Ökonomie, Medien, Kultur und Alltag. Es geht uns also um "Kritik im Handgemenge" und um das Produzieren und Vertiefen gesellschaftlicher Brüche. Es geht uns um den Aufbau von Formen nachkapitalistischer Vergesellschaftung wie um das Eingreifen in existierende Bewegungen zur Überwindung von Ausbeutung und Herrschaft - in allen Lebensbereichen!

Die Vorteile der kollektiven Organisierung über die Zusammenhänge hinaus, in denen wir individuell und/oder als Gruppen bereits jetzt tätig sind, liegt in der erhöhten Wahrnehmung größerer Strukturen, in der besseren Nutzung gemeinsamer Ressourcen, in einer relevanteren Mobilisierungsfähigkeit, in der Möglichkeit eines breitenwirksamen publizistischen Auftretens, in der besseren Koordinierung von Aktionen und Kampagnen.

Wir erkennen hierin die Chance, über gezielte Interventionen und Debatten die kritische Schwelle der "gesellschaftlichen Dimension" zu durchbrechen und auch in den zyklischen Flauten sozialer Bewegungen für die Sichtbarkeit und Diskussion von Alternativen zu sorgen!

Je mehr Gruppen, Initiativen und Individuen dieses Projekt unterstützen, desto mehr Personen werden sich dafür interessieren. Alle AkteurInnen bringen ihr Wissen und Kontakte, ihre Forderungen und Erfahrungen ein - es liegt an der Plattform selbst, hieraus Dynamik zu entwickeln.

Keinesfalls entsteht die Organisierung als Wahlinitiative. Zwar kann sich die Organisierung nicht unpolitisch zu Wahlen verhalten, doch wird sie sich unter keinen Umständen auf Minderheitenfeststellungen einlassen.

Wofür will die Organisierung stehen?

Für ein gutes Leben für alle! Es gibt keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz! Für ein Gemeinwesen frei von Kapital, Ausbeutung und Staaten, frei von geschlechtlichen Zuschreibungen, rassistischen Zumutungen und subjektiven Zwangsverhältnissen.

Gegen das Kapitalverhältnis zu sein, beinhaltet die Kritik und angestrebte Abschaffung von Lohnarbeit, Privateigentum an Produktionsmittel, Grundeigentum sowie sexistischer und rassistischer Modi der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Klar ist auch, dass Geschlechterhierarchien und Rassismus nicht auf das Kapitalverhältnis reduziert werden können. Alle Formen herrschaftlicher Vergesellschaftung gilt es zu überwinden.

Die Funktion unserer Organisation wäre es, all jene im Prozess der Selbstermächtigung zu unterstützen, die mit der gegenwärtigen autoritären und ausbeuterischen Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft zusammenstoßen. Unsere Aufgabe ist es, ihre Erfahrungen zu verallgemeinern, sowie die Bedingungen und Ursachen einer umfassenden Kritik zu unterziehen. Sinnvolle Aktionen sind daher immer solche, die auch Selbstvertrauen, Autonomie, Initiative, Teilnahme, Solidarität, egalitären Tendenzen und Eigenaktivität in sozialen Auseinandersetzungen stärken.

Aus unseren Aktivitäten, Diskussionen und Analysen ist eine Programmatik zu entwickeln, die der Vielfalt unseres Denkens und Handelns gerecht wird und gleichzeitig eine Perspektive kollektiver Veränderung in den Blick nimmt. Startpunkt hierfür ist unser gemeinsames Experiment und nicht eine von allen in allen Punkten geteilte "Weltanschauung".

Wie könnten die Strukturen aussehen?

Verbindlichkeit ist nötig, um kontinuierliche politische Tätigkeit zu entwickeln. Deshalb soll es persönliche Mitgliedschaften geben. Zwecks Verfügbarkeit notwendiger Infrastruktur sollen auch Mitgliedsbeiträge eingehoben werden. Doppelmitgliedschaften sind dabei selbstverständlich möglich. Wichtiger Aspekt unserer Organisierung soll insbesondere eine Offenheit gegenüber all jenen Leuten sein, die auf Grund ihrer Lebensumstände nicht regelmäßig an unseren Aktivitäten teilnehmen können. Wichtig ist, dass die Partizipationsmöglichkeiten aller Individuen gefördert und unterstützt werden sollen, sodass sich eine Struktur der Entfaltung und nicht eine des gegenseitigen Verhinderns und Misstrauens entwickeln kann. Mehr als formaler Regeln braucht die Kultur des solidarischen Umgangs eine Grundhaltung, die auf Akzeptanz baut.

Die Bekämpfung von Machtasymmetrien - insbesondere in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, rassistische Zuschreibungen oder jene zwischen "Insidern" und Außenstehenden - kennt keine Patentrezepte! Ständige gemeinsame Reflexion sowie die Anwendung unterschiedlicher Formen herrschaftsvermeidender Kommunikation bedeuten deshalb wichtige Hilfestellungen.

Da die linke, eine größere Öffentlichkeit erreichende Publizistik völlig am Boden liegt, sehen wir den Handlungsbedarf, ein derartiges Medium (das Debatten innerhalb der Organisierung widerspiegelt, unsere Aktivitäten bekannt macht, in Bewegungen interveniert sowie Gesellschaftsanalysen "bietet") zu entwickeln.

Raute

"Die Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel"

Im Jänner 2010 kam es in der Kleinstadt Rosarno im Süden Italiens zu pogromartigen Ausschreitungen gegen vor allem aus Subsahara-Afrika stammende ArbeitsmigrantInnen. Die Parallelen zu der viel zitierte Region Almeria in Südspanien sind frappant: Überausbeutung von migrantischen ArbeiterInnen in der industriellen Landwirtschaft (im Fall von Rosarno handelt es sich um Mandarinen- und Orangenanbau) struktureller Rassismus und Illegalisierung bestimmen die soziale Realität beider Regionen. Im folgenden drucken wir das Manifest der migrantischen ArbeiterInnen von Rosarno ab, die sich gegen die rassistischen Angriffe wehrten. Weitere Informationen (in italienischer Sprache) auf http://www.globalproject.info/

An diesem Tag, dem 31. Januar 2010, haben wir uns getroffen, um die Versammlung der afrikanischen Arbeiter von Rosarno in Rom zu bilden.

Wir sind die Arbeiter, die gezwungen wurden, Rosarno zu verlassen, nachdem wir unsere Rechte gefordert haben. Wir arbeiteten unter unmenschlichen Bedingungen. Wir lebten in verlassenen Fabrikhallen ohne Wasser und Elektrizität. Unsere Arbeit wurde schlecht bezahlt. Wir haben unsere Schlafplätze jeden Morgen um 6 Uhr verlassen und sind nicht vor 20 Uhr zurück gekommen für 25 Euro, die nicht immer in unseren Taschen landeten. Manchmal schafften wir es nicht einmal, nach einem Tag harter Arbeit überhaupt bezahlt zu werden. Wir kehrten mit leeren Händen zurück, die Körper gebeugt vor Müdigkeit. Wir waren seit mehreren Jahren Objekte von Diskriminierungen, Ausbeutung und Belästigungen jeglicher Art. Wir wurden tagsüber ausgebeutet und nachts gejagt durch die Kinder unserer Ausbeuter. Wir wurden geschlagen, belästigt, angesehen wie Tiere, ... entführt - jemand von uns ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Man hat auf uns geschossen, zum Spiel oder im Interesse von jemandem - wir haben weitergearbeitet. Mit der Zeit wurden wir leichte Zielscheiben. Wir konnten nicht mehr. Diejenigen, die nicht durch Schüsse verletzt worden waren, waren in ihrer Würde, in ihrem Stolz, Menschen zu sein, verletzt. Wir konnten nicht mehr auf eine Hilfe warten, die nie kommen würde, weil wir unsichtbar sind, wir existieren nicht für die Behörden dieses Landes. Wir haben uns sichtbar gemacht, wir sind auf die Straße gegangen, um unsere Existenz hinaus zu schreien. Die Leute wollten uns nicht sehen. Wie kann jemand, der nicht existiert, demonstrieren? Die Behörden und die Ordnungskräfte sind gekommen und sie haben uns aus der Stadt deportiert, weil wir nicht mehr in Sicherheit waren. Die Leute aus Rosarno haben sich bereitgemacht, uns zu jagen, zu lynchen, dieses Mal organisiert, in wirklichen Menschenjägergruppen. Wir wurden eingesperrt in Haftzentren (geschlossenen Lagern) für Einwanderer. Viele sind dort noch, andere sind nach Afrika zurückgekehrt, andere verstreut in einigen Städten des Südens.

Wir, wir sind in Rom. Heute sind wir ohne Arbeit, ohne Schlafplatz, ohne unser Gepäck, unsere Löhne immer noch ungezahlt in den Händen unserer Ausbeuter. Wir sagen, dass wir Akteure des wirtschaftlichen Lebens dieses Landes sind, dessen Behörden uns weder sehen noch uns hören wollen. Die Mandarinen, die Oliven und die Orangen fallen nicht vom Himmel. Es sind Hände, die sie pflücken. Wir hatten es geschafft, eine Arbeit zu finden, die wir verloren haben, weil wir ganz einfach gefordert haben, wie Menschen behandelt zu werden. Wir sind nicht als Touristen nach Italien gekommen. Unsere Arbeit und unser Schweiß nützen Italien wie sie auch unseren Familien nützen, die große Hoffnungen in uns gesetzt haben. Wir verlangen von den Behörden dieses Landes, uns wahrzunehmen und unsere Bitten zu hören: Wir fordern, dass die humanitäre Aufenthaltserlaubnis, die den 11 in Rosarno verletzten Afrikanern zugestanden wurde, auch uns allen, die wir Opfer von Ausbeutung und unserer irregulären Situation sind, die uns ohne Arbeit lässt, verlassen und vergessen auf der Straße, zugestanden wird. Wir wollen, dass die Regierung dieses Landes ihre Verantwortung übernimmt und uns die Möglichkeit garantiert, in Würde zu arbeiten.

Die Versammlung der afrikanischen ArbeiterInnen von Rosarno in Rom

Raute

Martin Birkner

Konferenzbericht: Energie, Arbeit, Krise und Widerstand

Graz, 22.-24.1.2010

Leitende Intention der Konferenz war, ForscherInnen und (Umwelt)AktivistInnen aus den Bereichen der Basiskämpfe um erneuerbare Energien mit GewerkschafterInnen aus energieintensiven Sektoren zusammenzubringen, und aus der Perspektive der internationalen Klassenkämpfe und der sozialen Bewegungen die Probleme und Herausforderungen einer künftigen nichtkapitalistischen und nachhaltigen Globalgesellschaft zu diskutieren. Die rund 50 Teilnehmenden waren dementsprechend aus äußerst unterschiedlichen Zusammenhängen versammelt: Der südkoreanische Autogewerkschafter traf auf die Umweltaktivistin aus Kolumbien, der bundesdeutsche linke Verkehrsexperte auf Grassroot-Alternativ-Energie-AktivistInnen ...

Aus der Konferenz-Ankündigung: "Energie ist eines der wesentlichen Produktionsmittel der Weltökonomie und zugleich essentiell für ein nachhaltiges Leben. Daher ist Energie ein Schauplatz von Kämpfen und Ungleichheiten. Das Weltenergiesystem steht am Rande von großen Veränderungen, und dadurch eröffnet sich ein Feld der Möglichkeiten. So wie sich dieser Prozess der Veränderung, der noch am Anfang steht, beschleunigt und intensiviert, werden sich die Kämpfe darüber, wer den Sektor kontrolliert und für welche Zwecke Energie produziert wird, intensivieren. In den letzten Jahren hat es in diesem Bereich zunehmend Spannungen gegeben, und nun brechen diese offen aus, und werden sich im Zentrum der nächsten Runde des globalen Klassenkampfs befinden."

Die Konferenz in den Räumlichkeiten des steirischen KPÖ-Bildungsvereins war nicht nur wegen ihrer vielfältigen internationalen und sektorialen Zusammensetzung bemerkenswert, sondern auch aufgrund der reflektierten und bemerkenswert solidarischen Form der Diskussion. Ich hätte mir zwar manchmal etwas noch schärfer akzentuierte Auseinandersetzungen gewünscht, dennoch wurden sowohl die Gemeinsamkeiten als auch mögliche Bruchstellen deutlich und somit auch diskutierbar. Dass die Gewerkschaften des Nordens gewisse Probleme mit der Auseinandersetzung mit erneuerbaren Energien haben ist nichts Neues, zumal wenn es um die Bewahrung von Arbeitsplätzen für die von ihnen mehr oder weniger vertretenen ArbeiterInnen geht. In mancher Auseinandersetzung wurde jedoch deutlich, dass auch GewerkschafterInnen nicht gleich GewerkschafterInnen sind. So argumentierte ein über Skype-Schaltung teilnehmender Funktionär einer kolumbianischen Kohlegewerkschaft äußerst beeindruckend die Notwendigkeit, binnen 10 Jahren aus der Kohleförderung auszusteigen, und dass in einem Land mit den riesigen Kohle-Tagbau-Bergwerken! Der Vorsitzende der südafrikanischen Metallarbeitergewerkschaft wiederum warnte vor einem Energieimperialismus des Nordens, der seinen Bedarf an sauberer Energie aus den Regionen des Trikont stillt und obendrein den Ländern des globalen Südens die Bedingungen ihres Wachstums unter "grünen" Vorzeichen diktiert.

Aber auch Betriebsbesetzungen als Strategien eines nachhaltigen Wandels wurden verhandelt. Ein britischer Forscher erinnerte an das - letztlich gescheiterte - Projekt der an gesellschaftlicher Nützlichkeit umorganisierte Produktion in den besetzen Lucas-Aerospace-Fabriken im Britannien der 1970er Jahre und stellte seine Visionen eines konsequenten Umstiegs auf 100% erneuerbare Energien vor, eine AktivistIn aus Kolumbien wiederum berichtete von den Kämpfen der unter unsäglichen Arbeitsbedingungen scheinselbständig Beschäftigten Landarbeitern in der Bio-Treibstoff-Industrie und die enorme Lebensgefahr, die in Kolumbien mit gewerkschaftlicher Tätigkeit einhergeht. Seit 1986 wurden in Kolumbien über 2.700 GewerkschafterInnen ermordet.[1]

Den theoretischen Rahmen bezog das Seminar aus dem Ansatz des autonomen Marxismus.[2] So wurde eine Klammer geschaffen, die es ermöglichte, die oben angesprochenen Probleme vor dem Hintergrund der Notwendigkeit kollektiver Aneignung von Commons zu diskutieren. Diese Gemeingüter liegen potenziell außerhalb des kapitalistischen Zugriffs und müssen sowohl durch die Communities als auch über die Kämpfe der entlohnten und nicht-entlohnten ArbeiterInnen (wieder)angeeignet werden. Diese Strategie der Commons soll die erneute kapitalistische Enteignung, diesmal jene der erneuerbaren Energien (wie z.B. derzeit akut, als "Bio"-Treibstoffe), verhindern und Perspektiven eines nachhaltigen globalen Kommunismus eröffnen. So stellte der Ökonom Massimo De Angelis in seinem Referat die Notwendigkeit heraus, die Diskussion um Energie nicht als Input- und Outputfaktoren technizistisch misszuverstehen, sondern als umkämpftes, gesellschaftlich strukturiertes Terrain, als soziales Verhältnis, welches nicht losgelöst von Klassenverhältnissen und der globalen Arbeitsteilung existiert.

In den Diskussionen entwickelten sich zwei zentrale Widerspruchslinien: Zum einen, und bei der Konferenz nicht umstritten, der Kampf gegen internationale Konzerne sowohl der energieintensiven Industrien (allen voran die Fahrzeugindustrie) als auch der privaten Aneignung von Energie-Commons (durch Öl-, Bergbau-, Wasser- und Energiekonzerne, etc.), zum anderen die nicht selten divergierenden, wenn nicht gegensätzlichen Interessen innerhalb der globalen ArbeiterInnenklasse, zwischen kolumbianischen ÖlarbeiterInnen und Indigen@s, Beschäftigten in der Automobilindustrie und Grassroots-Öko-AktivistInnen. So sehr das zumindest teilweise gemeinsame Agieren seit der "Battle of Seattle" 1999 ein neues Verständnis von Zusammenarbeit dieser verschiedenen Sektoren der globalen ArbeiterInnenklasse geöffnet hat, so viel gibt es doch noch zu tun bzw. zu erstreiten. Die Notwendigkeit einer Suche nach gemeinsamen Strategien steht jedenfalls außer Frage, geht es doch um nicht weniger als zu verhindern, dass der Ausweg aus der Krise in einem Pseudo-Green-New-Deal besteht, der letztlich wiederum auf dem Rücken aller ArbeiterInnen, der Umwelt und des globalen Südens ausgetragen wird.

Nicht zuletzt in dieser Dringlichkeit liegt die Bedeutung des Grazer Kongresses. Eine Fortsetzung in einer deutlich größeren Dimension ist unter dem etwas gar braven Motto "Eine andere Energie ist möglich!" für Mitte/Ende 2011 geplant - hoffentlich dann nicht unter weitgehender Ausklammerung der Gender-Dimension, die gerade bei der Diskussion um Gemeingüter einen zentralen Raum einnehmen soll und muss. Debattenbeiträge und nähere Informationen über die Diskussionen und TeilnehmerInnen sind unter
http://bildungsverein.kpoe-steiermark.at/energy-seminar.phtml abrufbar. Als weitergehende Lektüre ist das in Kürze erscheinende Buch "Sparking a Worldwide Energy Revolution" (Ak Press), herausgegeben von Kolya Abramsky, der auch die Konferenz maßgeblich vorbereitet hat, nachdrücklich zu empfehlen.


[1] Interessante Hintergrundinformationen finden sich unter
http://www.labournet.de/internationales/co/lebensgefahr.html

[2] Vgl. zu Geschichte und Entwicklung des autonomen Marxismus:
http://www.grundrisse.net/grundrisse18/martin_birkner_robert_foltin.htm

Raute

Alice Pechriggl

Agieren. Aspekte und Psychotropen des Handelns

Ich möchte mich der Frage nach Aspekten des Handelns widmen, die sich aus der Spannung zwischen Agieren im psychoanalytischen Sinn und Handeln im politischen Sinn ergibt, um sie auf einige ihrer Implikationen für feministische Theorie und Praxis hin zu erhellen. "Die Psychoanalyse ist nicht dazu da, uns - wie die exakten Naturwissenschaften - notwendige Ursache-Wirkungsverhältnisse anzugeben, sondern um uns Motivationsverhältnisse anzudeuten, welche grundsätzlich bloß möglich sind." schreibt Merleau-Ponty.[1] Die Untersuchung der Spannung zwischen Agieren und Handeln zielt genau auf diese möglichen Motivationsverhältnisse ab, insbesondere sofern sie aus einer Ethik und Handlungstheorie ausgeschlossen bleiben müssen, die auf der Kantschen Polarität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit sowie von Selbst und Anderen, gut und böse, Vernunft und Sinne, aktiv und passiv, etc. beruht.

Die Spannung zwischen Agieren und Handeln erscheint erst innerhalb eines handlungstheoretischen Rahmens, der den Handlungsbegriff nicht nur als vielschichtigen Komplex zwischen Psyche, Soma und Gesellschaft fasst, sondern diese Auffächerung der Schichten sowohl auf der ontologischen Ebene der Ursachen, Motivationen und Triebfedern als auch auf jener der Ziele ansetzt. In diesem Sinn ist Handeln in einer ersten Annäherung immer schon über- und unterdeterminiert, multipel bis widersprüchlich zweckgerichtet und in manchen Aspekten bar jeden Zwecks oder im Interesse von Niemand (outis), aber doch als gewollt erachtet oder zumindest erachtenswert.

Agieren im psychoanalytischen, also zuerst im Freudschen Sinn bezeichnet ein Tun, das sich seiner Motive und Ziele nicht bewusst ist bzw. als hysterisches oder neurotisches etwas erreichen zu wollen vorgibt, um "ganz andere", unbewusste und in das derzeitige Bewusstsein nicht einlassbare Wunsch-Ziele zu verwirklichen. Wichtig ist dabei der statische Charakter der Wunschvorstellung und der sie begleitenden Affekte, die miteinander in einem unbewussten psychoaffektiven Konflikt (oder Trauma) kristallisiert sind, um wieder und wieder ausgetragen und zugleich schon wieder in die sich vertiefenden Bahnung gelenkt zu werden; es geht dabei um Bahnungen, in denen die Affekt-Wunsch-Vorstellungsbündel phantasmatisch, gleichsam gespenstisch, lebendig gehalten werden. Demgegenüber steht am anderen Ende des semantischen Spektrums von agir (frz. tun, handeln) ein bewusstes, abwägendes und wirklichkeitsveränderndes bzw. -gestaltendes Beraten, Entscheiden und Umsetzen, das wir als explizite Politik charakterisieren, und das in dieser Weise mit der athenischen Demokratie zu sein und reflektiert zu werden begann. Die Dialektik von aktiv und passiv spielt in diesem Spektrum eine zentrale Rolle: was Freud Agieren nennt, ist aus der Perspektive der bewusst Handelnden eher ein Agiert- (oder Getrieben-) werden, ein Tun, welches das tuende Subjekt und ihm zugleich verbirgt, dass es nicht verlässlich das Kommando über seine Triebe und Triebschicksale hat.

"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden"[2] schreibt Marx.

Er meint hier wohl nicht so sehr die sozioökonomische Struktur als vielmehr das kollektive Imaginäre und von ihm nicht weiter ausgeführte psychopolitische Kategorien, sowie die Relevanz der sogenannten Leichen im Keller der Nationen. Sie sind, auch als in der idealisierenden Symbolik des Staates schillernde Repräsentationen, auf die in der Ungewissheit des Neuen so gerne zurückgegriffen wird, noch lange nicht begraben. Es war Marx durchaus bewusst, dass große Teile der Bevölkerungen über weite Strecken ihrer Geschichte nicht als Akteure sondern als Agierte der Eliten, ihrer Interessen, Wünsche und Gespenster zu fungieren scheinen, als Verschubmassen sozusagen. Zugleich war Marx der wichtigste Philosoph der verändernden Praxis. Nun mag eine zynische oder Nietzscheanisch inspirierte Wendung dieser Sicht auf die Deutung hinauslaufen, dass die sozialen Individuen, die ein Volk oder eine Klasse, Gruppe etc. konstituieren, das Schicksal, das sie kulturell, sozioökonomisch und vor allem politisch erleiden, nicht nur verdienen, sondern unbewusst wünschen, ja zumindest herausfordern. Ich werde auf diese nicht nur zynische Perspektive zurückkommen, aber wir finden sie, zumindest implizit, auch bei Marx und vielleicht in jedem Ansatz, der auf der Organisierung von als amorphe Verschubmassen verfassten Mengen zur Verwirklichung politischen Handelns und zur Veränderung des sozialen und politischen Machtgefüges beharrt.

Dass Frauen nun innerhalb unseres Kulturkreises dem Agitationsschicksal unter anderen Bedingungen und vielleicht auch weniger homogen unterworfen waren/wurden als etwa die Sklaven der klassischen athenischen Polis oder des beginnenden Kapitalismus, ist seit langem Gegenstand sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung. Eine Gesellschaft bzw. ein Kulturkreis, in denen Frauen traditionell als Andere/Fremde des politischen Raums, des organisierten Handelns und seiner institutionellen Strukturen betrachtet und gehalten wurden, bedarf nicht nur geschlechterkomplementärer Handlungstheorien (zumindest impliziter), sondern auch einer dazugehörigen Ideologie, spätestens wenn Frauen, aber auch Männer beginnen, diese Komplementarität und die ihr inhärenten Ausschluss- und Einschlussmechanismen in Frage zu stellen, zu verändern, zu bekämpfen etc.

Die psychoanalytisch inspirierte Analyse der Verinnerlichung von Herrschaftsstrukturen und -mustern für die (Nicht-)Subjektwerdung von Frauen als politische AkteurInnen eröffnete neue Perspektiven auf die Bedingtheiten der Frauen als Angehörige des "weiblichen Geschlechts" bzw. der Geschlechterklasse "Frauen". In der Ich-Bildung von Frauen gibt es verinnerlichte Konflikte, die sich aus ihrer Einfügung in einen Geschlechter- und Sexualitätsvertrag ergeben, der ihnen keinen imaginären Platz im Feld der expliziten Politik einräumt. Wie die Gesellschaft Frauen und Männer projiziert (im allgemeinen, nicht notwendig im Einzelnen, auf entsprechende weibliche und männliche Körper), so reproduziert sie sie auch als sich selbst zu reproduzierende, also als Individuen, die irgendwann von sich aus ihre Funktion und ihren narzisstischen Vertrag mit der Gesellschaft erfüllen.[3] Aulagnier bezeichnet damit eine Grundlage der Subjektwerdung des Menschen als nur in und durch die Gesellschaft anerkannter. Sie spricht von "énoncés du fondement" (Aussagen der Grundlegung), die zugleich die Grundlegung der Aussagen (fondement des énoncés) darstellen und die kulturphilosophisch genauer mit Castoriadis' zentralen imaginären Bedeutungen beschrieben wurden, sowie das gesamte darauf aufbauende Netz an Bedeutungen, weisen den Individuen einen über ihren Identifikationsprozess hinausreichenden und diesen zugleich begründenden Platz im Gefüge der sozialen Ordnung zu. Aus diesem Vertrag können sie nur um den Preis der psychischen wie auch existenziellen Desintegration ausgeschlossen werden oder aussteigen. Das heißt nicht, dass es in Aulagniers Konzeption keine Abänderungs- und kreative Freiheitsräume für die Einzelnen oder für von der heiligen Norm abweichende Kollektive gäbe, so wie dies etwa bei Butler für die relativ deterministisch gefasste heterosexistische Matrix erscheinen mag. Der in den systemischen Ansätzen der Sozialwissenschaften zentrale Begriff der doppelten Kontingenz (Parsons) greift diesbezüglich zu kurz. Anders eine dem poietischen, also auf die Einbildungskraft bezogenen Aspekt Rechung tragende Ontologie und Theorie des Handelns.[4]

Das ist gewissermaßen der ideelle oder auch ideologische Aspekt der Bio-Logik jeder Gesellschaft, also ihrer offiziellen und tiefgreifend verankerten Diskurse und Logiken im Sinne des Selbsterhalts dieser Gesellschaft als eines lebendigen, sich immer wieder neu hervorbringenden und teilweise reflektierenden Seins, das durch die identitäre Einfügung von Nachkommen und VorgängerInnen garantiert wird. Aus dieser konservierenden Perspektive ist selbständiges Handeln weder für Frauen noch für Männer vorgesehen, aber doch mehr oder weniger toleriert - für die einen mehr (insbesondere für die die Ordnung garantierenden Eliten), für die anderen weniger.

Wann also beginnt im Kontext verleiblichter, psychisch verinnerlichter und zugleich nicht erschöpfend determinierender Macht- und Unterwerfungsstrukturen ein kollektives Tun politisches Handeln zu werden? Diese Strukturen und Vertragsbedingungen, die jedem Individuum das ihm eigene Dasein in dieser je spezifischen Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen, sind für Mädchen (konkret) a priori schlechter als für Knaben. Darüber braucht einstweilen noch nicht diskutiert zu werden, auch wenn die ebenso mythische wie widersprüchliche Positionierung von Frauen zwischen totalem und permanentem Opferstatus einerseits, natürlicher Überlegenheit oder Friedfertigkeit des "schwachen Geschlechts" andererseits nicht zu halten ist. Am wenigsten für solche Frauen, deren Lebensentwurf sich gegen den herrschenden Geschlechtervertrag[5] einschreibt, ob nun verstärkt aus der Perspektive des Agierens oder aus jener des Handelns.

Agieren und Handeln lassen sich auf der Ebene des Gesellschaftlichen (und nur dort, also unter der Arendtschen Bedingung der Pluralität[6], macht dieses Spannungsverhältnis erst wirklich Sinn) nicht a priori voneinander abgrenzen. Es gilt für diese Unterscheidung ähnliches wie für die Begriffspaare Krankheit und Gesundheit oder Perversion und Normalität: Es handelt sich um Grenzbegriffspaare, die in ihrer je konkret betrachteten Wirklichkeit geschichtlich und gesellschaftlich zwar nicht erschöpfend bestimmt, aber doch weitgehend bedingt sind. (Der ontologische Zwischenraum kann als poietischer bezeichnet werden, also als ZeitRaum, in/aus dem Neues kreiert, hervorgebracht wird - sowohl praktisch wie auch theoretisch.)

Was wir also heute als groteskes Agieren in der Politik wahrnehmen mögen, wurde zu einer anderen Zeit, in einem anderen politisch-imaginären Kontext, vielleicht als der Situation durchaus angemessenes politisches Handeln oder Führen interpretiert und akklamiert (und so mag es kommen, dass Haider uns wie Hitlers übersurreale Farce erscheint, nachdem uns Hitler rückblickend ja bereits wie ein Akteur eines Bunuelfilms erscheinen kann[7]).

Doch dem relativierenden Standpunkt, demnach alles Handeln zugleich eigentlich "nichts anderes als" Agieren ist, kann auch so etwas wie eine Begrenzung anheim gestellt werden, die ich in einer je unterschiedlichen Gewichtung von unbewusst-agierenden und bewusst-verändernden Anteilen im Handeln von Menschen sehe sowie in seiner Konzertierung, Strukturierung und Organisierung. Dem Motto "Wo Es ist soll ich werden" (oder: "Wo Ich ist, soll Es auftauchen") könnte von da her ein anderes, die angebliche Rückwärtsgewandtheit der Psychoanalyse dekonstruierendes, angefügt werden: "Wo wir agieren, sollten wir zu handeln beginnen" oder "wo wir handeln, sollten wir dem Agieren Rechnung tragen". Dies setzt die Entwicklung von Handlungs- und Reflexionsbegriffen voraus, durch welche die Bewusstmachung dieser Differenz auf unterschiedlichen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst erfahrbar und in Handlungsperspektiven umsetzbar wird. Solche Begriffe sind nicht als abstrakt allgemeine Funktionskategorien zu verstehen, sondern als je situativ und kollektiv praktisch hervorgebrachte Bedeutungs- und Unterscheidungssystematiken.


Wirklichkeit und Möglichkeit

Im 1. Buch Über die Seele merkt Aristoteles in methodologischer Absicht an: "Denn früher dem Begriff nach sind die Tätigkeiten (energeiai) und Handlungen (praxeis) als die Vermögen (dunameôn)."[8] Es geht ihm dabei noch nicht um politisches oder gemeinschaftsbezogenes Handeln als solches, wie dies in der Ethik oder der Politik der Fall ist. Vielmehr sind hier - im Sinne der Abhandlung - die Tätigkeiten und Handlungen des Menschen gemeint, insofern er ein sich nährendes, wahrnehmendes und vernünftig erfassendes Wesen ist. Das Tätigsein verwirklicht sich in den Handlungen, und es verwirklicht dadurch zugleich die Vermögen, die wir ohne diese manifeste Verwirklichung ja überhaupt nicht untersuchen, also begrifflich erfassen oder gemäß dem Logos zu begreifen versuchen könnten. Relevant erscheint mir dabei die nähere Darstellung der hier angesprochenen Methodologie. Während die aristotelische Ontologie jahrzehnte lang als Ontologie des Determinismus und des "was es war dies (gewesen) zu sein" kritisiert worden ist, machten andere es sich zur Aufgabe, diese Kritik in Aristoteles hineinzutragen und sie dort aufzuspüren, wo sie aporetisch am Werk ist, und zwar durchaus vom Autor gewollt.[9] Was die Seinsweisen des Menschen betrifft (das Empsychon-Sein, also das Beseelt-Sein in der Seelenlehre, das Politisch-Sein in der Politik oder das Sprache-Haben etc.), so lassen diese sich ohnehin nicht begrifflich beschließen, weder bei/mit Platon noch bei/mit Aristoteles. Doch hier geht es um mehr: Die Verwirklichung ist die Bedingung der Möglichkeit. So kurz, so bündig das transzendentale Postulat einer Anthropologie, über das sich in einer von Theologie und Hegelianismus abgeschlossenen Ontologie kaum meditieren lässt. Es geht hier nicht nur um die Möglichkeit, die dunamis, also nicht nur um das Vermögen, gemäß dem Logos zu begreifen, sondern auch um die Möglichkeit, die das jeweilige Vermögen darstellt, ist. Das ist durchaus Aristotelisch: der Mensch verändert durch die Verwirklichung die Kapazität seiner Möglichkeiten, die wir seit Aristoteles Vermögen (oder Kräfte) nennen. Zugleich erkennt er die Möglichkeiten nur über die Manifestationen der Verwirklichung, durch die sie uns erst erscheinen, insofern wir halbwegs vergleichbare Menschen sind (und nicht Hunde oder Bienen).

Tätigkeiten und Handlungen also vor dem Vermögen, Wirklichkeit vor Möglichkeit oder als notwendiger Zugang zu ihr. Was die Möglichkeit allerdings der Wirklichkeit überlegen macht, ist die Tatsache, dass sie zwar im Hintergrund ruht, aber dennoch auch ist, wenn gerade nichts am Werk ist: Sie wird, wenn sie als Möglichkeit/Vermögen zur Verwirklichung gefasst wird, auch dann in ihrem jeweiligen Medium "Schlummern", wenn sie gerade nicht verwirklicht ist. Sie wird allerdings nur solange als Möglichkeit anzunehmen sein, solange das Medium existiert und die Verwirklichung eine Denkmöglichkeit bleibt.

Die Möglichkeit der Vermögen fließt wie der Vorstellungsfluss, ohne dass etwas bestimmtes gesehen oder ohne dass überhaupt gewacht werden muss: im Traum geht die Phantasia weiter und sobald wir aufwachen - oder vielleicht sogar noch im nachtwandlerischen oder bewegten Schlaf - können wir mit der vorstellungsverbundenen Tätigkeit, dem Agieren, Tun und Handeln, jederzeit - oder fast - beginnen. Zwar wirkt auch die Möglichkeit untergründig, aber ab wann gilt dieses Wirken als Wirkung sich zu manifestieren? So entscheiden sich die meisten "Handlungen", Ausführungen bevor wir selbst uns dessen gewahr sein können, manchmal kurz zuvor, manchmal lange vorher in uns schlummernd. Das schließt aber weder die Macht der Reflexionstätigkeit, noch die sekundäre Bearbeitung auf vorbewusster, teilweise auf bewusster, dann wieder auf vorbewusster Ebene aus.

Für Frauen, die gemäß Aristoteles keineswegs Pflanzenseelen haben[10], sondern durchaus das Vermögen, die Macht im Staat zu übernehmen (wovor er, das brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, eindringlich warnte), ist das Handeln bzw. nicht Handeln können/sollen/dürfen klar eingegrenzt. Das allen Menschen zuzusprechende höchste politische "Vermögen" ist für Aristoteles die Urteils- und Entscheidungskraft (kritikê kai bouleutikê). Es ist das für antike griechische Verhältnisse bestverteilte, weil demokratische Vermögen, und Frauen verfügen gemäß Aristoteles darüber, obwohl ihnen die Teilnahme an der Herrschaft (kyriê) fehlt. Nun ist aber diese Teilnahme und Ausübung zugleich eine, die die Vermögen verwirklicht und wir wundern uns nicht, wenn Menschen, die in Unfreiheit und Ohnmacht aufwachsen, sich in ihr "Schicksal" besser zu fügen scheinen, als solche, die an der Machtausübung teilhaben.

Nun wurden Frauen von dieser Teilnahme über Jahrtausende ausgeschlossen, von den Räumen und Sphären der expliziten Machtausübung ferngehalten. Bei Zuwiderhandeln wurden sie lange mit historisch-zyklischer Regelmäßigkeit bestraft, des öffentlichen Raums verwiesen und erst recht aus den Räumen der expliziten Machtausübung, also der Politik.

Im Feld der Politik geht es zuerst um Manifestationen, Ausdruck und Phänomenalisierung von Macht bzw. Ohnmacht und ihren Bedingungen[11]. Die Ethik, vor allem die Ethik Kantscher Prägung, macht hier keinen Sinn oder hat in diesem Feld (und vielleicht auch im anthropologischen Feld) immer schon ihren Sinn verfehlt[12]. Doch insofern die je vorherrschenden Ethiken oder ethoi die Menschen auch in ihrem politischen Dasein immer wieder lenken, leiten bzw. die Bewusstwerdung ihrer Motive gestalten und informieren, muss sie kritisch miteinbezogen werden, auch wenn sie oft wie ein "cache misère" der Politik in Erscheinung treten mag.[13]

Ich möchte mich abschließend der Frage widmen, welche handlungsperspektivischen Implikationen mit der Einbeziehung der Spannung zwischen Agieren und Handeln verbunden sind. Die Verschiebungen zwischen intentionaler Handlung und unbewusster Wunscherfüllung sind meist nur motivationsanalytisch oder teleologisch feststellbar, obwohl der Realisierungsgrad für ihre Beurteilung durchaus relevant ist. Die meiste Zeit handeln wir zu einem bestimmten oder zu mehreren, auf die Wirklichkeit einwirkenden Zweck/en und erfüllen uns damit unbewusste aber auch bewusste Wünsche. Umgekehrt gibt es kaum ein Agieren von unbewussten Affekt-Vorstellungsbündeln oder von Wünschen, das ohne Auswirkung auf die Umgebung bliebe und das nicht nachträglich als absichtliche Handlung (zu diesem oder jenem Zweck, im Sinne der Freudschen Rationalisierung) gedeutet oder ideologisiert werden könnte. Interpretationen von weiblicher Hysterie oder Magersucht als - zumindest impliziter - feministischer Widerstand sind Beispiele für die handlungstheoretisch beanspruchte Dimension psychodynamischen Agierens von Frauen: Was die Psychoanalyse im Bereich des Agierens ansiedelt, untersucht und behandelt, wird in den Raum des gesellschaftlich nicht nur relevanten, sondern auch subvertierenden Tuns gezogen und als zumindest implizites Handeln dargestellt. Es scheint mir wichtig, hier zwischen zwei Ebenen des Explizitmachens wirklichkeitsgestaltender Dimensionen von agir (tun, handeln) zu unterscheiden.

Das Explizitmachen von unbewussten Wünschen wider eine von der patriarchalen bzw. androarchalen Moral auferlegten und verinnerlichten Zensur zum Einen, das reflexive Explizitmachen dieser Manifestationen als nachträgliche Deutung der Subjekte selbst, wodurch diese gewissermaßen Autor_innenschaft und damit Verantwortung in einem widerständischen Sinn dafür übernehmen. Wenn wir diesen Aspekt genauer betrachten, wird es schwierig, das Argument des Zynismus und der Vereinnahmung vorzubringen. Nicht nur, dass wir es den Subjekten schon überlassen müssen, wie sie ihr Tun deuten und welche - politische oder unpolitische - Bedeutung sie ihm geben, können wir auch nie a priori über die tatsächliche politische Auswirkung solcher Deutungen urteilen.

Darüber hinaus können wir die Geschichte der politischen Emanzipation immer auch als ein kollektives und gefordertes Heraustreten aus dem Status des Behindert-Seins oder Kolonisiert-Werdens oder der Hemmung im weitesten Sinn lesen, als ein diese Be- und Verhinderungen lösendes Agieren des Wunsches nach (durchaus diffus zu begreifender) Freiheit. Auch wenn es im streng psychoanalytischen Sinn nicht richtig ist, eine derartige Wunscherfüllung als Agieren zu definieren, weil sie nicht vordergründig einen unbewussten Wunsch zu erfüllen trachtet, ist dieser Aspekt durchaus relevant für die Frage nach feministischer Politik.

Einen zentralen Modus in der Frage nach der Differenzierung und Verschiebung zwischen der Perspektive des Agierens und jener des Handelns stellt die Negation als Zurückhaltung oder Hemmung, sowie als Abstinenz oder als Verzicht dar (dabei kann diese Hemmung sowohl ein heftigeres Agieren bewirken, als auch ein für die Reflexionszeit nötiges Zurückhalten des Agierens, wodurch eine Handlung überhaupt erst möglich wird). Daneben haben wir es immer auch mit der bestimmten und partiellen Negation in Form von Abwehren, von Kanalisierung und von Sublimierung als gleichsam abstrahierenden oder umleitenden Metabolisierungen zu tun. Die Hemmung, die einsetzt, wenn "wir" aus einer Jahrhunderte oder auch nur Jahre währenden Abhängigkeit, aus einem "liebgewordenen Gefängnis" wie Freud 1938 selbst über seine Beziehung zu Wien schreibt, heraustreten sollen, ist den meisten mehr oder weniger bekannt. Es ist eine Angst analog zu derjenigen, auf die Marx eingangs seines genialen Essais Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte anspielt, die Angst vor dem Neuen, bei der der Rückgriff auf Bekanntes im Symbolischen nicht immer die einzige aber doch eine beliebte Wahl ist.


Kritik zwischen Urteil und Untersuchungskategorien

Während im öffentlichen, vor allem im juristischen Diskurs über Handeln und Handlungen bzw. Taten die Beurteilung der Motive und Motivationen sowie der Intentionen geprägt ist von der Frage nach der Schuld und den Möglichkeiten ihrer Feststellung, ist es nicht verwunderlich, dass diese Kategorie, insbesondere in einem christlich bzw. katholisch geprägten Kulturkreis maßgeblich an der Herausbildung der philosophischen wie auch politischen Handlungskategorien beteiligt ist/war. Die zentrale Rolle der Intention in der Ethik, des "procès d'intention"[14] gegen die Neigungen und Affekte sowie die artifizielle Einteilung in Internalismus und Externalismus, ist der relevanteste und nachhaltigste "Symptomenkomplex" dieses Umstandes. Doch die auf Motive und Intentionen gerichteten heuristischen Erfordernisse der Rechtssprechung sollten nicht vergessen machen, dass Ursache, Schuld, Intention, Motivation oder "Triebfeder" durchaus vielschichtig am Werk sind. Das gilt wenn wir als Einzelne, Private (idiota) tätig sind oder agieren, aber auch und vor allem, wenn wir handeln, also unter der Bedingung der Pluralität auf die Wirklichkeit verändernd einwirken.

Doch wenn wir immer schon - explizit oder implizit - nach der Schuld oder dem Verschulden suchen, dann werden wir dieser Vielschichtigkeit niemals Rechnung tragen können. (Es wäre interessant, diesen ethisch-juristischen Beurteilungszwang dort zu verstehen, wo es nicht um Straf- oder Untaten geht.) Die politische Beurteilung von Beherrschungs-Settings ging immer wieder einher mit der Verurteilung der Beherrschten, die sich aus ihrer Unterdrückung nicht von selbst befreien. Dem geht zum einen die Annahme voraus, dass ein Volk, eine Klasse oder Gruppe etc. selbst das Schicksal mitkonstituieren, das sie kulturell, sozioökonomisch und vor allem politisch erleiden. Auf Ereignisse der Unterwerfung angewandt schreibt Marx, die unterworfene Nation nicht zufällig mit einer Frau vergleichend: "Einer Nation und einer Frau wird die unbewachte Stunde nicht verziehen, worin der erste beste Abenteurer ihnen Gewalt antun konnte. Das Rätsel wird durch dergleichen Wendungen nicht gelöst, sondern nur anders formuliert. Es bliebe zu erklären, wie eine Nation von 36 Millionen durch drei Industrieritter überrascht und widerstandslos in die Gefangenschaft abgeführt werden kann."

Nun hat die feministische Kritik seit Jahrzehnten die "condition des femmes" zu analysieren, die Geschlechterherrschaftsverhältnisse zu dekonstruieren und in ihrer Instituiertheit zu beschreiben versucht, sie kann aber keine Erklärung für die "ursprüngliche Unterwerfung" geben, die nicht immer schon einem Ursprungsmythos gleichen würde, also einer Geschichte, die - wie in Engels' oder Bachofens Spekulationen - zwar ben trovata sein mag, aber keineswegs vera sein kann.[15] Es ist hier nicht der Raum, das von Nicole-Claude Mathieu erstmals genauer ausgeführte Dilemma zwischen Weichen bzw. Nachgeben (céder) und Zustimmung (consentement) aus sozialanthropologischer Sicht und auch politisch zu diskutieren.[16] Ich möchte für den aktuellen feministischen oder proto- bzw. antifeministischen Kontext einen Aspekt hervorheben, den Aspekt der Scham, der mit dem Vorwurf der Selbstverschuldung zusammenhängt, die sich in der Duldung oder dem Nachgeben manifestiere. Die Schuld, die über die verinnerlichte Teilnahme an der eigenen Unterdrückung als Schuldgefühl akut wird, ist hier nicht als politische Kategorie zu werten, sondern als psychodynamische, die sehr wohl politische Implikationen zeitigt. Eine davon ist die uns hinlänglich bekannte Verleugnung der Unterdrückung tout court, nach dem Motto, wo kein Verbrechen, da keine Schuld und damit auch keine Selbstverschuldung.[17]

Die Differenzierung von Agieren und Handeln steht im Zeichen eines Dilemmas, das sich vor allem für Frauen als aus den Strukturen und Institutionen des Handelns weitgehend Ausgeschlossene zuspitzt. Der strukturelle Ausschluss impliziert, dass Frauen als solche über keine oder kaum existierende kollektive Handlungsstrukturen verfüg(t)en, sich also nur unter der als kultureller double bind bekannten Bedingung einer Art Travestie in die Vorhöfe, mittlerweile auch schon in die Zentren der Macht einschleichen oder hineinreklamieren können. Sie empfinden sich dabei, je nach ihrer Geschlechteridentifikation und -Sozialisation, ihrer sexuellen Orientierung, mehr oder weniger als Fremdkörper, was mehr oder weniger akut ausagiert wird, allerdings meist gegeneinander, jedenfalls selten gegen die be/herrschenden Mann-Männer.[18] Außerhalb der offiziellen Institutionen und Strukturen des Handelns und damit auch der Machtausübung in Hinblick auf Veränderung, Unterdrückung oder Verbesserung der allgemeinen Situation nimmt die Agierensdimension gegenüber der beratenden und entscheidenden Handlungsdimension wieder mehr Raum ein. Je weniger ein Tun sich mit den anderen im Austausch reflektiert und also auf sich bzw. auf die familiäre Privatheit zurückgeworfen ist, desto weniger verdient es, nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in unserem politischen Selbstverständnis, die Bezeichnung Handeln. Gleichzeitig gibt es sehr wohl Dimensionen von Tun, die zwischen Agieren, Reflektieren und Handeln sinnstiftend und damit gesellschaftsgestaltend wirken, so etwa die Versuche innerhalb der Frauenbewegung, dem martialisch-kaderartig organisierten Handeln der politisierten Männer der 68er-Bewegung neue Versammlungs- und Handlungsformen entgegenzusetzen.

Aus derartigen Erfahrungen sowie aus der Entwicklung neuer politischer Handlungsbedingungen können Handlungsweisen hervorgebracht werden, die dem Ausagierten und Auszuagierenden, das sich nicht zuletzt aus und gegen Unterdrückung, Heteronomie und Herabminderung manifestiert, Rechnung tragen, ohne sich in der Angst um politischen Kontrollverlust zu beschließen. Wo die Stimmung nicht nur im Sinne der Abstimmung (die in angemessener Anwendung durchaus wichtig ist) politisch relevant ist, kann sie im Hinblick auf konzertiertes Agieren wirken. Wenn sich Feministinnen, Lesben, Schwule, Transgenders, Migrant_innen etc. als von den Räumen der expliziten Machtausübung und Ressourcenverteilung Abgeschottete formieren und sich dabei ihrer unbewussten Triebkräfte bewusst zu werden beginnen, können sie daraus reflektierbare und im Kairos, dem entscheidenden Moment, einsetzbare politische Macht machen und sich/einander in eine globale und polyphone Emanzipationsbewegung integrieren.

E-Mail: Alice.Pechriggl@uni-klu.ac.at


Anmerkungen

[1] "La psychanalyse n'est pas faite pour nous donner, comme les sciences de la nature, des rapports nécessaires de cause à effet, mais pour nous indiquer des rapports de motivation qui, par principe, sont simplement possibles." (dt. Übers. A.P.) Der Text, aus dem dieses Zitat stammt, ist als "L'Herméneutique Freudienne" unter dem Kapitel "La compréhension psychanalytique du sujet" in dem von Maurice Dayan zusammengestellten Buch Existence et Dialectique, Paris, 1971, PUF, abgedruckt; Zitat S. 60.

[2] Karl Marx, Der achzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin, 1988, Dietz, S. 19.

[3] Zum Begriff des narzisstischen Vertrags (contrat narcissique) siehe Piera Aulagnier, La violence de l'interprétation, S. 182-192.

[4] Siehe hierzu aus feministischer Perspektive Alice Pechriggl: "Der Einfall der Einbildung als ontologischer Aufbruch. Vom Novum der Veränderung so mancher Verhältnisse, nicht zuletzt desjenigen der Geschlechter" in: Alice Pechriggl und Karl Reitter (Hg.), Die Institution des Imaginären: zur Philosophie von Cornelius Castoriadis, Wien, 1991, Turia & Kant, S. 81-102 und in jüngerer Zeit vor allem Lois McNay, Gender and Agency. Reconfiguring the Subject in Feminist ans Social Theory, insbesondere Kap. 4, "Psyche and Society: Castoriadis and the Creativity of action" S. 117-154 sowie Kap. 5, "Gender and Change. Concluding Remarks", S. 155-164.

[5] Siehe hierzu u.a. Collette Guillaumins Begriff "sexage" in: Sexe, race et pratique du pouvoir, Paris, 1992, Côté femmes.

[6] Vita Activa oder vom tätigen Leben, München Zürich, Piper, 1987.

[7] Farce im Sinne des Marxschen Topos in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: "Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce." S. 19. Was Bion als Grundannahmen in Gruppenprozessen herausgearbeitet hat (Kampf-Flucht, Paarung), scheint mir für die Politik nur unter der Bedingung äußerster Genauigkeit in der Analyse des politischen Imaginären, also der vorherrschenden Bedeutungen, der Strukturen der unterschiedlich stringent mengen- und identitätslogisch organisierten Institutionen und vor allem der Arten und Weisen der politischen Teilnahme/Ausgrenzung, Machtverteilung und des vorherrschenden Begriffs von Handeln brauchbar. Die grobe Übertragung von Grundannahmen, wie sie in psychoanalytischen Gruppen beobachtbar sind, auf das politische Feld bringt, mit der meist dazugelieferten Pathologisierung des jeweiligen leaders und seiner komplementären Menge, für die Analyse dieses Feldes relativ wenig, insbesondere dann, wenn es sich nicht um totalitäre Systeme handelt. In diesen wird die Komplementarität zwischen Führer und Menge tatsächlich so zentral, dass Bions Grundannahmen für deren Analyse durchaus erhellend sind, aber ebenso Aulagniers Ausführungen zur Psychose und dem oben erwähnten narzisstischen Vertrag zwischen Ich und Gesellschaft. Wilfried R. Bion, Erfahrungen in Gruppen, Stuttgart, Klett Cotta, [Piera Aulagnier, La violence de l'interprétation, Paris, PUF, 1975.]

[8] 415a18-19.

[9] Ich nenne hier nur die für mich wichtigsten französischen Aristotelesspezialisten Pierre Aubenque und Pierre Pellegrin. Aristoteles ist in vielen, ja den meisten Fragen expliziter Skeptiker bzw. führt er die skeptische Haltung des "richtig" und zugleich "nicht richtig" stets mit, ohne die unendliche Perspektive des Wahren aufzugeben. Zur Aristoteles Ontologie im Sinne der Heterogenität und nicht der Analogie des Seins, siehe vor allem Pierre Aubenque, Le problème de l'être chez Aristote, Paris, 1962.

[10] Wie dies immer wieder irrtümlich von Aristoteles schrulligen Ausführungen zum Beitrag des männlichen (die Form und das Verwirklichungsprinzip enthaltenden) und des weiblichen (das Embryo nur nährenden) Körpers in der Zeugungslehre auf seine Seelenlehre übertragen wurde.

[11] Ich beziehe mich hier stark auf Hanna Arendts Handlungstheorie als einer zumindest implizit politischen, insbesondere in Vita Activa.

[12] Kant wusste, dass die Auflage der Abspaltung aller Neigungen vom guten Willen die menschliche Natur überschreitet, aber er wusste nicht, wie fatal sich ein solch monströses Ansinnen auf die menschliche Psyche auszuwirken vermag. Aus der Perspektive des Agierens könnte ein ethischer Imperativ lauten: "lebe so, dass die Antriebe Deines Agierens Dir in Erscheinung zu treten vermögen und reflektierbar werden, die mörderischen wie die erotischen".

[13] Da dieser Artikel nur ein Teil einer längeren handlungsphilosophischen Auseinandersetzung ist, verweise ich auf einen anderen Teil, der sich mit den Implikationen der Kantschen Ethik befasst, und den ich bei dem in Barcelona vom 2. bis 5. Oktober abgehaltenen 10. Symposion der IAPH (Internationale Assoziation von Philosophinnen) in gekürzter Form vortrug: "Politics between Eros, Duty and Inclination".

[14] Schwer zu übersetzende Redewendung, die bedeutet, dass jemand für die ihm nur unterstellten Motive und Intentionen verurteilt werden soll.

[15] Se non è vero è ben trovato ist ein italienisches Sprichwort, das sich vornehmlich auf treffende Bemerkungen oder auf witzige Geschichten bezieht. Übersetzt lautet es ungefähr so: wenn es auch nicht stimmt, so ist es gut erfunden.

[16] "Quand céder n'est pas consentir. Des déterminants matériels et psychiques de la conscience dominée des femmes, et de quelques unes de leurs interprétations en ethnologie" in: Nicole-Claude Mathieu (Hg.), L'arraisonnement des femmes. Essais en anthropologie des sexes, Cahiers de l'homme, Paris, 1985, Ecole des hautes études en sciences sociales, S. 169-237. (dt. Nicole-Claude Mathieu, Nachgeben ist nicht zustimmen, Wien, Wiener Frauenverlag)

[17] Dieses Phänomen ist uns in den Nachfolgestaaten des 3. Reichs aus dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in seinen extremen Ausformungen bekannt. Als wahnhaftes Konstrukt finden wir es im Revisionismus in zugespitzter, ja totaler Form. Siehe: Pierre Vidal-Naquet, Die Schlächter der Erinnerung. Essays über den Revisionismus, Wien 2000, WUV. Andere unbewusste Motive, wie etwa die Angst um den oder vor dem "Vater," sind hier ebenso relevant wie die Angst vor der Beteiligung der "Mutter" an der Unterdrückung und Einfügung der Töchter in den sie missachtenden, zuweilen missbrauchenden Geschlechtervertrag. Gegen diese Art von Angst stellt ein Mutter- und -Weiblichkeitskult wie Irigaray und die Diotima-Gruppe ihn insinuieren ein psychohygienisch eventuell wirksames Unterfangen dar, das bei Feministinnen in den deutschsprachigen Ländern - aber auch in Frankreich - wohl nicht ganz zufällig weniger Anklang findet.

[18] Ich spiele hier auf die von Elisabeth Spelmann aus Platons Politeia herausgearbeiteten Hierarchie der Geschlechterklassen an: Mann-Männer wären die mit männlicher Seele (Löwenherz) in männlichem Körper; auf der untersten Stufe stehen die Weib-Weiber, zu denen die typische athenische Frau zu zählen sei. Siehe Elizabeth V. Spelman, "Hairy Cobblers and Philosopher-Queens" in: Nancy Tuana (Hg.), Feminist Interpretations of Plato, Pennsylvania, 1994, The Pennsylania State Unviersity Press, S. 87-107. In der Politeia ist allerdings nie von Königinnen (basilissai) sondern von archousai (Herrscherinnen, die Klasse der WächterInnen) die Rede.

Raute

Robert Zion

Eine spinozianische Grundlegung der Linken - Das ökonomische Tableau in Commonwealth

(Teil 1, der zweite Teil erscheint in grundrisse # 34)

1. Das TABLEAU ÉCONOMIQUE Quesnays

Bekanntlich hatten für Marx die Schriften der Physiokraten - vor allem die von Quesnay und Turgot - einen besonderen Vorläufercharakter für seine eigene politische Ökonomie. So schreibt er über das Tableau Économique[1] (Siehe: Abb.)[2] Quesnays von 1758:

(Im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation)

"In der Tat aber, dieser Versuch, den ganzen Produktionsprozeß des Kapitals als Reproduktionsprozeß darzustellen, die Zirkulation bloß als die Form dieses Reproduktionsprozeßes, die Geldzirkulation nur als ein Moment der Zirkulation des Kapitals, zugleich in diesen Reproduktionsprozeß einzuschließen den Ursprung der Revenue, den Austausch zwischen Kapital und Revenue, das Verhältnis der reproduktiven Konsumtion zur definitiven und in die Zirkulation des Kapitals die Zirkulation zwischen Konsumenten und Produzenten (in fact zwischen Kapital und Revenue) einzuschließen, endlich als Momente dieses Reproduktionsprozeßes, die Zirkulation zwischen den zwei großen Teilungen der produktiven Arbeit - Rohproduktion und Manufaktur - darzustellen, und alles dies in einem Tableau, das in fact immer nur aus 5 Linien besteht, die 6 Ausgangspunkte oder Rückkehrpunkte verbinden - im zweiten Drittel des 18ten Jahrhunderts, der Kindheitsperiode der politischen Ökonomie - war ein höchst genialer Einfall, unstreitig der genialste, dessen sich die politische Ökonomie bisher schuldig gemacht hat. Was die Zirkulation des Kapitals betrifft - seinen Reproduktionsprozeß -, die verschiednen Formen, die es in diesem Reproduktionsprozeß annimmt, den Zusammenhang der Zirkulation des Kapitals mit der allgemeinen Zirkulation, also nicht nur den Austausch von Kapital gegen Kapital, sondern von Kapital und Revenue - hat [Adam] Smith in der Tat nur die Nachlassenschaft der Physiokraten angetreten und die einzelnen Artikel des Inventariums strenger rubriziert und spezifiziert, kaum aber die Totalität der Bewegung so richtig ausgeführt und interpretiert, wie sie der Anlage nach im Tableau Économique angedeutet war, trotz der falschen Voraussetzungen Quesnays."[3]

François Quesnay (1694-1774) beschreibt in seinem Tableau erstmals einen - stationären - Wirtschaftskreislauf, mit dem er das Gleichgewicht von Investition und Konsum und die Verteilung des Nettoprodukts in einer Agrarwirtschaft darlegt. Grundlage für Quesnay ist dabei das physiokratische Prinzip, "dass der Boden der alleinige Quell der Reichtümer ist und dass es die Landwirtschaft ist, welche diese vervielfältigt"[4], sowie die dementsprechende Annahme von "produktiven" (Landwirtschaft) und "sterilen" (Handwerk, frühe industrielle Manufaktur und Grundbesitz) Ausgaben, die den sozialen Klassen der damaligen Ständegesellschaft zugeordnet sind.

Das allerdings, was Marx in seinen Theorien über den Mehrwert die "falschen Voraussetzungen Quesnays" nennt, betrifft zunächst weniger die Unterschiede des Tableaus zu seinem eigenen Reproduktionsschema des Industriekapitalismus[5], als vielmehr die Ablehnung der Physiokraten, die Arbeitszeit zum Maßstab der Wert- und Mehrwertproduktion zu erheben. Sehr deutlich wird dies in Marx' Kommentaren zu den Betrachtungen über die Bildung und Verteilung der Reichtümer (1766) von Quesnays Schüler Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781): "Hier also wieder: D[er] surplusvalue entsteht daher, da der Arbeiter mehr als das Equivalent s[eines] salaire giebt. Falsch nur, dass das Mehr nicht an der Arbeitszeit, s[on]dern d[er] Materie geschätzt wird, d[em] Stoff d[es] Gebrauchswerths."[6]

In der Tat war insbesondere Turgot - 1774 von Ludwig XVI. immerhin zum Generalkontrolleur der Finanzen Frankreichs ernannt - gegenüber jeglichen abstrahierenden Quantifizierungen von "der zwingenden Naturordnung, kraft deren die Erde ohne Arbeit nicht produziert"[7], äußerst zurückhaltend. So bezeichnet er selbst noch die proportionale Verteilung des Nettoprodukts (Mehrwert, Marx' "surplusvalue") in Quesnays Tableau als "willkürliche Hypothesen..., aus denen man aber niemals völlig präzise Schlussfolgerungen ableiten kann."[8] Das Tableau selbst kann aber für Turgot "dazu dienen, eine klare Vorstellung vom Verlauf der Zirkulation zu vermitteln."[9] Das "Mehr", das also, was im Wirtschaftskreislauf zirkuliert, ist für Turgot eine Qualität, durch Arbeit transformierte Natur: "Mithin behält der Landwirt, obgleich er auf das Entgelt seiner Arbeit beschränkt ist, jenen natürlichen Vorrang physischer Art, der ihn zum ersten Motor der ganzen gesellschaftlichen Maschine macht."[10]

Damit zeichnet Turgot in gewisser Weise bereits das vor, was Michael Hardt und Antonio Negri "Netzwerke sozialer Produktion" [S. 288][11] genannt haben. Nicht die proportionalen Fließgrößen als "willkürliche Hypothesen" bestimmen den "Verlauf der Zirkulation" im Tableau, sondern die "zwingende Naturordnung" selbst, "kraft deren die Erde ohne Arbeit nicht produziert." Das Tableau der Physiokraten, das aus jenen "5 Linien besteht, die 6 Ausgangspunkte oder Rückkehrpunkte verbinden", ist tatsächlich eine Karte "der Ordnung (ordo) und Verknüpfung (connexio)" [Ethik, II, 7][12] der "ganzen gesellschaftlichen Maschine" der Produktion und der Arbeitskraft. Bestünde damit nicht aber, wie Jean-François Lyotard in seiner Analyse des ökonomischen Diskurses anmerkt, die "Gefahr einer Metaphysik der Produktion, (energeia), die die der Arbeitskraft (namis) vervollständigt, die Marx nach eigenem Eingeständnis (in den Grundrissen[13]) der Metaphysik des Aristoteles[14] entlehnt und auf das Konto eines menschlichen Subjekts geschlagen hat"?[15]

Mit dieser Frage verschiebt sich das Problem des Tableaus weg von der Zirkulation und ganz hin auf das einer Ontologie der Produktion und der Arbeitskraft, die aber nur eine Metaphysik wäre, wenn jener "natürliche Vorrang physischer Art", den die Arbeitskraft nach Turgot ja "behält", wie von Marx, "auf das Konto eines menschlichen Subjekts geschlagen" wird. Obwohl Marx sehr genau sieht, dass die Physiokraten "die Untersuchung über den Ursprung des Mehrwerts aus der Sphäre der Zirkulation in die Sphäre der unmittelbaren Produktion selbst verlegt"[16] haben, ist es die strikte Subjekt/Objekt-Trennung in der Nachfolge der Hegelschen Metaphysik, die ihn grundsätzlich dazu verleitet, "die 'lebendige' Arbeit von der Natur abzugrenzen"[17], wie Teresa Brennan gezeigt hat. Dies führt dazu, "dass Marx seine Unterscheidung zwischen Arbeit und Natur (abgesehen vom Gerede über die lebendige Arbeit) im Grunde nur auf den Willen stützt."[18] Allein, es ist nicht nur der Wille, sondern - an zentraler Stelle im Kapital über die Arbeit - sogar "der zweckmäßige Wille"[19], den Marx den ArbeiterInnen im Arbeitsprozess zuschreibt. Der freie Wille und die Zweckursache also - hier wiederholt sich René Descartes' Irrtum eines Dualismus von Denken (res cogitans) und Ausdehnung (res extensa), der letztlich immer zu einer kausalen Bestimmung der Materie durch das Denken und damit zu dem Problem führt, wie denn der freie (lebendige) Wille den (toten) Raum der Materie überhaupt adäquat auf seine Zwecke hin ordnen kann. Descartes' "Antwort" ist bekannt, es ist am Ende Gott, eben dessen freier Wille, der "mich nicht täuschen will..., solange ich sie [die Urteilsfähigkeit] nur recht gebrauche."[20]

Das, was Marx bei den Physiokraten an "falschen Voraussetzungen" zu erkennen glaubt, beruht im Grunde auf zwei falschen Voraussetzungen bei ihm selbst. Zunächst auf der Annahme einer toten, quantifizierbaren Natur, die lediglich den "Stoff" abgibt, den ein freier Wille in Gebrauchswerte verwandelt und auf seine Zwecke hin ordnet - eine vollendete Metaphysik des Subjekts, das so den Platz Gottes einnimmt, die Natur objektiviert und damit aber auch jene "zwingende Naturordnung" Turgots negiert. Was Marx in seiner Metaphysik der Zweckursachen (causae finalis) fehlt, ist eine adäquate Idee des "natürlichen Vorrangs physischer Art" (Turgot), die aber nur über die Erkenntnis von Wirkursachen (causae efficiens) zu erlangen ist: "Denn die Idee jedes Verursachten hängt von der Erkenntnis der Ursache ab, deren Wirkung es ist" [Ethik, II, 7, Beweis]. Eine solche Idee hätte Marx' Aufmerksamkeit auf den "Verlauf" (Turgot), auf die Verkettung (concatenatio) des Tableaus und damit auf dessen Ordnung und Verknüpfung als die "der ganzen gesellschaftlichen Maschine" lenken können, denn "die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge" [Ethik, II, 7].[21]

Die zweite falsche Voraussetzung Marx' liegt wiederum in der ersten begründet. Die Abgrenzung der lebendigen Arbeit von der Natur und die Subjekt/Objekt-Trennung führen ihrerseits dazu, dass er das Subjekt - ganz in Hegelscher Manier - wiederum selbst objektiviert und es somit seinerseits von der Natur trennt, indem er das Lebendige in dessen Arbeit und damit der Wert- und Mehrwertproduktion schlicht auf tote, arithmetische Zeit reduziert: t1, t2,...,tn. So bezeichnet er die "Arbeitsquantität oder Arbeitszeit" als die "einfache Substanz"[22] des Werts. Auch in den Grundrissen (über-)setzt Marx bereits Aristoteles' "Arbeitskraft" (dynamis) unvermittelt als "say x Stunden Arbeitszeit".[23] Somit erklärt er aber die Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu den ontologischen Bedingungen der Wertproduktion schlechthin und begeht damit denselben Fehler, den er den Physiokraten seinerseits vorwirft, nämlich den, "daß das materielle Gesetz einer bestimmten historischen Gesellschaftsstufe als abstraktes, alle Gesellschaftsformen gleichmäßig beherrschendes Gesetz aufgefaßt wird"[24] - "die Mißgeburt des dialektischen Materialismus"![25]

Das Tableau Économique der Physiokraten ist Ausdruck der Gesellschaftsmaschine ihrer Zeit. Und, mag dessen Ordnung und Verknüpfung nun adäquaten oder inadäquaten Ideen entsprechen, als solcher stellt dieser den ersten Versuch einer qualifizierten Ökonomie dar, einer Ökonomie, die nicht die nackte Tatsache des Lebens und ökonomischen Überlebens beschreibt, sondern eines qualifizierten Lebens (bios), das eine ganze Gesellschaft zu konstituieren imstande ist. Daher hatte Marx sicherlich Recht, als er Turgot - wenn auch aus gänzlich anderen Gründen - einen "der direkten Väter der Französischen Revolution"[26] nannte. Doch die konstitutive Ontologie der Physiokraten konnte Marx in seinem Subjektivismus und der damit einhergehenden - aus der kapitalistischen Produktionsweise einfach zurückprojizierten - Herabsetzung der Natur zu einem bloßen Objekt und damit der Quantifizierung alles Lebendigen in der Arbeit, nicht erkennen. Was hier ganz zu Beginn des industriekapitalistischen Zeitalters von den Physiokraten entworfen wurde, war die Idee eines anderen, naturbedingten Wachstums, das sich in einer "Ausweitung der sozialen Produktivkräfte" [S. 283], in der Produktion des Gemeinsamen (common) selbst ausdrückte. In der Tat führte dieser Vergesellschaftungsschub in direkter Linie zur Revolution.


2. Das neue TABLEAU

"Wir müssen heute", so Michael Hardt und Antonio Negri, "ein neues Tableau Économique erfinden, das die Produktion, Zirkulation und Enteignung von Werten in der biopolitischen Ökonomie offen legt" [S. 286]. Dieses wird sicherlich, wie bereits für Turgot, ein Tableau der ökonomischen Qualitäten sein, aber darüber hinaus auch eines der sozialen Kämpfe, die mit der Ausweitung der sozialen Produktivkräfte heute hervorgebracht werden. Denn "biopolitische Produktion setzt das Leben [im Original: bios] in Arbeit, ohne es zu konsumieren" [S. 283]. Seine Verkettung wird so die Ordnung und Verknüpfung einer erneuten konstitutiven Ontologie des Gemeinsamen beschreiben. Nur wird das Tableau heute nicht nur das eines sich im Empire[27] konstituierenden Common Wealth, also ein globales, sondern auch ein dezidiert "ethisches Projekt" [S. vii] sein. Und der Weg, der durch die neue spinozianische Grundlegung beschrieben wird, wird wieder der zu einer Revolution, die "Forderung nach revolutionärer Rekonstruktion der Welt"[28] sein, deren Bestimmung bei Spinoza bereits vorgezeichnet ist: "Menschliche Freiheit, so klingt die Ethik aus[29], ist gebunden an einen Weg (via) der Befreiung, den der Mensch zu gehen hat."[30]

"Spinoza", so Antonio Negri, "ist Ontologie..., die ontologische Verankerung und die Produktivität der Ethik eröffnet wieder einmal die Möglichkeit einer Neuformierung und Definition menschlicher Tätigkeit."[31] Das neuformierte Tableau, das eigentlich eine Maschine der Vergesellschaftung durch menschliche Tätigkeit und damit der Neukonstitution des Politischen ist:

TABLEAU ÉCONOMIQUE des common

1 COMMONS sind materielle Gemeingüter wie Luft, Wasser und die Gaben der Natur und Resultate sozialer Produktion, die für soziale Aktionen und Reproduktion notwendig sind wie Wissen, Sprache, Codes, Informationen und Affekte.

2 Das KAPITAL organisiert keine produktive Kooperation, es beutet diese nur aus. Kapitalistische Akkumulation findet heute zunehmend außerhalb des Produktionsprozesses durch das Finanzkapital statt, so dass Ausbeutung die Form der Enteignung des common annimmt.

(Im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation)

3 1,2,...,n = Politische Zusammensetzung (Komposition) des kollektiven sozialen Lebens. 40, 1,2,...,n = Soziales Vermögen (potentia). 5 1,2,...,n = Zusammensetzung des Kapitals: Mieten, Pachten, Zinsen, Börsenwerte, Finanztitel (Renten). 6 = Konstruktion des common durch das Begehren (cupiditas) und die Macht der Affekte. Zweite Erkenntnisgattung bei Spinoza (Gemeinbegriffe). 7 = Ontologische Konstitution des common als positive kumulative Progression und Transformation der menschlichen Natur. 8 = Konsolidierung der gemeinsamen Institutionen der Gesellschaft durch die Liebe (amor) und die Macht der Vernunft (ratio). Dritte Erkenntnisgattung bei Spinoza (Wesenserkenntnis). 9 = Enteignet jeweils die Resultate des kollektiven sozialen Lebens. 10 = Das Finanzkapital ist in seinem Wesen eine elaborierte Maschine zu Repräsentation des common: Macht der Abstraktion (Geld). 11 = Wandel von der fordistischen Disziplinargesellschaft zur Kommando- und Kontrollgesellschaft: Biomacht (Foucault), Gewalt (potestas) bei Spinoza.


Der Verteidigung... Der ökonomischen Qualitäten und der Kämpfe:

­...der Freiheit biopolitischer Arbeit
Das common gegen die Arbeit

­...des sozialen Lebens
Das common gegen den Lohn

­...der Demokratie
Das common gegen das Kapital

Der "Motor der ganzen gesellschaftlichen Maschine" (Turgot) im neuen Tableau ist nun die "biopolitische Arbeit" bzw. die "biopolitische Produktion" [S. 283], Ausgangspunkt hierfür der Begriff der Biomacht Michel Foucaults. Nach dessen "Genealogie der Machttechnologien"[32] haben die Herrschaftstechnologien in der Moderne einen radikalen Umschlag erfahren: "Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht."[33] Im heutigen "Bevölkerungsstaat", der den alten "Territorialstaat" abgelöst hat, zeigt sich die Regierung der Menschen ("Das, was man regiert, sind die Menschen"[34]) als nahezu umfassende Macht, der Macht über das nackte Leben, wie Giorgio Agamben feststellt: "Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung des Menschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Möglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entsteht nun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren. Von dieser Seite her betrachtet wären insbesondere die Entwicklung und der Triumph des Kapitalismus ohne die disziplinarische Kontrolle nicht möglich gewesen, welche die neue Biomacht ausgeübt hat."[35]

Doch Hardt und Negri verschieben die Perspektive Foucaults. In der Nachfolge von Gilles Deleuzes Foucault-Interpretation stellen auch sie einen Wandel von den Disziplinargesellschaften des 18. bis beginnenden 20. Jahrhunderts zu heutigen Kontrollgesellschaften fest, die sich in einer "allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie"[36], zeigt. Und sie nehmen auf der Suche nach einer "Gegenmacht" zur umfassend gewordenen Menschenregierung in den Kommando- und Kontrollgesellschaften über Foucault hinausgehend eine terminologische Unterscheidung vor, die zwischen der "Biomacht" als Macht über das Leben und der "Biopolitik" als Macht des Lebens [S. 56f.]. Das, was sich den neuen Souveränitätsstrukturen des Empire, der Biomacht, entzieht, ist der Mechanismus der sozialen Produktion selbst, als "eine radikal plurale und offene Politik der Körper" [S. 37] der Menge, der Multitude (multitudo)[37] - "Allerdings, was der Körper vermag, hat bisher noch niemand festgestellt" [Ethik, III, 2, Anm.]. Es ist aus spinozianischer Perspektive das Vermögen (potentia) des Körpers - sowie das dieses adäquat erkennende Denken -, das so der Gewalt (potestas) der Biomacht widersteht und eine "alternative Produktion von Subjektivität hervorbringt" [S. 57].

Biopolitik ist die "lokalisierte produktive Macht des Lebens, die in der Produktion von Affekten und Sprachen in sozialer Kooperation und in der Interaktion von Körpern und Wünschen entsteht, in der Erfindung neuer Beziehungen zum Selbst und zum Anderen" [S. 58f.] - die Vergesellschaftungsmaschine als Konstitution des Gemeinsamen, des Politischen selbst. Eine spinozianische Sequenz:

"Wenn zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann vermögen sie zusammen mehr und haben folglich mehr Recht auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte zusammengeschlossen haben werden, um so mehr Recht werden sie alle zusammen haben" [PT, 2. Kap., § 13] - "Dieses Recht, das durch das Vermögen der Menge definiert wird, nennt man als Regierungsgewalt gewöhnlich die Souveränität des Staates (imperium)" [PT, 2. Kap., § 17]. Das Recht des Gemeinwesens (civitas) begründet sich jedoch nicht auf dessen Gewalt (potestas, Biomacht), sondern - kumulativ - auf dem Vermögen der Menge (multitudinis potentia, Biopolitik), darin, "daß das Recht (jus) des Staates und der höchsten Gewalten (summarum potestatum) nichts anderes ist als eben das Recht der Natur (naturae jus), das durch das Vermögen (potentia), nun nicht mehr jedes einzelnen, sondern der wie von einem Geist geleiteten Menge (multitudinis) bestimmt wird. Gerade so wie im Fall eines einzelnen im Naturzustand hat also auch der Körper und der Geist eines ganzen Staates so viel Recht (tantum juris...) wie weit dessen Vermögen reicht (...quantum potentiae)" [PT, 3. Kap., § 2]. Daraus folgt nur eine aus dem Recht der Natur begründete Form des Staates, "dessen Regierungsform ganz und gar uneingeschränkt ist (omnino absolutum imperium), die wir Demokratie nennen" [PT, 11. Kap., § 1].[38]

Diese Konstitution des Gemeinsamen erfolgt heute auf einem "sozialen Plan der Immanenz, der politisch organisiert werden muss" [S. 15f.], in einer globalisierten "Welt, die kein 'Außen' hat" [S. vii]. Mit dem Begriff der Immanenz ist es an der Zeit, den Aufbau der spinozianischen Ethik, den ethischen Aufbau der Welt bei Spinoza, wenigstens in seinen Grundzügen zu umreißen, so wie dieser von Gilles Deleuze dargelegt wurde, dem Hardt und Negri hierin im Wesentlichen folgen.


3. Spinozas ethischer Aufbau der Welt

3.1 Die Natur

Es gibt nur eine Substanz (substantia), die "Ursache ihrer selbst" (causa sui) ist und die "in sich ist und durch sich begriffen wird" [Ethik, I, Def. 1-3]: "Gott oder die Natur" (Deus sive Natura) [Ethik, IV, Vorrede]. Diese hat unendlich viele Attribute (attributum) und alle Dinge oder "Kreaturen" sind nur Modi (modus) dieser Attribute oder Modifikationen dieser Substanz. Der Körper (corpus) ist ein Modus des Attributs Ausdehnung (extensio), der Geist (mens) ein Modus des Attributs Denken (cogitatio).[39] "Jegliche reale Tätigkeit zwischen Körper und Geist ist ausgeschlossen, weil diese von zwei verschiedenen Attributen abhängen, wobei jedes Attribut durch sich begriffen wird. Geist und Körper, was dem einen geschieht und entsprechend, was dem anderen geschieht, sind also autonom. Dennoch gibt es zwischen den beiden eine Korrespondenz, weil Gott, der als alleinige Substanz alle Attribute hat, nichts produziert, ohne es in jedem Attribut gemäß einer einzigen und gleichen Ordnung zu produzieren"[40]: "Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge" [Ethik, II, 7]. Dieser Parallelismus von Denken und Ausdehnung begründet sich in der - produktiven - Einheit der Substanz, die die "inbleibende Ursache (causa immanens)" aller Dinge ist [Ethik, I, 18]: "Die Modi verschiedener Attribute haben nicht allein dieselbe Ordnung und dieselbe Verknüpfung, sondern dasselbe Sein: es sind dieselben Dinge, die sich lediglich durch das Attribut unterscheiden, dessen Begriff sie einschließen."[41] "Freie Ursache" (causa libera) ist allein Gott als "naturende Natur" (natura naturans), d. h. "solche Attribute der Substanz, die ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken" (das, "was in sich ist und durch sich begriffen wird"); dahingegen ist die "genaturte Natur" (natura naturata) das, "was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, das heißt, die gesamten Modi der Attribute Gottes" [Ethik, I, 29, Anm.] - der Grundsatz des Pantheismus.[42]


3.2 Der Mensch

Der Mensch (homo) existiert nicht notwendig - dies kommt allein dem "Sein der Substanz" zu [Ethik, II, 10, Beweis] -, er besteht aus Geist und Körper, Modi der Attribute Denken und Ausdehnung, genauer: "Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper oder ein gewisser wirklich existierender Modus der Ausdehnung und nichts anderes" [Ethik, II, 13]. Als solcher ist der menschliche Körper ein komplexes Zusammensetzungsverhältnis "aus sehr vielen Individuen", die von "äußeren Körpern auf sehr viele Arten affiziert werden" [Ethik, II, 13, Forderungen 1-6], denn "die Körper unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Bewegung (motus) und Ruhe (quies), der Geschwindigkeit (celeritas) und der Langsamkeit (tarditas), aber nicht hinsichtlich der Substanz" [Ethik, II, 13]. Das Wesen des Menschen ist, wie das aller "besonderen Dinge", ein Modus, d. h. als Affektion der Substanz oder ihrer Attribute [Ethik, I, 25, Folgesatz] ein Vermögensgrad: "Jedem Verhältnis von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit, das eine Unendlichkeit von Teilen versammelt, entspricht ein Machtgrad, beziehungsweise ein angemessenes Vermögen. Den Beziehungen, die ein Individuum zusammensetzen, es auflösen oder modifizieren, entsprechen Intensitäten, die es affizieren, die sein Handlungsvermögen steigern oder verringern und die von äußeren Teilen oder seinen eigenen Teilen stammen. Affekte sind Arten des Werdens."[43] So bestimmen die Zusammensetzungsverhältnisse das, was für den Menschen das Gute (bonum) und das Schlechte (malum) ist: "Gut wird jeder Gegenstand genannt, dessen Verhältnis sich mit dem meinigen zusammensetzt (Übereinstimmung) - schlecht wird jeder Gegenstand genannt, dessen Verhältnis das meine auf die Gefahr hin, sich mit anderen zusammenzusetzen, zersetzt (Nichtübereinstimmung)"[44] [Vgl.: Ethik, IV, 39, Beweis]. Dabei ist das Leben für Spinoza "keine Idee oder theoretische Angelegenheit. Es ist eine Seinsweise, ein gleicher ewiger Modus in allen Attributen."[45]


3.3 Die Affekte

Es liegt in der Natur der Dinge - in ihrem Zusammensetzungsverhältnis von Bewegung und Ruhe, von Geschwindigkeit und Langsamkeit - zu affizieren und affiziert zu werden, denn "es existiert nichts, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgte" [Ethik, I, 36] - "Unter Affekt (affectus) verstehe ich die Affektionen (affectio) des Körpers, durch die das Betätigungsvermögen (agendi potentia) des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen" [Ethik, III, Def. 3]: "Die Ordnung der Ursachen ist also eine Ordnung der Zusammensetzung und Zersetzung von Verhältnissen, die die gesamte Natur bis ins Unendliche affiziert. Als bewusste Wesen nehmen wir aber niemals mehr als die Wirkungen dieser Zusammensetzungen und Zersetzungen auf: wir empfinden Lust, wenn ein Körper unserem Körper begegnet und sich mit ihm zusammensetzt oder wenn eine Idee unserem Geist begegnet und sich mit ihm zusammensetzt, und im Gegensatz dazu Unlust, wenn ein Körper oder eine Idee unseren eigenen Zusammenhalt bedrohen."[46] Es ist das Streben (conatus) jedes Dings "so viel es kann und so viel an ihm ist, in seinem Sein zu beharren" [Ethik, III, 6, Beweis], das "die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst" [Ethik, III, 7] ist, das uns die Lust oder Unlust in einem gegebenen Zusammensetzungs- oder Zersetzungsverhältnis empfinden lässt. Dieses Streben, "auf Geist und Körper zugleich bezogen" ist der "Trieb" (appetitus) [Ethik, III, 9, Anm.]. Auch für die Affekte gilt der Parallelismus von Denken und Ausdehnung: "Was das Betätigungsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt die Denkkraft unseres Geistes" [Ethik, III, 11].

Spinoza nimmt drei Grundaffekte an: Freude (laetitia) und Trauer (tristitia), die den Empfindungen der Lust und Unlust der Zusammensetzungs- und Zersetzungsverhältnisse entsprechen, sowie das Begehren (cupiditas), das lediglich der "Trieb mit dem Bewußtein dieses Triebes" [Ethik, III, 9, Anm.] ist - "alle übrigen entstehen aus diesen drei" [Ethik, III, 11, Anm.].[47] "Die Idee jeder Art von Affektionen, die der menschliche Körper von äußeren Körpern erleidet, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich auch die Natur des äußeren Körpers in sich schließen" [Ethik, II, 16]. Hieraus entstehen die Vorstellungsbilder im Geist (des Denkens), die "einen bestimmten Zustand (constitutio) des affizierten Körpers und Geistes [bilden], der mehr oder weniger Vollkommenheit impliziert als der vorhergehende Zustand."[48]

3.4 Das Erkennen

"Der Mensch denkt" [Ethik, II, Grundsatz 2].[49] Das, was das Betätigungsvermögen des Körpers vermehrt oder vermindert und entsprechend die Denkkraft unseres Geistes fördert oder hemmt, drückt sich in den - aktiven - Affekten der Freude und den - passiven - Affekten der Trauer aus. Daher ist die Erkenntnis dessen, was unser Betätigungsvermögen vermehrt oder vermindert, "keine Verrichtung eines Subjekts[50], sondern die Bejahung (Affirmation) der Idee im Geist"[51] - "So dass wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das etwas von sich in uns bejaht oder verneint" [KA, 2. Teil, 16. Kap., 5]. Dennoch gibt es einen Erkenntnisprozess, der mit der Vermehrung unseres Betätigungsvermögens einhergeht. "Die Erkenntnis ist Selbstbejahung (Auto-Affirmation) der Idee, 'Erklärung' oder Entwicklung derselben, in der Art einer Wesenheit, die sich in ihren Eigenschaften oder einer Ursache, die sich in ihren Wirkungen erklärt."[52]

Die aus dem Erkenntnisprozeß hervorgehende vermehrte oder verminderte Vollkommenheit (des Geistes und den Körpers) darf jedoch nicht mit einem Prozeß der Vervollkommnung der Substanz Deus sive Natura durch den Menschen verwechselt werden. Vielmehr bedeutet "Vollkommenheitsgrad" hier soviel wie "Wirklichkeitsgrad", der wiederum nur einen bestimmten "Betätigungsgrad" ausdrückt: "Je 'tätiger' in diesem Sinne etwas ist, desto 'wirklicher', und je 'wirklicher', desto 'vollkommener' ist es, denn Tätigkeit, Wirklichkeit, Vollkommenheit sind Wechselbegriffe."[53] Der Schlüssel zum Verständnis dieser Wechselbegriffe liegt in der Definition des Affekts selbst, hier noch einmal - nun vollständig - wiedergegeben: "Unter Affekt verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Betätigungsvermögen des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen. Wenn wir daher von einer dieser Affektionen die adäquate Ursache sein können, dann verstehe ich unter dem Affekt eine Handlung (actio), im anderen Falle eine Leidenschaft (passio)" [Ethik, III, Def. 3].

So handeln wir, sind erkennend aktiv und haben adäquate Ideen, insofern wir die "adäquate Ursache" (causa adaequata) der Affektionen - die ja als Affektionen der Substanz oder ihrer Attribute unsere Wesen als Modi ausmachen - sind (Übereinstimmung, Zusammensetzungsverhältnisse, Reihe der von den Empfindungen der Lust begleiteten freudvollen Affekte). "Im anderen Falle" erleiden wir, erfahren die Leidenschaften passiv und haben inadäquate, "verstümmelte und verworrene" Ideen, insofern wir die "inadäquate oder Teil-Ursache" (causa inadaequata sive partialis) der Affektionen sind (Nichtübereinstimmung, Zersetzungsverhältnisse, Reihe der von den Empfindungen der Unlust begleiteten traurigen Affekte).[54] Es gibt eine Erkenntnisgattung der ersten, eine der zweiten und eine der dritten Art; Erkenntnisgattungen, die als Wirklichkeits- bzw. Betätigungsgrade wiederum Existenzmodi sind.

Die erste Erkenntnisgattung der "Meinung oder Vorstellung" [Ethik, II, 40, Anm. 2] bildet die Verkettung der inadäquaten Ideen und der passiven Affekte, Wahrnehmungen von Einzeldingen und Zeichen[55] unter den natürlichen Bedingungen unserer Existenz, die aus verworrenen und verstümmelten Vorstellungsbildern und Erinnerungen bestehen. Die zweite Erkenntnisgattung der "Vernunft" (ratio) bildet die Gemeinbegriffe (notiones communes), "adäquate Ideen der formalen Wesenheit einiger Attribute" [Ethik, II, 40, Anm. 2] bzw. die Erkenntnis dessen, "was allen Dingen gemeinsam (communia) und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist" [Ethik, II, 38]. Aus der dritten Erkenntnisgattung des "anschauenden Wissens" [Ethik, II, 40, Anm. 2] schließlich, entsteht die adäquate Erkenntnis der Wesenheit der Dinge, indem diese "unter einer gewissen Art der Ewigkeit" (sub specie aeternitatis) [Ethik, II, 44, Beweis] betrachtet werden. Aus der dritten Erkenntnisgattung entspringt "die geistige Liebe zu Gott" (amor Dei intellectualis) [Ethik, V, 33].

Die Gemeinbegriffe bilden gewissermaßen das Zentrum des Erkenntnisprozesses - wie auch die einzig mögliche Überleitung zur dritten Erkenntnisgattung[56] -, sie definieren "das Bestreben der Vernunft, Begegnungen zwischen bestehenden Modi unter Verhältnissen zu organisieren, die sich zusammensetzen, und die mal Doppelung, mal die Ersetzung der passiven Affekte durch die aktiven Affekte, die den Gemeinbegriffen selbst entspringen, ergeben. Doch sind die Gemeinbegriffe... allgemeine Ideen, die sich nur auf bestehende Modi anwenden lassen - in diesem Sinne lassen sie uns nicht die besondere Wesenheit erkennen. Die dritte Gattung lässt die Wesenheit erkennen: nun wird das Attribut nicht mehr als Gemeinbegriff (d.h. allgemein) und auf alle bestehenden Modi anwendbar erfasst, sondern als gemeinsame Form (d.h. eindeutig) auf die Substanz."[57]

E-Mail: zion@robert-zion.de


Anmerkungen

[1] François Quesnay: Das Ökonomische Tableau, in: ders.: Ökonomische Schriften in zwei Bänden und vier Halbbänden, Berlin: Akademie-Verlag 1976, Band I, Schriften aus den Jahren 1756 bis 1759, Erster Halbband, S. 337-448. Abbildung des Tableaus: commons.wikimedia.org.

[2] Alle Abbildungen - sofern nicht anders angegeben - stammen vom Autor.

[3] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, in: ders.: Marx Engels Werke, Bd. 26.1, Berlin: Dietz 1965, S. 319.

[4] François Quesnay: Allgemeine Maximen der Wirtschaftspolitik eines agrikolen Königreiches und Bemerkungen zu diesen Maximen, in: ders.: Ökonomische Schriften, a.a.O. Band II, Schriften aus den Jahren 1763 bis 1767, Erster Halbband, S. 277-340, hier: S. 295.

[5] Statt dem Boden - die Arbeit als einzig neuwertschöpfender Faktor; statt des Abziehens des Mehrwerts vom Grundbesitzer als Rente - der Profit des Kapitalisten und schließlich statt dem stationären Wirtschaftkreislauf - die konstante Expansion kapitalistischer Produktion.

[6] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861-1863), in: Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe, Zweite Abt., Bd. 3/2, Berlin: Dietz 1977, S. 351.

[7] Anne Robert Jacques Turgot: Betrachtungen über die Bildung und Verteilung der Reichtümer, Berlin: Akademie-Verlag 1981, § XVII, S. 107.

[8] Zit. n.: Ebda.: Anm. 115, S. 168.

[9] Zit. n.: Ebda.: Anm. 115, S. 169.

[10] Ebda.: § XVII, S. 169.

[11] Die im Text in eckigen Klammern angegeben Seitenzahlen beziehen sich auf: Michael Hardt/Antonio Negri: Commonwealth, Cambridge (Massachusetts): The Belknap Press of Harvard University Press 2009.

[12] Die Werke Spinozas werden in eckigen Klammern im Text mit folgenden Abkürzungen zitiert: KA = Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Hamburg: Meiner 1965; TPT = Theologisch-Politischer Traktat, Hamburg: Meiner 1976; Ethik = Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg: Meiner 1976; PT = Politischer Traktat, Hamburg: Meiner 1994; Briefe = Briefwechsel, Hamburg: Meiner 1986. Die zitierten Textstellen werden mit Angaben zu Kapitel- und Abschnittsnummern bzw. Briefnummern bezeichnet, für den Theologisch-Politischen Traktat mit Kapitelnummer und Seitenangabe. Zitate aus der Ethik werden mit dem Buch (lateinische Zahl von I bis V) und dem Lehrsatz (arabische Zahl) und dem zum Lehrsatz gehörenden "Beweis", "Folgesatz", "Lehnsatz" oder "Anmerkung" usw. bezeichnet.

[13] Vgl.: Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt a.M./Wien: Europäische Verlagsanstalt/Europa Verlag o.J., S. 53ff.

[14] Vgl.: Aristoteles: Metaphysik, Rowohlt: Reinbek 1966, Fünftes Buch, 12. 1019a-1020a.

[15] Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München: Fink 1989, Nr. 242, S. 286.

[16] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, a.a.O., S. 14.

[17] Teresa Brennan: Jenseits der Hybris. Bausteine einer neuen Ökonomie, Frankfurt a. M.: Fischer 1997, S. 189.

[18] Ebda.: S. 192.

[19] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bände, Berlin: Dietz 1966., 1. Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals, S. 58.

[20] René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner 1992, IV, Nr. 3, S. 99.

[21] Der Unterschied zwischen dem orthodoxen Marxismus und einer spinozianischen Grundlegung der Linken ist so in der Tat auch auf den zwischen dem Dualismus Descartes' und dem spinozianischen Parallelismus von Denken und Ausdehnung zurückzuführen.

[22] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, a.a.O., S. 319.

[23] Karl Marx: Grundrisse, a.a.O., S. 53.

[24] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, a.a.O., S. 12.

[25] Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin: Wagenbach 1982, S. 10.

[26] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, a.a.O., S. 14.

[27] Vgl.: Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.: Campus 2002, passim.

[28] Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 205.

[29] Vgl.: Ethik, V, 42, Anm.

[30] Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg: Meiner 1992, S. 5.

[31] Antonio Negri: Subversive Spinoza. (un)contemporary variations, Manchester/New York: Manchester University Press 2004, S. 94f. (Übersetzung RZ)

[32] Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 61.

[33] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 171.

[34] Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O., S. 183.

[35] Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 13.

[36] Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262, hier: S. 255.

[37] Vgl.: Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M.: Campus 2004, passim.

[38] "Spinozianische Demokratie ist daher", so Antonio Negri, "eine begründende Macht, alles, was sie uns sagt, ist: sei Macht (im Original: essere potenza)." Antonio Negri: Subversive Spinoza, a.a.O., S. 99. (Übersetzung RZ)

[39] Die ausführliche Darlegung der ontologischen Zusammenhänge der Triade Substanz - Attribut - Modus ist äußerst komplex und kann hier nicht geleistet werden. Ausführlich dargestellt sind diese bei: Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink 1993; sowie: Martial Gueroult: Spinoza I. Dieu, Paris: Aubier Montaigne 1997.

[40] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin: Merve 1988, S. 89.

[41] Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 97.

[42] Im Pantheismus Spinozas darf Gott nicht - etwa im Sinne Plotins und der Neuplatoniker - als emanative Ursache verstanden werden, von der her die "Welt" eine - hierarchisierende - Ordnung des Seins "empfängt". Ebenso wenig ist der Gott Spinozas ein mit einem "freien Willen" ausgestatteter Schöpfergott. Gott oder die Natur drückt sich vielmehr in seinen Attributen und Modi aus, durch die er sich seinerseits als "unbedingt erste" [Ethik, I, 16, Folgesatz 3], immanente und freie Ursache seiner selbst konstituiert: "Das Sein produziert sich." Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 255. Vgl. hierzu auch: Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 151ff.

[43] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1997, S. 349.

[44] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 47.

[45] Ebda.: S. 22.

[46] Ebda.: S. 29.

[47] Spinoza beschreibt insgesamt 45 aus den Grundaffekten abgeleitete Affekte [Vgl.: Ethik, III, Def. d. Affekte 4-48]. Neben den drei Grundaffekten ist für Hardt und Negri insbesondere einer dieser abgeleiteten Affekte von Bedeutung: "LIEBE ist Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache" [Def. d. Affekte 6].

[48] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 64f.

[49] "Ich denke, daher bin ich" (cogito, ergo sum). René Descartes: Prinzipien der Philosophie, Hamburg: Meiner 2005, 1. Teil, 7, S. 15 - Diese "überhaupt erste und sicherste" Erkenntnis Descartes' und die damit einhergehende Substantivierung des "Ich" schließt Spinoza hiermit aus. Vielmehr: "Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Ding" [Ethik, II, 1] - "Wir empfinden einen gewissen Körper wie er auf vielerlei Weisen affiziert wird" [Ethik, II, Grundsatz 4]. Dementsprechend gibt es Modi des Denkens nur, insofern es in dem selben Individuum die Idee der Affekte gibt und wir empfinden nichts als Körper und Modi des Denkens [Vgl.: Ethik, II, Grundsatz 3-5].

[50] Für Spinoza gibt es weder ein "Subjekt" und ein "Ich" (Siehe vorhergehende Anm.) noch ein substanzielles Bewusstsein. Es gibt nur eine Substanz: Deus sive Natura. Das Bewusstsein ist lediglich eine Verdoppelung der Ideen im Geist.

[51] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 78.

[52] Ebda.: S. 79. Da das Erkennen keine Operation eines "Subjekts" ist, ist es auch nicht an einen "Willen" gebunden. Vielmehr ist der "Wille (voluntas) das Vermögen zu bejahen und zu verneinen" [Ethik, II, 48, Anm.] selbst. Folglich gilt: "Wille und Verstand sind ein und das selbe" [Ethik, II, 49, Folgesatz].

[53] Rudolf Schottlaender: Einleitung zu Spinozas "Ethik", in: Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, a.a.O., S. VII-XX, hier: S. XI.

[54] Vgl.: Ethik, III, Def. 1-2; III, Ford. 1-2; III, 1.

[55] "Indikative Zeichen, die die inadädquate Erkenntnis der Dinge einschließen, und imperative Zeichen, die die inadäquate Erkenntnis der Gesetze einschließen." Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 79.

[56] "Das Streben oder das Begehren, die Dinge in der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, kann nicht aus der ersten Erkenntnisgattung entspringen, wohl aber aus der zweiten" [Ethik, V, 28].

[57] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 79f.

Raute

Karl Reitter

Kritische Bemerkungen zum Artikel von Robert Zion "Eine spinozianische Grundlegung der Linken"

Eine "spinozianische Grundlegung der Linken" kann ich nur voll und ganz unterstützen. Ich arbeite schon länger an einem Buch zu Marx und Spinoza, in dem ebenfalls die Philosophie Spinozas als Bezugspunkt für emanzipatorisches Denken vorgeschlagen wird. Gerade deswegen interessieren und berühren mich die Ausführungen zu Spinozas sehr. Der Autor orientiert sich sehr stark an Deleuze. Diesen Bezug finde ich wegen der grundlegenden Darstellung, die Deleuze dem Werk von Spinoza[1] gibt, sehr problematisch. Ich versuche, meine Kritik vorweg in einem Satz anzudeuten: Nach meiner Auffassung verkehrt Deleuze den Philosophen der Rationalität, des Subjekts und der wahren Erkenntnis in einen "nietzscheanisch-lebensphilosophisch inspirierten" Theoretiker (Oittinen). Nun, das ist erstmals nur eine Überschrift. Ich kann meine Sichtweise hier nicht umfassend argumentieren und jeder Versuch, eine systematische Kritik an Deleuze in ein paar Absätze zu pressen, muss wohl scheitern.

Ich will statt dessen nur einige Passagen des Textes in aller Kürze kritisch kommentieren. Ich beginne mit eher untergeordneten Punkten, die jedoch auch ein wenig das Klima erhellen, das die Spinoza Darstellung durch Deleuze produziert. Zion zitiert Deleuze, der wiederum Spinoza zitiert: "Allerdings was der Körper vermag, hat bisher niemand festgestellt." Wie im Text betont, sind Körper und Geist (mens) "ein und das selbe Ding ..." (Ethik, III, LS 2, A), welches bloß unter verschiedenen Attributen begriffen wird. Daher können und müssen wir mit Spinoza sagen: Wir wissen auch nicht was der Geist alles vermag. Zudem bezieht sich Spinoza in keinem Lehrsatz, in keinem Beweis auf diese nebenbei getroffene Aussage. Nichts wird mit dieser Aussage begründet, nichts davon abgeleitet. Weiters fügt sich diese Bemerkung in eine ganze Reihe von Lehrsätzen des II. Buches, in denen Spinoza klarstellt, dass wir von sehr vielen Dingen keine klare Erkenntnis haben können. Deleuze transformiert nun die Tatsache des Nichtwissens, also eines bloßen Mangels an Erkenntnis, in eine Positivität, in das Unbewusste obwohl Spinoza immer wieder postuliert, dass der Mangel keine positive Form annehmen kann! "Es handelt sich darum nachzuweisen, dass der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat und dass ebenso das Denken das Bewusstsein übersteigt, das man von ihm hat." (Deleuze; Praktische Philosophie, 28) Dass ich etwas nicht weiß ist eine Sache, die andere zu behaupten, dieses Nichtwissen würde Erkennen und Bewusstsein "übersteigen" und in irgendeiner Weise unbewusst kausal wirken. Das Kalkül Deleuzes liegt auf der Hand: gegen Subjekt und Bewusstsein sollen der Körper und das Unbewusste ausgespielt und stark gemacht werden. "... Nichtwissen und Irren ist zweierlei." sagt hingegen Spinoza. (Ethik, II, LS 35, Beweis) Das bloße Nichtwissen kann für Spinoza nichts bewirken. Deleuze hingegen füllt es mit Nietzscheanischen und Freudschen Inhalten.

"Der Mensch (homo) existiert nicht notwendig..." lesen wir. Spinoza sagt etwas ganz anderes, er sagt: "Das Wesen des Menschen schließt nicht notwendige Existenz in sich; d.h., nach der Ordnung der Natur kann es ebenso geschehen, dass dieser oder jener Mensch existiert, als dass er nicht existiert." (Ethik, II, Axiom 1) Der Unterschied zwischen: dieser oder jener Mensch existiert nicht notwendig oder der Mensch existiert nicht notwendig mag als Spitzfindigkeit erscheinen. Wenn wir uns allerdings an die Attacken von Althusser auf den Humanismus und den Menschen erinnern, wenn wir uns an den Ausspruch vom Menschen als Fußabdruck im Sande von Foucault erinnern, wenn wir uns also das Klima nochmals vor Augen führen, in dem die Spinoza Rezeption Deleuzes entstanden ist und in dem der Mensch als Ausgeburt einer tobenden Vernunft dechiffriert wurde, dann ist diese kleine Verschiebung nicht bloß eine Bagatelle. Wer nämlich Spinoza nicht kennt, könnte im Philosophen der Vereinigten Provinzen durch diese Aussage einen Vorläufer des französischen Antihumanismus erblicken.

Das waren eher atmosphärische Einwände. Ich komme nun zu zentralen Punkten. Robert Zion zitiert erneut Deleuze: "Gut wird jeder Gegenstand genannt, dessen Verhältnis sich mit dem meinigen Zusammensetzt (Übereinstimmung) - schlecht hingegen wird jeder Gegenstand genannt, dessen Verhältnis das meine auf die Gefahr hin, sich mit anderen zusammenzusetzen, zersetzt (Nichtübereinstimmung)" (Deleuze, Praktische Philosophie 47) Sofort danach nochmals ein Deleuze Zitat bezogen auf die Definition von Lust und Unlust. "... wir empfinden Lust, wenn ein Körper unserem Körper begegnet und sich mit ihm zusammensetzt .... Und im Gegensatz dazu Unlust, wenn ein Körper oder eine Idee unseren eigenen Zusammenhalt bedroht." (Deleuze; Praktische Philosophie 29) Wir haben also ein zentrales Begriffspaar: Zusammensetzung - Zersetzung. Die Darstellung der Interpretation durch Deleuze ist nach meiner Auffassung durchaus korrekt: Für ihn ist dieser Gegensatz konstitutiv für die Ethik des Spinoza. Doch diese Interpretation ist nicht nur sachlich unrichtig, vor allem verkehrt sie den emanzipatorischen philosophischen Entwurf Spinozas ins Gegenteil. Der zweite Kritikpunkt ist klarerweise wesentlicher.

Was sagt Spinoza wirklich? Er spricht in allen zentralen Aussagen nicht von Zusammensetzung oder Zersetzung sondern definiert Lust/das Gute bzw. Unlust/das Schlechte als Steigerung bzw. Verringerung des Tätigkeitsvermögens (agendi potentiam) unseres Körpers und unsers Auffassung- und Erkenntnisvermögens. Zugleich bezieht er diese Prozesse auf den Gegensatz Freiheit - Unfreiheit. Beide Aspekte zusammengefasst - den Aspekt des Tätigkeitsvermögens wie den Aspekt der Freiheit - finden wir in den abschließenden Definitionen des III. Buches. "Lust ist der Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit. Unlust ist der Übergang des Menschen von größerer zu geringerer Vollkommenheit." (Ethik, III, Def. der Affekte 2 und 3) Und was meint Vollkommenheit? "Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es." (Ethik V LS 40) Tätigsein meint bei Spinoza aus wahrer Erkenntnis frei zu handeln, das heißt wiederum aus der Notwendigkeit der eigenen Natur heraus tätig zu sein. Vollkommenheit zielt also auf Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Freiheit kann nicht als Zusammensetzung gedeutet werden. Alle Einwirkungen, also Affektionen bewirken ein Steigen oder Sinken des Tätigkeits- und des Erkenntnisvermögens. Aber auch diese Wirkungen haben mit Zusammensetzung oder Zersetzung nichts zu tun. Dafür gibt es keine einzige Belegstelle in der Ethik. Deleuze verzerrt mit seinem Begriffspaar nicht nur die gesamte Affektenlehre bei Spinoza, er entledigt sich auch des Primats der wahren, adäquaten Erkenntnis. "Es gibt darum kein vernünftiges Leben ohne Erkenntnis. Auch sind die Dinge nur insofern gut, sofern sie den Menschen fördern, das Leben des Geistes zu genießen, welches durch Erkenntnis definiert wird." (Ethik. IV, Hauptsatz 5) Die Freude am Erkennen selbst, als Ausdruck des Tätigkeitsvermögen des Geistes, ist für Spinoza ganz zentral. "Wenn der Geist sich selbst und sein Tätigkeitsvermögen begreift, empfindet er Lust (nach Lehrsatz 53 dieses Teils.)" (Ethik, III, LS 58 B)

Völlig anders ist die Thematik der Übereinstimmung als Bedingung der Überwindung des Konfliktes gelagert. In einer ganzen Gruppe von Lehrsätzen diskutiert Spinoza im IV Buch die Frage der Übereinstimmung zwischen den Menschen. Abgesehen von der Tatsache, dass Übereinstimmung keineswegs mit Zusammensetzung synonym ist (die Begriffe bedeuten völlig unterschiedliches) diskutiert Spinoza dort die Bedingungen des freien Gemeinwesens. "Nur insofern die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, stimmen sie von Natur immer notwendig überein." (Ethik, IV, LS 35) Nach Leitung der Vernunft leben meint, sein eigenes Sein mittels wahrer Erkenntnis zu erhalten zu versuchen. Dies schließt die Erkenntnis ein, dass das Wichtigste für den Menschen der andere Mensch ist, auch wenn dieser nicht (immer) der Vernunft folgt. Die gesellschaftliche Interaktion erfordert nun keine diffuse Zusammensetzung, sondern eine politische Konstitution des Gemeinwesens auf Basis des geteilten nicht knappen Gutes. Das nicht knappe, gemeinsame Gut wird, wie zitiert, letztlich in den Lehrsätzen 36 und 37 definiert. Es ist dies die freie Gemeinschaft selbst. Daher folgt sofort auf den Lehrsatz 37 im Anhang eine Vorwegnahme der Themen und Probleme des nach Beendigung der Ethik geschriebenen Politischen Traktats. Während uns Deleuze einen Spinoza vorstellt, der mit einem physikalisch-vitalistischen Konzept der Zusammensetzung operiert, kann ich nur einen Spinoza erkennen, der das auf maximaler Vernunfterkenntnis gestützte politisch konstituierte Gemeinwesen thematisiert und in diesem Kontext den Begriff der Übereinstimmung entwickelt. Zwischen einem "lassen wir die Zusammensetzung geschehen, bejahen wie sie" und dem gemeinsamen Streben nach sozialem Leben unter dem Vorzeichen der Vernunft und der Tugend sehe ich doch gravierende Differenzen.

Gegen eine eindimensionale Identifikation von Lust mit Zusammensetzung spricht auch eine ganze Gruppe von Lehrsätzen. (Ethik, IV, LS 38, 39, 41, 42, 43, 44, ebenso 60, 61, 62) Im Kern geht es um die These: "Liebe und Begierde können ein Übermaß haben." (Ethik, IV, LS 44) Weit entfernt davon jede Lust (und nun meinetwegen Zusammensetzung) vorbehaltlos zu Bejahen, ist es wieder die Rationalität, die Lustempfindungen hinsichtlich ihrer Qualitäten beurteilen muss, wollen wir wahrhaft unser Sein erhalten. Diese Reflexionsfigur lässt sich im Spiel Zusammensetzung/Zersetzung nicht mehr positionieren.

Abschließend ein paar Bemerkungen zum Themenkreis Idee, Geist, Erkennen und Subjekt. Es wird die Aussage Spinozas zitiert, dass die Idee der Affektionen sowohl die Natur des äußeren wie des eigenen Körpers einschließt. Daraus wird geschlossen: "Hieraus entstehen die Vorstellungsbilder im Geist (des Denkens), ...." Unter der Zwischenüberschrift "Das Erkennen" wird der Gedanke teilweise mit Deleuze-Zitaten weiter geführt: "Daher ist die Erkenntnis dessen, was unser Betätigungsvermögen vermehrt oder vermindert, 'keine Vorrichtung eines Subjekts', sondern die Bejahung (Affirmation) der Idee im Geist - "Das klingt so, als ob der Geist (mens) eine Art passiver Behälter wäre, in dem Prozesse ablaufen, die das Bewusstsein nachträglich konstituieren, als Prozesse aber dem Bewusstsein vorgelagert sind und es übersteigen. Diese Sichtweise verstärkt der Text mit einem Zitat aus der "Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück": "So dass wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding bejahen oder verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das was von sich in uns bejaht oder verneint." (KA 2. Teil, 16. Kap. § 5) Wer Spinoza nicht kennt, muss aus diesen Passagen einen falschen Eindruck bekommen.

Ich skizziere zuerst die Ausgangssituation bei Spinoza: Geist bildet die Idee, sie ist sein Produkt. Die Idee ist kein Bildchen, das von den Dingen ausgesandt sich als Idee im Geist niederschlägt. "Unter Idee verstehe ich einen Begriff des Geistes, den der Geist bildet, weil er ein denkendes Ding ist." Und um die Aktivität des Intellekts nochmals zu betonen, setzt Spinoza hinzu: "Ich sage lieber Begriff als Wahrnehmung, weil das Wort Wahrnehmung anzudeuten scheint, dass der Geist von seinem Objekt leidet, während der Begriff eine Tätigkeit des Geistes auszudrücken scheint." (Ethik, II, Definition 3 plus Erläuterung) Der Mensch denkt, er denkt und er bildet aktiv Ideen. Diese aktive Tätigkeit wird von Spinoza mehrfach erläutert: Es wäre falsch zu meinen, "... eine Idee sei etwas Stummes, wie ein Gemälde auf der Tafel, und nicht eine Form des Denkens, also das Erkennen selbst." (Ethik II, LS 43 Anmerkung) Manche irren und missinterpretieren "... Ideen wie stumme Gemälde an einer Tafel und sehen, von diesem Vorurteil eingenommen, nicht, dass die Idee, sofern sie Idee ist, eine Bejahung oder Verneinung in sich schließt." (Ethik, II, LS 49, Anmerkung) Nun ist auch die Bejahung und Verneinung aufzuklären, die oben im Zitat angesprochen ist.[2] Der Geist bildet die Idee. Mit der Bildung der Idee werden notwendig die Merkmale des Gegenstandes bejaht oder verneint. Spinoza benützt zur Erläuterung zumeist folgendes Beispiel: Bilde ich die Idee des Dreieckes, so bejahe ich damit notwendig, dass die Winkelsumme 180 Grad beträgt. Ich kann die Bejahung nicht von der Bildung der Idee trennen und ungekehrt, das ist mit Bejahung gemeint. Die Idee des Dreiecks und die willentliche Bejahung der Tatsache der Winkelsumme ist ein und dasselbe. Daher kann Spinoza sagen: "Der Wille und der Verstand ist ein und dasselbe" (Ethik, II, LS 49 Z) Was in der zitierten Frühschrift noch unklar sein mag, ist in der Ethik eindeutig.

Deleuze trennt die Idee vom Geist, um aus der Idee das Bewusstsein ableiten zu können. "Bewusstsein - Eigenschaft der Idee [sic!], sich auseinanderzufalten, sich bis ins Unendliche zu verdoppeln: Idee der Idee." (Deleuze; Praktische Philosophie 70) Das ist nicht Spinozistisch. Auch die Idee der Idee bildet der Geist. Der Begriff Bewusstsein kommt in der Ethik nicht vor. Das bedeutet nicht, dass das Bewusstsein keinen Platz hätte. Robert Zion selbst zitiertes Spinozas Lehrsatz: "Der Mensch denkt". Nun sind Denkvorgänge ohne das Bewusstsein von diesen Denkvorgängen nicht möglich. Dem denkenden Menschen im Sinne Spinozas das Bewusstsein absprechen zu wollen, das eigene Denken zu denken, wäre eine abstruse Konstruktion.

Deleuze bildet die dreidimensionale Philosophie Spinozas auf die zweidimensionale Fläche Zusammensetzung/Zersetzung ab. Das führt zum Verlust wesentlicher Problematiken und Einsichten, vor allem der Argumentation, wie trotz des scheinbaren "Egoismus" der Menschen - "Niemand strebt, sein eigenes Sein um eines anderen Dinges willen zu erhalten." (Ethik, IV, LS 25) - die Notwendigkeit und Möglichkeit des freien Gemeinwesens begründet werden kann. Die Dimension der Freiheit/Gezwungenheit wie die Dimension des Tätigkeitsvermögens werden verflacht und dadurch nicht mehr unterscheidbar. Wesentliche Thesen Spinozas können nicht mehr rezipiert werden: Der Mensch, wie jede Modifikation der Substanz, ist ohne inneren Widerspruch, ohne Kluft, ohne innere Gegensätze. Unser Körper besitzt eine Einheit der Form, deren Bewahrung unser Weiterleben sichert. (Vergl. Ethik IV, LS 39) Wir streben notwendig nach Tätigkeitsvermögen und Erkenntnis und wir haben sehr wohl ein Ziel: unsere Freiheit zu optimieren. Die Subjekte haben zwar Illusionen, sind aber keine Illusionen! Deleuze hingegen löst alle diese Bestimmungen in Grade der Zusammensetzung und Zersetzung auf. Das bedeutet für mich, er löst die emanzipatorische, revolutionäre Substanz der Philosophie Spinozas in einen flachen Dualismus auf.

E-Mail: k.reitter@gmx.net


Anmerkungen

[1] Eine brauchbare Übersetzung der Ethik:
http://bdsweb.tripod.com/pdf/spinoza-ethik.pdf

[2] Nur nebenbei, vor der "Kurzen Abhandlung" existiert kein Original. Die durchgehende Autorenschaft Spinozas ist zumindest fragwürdig. Der bedeutende Spinoza Forscher Jonathan Bennett etwa weigert sich z.B. deshalb, diesen Text überhaupt zu interpretieren.

Raute

Robert Zion

Anmerkungen zu Karl Reitters "Kritischen Bemerkungen zum Artikel von Robert Zion 'Eine spinozianische Grundlegung der Linken'"

Ich widerspreche Karl Reitter keineswegs grundsätzlich in den Fragestellungen, würde jedoch meinerseits anmerken, dass dieser Text in erster Linie einen Versuch darstellt, die Spinoza-Interpretation Hardt/Negris zu umreißen, wie sie in Commonwealth ausgearbeitet ist (die ihrerseits wiederum eine Art Abbildung von Negris Knast-Buch über Spinoza auf die Thematiken von Empire darstellt). Dass diese Interpretation ihrerseits wiederum stark deleuzeianisch geprägt ist, ist richtig und in der Tat zu diskutieren.

Sollte das hier umrissene Feld jedenfalls zu weiteren Debatten führen, dann kann dies nur positiv sein. Höchst unglücklich fände ich es aber, wenn diese Debatte - wieder einmal - zu einer über den "französischen Antihumanismus" werden würde. So sehr ich Karl Reitters Betonung der zweifellos vorhandenen cartesianischen Momente bei Spinoza (gewissermaßen der schulphilosophische Rationalist) nachvollziehen kann, so sehr würde ich aber auf der - in der Tat - Verflachung (auf eine zweidimensionale Fläche) des ontologischen Raumes beharren wollen (Analog zum "glatten Raum" des Empire). Nun ist das Begriffspaar Zusammensetzung/ Zersetzung zwar in Tat ein Schematismus, aber keineswegs ein Dualismus, eher ein Dynamismus.[1] Obwohl viele Deleuzeianer diese Tendenz haben, denke ich dennoch, dass wir damit nicht notwendigerweise bei Bergson/Nietzsche landen. Eben was das "geistige Klima" betrifft, so scheint doch Deleuze immer auf ein "Dazwischen" zu zielen: der "Philosoph der Vereinigten Provinzen" (wie übrigens auch Leibniz!) steht für Deleuze und Negri zwischen Theologie und rationaler Metaphysik, zwischen Humanismus und Aufklärung, zwischen Konstitution und Repräsentation, Naturrecht und positivem Recht, Markt und Kapitalismus etc. Und es ist sicherlich einer der wichtigsten Ansätze von Hardt/Negri in Commonwealth, dieses "Dazwischen" auch historisch auszudeuten, so, wenn die Desaster des zwanzigsten Jahrhunderts eben nicht einfach auf das "geistige Klima" einer irrationalistischen Metaphysik (Dilthey, Nietzsche, Bergson) zurückgeführt werden, sondern ebenso auf die "Wehrlosigkeit" der rationalistischen, bürgerlichen Metaphysik (insb. des Neukantianismus).

Die Ablehnung jeglicher Eminenz, die sich im Immanenzgedanken ausdrückt, scheint mir doch notwendigerweise in ein differenzielles, a-dialektisches Denken zu münden, dass aber doch nicht unbedingt antihumanistisch sein muss. Ist es nicht vielmehr so, dass der Humanismus den Menschen als Möglichkeitsform definiert? Und wie kann ich dies - auch heute wieder - tun, wenn ich nicht zugleich sein Noch-Nicht (vielleicht sogar sein Nicht-Mehr?) zumindest als möglich annehme (ebenso den Kommunismus, der mit dieser Frage in einem engen ontologischen Zusammenhang steht)?

Und abschließend: ja, Deleuzes Interpretation lässt an Freud denken. Aber, haben wir Freud - hat er selbst sich - nicht immer als Psychologen missinterpretiert? Was ist die Psychoanalyse? Eigentlich doch nur ein Gedanke: "Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältnis der Kausalität zu den psychischen Vorgängen. Die physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen haben, vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur dass jedem Glied derselben (oder einzelnen Gliedern) von einem gewissen Moment an ein psychisches Phänomen entspricht. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen."[2] Also: "Die physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen haben." "Wir" sind "uns" in dem, was wir das "Subjekt" nennen, also immer zugleich hinterher wie auch voraus.

Auch der Parallelismus ist also ein Dazwischen (und was haben Foucault, Althusser, Deleuze etc. eigentlich anderes gesagt, wenn wir ihr Denken als nicht-vermittelndes Denken der produktiven Differenzen auffassen?). Wenn denn eine spinozianische Grundlegung der Linken Sinn machen sollte, dann doch nur als Philosophie einer alternativen Produktion von Subjektivität und eben nicht als Denken des Subjekts in der Linie Descartes-Kant-Hegel.


Anmerkungen

[1] Die Verflachung des ontologischen Raumes auf eine zweidimensionale Fläche bei Deleuze, geschieht ja eben auch in der Absicht, die Illusionen der "Tiefe" der gesamten bürgerlichen Metaphysik zu überwinden (so etwa, wenn Deleuze Leibniz' Weltbeschreibung als Faltungen einer Oberfläche deutet). Hinsichtlich Spinoza führt dies in der Darstellung der Triade Substanz - Attribut - Modus zu einer Ausdeutung, die eben nicht lebensphilosophisch-vitalistisch, sondern eher "kinematografisch" ist.

[2] Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, V, S. 98.

Raute

Philippe Kellermann

Marxistische Annäherung an den Anarchismus?
Die Konjunktur leerer Gesten am Beispiel Wolfgang Fritz Haugs


Sie trinken? Sie lachen noch?
Gelächter steigt wie Rauch
Und plötzlich, hängt
der Mond rot im Strauch

Bertolt Brecht


die Geschichte des kommunistischen Abenteuers
ist nicht gleichbedeutend mit der
Geschichte des Sozialismus als solchem

Fredric Jameson


0. Vorab

Es ist schon einige Zeit her, seit dem in der GRUNDRISSE der Versuch einer Annäherung von Anarchismus und Marxismus unternommen wurde. Leider sind bis jetzt nur drei Aufsätze zum Thema erschienen,[1] dafür aber scheint es auch für Leute aus dem anarchistischen Umfeld die Möglichkeit zu geben, an der GRUNDRISSE mitzuarbeiten.[2] Und vielleicht ist diese praktische Zusammenarbeit letztlich auch wichtiger als jeder theoretische Text.[3]

Im Folgenden möchte ich mich mit W.F. Haug auseinandersetzen. Der Grund dafür ist, dass auch er in seinem Buch High-Tech-Kapitalismus dafür plädiert hat, den historischen Bruch mit den "anarchistischen oder anarcho-syndikalistischen Strömungen" rückgängig zu machen (2003a, 285). So begrüßenswert dies ist, so ernüchternd ist eine Durchsicht der Haugschen Texten der letzten Jahre, zeigen diese doch, dass diese Annäherung in keiner Weise zum Thema gemacht wurden, so dass man sich fragt, was diese Geste eigentlich für einen Wert besitzt.[4] Die Berechtigung zum folgenden Text scheint mir dabei erstens darin zu liegen, dass Haug ein durchaus einflussreicher Marxist ist, der, als Herausgeber der Zeitschrift DAS ARGUMENT oder des HISTORISCH-KRITISCHEN WÖRTERBUCHS DES MARXISMUS in dieser Sache vieles hätte bewirken können; und zweitens, weil mir der Haugsche "Umgang" mit dem Anarchismus bezeichnend dafür zu sein scheint, wie von großen Teilen der MarxistInnen das Thema Anarchismus (nicht-)verhandelt wird - selbst, oder gerade da, wo ursprünglich anarchistische Positionen vertreten werden.[5]

1. High-Tech-Kapitalismus (2003)

Liest man sich die knapp eineinhalb Seiten unter der Überschrift Marx' Abrechnung mit den Anarchisten durch, in denen Haug ein Zusammengehen mit den Anarchisten proklamiert, so fragt man sich nach der Lektüre unweigerlich: Warum eigentlich? Denn Haug erzählt an besagter Stelle lediglich eine angebliche "Abrechnung" von Marx mit "den Anarchisten" nach, in der, statt von "den Anarchisten" eigentlich nur von der im Anarchismus umstrittenen Figur Netschajew und - da mit diesem zeitweise im Kontakt stehend - Bakunin die Rede ist (2003a, 85). Auf die Beziehung zwischen Bakunin und Netschajew und dass sich Bakunin schließlich selbst von Netschajew abgrenzt, weil er, Netschajew, mit "außerordentlichem Fanatismus (...) den Jesuiten" näher stehen würden als "uns" (1870, 58), geht Haug mit keinem Wort ein. Ohne kritische Distanz wird dabei Marx' Position übernommen, nach der die Anarchisten "autoritärer als der primitivste Kommunismus" seien, während Marx selbst als Verteidiger von "Basisdemokratie, Menschenrechte[n] und Ethik" (2003a, 85) präsentiert wird.[6] Haug geht dabei soweit, den Eindruck zu erzeugen, dass die Anarchisten in ähnlicher Weise autoritär gewesen seien, wie die spätere KPdSU.[7] Kritisiert wird Marx nur dafür, dass er die autoritären Tendenzen, die er bei den Anarchisten anscheinend so hellsichtig erkannt hat, im eigenen Lager nicht gesehen habe.

Nun wird aus alledem eines nicht ersichtlich: Warum ein Zusammengehen mit "Superautoritären" (2003a, 85)? Meint Haug, entgegen seinem Titel vielleicht, dass es doch noch andere Anarchisten gibt? Wenn ja, warum spricht er von Ihnen nicht. Und warum überschreibt er den Abschnitt nicht mit "Marx' Abrechnung mit Bakunin und Netschajew"? Dies ist auch deshalb auffällig, weil Haug in seinem Buch Elemente einer Theorie des Ideologischen, die in HTK geäußerten Gedanken schon einmal kundgetan und dort unter die Überschrift Der Kampf gegen die »Immoralität« der Bakunisten (1993, 165) gestellt hatte. Auch wenn der Begriff der "Bakunisten" irreführend und unreflektiert aus der Marxschen Polemik übernommen ist, so ist er dennoch spezifischer als allgemein von "den Anarchisten" zu reden[8]. Mögen diese Unklarheiten der Form des Vortrags geschuldet sein - der hier referierte Abschnitt ist Teil eines von Haug gehaltenen Vortrags in der Schweiz im Jahr 2002 - so wäre doch zu erwarten, dass Haug etwas zum Anarchismus, etwa einen Aufsatz in Das Argument, veröffentlicht.


2. Aufsätze in Das Argument (2004-2006)

Überfliegt man nun mit einiger Hoffnung der eine (»Zusammengehen erwünscht«), mit einiger Angst der andere (»Keine Kooperation mit der 'Kinderkrankheit'«) Aufsatz in Das Argument von Wolfgang Fritz Haug, fällt zunächst eines auf: Keiner von beiden beschäftigt sich erkennbar mit dem Thema Anarchismus. Das ist vor dem Hintergrund der oben erwähnten Annäherungsgeste schon einmal erstaunlich. Aber vielleicht hat Haug ja stattdessen in seinen Argument-Aufsätzen anhand aktueller politischer Fragestellungen die Chance für Querverweise auf und/oder für die Diskussion anarchistischer Positionen genutzt. Im Folgenden seien deshalb exemplarisch drei Aufsätze behandelt, in denen dies möglich gewesen wäre, vielleicht sogar nahe gelegen hätte: 1. "Zivilgesellschaft - Kämpfe im Zweideutigen" (Das Argument 253), 2. "Parteilichkeit und Objektivität" (Das Argument 255), 3. "Untergang der deutschen Linksregierung - Aufstieg der Linkspartei" (Das Argument 262).

Mit dem ersten Beitrag greift Haug in die Kontroverse über die neozapatistische Politik ein. In deren Zentrum steht die Auseinandersetzung zwischen John Holloway und Atilio Boron, deren Beiträge im selben Heft veröffentlicht sind, und die um die Frage des Staates als "strategische[m] Dispositiv" (Boron 2003, 808) kreist. Boron spricht sich dabei für einen Kampf um den Staat aus und wirft den Zapatistas vor, diesen zu vernachlässigen. In diesem Kontext verteidigt Boron Lenin gegen den Vorwurf des "Staatszentrismus", habe dieser doch nach erfolgter Machtübernahme auf der perspektivischen Abschaffung des Staates bestanden (ebd. 804). Holloway hingegen erklärt seine Zustimmung zur (anti-)politischen Praxis der Zapatistas und wendet gegen Boron ein, dass das Leninsche Zwei-Phasen-Modell [Machtübernahme, Abschaffung] nicht als Lösung, sondern als Verschärfung des Problems anzusehen sei, da die dort getroffene "Unterscheidung nicht getroffen werden" könne (2003, 819). Vielmehr sei der Kampf um Emanzipation nur auf dem Boden grundlegend anderer Politik- und Organisationsformen möglich. Seine Konzeption jenseits des Dualismus von Reform und Revolution, die beide als "staatszentrierte Ansätze" (ebd. 814) verstanden werden, bringt Holloway dabei mit Ansätzen in Verbindung, die historisch als "anarchistisch stigmatisiert" worden seien (ebd.).

Haug erkennt die "große Bedeutung" der "Debatte" an - und zwar "nicht nur für Lateinamerika". Er betont, dass diese "nach Vermittlung" verlange (2003b, 856). Er fühlt sich bei der Diskussion aber nicht, wie es nahe gelegen hätte, an die historischen Auseinandersetzungen zwischen anarchistischen und marxistischen/sozialdemokratischen Positionen erinnert, sondern an die Diskussion zwischen Kautsky (»Kein Sozialismus ohne Demokratie«) und Lenin (»Keine Demokratie ohne Sozialismus«). Hier bleibt völlig unklar, wo in dieser Konstellation Holloways Position vertreten sein soll. Für Holloway sind doch sowohl Kautsky als auch Lenin - wie auch die dann von Haug als Vermittlerin eingeführte Luxemburg - als Anhänger staatszentrierter Ansätze abzulehnen. All das ist umso sonderbarer, als doch sogar Haug in Kautsky und Lenin Anhänger von "Etatismen" erkennt (ebd. 856). Aber scheinbar hat dies keine Relevanz und die von Holloway angedeutete Nähe zum Anarchistischen wird dezent überlesen. Die eigene Geste des Vermitteln Wollens und die darüber hinaus stark gemachte Position Luxemburgs scheint Haug wichtiger zu sein als die angesprochenen Positionen ernst zu nehmen.

Kommen wir zum zweiten Aufsatz Parteilichkeit und Objektivität (Das Argument 255), in dem Haug, wie der Titel schon verrät, das Verhältnis von Parteilichkeit und Objektivität diskutiert. Dabei wendet er sich gegen den "Konstruktivismus" Michael Heinrichs (2004, 212f.), kommt auf den Perspektivismus Nietzsches zu sprechen (ebd. 215) und diskutiert die "Frage der »Werturteile«" bei Max Weber (ebd. 215-220). Hätte es nun aus der Perspektive eines kritischen Marxismus nicht nahe gelegen bei dem Thema Wissenschaft und Objektivität das problematische Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Anspruch und autoritären Praxen in der Geschichte des Marxismus anzusprechen, so zum Beispiel die mit dem Vorwurf des "Utopischen" legitimierten Ausgrenzungen? Hätte sich in diesem Kontext nicht eine Diskussion anarchistischer Positionen angeboten, da diese doch genau auf diesen problematischen Zusammenhang immer wieder hinwiesen? Genannt sei nur beispielhaft Proudhon, der an Marx appellierte, sich nicht zu einem "Apostel einer neuen Religion und wäre es die der Logik und der Vernunft" zu machen, die nur "neue Intoleranz", "Ausschließungen und Mystifikationen" zur Folge hätten (zitiert nach Koechlin 1990, 183), oder Bakunins Bestehen auf der "Empörung des Lebens gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören - dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit -, sondern um sie an ihren Platz zu verweisen" (1871, 104)[9].

Als letztes soll es um Haugs Aufsatz zum Aufstieg der deutschen Linkspartei (Das Argument 262) gehen, in dem die "Gründe des Scheiterns der rotgrünen Regierung" (2005a, 455) im Kontext des transnationalen Kapitalismus diskutiert werden. Haug schreibt mit Blick auf den Ausgang der Bundestagswahlen von einem "Sieg" der "Linken" (ebd. 453), warnt aber davor in "Illusionen" zu verfallen (ebd. 455). Anscheinend um die Linkspartei gegen linke Kritik zu stärken, wendet er sich gegen "political correctness" und "undialektischen Fundamentalismus" (ebd. 452) und macht das von Brecht übernommene Konzept des Operierenkönnens mit Antinomien (ebd.) stark. Hätte sich hier nicht wieder die Möglichkeit geboten, eine Diskussion zwischen radikal staatskritischen Ansätzen, zum Beispiel anarchistischer Parlamentarismuskritik und dem eigenen Konzept zu führen? Warum nutzt Haug die Möglichkeit nicht, seinen Ansatz gegen die anarchistische Staatskritik zu verteidigen und somit endlich einmal zum Thema Anarchismus/Marxismus Stellung zu beziehen? Dass ein "gemeinsamer 'sozialistischer' Horizont (...), in dem die einzelnen Projekte an Kraft und Richtung gewinnen würden, (...) sich erst undeutlich" abzeichnen würde (ebd. 458), wie Haug am Ende des Aufsatzes bedauernd feststellt, ist wohl kein Wunder, wenn die Existenz bestimmter Projekte gar nicht erst zu einem kritisch-solidarischen Diskurs eingeladen, überhaupt diskutiert wird [10].


3. Revolution mit Poesie (1999)

Haugs Aufsätze in Das Argument enthalten also keinerlei Bezugs und Anknüpfungspunkte für die hier verhandelte und von Haug zum Thema gemachte Problematik. Vielleicht kann man ja in seinen letzten Büchern fündig werden. Ich beginne dabei mit der Betrachtung eines Kapitels aus Politisch richtig oder richtig politisch, das sich mit einem oben schon angesprochenen Thema beschäftigt, den Zapatistas und deren "anti-avantgardistische[r] Politik" (1999, 149). Dort verteidigt Haug die zapatistischen Politikformen und betont die Vorbildhaftigkeit neuer Politik- und Organisationsformen im Kontext der zapatistischen Bewegung. (Ähnlich betont Haug im Editorial von Das Argument 253, dass die zapatistische Praxis "für die sozialen Bewegungen der ganzen Welt wertvollste Anregungen" enthalte (2003d, 779). Diese begreift er als eine Umsetzung Gramscianischer und Marxscher Positionen und Maximen. Und so macht es die marxistische Ahnengalerie scheinbar unnötig über andere linke Positionen zu reflektieren. Wo dies möglich gewesen wäre, soll an ein paar Beispielen gezeigt werden.

Haug lobt die Zapatistas für ihr Gespür der Mobilisierungsfunktion von Mythen (1999, 157f.), in dem "etwas von Gramscis Lehren aus Sorels Rationalismuskritik" mitschwänge (ebd. 158). Alternativ hätte hier auch auf Bakunin verwiesen werden können, der schon 1873 in Staatlichkeit und Anarchie - wohl gegen marxistisch-deterministische Verelendungstheorien gerichtet - betont hatte, dass "Armut und Verzweiflung" allein nicht zur sozialen Revolution führen, es dafür vielmehr eines "Volkideals" bedürfe, das "sich durch eine Kette von Ereignissen sowie schweren und bitteren Erfahrungen formt, erweitert und erhellt", und "ferner eine[r] allgemeine[n] Vorstellung vom eigenen Recht und ein[es] tiefe[n], leidenschaftliche[n], man kann sagen, religiöse[n] Glaube[ns] an dieses Recht" (1873b, 447f.). Auch das zapatistische Motto "fragend finden wir den Weg" (oder auch: "Fragend schreiten wir voran", siehe: John Holloway, Über Poesie und Revolution, in: nicht alles tun, Münster 2008, Herausgegeben von Jens Kastner & Bettina Spörr; Anmerkung der Korrekturleserin) wird von Haug in einen gramscianischen Kontext gebracht, da dieses "sehr gramscianisch, das Zuhören" privilegiere (Haug 1999, 163). Hätte nicht der Ausspruch Landauers aus dessen Aufruf zum Sozialismus näher gelegen, wo es heißt: "Der Sozialismus als Wirklichkeit kann nur erlernt werden; der Sozialismus ist wie jedes Leben ein Versuch". (1911, 138)?[11]

Bei der Ablehnung elitärer Avantgardekonzepte wird der Marx der Feuerbachthesen als "Pate" vermutet (1999, 163). Dabei dürfte doch die Positionierung gegen elitäre Führungskonzepte in der anarchistischen Tradition weitaus stärker beheimatet sein, als in der marxistischen. An anderer Stelle zitiert Haug Boris Kanzleiter, der die zapatistischen Vergesellschaftungsformen als Struktur von "selbstorganisierten, dezentralen, aber verknüpften Netzen einer demokratisch strukturierten Gegenmacht" beschreibt, die "eine befreite Gesellschaft bereits im Kampf gegen die alte" vorausnähme (ebd. 164). Obwohl die Skizzierung Kanzleiters wie eine Beschreibung klassisch-anarchistischer Vergesellschaftungsvorstellungen wirkt[12], wird dieses Bild von Haug als umgesetzte Praxis der Feuerbachthesen interpretiert. Jegliche anarchistische Kritik an Marx scheint untergegangen zu sein.

In diesem Kontext ist es interessant, dass Holloway, als an die zapatistischen Praxen sich anlehnender Denker, die Haugschen Galionsfiguren wegen »Staatszentrismus« (Galionsfigur Luxemburg, siehe Holloway 2003, 814) und wegen elitärer Implikationen seines Konzeptes des »organischen Intellektuellen« (Galionsfigur Gramsci, siehe Holloway 2002, 71) kritisiert. Würde Haug auch gegen Holloway sein (überhebliches) "Argument" in Stellung bringen, dass zum "Beschreiben und Begreifen der zapatistischen Praxis" Gramscis Theorie "besser geeignet" sei "als manche Verlautbarungen aus dem Umkreis der Zapatisten" (2003b, 855)? Für Haug jedenfalls, so ist in den Versuchen zu lesen, die im Folgenden besprochen werden sollen, scheint es zwischen zapatistischen und anarchistischen Praxen keine Ähnlichkeiten zu geben. Ihm zufolge verbänden die Zapatisten "auf dem Boden indigener Kultur (...) Gramsci mit Brecht und Derrida" (2005b, 105).


4. Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern. Gefolgt von Sondierungen zu Marx/Lenin/Luxemburg
(Erweiterte Neuausgabe, 2005)

Wie kein anderes Buch hätten die Versuche marxistisches Denken zu erneuern Anlass und Möglichkeit einer Aufarbeitung und Diskussion des Verhältnisses zwischen Marxismen und Anarchismen geboten, gerade auch vor dem Hintergrund des von Haug programmatisch vorangestellten Mottos, dass es "als ausgeschlossen gelten" müsse, "unkritisch an Marx anzuknüpfen" (Haug 2005b, 14). Und hatte nicht Georges Labica von der "Lektion" gesprochen, die der Anarchismus für den Marxismus sei (1984, 58)? Für Haug anscheinend nicht. Weder wird auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Internationale eingegangen[13], noch wird bei der Diskussion von Lenins Positionen und der Russischen Revolution auf anarchistische Bewegungen und Kritiken verwiesen[14]. Haug scheint sich mit seiner von Peter Weiss übernommenen "Linie Luxemburg Gramsci" (2005b, 20) darauf zu beschränken, einen guten, kritischen Marxismus von einem schlechten Kriegs oder Offizialkommunismus abzugrenzen[15]. Was jenseits des innermarxistischen Diskurses existierte ist scheinbar nicht der Rede wert - ob es von Haug als legitime Kritik gesehen wird, bleibt in der Schwebe. Es werden weder anarchistische Positionen, noch anarchistische Figuren ernsthaft zur Diskussion gestellt. Man erfährt lediglich von der Existenz einer "anarchisierenden Vera Sassulitsch, die mit Marx und Engels korrespondiert hatte" (2005b, 262) und dass in Russland Ende des 19. Jahrhunderts "anarchistischer oder bauernsozialistischer Terror und Staatsterrorismus einander hochschaukelten" (ebd. 257). Warum sollte es auch anarchistischer Kritik bedürfen, wenn mit Gramsci der Gegenpol zum "kriegskommunistisch geprägten Marxismus-Leninismus" (2005b, 44) von marxistischer Seite aus prominent besetzbar ist? Es bleibt ein weiteres Rätsel, warum Haug in den von mir eingesehen Arbeiten niemals auf die Auseinandersetzungen zwischen Gramsci und den Anarchisten im Kontext der italienischen Rätebewegung zu sprechen kommt. Vor allem, da die - oftmals als utopisch diffamierten - Anarchisten dieser Zeit mit ihren Ansichten von manchem als "realitätsgerechter und weniger pathetisch" als Gramsci beschrieben worden sind (Guerin 1967, 111). Weiter haben sowohl Agnoli (2001) als auch Levy (1999) auf den Einfluss des italienischen Anarchismus auf Gramsci aufmerksam gemacht.

Neben Gramsci ist es Rosa Luxemburg, die von Haug stark gemacht wird - und zwar als "prophetisch[e]" Kritikerin des Marxismus-Leninismus (2005b, 264). Haug spricht von Luxemburgs "atemberaubende[r] Weitsicht" (ebd. 267), da diese 1904 Lenins "rücksichtslosen Zentralismus" kritisiert (ebd. 264) und bei genereller Sympathie für die Oktoberrevolution vor der Ausbildung autoritärer Strukturen in Russland gewarnt hatte. Aber was ist das für eine "atemberaubende Weitsicht" (ebd. 267), die schon aus dem 19. Jahrhundert als anarchistische Kritik an den etatistischen Vorstellungen der sich auf Marx berufenden Sozialismen bekannt ist? (Mümken 2003, 58 ). Eine Kritik, die sich dann bei Kropotkin im Kontext der ersten gescheiterten Russischen Revolution 1905 genauso finden lässt wie bei Volin 1917/1918 und bei Malatesta 1919 (siehe Degen/Knoblauch 2006, 128, Guerin 1967, 87/88 und 113). Es hinterlässt deshalb einen bitteren Nachgeschmack, wenn Haug meint, dass Luxemburg "Recht" behielt (2005b, 274). Das ist ja an sich nicht falsch, aber: Gab es in dieser Hinsicht nicht noch andere Luxemburgs, die zu nennen gewesen wären (vgl. Heinrichs 2002, 112f.)? Und wäre dieses Nennen nicht auch im Interesse der Haugschen Annäherungsgeste gewesen? Auch bei den anderen von Haug angeführten Themen (z.B. Revolutions- und Parteitheorie) hätte sich eine Diskussion anarchistischer Positionen angeboten, aber auch dort wurde sie nicht geführt.

Wie das Fazit des Buches klingt es, wenn Haug zustimmend Butenko zitiert, nach dem es "keinen Sozialismus" gäbe "solange es nur Befreiung von der Ausbeutung, nicht jedoch von der Unterdrückung gibt" (2005b, 276). Man meint die Stimme Bakunins zu hören: "Dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit bedeutet; und dass Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität ist" (1868, 62; oder: "Die Freiheit eines jeden kann also nur in der Gleichheit aller verwirklicht werden. Die Gleichheit ohne die Freiheit, das ist der Despotismus des Staates", zitiert nach Monika Grosche, 2003). Bei Haug ist Bakunin jedoch zum Schweigen verurteilt.


5. Einführung in marxistisches Philosophieren (Vorlesung 2000/2001)

Zum Schluss soll noch ein Blick in ein Buch geworfen werden, das zwar zeitlich nicht das letzte Werk Haugs ist, aber als letztes publiziert wurde: Haugs Abschiedsvorlesung mit dem Titel Einführung in marxistisches Philosophieren. Trotz des zu Beginn betonten Anspruchs "problembezogene Erinnerungsarbeiten" zu betreiben und das "Gespräch mit einer Vielzahl philosophischer Sichtweisen suchen" zu wollen (2006, 14), ist auch hier im Folgenden von der Diskussion anarchistischer Positionen nichts zu sehen. Hätte dies in einem Buch, das den Werdegang des Marxschen Denkens nachzeichnet nicht nahegelegen? Zumindest drei Denker - Proudhon, Stirner und Bakunin - hätten in diesem Kontext durchaus angesprochen werden können.

Proudhon wird von Haug genannt, aber nicht diskutiert (ebd. 142;163). Der Name Bakunin taucht zwar im Kontext des Briefwechsels in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1843) auf, nur: Wenn Haug die Sechste Vorlesung mit den Worten eröffnet, dass "wir" vor einer Woche "einen Blick (...) in Briefwechsel zwischen Marx, Ruge, Bakunin und Feuerbach" geworfen hätten (ebd. 65), ist dies nicht ganz richtig. Denn eigentlich wird nur auf Beiträge von Marx, Ruge und Feuerbach eingegangen, Bakunin kommt kein einziges mal zu Wort. Aber "als Mitstreiter von Marx" (ebd. 146) sei er uns begegnet, wie es dann in der Zwölften Vorlesung heißt. Und auch ein paar Zeilen weiter, wenn Haug kurz auf die Internationale zu sprechen kommt, hätte es zumindest nahegelegen, das Verhältnis von Marx und Bakunin zu konkretisieren. Dass Bakunin nicht zu Wort kommt, scheint für Haug aber generell kein Problem zu sein, da sowieso keiner an "Marx' analytische Kraft und strategische Orientierungsfähigkeit" (ebd. 59) herangereicht habe.

Es ist beängstigend wie Haug, der sich doch als kritischer Marxist versteht und davon gesprochen hatte, dass nicht unkritisch an Marx anzuknüpfen sei (Versuche), autoritäre Verhaltensweisen von Marx immer wieder mit dem Verweis auf seine intellektuelle Größe relativiert oder rechtfertigt. Obwohl Haug in den Versuchen noch von "abstoßenden Momenten von Marx" ("Unfähigkeit zur offenen Selbstkritik", "geringe Fähigkeit zur Differenz") gesprochen hatte, relativiert er diese gleichwohl mit dem Hinweis, dass es niemals in der Geschichte "ein harmonischer Vorgang" gewesen sei, "wenn ein neues Denken auftauchte" (2005b, 142). In der Vorlesung spricht Haug nur noch davon, "dass man hat glauben können, Marx sei unfähig zur Selbstkritik" (2006, 32), ansonsten erfährt der/die LeserIn nur, dass Marx seinen Kontrahenten "so überlegen" gewesen sei und dass nur der "Spießer", da er das neue Denken von Marx nicht begreife, Marx "Charakterfehler" zuschreiben würde (ebd. 52). Sprich: Man darf gegen Marx eigentlich gar nichts sagen! (Vgl. dagegen Bakunins Bemerkung, dass " alle Theorien, insoweit sie ausführliche und abgeschlossene Theorien sind, (...) in Wirklichkeit nie etwas anderes darstellen als den von dem Denken einiger auf das Denken Aller ausgeübten Despotismus", 1872a, 799).

Über Stirner erfährt man auf zwei Seiten, dass Engels in einem Brief an Marx diesem eine auf dessen Der Einzige und sein Eigentum (1844) aufbauende Kritik vorschlägt, diesen Vorschlag aber wiederum unter dem Einfluss von Marx revidiert, wobei unklar sei in welchem Punkt (2006, 111f.). Man erfährt also - außer das Stirner "Ausdruck der bestehenden Tollheit" (Engels) sei (ebd. 111) - kaum etwas. Besonders erstaunlich ist dies, weil Stirner in der Deutschen Ideologie doch immerhin über 300 (!) von gut 500 Seiten gewidmet wurden und Haug diese Schrift immerhin als Werk des "Einschnitts" (ebd. 139) und "ungeheuer wichtige Schrift" (2005b, 85) einschätzt. Michael Heinrich hat darauf hingewiesen, dass die "Bedeutung Stirners (...) von den meisten Autoren, die sich mit Marx' Entwicklung beschäftigen, übersehen" werde (2003, 129) und es doch gerade die "groß[e] Herausforderung" (ebd. 129) durch Stirner gewesen sei, die "wahrscheinlich die inhaltliche Abkehr von Feuerbach auslöste" (ebd. 127). Während es Haug also während der Vorlesungen gelingt, immer wieder Querverweise auf etablierte Gestalten der Philosophiegeschichte anzubringen, so zum Beispiel auf Platon (2006, 67), Parmenides (ebd. 87), Demokrit (ebd. 90), Spinoza (ebd. 109), Descartes (ebd. 133) und Epikur (ebd. 134), kommt die anarchistische Strömung weder zu Wort noch wird sie diskutiert.

In dem der Vorlesung angehängten Nachwort (Und nun?) wirft Haug Frieder Otto Wolf die Verwendung des Begriffs "Radikale Philosophie" für dessen Projekt vor. Grund ist der implizite Vorwurf (nicht nur) an Wolf, das "Anstößige, den dieser Name [Marx] für die herrschende Meinung hat" (ebd. 193) vermeiden zu wollen. Dabei würde doch Wolfs Projekt "in vielem in die gleiche Richtung" zielen wie das von Haug "entfaltete" (ebd.). Nur, was Haug mit dem Versuch, die Ähnlichkeit zwischen seinem und Wolfs Projekt als marxistische Philosophie herauszustreichen, unkenntlich macht, ist, dass Wolf im Gegensatz zu ihm die anarchistische Theorie diskutiert und sich (auch) positiv auf diese bezieht. Erich Mühsam wird zum Beispiel, bei aller Kritik, ein "moralisch eindrucksvolles politisches Programm" attestiert (Wolf 2002, 71). Und in Die Tätigkeit der Philosophen findet sich ein ganzer Aufsatz, der, wenn auch nicht von Wolf selbst, aber als Beitrag zur radikalen Philosophie verfasst, sich mit der Anarchistin Emma Gold man befasst (Weinbach 2003). In diesem Sinn scheint mir der Begriff der "Radikalen Philosophie" auch eine neue Perspektive anzudeuten, die den Boden historisch festgefahrener Begrifflichkeiten verlassen will.


6. Fazit

Eine "verrückte Dialektik", wie sie Haug bei den Anarchisten am Werk gesehen hatte, lässt sich bei Haug selbst konstatieren. Es zeigt sich, dass seine Geste der Annäherung weder begründet noch in irgendeiner Form konkretisiert wird. Stattdessen ist auffällig, dass das konkurrierende Projekt völlig ignoriert wird. Es stellt sich die Frage, ob Haugs Geste überhaupt ernst gemeint oder - angesichts des Vortragsorts - eher rhetorischen Zwecken geschuldet war (Dieser Ort befindet sich, wie Haug einführend betont, in der Nähe des Gebietes des Schweizer Jura, wo der Anarchismus sehr einflussreich war.). Es wäre deshalb wünschenswert, dass Haug diese Geste begründet und konkretisiert oder eben Abstand von ihr nimmt - was allerdings schade wäre.

Paul Pop hat aus marxistischer Perspektive in der GRUNDRISSE (14/2005) darauf hingewiesen, dass es heute "nach dem alle Versuche eines Staatssozialismus gescheitert sind", an der Zeit sei, "die Frage aufzuwerfen, ob sich die Widersprüche zwischen Kommunismus und Anarchismus" relativiert hätten (2005, 35), wobei er zu dem Schluss kommt, dass die Frage heute nicht mehr "Anarchismus oder Sozialismus", sondern "(Anarcho)Kommunismus oder Staatssozialismus" sei (ebd. 46). Ob man Pop zustimmen mag oder nicht, der Zukunft eines linken Projekts würde der Versuch einer kritischen aber auch solidarischen Annäherung zwischen "feindlichen Brüdern" sicherlich zugute kommen. Grundlage dafür muss aber sein, dass man den jeweils Anderen auch liest und in den eigenen Diskurs integriert. Floskelhafte Gesten allein können dies nicht ersetzen.

E-Mail: philippe.kellermann@gmx.de


Anmerkungen

[1] Die drei Aufsätze sind: Paul Pop. Rot-Schwarze Flitterwochen: Marx und Kropotkin für das 21. Jahrhundert (14/2005), Philippe Kellermann. Vom Geist und geistlosen Zuständen. Ein Versuch über den Anarchisten Gustav Landauer (17/2006), Torsten Bewernitz. Give the anarchists a theory. Renaissance des libertären Kommunismus? (24/2007). Dass der Aufsatz von Torsten Bewernitz dabei gespickt ist mit offenkundigen Unwahrheiten und irreführenden Suggestionen, sei hier nur am Rande bemerkt

[2] So zum Beispiel Torsten Bewernitz und Jürgen Mümken

[3] Vgl. wie Bakunin die Rolle der Internationale versteht: "Die Internationale nimmt, von allen Unterschieden politischen oder religiösen Glaubens ganz absehend, alle ehrlichen Arbeiter in ihren Schoß auf unter der einzigen Bedingung, dass sie die Solidarität des Kampfes der Arbeiter gegen das die Arbeiter ausbeutende Bourgeoiskapital mit allen ihren Konsequenzen akzeptieren. (...) All diese Theorien mit noch vielen andern Nuancen sind schon heute in der Internationale vorhanden, aber solange keine derselben zur offiziellen Theorie proklamiert wird, sind diese Unterschiede in der Lehre und die sich daraus ergebenden friedlichen Kämpfe im Schoß der Internationale selbst weit entfernt davon, ein Übel zu sein, sie sind, meine ich, etwas sehr Gutes, insofern als sie zur Entwicklung des Denkens und der spontanen geistigen Betätigung eines Jeden beitragen; sie können der Solidarität, welche die Arbeiter aller Länder vereinigen soll, keinen Abbruch tun, weil diese Solidarität nicht theoretischer, sondern ganz praktischer Art ist." (1873a, 798f.)

[4] Da Haug selbst auf eine Annäherung an den Anarchismus drängt, sehe ich mich nicht gezwungen im Folgenden meine Gründe, die ebenfalls für eine solche Annäherung sprechen, darzustellen. Dies sollte allerdings vor dem Hintergrund, das sowohl Anarchismus als auch Marxismus ein emanzipatorisches Projekt verfolgen und nach der Geschichte des so genannten Realsozialismus auch selbstverständlich sein. Zurecht schreiben die HerausgeberInnen des Indeterminate! Kommunismus-Kongresses: "Kommunistische Politik muss das Bündnis mit allen fortschrittlichen gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen nicht nur deshalb suchen, weil dies die Chancen für den Erfolg gesellschaftsverändernder Praxis erhöht, sondern auch, um sich der Kritik an kommunistischer Theorie und Praxis zu stellen." (Demopunk/Kritik und Praxis 2005, 10)

[5] Exemplarisch habe ich dies am Beispiel Johannes Agnolis zu zeigen versucht (Kellermann 2009)

[6] Es ist erstaunlich wie ein "kritischer Marxist" eine solch unkritische Marx-Lektüre betreiben kann. Dass die Texte von Marx (und Engels) aus den Jahren 1870-1873 voll absurdester Unterstellungen gegen ihre Gegner - und das heißt: die Mehrheit in der Internationale, sind, dürfte man eigentlich wissen (vgl. z.B. Brupbacher 1913, 90ff.; Mehring 1918, 431ff.; Eckhardt 2004).

[7] Diese Position ist gerade bei jenen sehr beliebt, die Marx vom "Makel" der Oktoberrevolution reinigen wollen. So beim Sozialdemokraten Blos (1920) oder beim Rätekommunisten Huhn, der Bakunin gleich noch zum Vorläufer des Faschismus erklärt (1939, 124). Vgl. auch Peter Sloterdijk, der meint, dass "in gewisser Weise (...) die Oktoberrevolution eine Rache Bakunins an Marx" war (2008, 194) und Bakunins Denken als "Anarchofaschismus" zu gelten habe (ebd.191). Es kann an dieser Stelle keine Diskussion dieser Positionen geleistet werden.

[8] Dazu Antje Schrupp: Die Bezeichnung "Bakunisten" sei "nicht nur irreführend, insofern damit der Person Bakunins zuviel Einfluss zugeschrieben wird, sondern auch, weil sie überhaupt das Vorhandensein einer gemeinsamen inhaltlichen Position unterstellt" (1999, 190). Und Rolf Bigler hat in seiner Studie zum libertäten Sozialismus in der Westschweiz betont, dass Bakunin im Jura "eine selbständige Bewegung" und "höchst selbstbewusste Leute" antraf, die er, selbst wenn er dies gewollt hätte, "nicht nach seinem eigenen Gutdünken" hätte "führen" können (1963, 74). Bakunin selbst schrieb zum Abschied an seine Genossen der Juraföderation: "Seit wir uns vor vier und einem halben Jahr kennen lernten, habt Ihr trotz aller Kniffe unserer gemeinsamen Feinde und der infamen Verleumdungen, die sie gegen mich verbreitet, mir Eure Achtung und Freundschaft und Euer Vertrauen bewahrt. Ihr habt Euch nicht einmal durch die Bezeichnung »Bakunisten«, die sie Euch ins Gesicht schleuderten, einschüchtern lassen, da Ihr lieber dem Anschein nach abhängige als mit voller Gewissheit ungerechte Männer sein wolltet. Übrigens hattet Ihr immer, und zwar im hohem Grade, das Bewusstsein der Unabhängigkeit und vollständigen Spontaneität Eurer Ideen, Tendenzen und Taten, und die perfide Absicht unserer Gegner war so durchsichtig, dass Ihr deren verleumderische und verletztende Insinuationen nur mit der tiefsten Verachtung behandeln konntet." (1873a, 843f.)

[9] Zur Kritik am marxistischen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit siehe Foucault 2001, 24f., der im Prinzip Bakunins Kritik (1873a, 614) wiederholt, und Heinrichs 2002, 116; zur Kritik an der "Tradition des wissenschaftlichen Marxismus" siehe Holloway 2002, 138-160; für eine Kritik an Marxens und Engels Abrechnung mit dem "utopischen Sozialismus" siehe Heyer 2006. Auf den Zusammenhang zwischen marxistischem "Bilderverbot" und autoritären Praxen verweist Saage 1991, 333f..

[10] Das gilt in anderer Hinsicht auch für den innermarxistischen Diskurs. Wie soll ein gemeinsamer sozialistischer Horizont entstehen, wenn man dermaßen unnötig polemisch auf Kritiken und konkurrierende Marxinterpretationen reagiert, wie Haug beispielsweise gegenüber Michael Heinrich (Haug 2003c)? Es muss doch noch etwas jenseits einer "Harmonie der Guten" und dem bloßen "Kampf um Stellen oder Marktanteile" geben (Haug 2005b, 25).

[11] In einem vom Dietz Verlag - der wohl kaum unter Anarchismusverdacht steht - herausgebrachten Buch beschwert sich der Autor sogar darüber, dass "2004 der 85. Todestag Landauers, der eigentlich ein Symbol für einen menschlichen Sozialismus sein sollte, so gut wie gar nicht thematisiert oder in irgendeiner Form erinnernd-vergegenwärtigend begangen wurde", obwohl doch eine "selbstreflexive »Linke«" auf dessen wichtigsten Werke "nur schwerlich verzichten" könne (Heyer 2006, 78f.).

[12] Beispielhaft sei Volin angeführt: "Sie [die Organisation der Gesellschaft] darf nicht von einem vorher geschaffenen Zentrum ausgehen und sich dem Ganzen aufdrängen, sondern muss, umgekehrt, von allen Punkten des Ganzen aus ein Koordinatensystem von Knotenpunkten bilden, die als natürliche Zentren mit allen einzelnen Punkten verbunden bleiben (...) Während eine andere, einer alten Unterdrückungs- und Ausbeutungsgesellschaft nachgebildete 'Organisation' (...) alle Fehler der alten Gesellschaft auf die Spitze treiben würde." (zit.n. Guerin 1967, 43)

[13] Haug betont nur kurz, dass Marx, nur weil er so überzeugend wirkte, zum "einflussreichsten Intellektuellen der IAA geworden" sei (2005b, 90). Marx war tatsächlich so "überzeugend", dass er sich z..B. in der Frage nach der Rolle des Erbrechts nicht durchsetzen konnte und es nötig hatte, einen Kongress der Internationale (Den Haag 1872) in seiner Zusammensetzung zu manipulieren, um seine Linie in der Internationale und gegen deren Mehrheit durchzusetzen. Womit Marx, wie allgemein bekannt, auch die Zerstörung der Internationale in kauf nahm.

[14] Auf die Beteiligung anarchistischer Akteure an der Russischen Revolution verweisen zum Beispiel Guerin (1967, 82-109) und Degen/Knoblauch (2006, 123-138). Auch im Kontext der von Lenin aus der Rätebewegung übernommenen Parole "Alle Macht den Sowjets" wird nicht darauf eingegangen, dass diese "bis dahin den Anarchismus gekennzeichnet hatte[.]" (Volin zit.n. Guerin 1967, 85).

[15] Auch hier ist wieder auffällig: Während bei Peter Weiss anarchistische Frage- und Problemstellungen diskutiert werden und zu Wort kommen, z.B. in der Ästhetik des Widerstandes, ist bei Haug hiervon keine Spur. Fast hat es sogar den Anschein, dass die Rekonstruktion der "Linie Luxemburg-Gramsci" Haug gerade von der Notwendigkeit entbindet von konkurrierenden emanzipatorischen Projekten jenseits des Marxismus sprechen zu müssen.


P.S.: Dieser Text, der hier in ein wenig überarbeiteter Form vorliegt, ist Wolfgang Fritz Haug bereits zugekommen. In seiner Antwort gab Haug dem Verfasser Recht, was die kritisierten Leerstellen angeht. Dies sei hier nicht erwähnt, um dem Inhalt des Textes mehr Gewicht zu verleihen, sondern weil gesagt werden muss, dass Herr Haug sehr freundlich reagierte, was ja keineswegs selbstverständlich ist. Insofern bleibt auch eine (kleine) Hoffnung bestehen, dass sich Wolfgang Fritz Haug vielleicht doch noch einmal dem Thema annimmt.


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Raute

AktivistInnen des Clandestina Network:

Barrikaden und Barrieren: MigrantInnen im "Griechischen Dezember"

aus dem Englischen von Minimol (in Zusammenarbeit mit Birgit Mennel)

Aus Anlass der Dezemberrevolte in Griechenland sind bereits verschiedenste Darstellungen auf Englisch und in anderen Sprachen erschienen, die allesamt die Beteiligung von MigrantInnen an den Unruhen sowie an den sich entwickelnden Prozessen begrüßen.[1] Mit diesem Text wollen wir versuchen, diese wirklich beeindruckende und ergreifende Tatsache im Komplex von Machtverhältnissen zu verorten, die diese Beteiligung geformt haben; deshalb nehmen wir notwendigerweise die Hindernisse und Einschränkungen, die diese Mitwirkung durchziehen, ebenso in den Blick wie einige der Faktoren, die sich hinter der Nicht-Beteiligung vieler MigrantInnen verbergen. Dieser Text basiert auf kollektiven Diskussionen innerhalb der MigrantInnen- und Flüchtlingsgruppe Clandestina Network und in deren Umfeld sowie des sozialen Ortes "Dromos"[2] in Thessaloniki.


Über MigrantInnen in den Dezember-Unruhen in Griechenland

Während und nach dem griechischen Dezember 2008, einem Aufstand, der über 15.000 Menschen mit allen möglichen Hintergründen und in allen Altersstufen - einschließlich 14jähriger SchülerInnen und 50jähriger albanischer MigrantInnen - in über fünfzehn größeren und kleineren Städten Griechenlands für fast einen Monat auf die Straßen brachte, wurde in den Diskussionen der Linken und sogar der radikalen und anarchistischen "Szene" eine Art "Subjektologie" virulent: Die Frage "Was bzw. wer ist das Subjekt der Revolte?" wurde eine Art Gassenhauer oder Witz, was vielleicht als Hinweis auf die noch immer ambivalente Haltung vieler in der Bewegung gegenüber der "Akademisierung" der Diskussionen, die in der Bewegung zu ihrer Selbstverständigung entwickelt werden, verstanden werden kann.

Wir sprechen das Verhältnis von MigrantInnen und Flüchtlingen zur Revolte hauptsächlich darum an, um uns unseren Weg durch und gegen zwei Arten von Mystifikationen zu bahnen: einerseits eine Analyse der Ereignisse, die sich auf die Vorstellung eines einheitlichen und emblematischen "Subjekts" der Revolte gründet, die also von einer bereits existierenden oder im Entstehen begriffenen soziologischen Gruppe ausgeht; eine Gruppe, die zwar noch aussteht, vermittels derer die Revolte aber begriffen werden soll (es handelt sich in erster Linie um die "Jugend"); zum anderen geht es uns um jene Zugänge, die die Revolte als mehr oder weniger "subjektloses" Ereignis darstellen, das heißt als radikalen Bruch mit den gesellschaftlichen Bedingungen, der seinerseits selbst als neue politische Form, also als Veränderung begriffen werden muss.

Ein Ausgangspunkt, um die Bedeutung der Rolle der MigrantInnen in der Rebellion einzuschätzen, könnte die kritische Untersuchung der Reaktionen des Feindes sein, so wie sie im massenmedialen Diskurs während und kurz nach der Rebellion zu Tage traten. Wir beziehen uns hier auf zwei Momente des ideologischen Gegenangriffes des griechischen Staats, die sich qualitativ unterscheiden, obwohl sie sich sicherlich gegenseitig verstärken. Einerseits die aufeinander folgenden Versuche von Fernsehen und Presse, eine Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen RebellInnen einzuführen: Vermummte versus nicht Vermummte; Gewalttätige versus nicht Gewalttätige; jene, die wahllos Ziele angriffen, versus jene, die symbolische Ziele angriffen; jene, die nur zerstören, versus jene, die zerstören und plündern; Zerstörer versus Plünderer. Der letzte und am meisten verunglimpfte Rest wurde in diesen sukzessiven Spaltungsversuchen den MigrantInnen zugeschrieben, namentlich den verarmten MigrantInnen aus dem Zentrum des Athener Quasi-Ghettos (gemeinsam mit den "ZigeunerInnen" aus den Außenbezirken der Stadt und den Junkies, die im öffentlichen Mainstream-Diskurs als chronisch degradierte soziale Figuren immer zu den Hauptverdächtigen zählen). Wenig überraschend war dies also eine der Karten, die der Staat und seine journalistischen KomplizInnen ausspielten, um die öffentliche Meinung gegen die Rebellion aufzubringen und deren Reihen auseinanderzudividieren: das Schuldigsprechen eben dieser "Fremden". Ihnen wurde unterstellt, sie hätten sich den Protesten nur deshalb angeschlossen, um die Geschäfte und Einkaufszentren zu plündern, die während der Unruhen aufgebrochen wurden.

Wir erachten diese Gesten des Staates aber nicht nur als Begleiterscheinung jener Strategie, die der Staat zur Spaltung der Protestierenden hauptsächlich zum Einsatz bringt. Dieses - fehlgeschlagene - Manöver des Staates vollzog sich in einer zur Mobilisierung von diskriminierenden Einstellungen zweckdienlichen Form, die auf die Disziplinierung jener Teile der politisch ausschlaggebenden Mittelklasse/des politischen Zentrums/der "Arbeiteraristokratien" hinauslief, die sich dafür zu erwärmen begonnen - bzw. davon hinreißen lassen - hatten, dass die Rebellion, sowohl was ihre Ursachen als auch was ihre Mittel angeht, gerechtfertigt sei. Waren es doch zum Teil ihre Kinder, die gegen das Regime der tatsächlichen oder zukünftigen prekären Proletarisierung protestierten. Doch der ideologische Fokus, den der Staat auf die MigrantInnen richtete, sollte nicht einfach als kalkulierte Verzerrung verstanden werden, hinter der sich die Absicht nach Spaltung der Rebellion verbarg, während diese schrittweise auf die Auflösung diverser Barrieren zustrebte. Für uns verweist diese unverhältnismäßige, gezielte Bestrafung von MigrantInnen[3] nicht nur auf eine Strategie, das schwächste und verletzbarste Glied zu treffen, sondern auch auf eine genuine, langfristige und strategische Angst des griechischen Staates vor den sich herausbildenden Praxen der Politisierung und Beteiligung von MigrantInnen; diese gaben, da sie sich an einer Rebellion beteiligten, für die diffuser und allgemeiner Protest charakteristisch war, de facto der direkten konfrontativen Aktion den Vorzug gegenüber einer befriedenden Repräsentation. Für den Staat war es äußerst wichtig, der migrantischen Bevölkerung die deutliche Botschaft zu übermitteln, dass "diese Tage" nicht "ihre Tage" waren; dass sie, die MigrantInnen, nicht die gleiche Behandlung erfahren würden wie die GriechInnen und dass ihre "Politisierung" - ihre weitere und zukünftige Involvierung in radikale Widerstandspraktiken - nicht toleriert werden würde.

An dieser Stelle müssen wir uns dem zweiten Moment des Gegenangriffs von Seiten des griechischen Polizeistaates zuwenden: und zwar dem Neologismus "Lathrotromokratis", "klandestiner Terrorist", der erstmals in der Ausgabe vom 20. Jänner 2009 der Zeitung "Eleftherotypia" auftauchte:

"Auf der Liste der Verdächtigen erscheinen MigrantInnen - abgesehen von jenen Personen, deren Profile bereits im Vorfeld von der Anti-Terror-Polizei umrissen wurden - erstmals an prominenter Stelle und ihre Akten werden nunmehr gründlich durchforstet [...]. Das Flugblatt, das an der Wirtschaftsuniversität von Athen (am 15. Dezember auf Albanisch und Griechisch und später auch in drei anderen Sprachen (Englisch, Französisch und Deutsch) zirkulierte, löste Bedenken nicht nur auf Seiten der Polizei, sondern auch in der Politik aus [...]. Im Laufe mehrerer Sitzungen in den letzten Tagen im Innenministerium, an denen hochrangige Polizeioffizieren teilnahmen, wurde die Einschätzung geäußert, dass in der migrantischen Szene Vorgänge stattfanden, die eine Revision der Einwanderungspolitik innerhalb des allgemeinen Kontexts öffentlicher Sicherheit und Ordnung nötig werden lassen."

Dieses "mysteriöse" Flugblatt ist genau jenes, das unsere GenossInnen vom Steki (ein sozialer Ort) der albanischen MigrantInnen herausgaben und wir einige Zeit nach seiner Verbreitung auf Englisch übersetzten sowie auf unserer Website veröffentlichten. Wie der Steki in einer späteren Publikation erklärte, wies dieses Flugblatt die Unterschrift und Adresse des Steki auf[4] - was der Autor des Zeitungsartikels in seinem Bericht unterschlägt.

"Wir sind daran gewöhnt, dass MigrantInnen für den Anstieg der Kriminalität und der Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden. Es scheint jedoch, dass sich die alten Bilder von MigrantInnen nicht mehr verkaufen lassen! Der "angesehene" Journalist ist das Sprachrohr der neuesten Gedanken und Befehle sowohl der griechischen Polizei wie des Innenministeriums. Wir wissen genau, dass die Öffentlichkeit Meinungen dieser Art schätzt. Schließlich gerät der Feind mit Namen und Nationalität ins Blickfeld! Es ist der äußere Feind, der exotische Migrant! [...] Es wäre völlig unangebracht, zu behaupten, dass die Polizei in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und den Medien dem öffentlichen Image der MigrantInnen Schaden zufügen wolle. Falls die Polizei aber tatsächlich auf diesem Wege nach TerroristInnen sucht, schadet sie doch nur ihrem eigenen Image. Wir wollen nicht die Intelligenz der führenden Köpfe der Polizei unterschätzen. Wir wissen ganz genau, dass diese "Aussetzer" Propagandazwecken dienen und die Ablehnung aller Forderungen der zweiten Generation von MigrantInnen legitimieren sollen. Wie könnte jemandem eine unbeschränkte Aufenthaltsbewilligung gewährt werden, wenn er oder sie des Terrorismus verdächtig ist? Wie können in Griechenland geborene Kinder von MigrantInnen zum Erhalt der griechischen Staatsbürgerschaft berechtigt sein, wenn sie dazu berufen sind, TerroristInnen zu werden?"[5]

Dieses abschreckende neue Wort ist in der Tat ein weiterer Begriff im ideologischen Arsenal des griechischen Staates, der im Wesentlichen für den zukünftigen Gebrauch bestimmt ist. Wenn die Stereotypen, die in den 1990er Jahren florierten (der albanische Dieb, der georgische oder rumänische Gangster, die russische oder bulgarische Prostituierte etc.), bis zu einem gewissen Grad ihre Fähigkeit zur Verbreitung moralischer Bestürzung eingebüßt haben, müssen neue erfunden werden. Doch wie erbärmlich ihre ideologischen Konstrukte auch sein mögen, so sollte deren Macht nicht unterschätzt werden; insbesondere wenn wir bedenken, dass sie dazu bestimmt sind, in den seit geraumer Zeit - während und nach der Revolte - systematisch gepflegten Diskurs einer sich verallgemeinernden Anomie eingespeist zu werden, der wiederum eigentlich alles als glaubwürdig einführen und verfestigen kann. Kurz gesagt, was MigrantInnen betrifft, hatten die begrifflichen und ideologischen Manöver des Staates einen deutlich wahrnehmbaren Unterton: "Rechnet mit dem Schlimmsten, nun werdet ihr bluten müssen, um hier irgendwelche Rechte zu erhalten."

Dies wurde schneller bestätigt, als es sogar die AutorInnen dieses Textes erwarteten: Im April 2009 begann eine große Anti-Dezember-Repressionswelle, die ihren Höhepunkt in der Kooperation zwischen Polizei und faschistischen Gruppen gegen MigrantInnen im Zentrum von Athen fand. Im Juni wurde das Flüchtlingscamp in Patras niedergerissen - nach einem Monat verstärkter Kontrolle in der gesamten Bucht, in der Flüchtlinge in den letzten zehn Jahren versucht haben sollen, heimlich auf Lastschiffe zu klettern, um nach Italien zu gelangen. Zahlreiche brutale Übergriffe sind dokumentiert, großteils - jedoch nicht ausschließlich - von Seiten der Polizei. Die genaue Anzahl der Abschiebungen im Sommer ist uns nicht bekannt. Das "Einwandererproblem" wurde die zentrale Propagandaplattform für die EU-Wahlen im Juni 2009. Die Regierung kündigte den Bau von etlichen Anhaltezentren an; es gab Diskussionen über ein neues Gesetz, das die Abschiebung von MigrantInnen nur auf Grund der Beschuldigung durch eine ZeugIn - ohne gerichtliche Anklageerhebung - erlaubt hätte, wenn im Falle einer Verurteilung das für das angebliche Verbrechen vorgesehene Strafausmaß 10 Monate Haft überschreitet. (Und als dann die neu gewählte PASOK-Regierung die Situation von 2008 wiederherstellte, ein Anhaltezentrum schloss und in Zukunft bessere Bedingungen für Flüchtlinge versprach, glaubten die meisten Leute, eine progressive Wende zu erleben.)


"Vielleicht wacht ihr auf und verlasst eure Käfige, wenn die Bullen eure eigenen Kinder töten"

An wen richtet sich diese immer noch populäre anarchistische Parole? Allen, die mit den Gegebenheiten der griechischen anarchistischen Szene vertraut sind, ist klar, dass sich diese Parole an diejenigen Leute richtet, die "zusehen" und die Demonstrationen an sich vorbei ziehen lassen, ohne sich zu beteiligen. Selbstverständlich bezieht sich der Slogan nicht nur auf "ihre Kinder" als physische Nachkommen der zuhörenden Individuen, sondern auch auf junge Leute, die jenen realen oder imaginierten Gemeinschaften nahe stehen oder entstammen, denen die ZuhörerInnen - wie zumindest von den Rufenden angenommen wird - angehören. Dieser Slogan ist jedoch nicht dazu geeignet, sich an jede/n zu richten: Zu viele Kinder von MigrantInnen wurden in der Stadt und an den Grenzen von der Polizei getötet; nie jedoch gab es eine solche Antwort wie jene, die auf den Mord an Alexis Grigoropoulos folgte.[6]

Es gibt keinen Zweifel daran, dass die politische Responsivität im Falle eines jungen in Exarcheia ermordeten Griechen nicht dieselbe ist wie bei all jenen Geschehnissen, in denen MigrantInnen oder Angehörige anderer Minderheiten zu Tode kommen. Vielleicht war der tragische Tod von Alexis in diesem Sinne ein Ereignis. Alle anderen Fälle waren bloße Geschehnisse. Wir sollten den Tod von Alexis auf diese Art und Weise betrachten: als Schnittfläche mehrerer Parameter, die den Ausbruch der Dezember-Revolte möglich machte: Alexis war ein Kind aus der oberen Mittelklasse, ein "normales" Kind, getötet in Exarcheia - jenem Ort mit der größten gegenkulturellen und radikal-politischen Bedeutung in Griechenland. Seine Ermordung war eines jener tragischen möglichen und doch unmöglichen - war es doch ein Alexis, der ermordet wurde - Ereignisse, in dem Sinn, dass dieser Mord die Überschreitung einer symbolischen Grenze bedeutet: Das Eindringen des Polizeistaates in Griechenland in etwas, das für die involvierten sozialen Gruppen zu einer bestimmten Zeit und an einem besonderen Ort eine Art geheiligtes Territorium darstellt.[7]


Zu den Bedingungen der Beteiligung

Unter Bedingungen der Beteiligung verstehen wir hier die Erscheinungsformen einer Art impliziten Verhandlung auf der Straße, an der alle Instanzen des gesellschaftlichen Antagonismus mitwirken: In diesem Fall die Art sowie das Ausmaß des sozialen Gegenschlages, den die Protestierenden wagen konnten und den der Staat - nicht die gerade amtierende Regierung - innerhalb des griechischen gesellschaftlichen Gefüges tolerieren konnte. Wie bereits erwähnt, ruft "derselbe" Vorfall (die Polizei ermordet einen Unschuldigen) im selben gesellschaftlichen Gefüge weder dieselbe Kräftekonstellation noch dieselben Entscheidungen bei den Beteiligten hervor. Die praktische Verständigung über die Einsätze, Grenzen und Möglichkeiten der Überschreitung in jeder möglichen Konstellation ist nicht für alle Involvierten dieselbe - ebenso wie die die Einsätze und Grenzen jeweils andere sind.

Es gilt, zwei Mythen zu entkräften, die die Massenmedien während der Unruhen populär zu machen versuchten: nämlich erstens, dass die MigrantInnen ins Zentrum von Athen "einfielen", um zu zerstören und zu plündern. Diese Metaphorik, die das Bild einer Invasion von Gaunern und Halunken nahe legt, ist einfach nur ideologisch: MigrantInnen bewohnen die verarmten Bezirke im Zentrum von Athen, die von den Massenmedien sonst als "das Ghetto dort" stigmatisiert werden. Sie leben auch in weniger verarmten Bezirken, aber da sie dort vor allem arbeiten, halten sie sich nur vorübergehend in diesen auf und sind unsichtbar. Jedenfalls beteiligten sich die meisten MigrantInnen an dem, was in den Straßen in ihrem Lebensumfeld stattfand.

Der zweite Mythos behauptet, dass sich viele MigrantInnen an den Unruhen in "chaotischer" oder "unpolitisch" rachsüchtiger Weise beteiligten, die ihrem Mangel an politischer Kultur geschuldet ist - ein Nebeneffekt ihrer Sozialisation unter autoritären Regimen in ihren Herkunftsländern. Diese Argumentationslinie war nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in der Linken und sogar in der anarchistischen Szene weit verbreitet.

Unserer Meinung nach sollten wir uns darum bemühen, die Klage über den Mangel an "demokratischer Kultur" oder "demokratischen Absichten" unter MigrantInnen, die diese davon abhält, an den direkt-demokratischen Verfahren der radikalen Szene teilzunehmen, zu durchschauen. Denn sie macht deutlich, in welchem Maß die Dezember-Revolte - ebenso wie viele der radikalen Aktivitäten im Allgemeinen - sich implizit an das Kräftespiel staatlicher Demokratiepolitik bzw., wenn man so will, an die "politische Hauptbühne" richten - auch wenn behauptet wird, es gehe um ein "alternatives Universum" von "Politisierung" und Vergesellschaftung. Diese Sichtweise impliziert weitenteils auch eine rassistische Hierarchie von sozusagen mehr oder weniger legitimen Denkweisen, was dieselben Formen des Protests - sogar innerhalb der Unruhen selbst - angeht. Auch hier wollen wir uns nicht daran festmachen, wie Einzelne oder Gruppen zu Opfern einer diskriminierenden Haltung werden - oder eben nicht; vielmehr geht es uns um die Tatsache realer Unterschiede zwischen den meisten GriechInnen und den meisten MigrantInnen, was die praktische Verständigung über Formen und Ziele des Protests betrifft.

Jede/r hat etwas zu verlieren; und die verhafteten MigrantInnen haben ihre klandestine Freiheit bereits verloren. Wir müssen uns hier nicht erneut auf den Wiederaneignungsaspekt des Plünderns berufen, um irgendjemanden zu "entschuldigen". Politisch wichtig ist allein die Tatsache, dass einige MigrantInnen diesen Aspekt auf die Straße getragen haben.


Über Teufelskreise der Absonderung

MigrantInnen verstehen sich selbst als die prekärste soziale Gruppe innerhalb der griechischen Gesellschaft; und das sind sie auch. Das macht die meisten von ihnen sehr zurückhaltend, wenn es um Formen des "politischen" Engagements geht, ganz zu schweigen von "radikaler Politik", deren Wirksamkeit hinsichtlich einer Verbesserung der elementaren materiellen Bedingungen individueller Lebensweisen sehr wenig spürbar bleibt. Diese Zurückhaltung, die tatsächlich zerstörerische Effekte zeitigt, was das Maß der verantwortlichen Beteiligung, des politischen Lernens sowie der politischen Aktivierung von MigrantInnen angeht, verstärkt ihrerseits die impliziten Barrieren, die von vielen radikalen Organisationen in Griechenland errichtet werden, insofern diese erwarten, dass sich ihnen ausschließlich "voll entwickelte radikale Subjekte" à la grecque anschließen. Kurz könnte man sagen, zeichnet diese maniera greca sich ausnahmslos aus durch: formelhafte Praktiken, informelle Hierarchien, Machismus, "Spontaneismus" und Kurzsichtigkeit, Gewalt- (oder Gewaltlosigkeits-)Fetischismus, Intellektualismus, Verbalismus[8], Fragmentierung, Mangel an Reflexion und Selbstkritik sowie auf einer elementareren Ebene die ausgrenzende Wichtigkeit junger Einzelpersonen, die Aufrechterhaltung von Ungleichheiten, die von unterschiedlichen Positionierungen in der Gesellschaft herrühren, ebenso wie die Bewahrung von traditionellen, erstickenden und Ungleichheit produzierenden familiären Fesseln; d. h. diese maniera greca zeichnet sich durch alle problematischen "impliziten Codes" aus, die den modus operandi von auf "Piazzas" operierenden "Cliquen" ausmachen - während sie zugleich die staatliche Politik adressieren -, sowie durch die soziale Grundstruktur radikaler Politik in Griechenland als Lifestyle.

Noch schwieriger zu entwirren und zu bewältigen wird die Situation, wenn das Aufeinandertreffen auf Seiten der MigrantInnen durch ethnische, ghettoähnlich strukturierte Netzwerke vermittelt wird, sei es in Form von "Vereinen" oder nicht. Es ist kein Zufall, dass diese relativ weit verbreiteten Formen migrantischer Organisierung auf Graswurzelebene in der Tat genau den gleichen ausschließenden Problemen und organisatorischen Schwächen zum Opfer fallen, wie sie auch den oben erwähnten griechischen radikalen Gruppen eigen sind. Auch wenn es hier um "greifbarere" Probleme der Migration geht und selbstverständlich nicht um einen radikalen politischen Purismus oder politische Korrektheit, da Überlebensstrategien im Mittelpunkt stehen, ist das Ergebnis doch das gleiche: ausschließende Strukturen mit beständiger Produktion von "AußenseiterInnen", Hierarchien, Personenzentriertheit und Kurzsichtigkeit. Diese Netzwerke dienen zwar den realen Bedürfnissen der migrantischen Bevölkerung - direkte und praktische Solidarität, Sozialisierung, Selbstschutz -, sind aber weder stark genug, um langfristige und unabhängige radikale Massenprojekte hervorzubringen, noch, um koordiniert zu handeln - und beabsichtigen dies auch nicht.


Zu verschiedenen Generationen von MigrantInnen

Während der Unruhen und auf den Barrikaden wurden, zumindest in Thessaloniki und unserer Erfahrung nach, nicht nur Griechisch, sondern auch Albanisch, Russisch, Bulgarisch, Türkisch und in vielen anderen Sprachen gesprochen. Das ist selbstverständlich der Tatsache geschuldet, dass sich viele aus der "zweiten Generation" beteiligten. Wir wollen hier auch versuchen, deren Bedingungen der Teilhabe analysieren.

Seit Migration zu einem Thema in der griechischen Gesellschaft wurde, war die Polizei als einzige staatliche Institution damit betraut, sich systematisch und regelmäßig mit MigrantInnen auseinanderzusetzen. Das ist die traurige Wahrheit in einem Staat, der für seine migrantische Bevölkerung keinerlei Sozialleistungen bereitgestellt hat. Die Geschichte dieses zwanzig Jahre währenden engen Kontakts zwischen Polizei und migrantischer Bevölkerung ist eine Geschichte von Ausbeutung, Misshandlung und Mord. Es ist die Geschichte der migrantischen "Angst vor den Bullen". Und im Hinblick auf die Ereignisse im Dezember ist es die Geschichte des Widerstands gegen diese Angst. Was wir in unseren Diskussionen als "Angst vor den Bullen" bezeichnen, ist ein komplexes Geschehen, das eine Differenzierung zwischen der ersten und der zweiten Generation von MigrantInnen impliziert. Bei jenen, die zunächst mit ihrer Familie Anfang oder Mitte der 1990er Jahre nach Griechenland gekommen sind bzw. bei denen, die jetzt ankommen, bewirkt der Anblick der griechischen Polizeikräfte sozusagen einen "Brechreiz" als spontane und instinktive Reaktion auf die drohende Gefahr; eine Erinnerung an die Angst, die sie während den Grenzüberschreitung(en), den "Räumungsoperationen" und angesichts der Straßensperren zur Anhaltung und Durchsuchung verspürten; ein Gefühl der Prekarität gegenüber dem griechischen Staat im Allgemeinen. Die PolizistIn war lange und ausschließlich genug die Personifizierung des griechischen Staates, sodass für einen großen Teil der migrantischen Bevölkerung die Möglichkeit einer Konfrontation mit dieser Instanz ausradiert wurde - sie kann ausgetrickst, bestochen oder ertragen werden. Die Teilnahme an einer Aktion gegen die Polizei käme einer Konfrontation mit dem griechischen Staat selbst gleich; und gegenüber diesem kann man keine Forderungen stellen, sondern muss dankbar sein, wenn man nicht misshandelt wird (deshalb werden auch harte, aber gesetzeskonforme bürokratische Haltungen der Polizei von MigrantInnen manchmal positiv aufgenommen).

Mit der zweiten Generation verhält es sich anders. Die für sie nähere staatliche Institution ist das Bildungssystem, die Schule, da die Kinder von MigrantInnen relativ kurz nach dem Massenzustrom an den öffentlichen Schulen zugelassen wurden - was nicht heißt, dass über die Zulassung hinaus besondere Sorge für ihre Integration unter gleichen Bedingungen getragen wurde. Und doch bringt die rechtliche Sicherheit einer Teilhabe am öffentlichen Bildungswesen Griechenlands und das Aufwachsen sowie die Sozialisierung im monokulturellen griechischen Kontext, der nicht mehr als eine bedingungslose Assimilation zulässt, einen kulturellen Selbstentwurf mit sich, der zwar nicht darauf hinausläuft "GriechIn zu sein", aber zumindest auch nicht darauf, etwas anderes oder anders zu sein. Dies führt zu einer anderen Responsivität gegenüber dem griechischen Staat. Obwohl sie "bereits in der Wiege mit Rassismus" konfrontiert werden und die "zweite Generation" oftmals nicht nur keine griechische, sondern gar keine StaatsbürgerInnenschaft innehat, ist die Haltung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in Griechenland aufgewachsen sind, der Haltung gleichaltriger GriechInnen in vielerlei Hinsicht ähnlicher als der ihrer migrantischen Eltern. Sie dulden keine Diskriminierung und geben sich mit dem, was sie (nicht) haben, nicht zufrieden. Die Familie und die kulturelle Erinnerung an die Nöte ihrer Eltern rufen kein Mehr an Angst, sondern ein Mehr an Zorn hervor.

In Griechenland gibt es beinahe keine Debatten über kulturelle Identität. Das griechische kulturelle Milieu ist bemerkenswert monologisch und die unwesentliche öffentliche Diskussion setzt sich in vernachlässigbare Politik oder vernachlässigbaren Einfluss um. Seit der Gründung des griechischen Staates waren Fragen der kulturellen Vielfalt eng verwoben mit Ideen von territorialer Expansion (Irredentismus[9], Hellenismus) oder territorialer Bedrohung (Kommunismus als "Slawismus", d. h. BulgarInnen als "fünfte Kolonne"[10]). Seit der Niederlage im Bürgerkrieg ist sogar die Linke mehr und mehr in Richtung nachdrücklicher Beteuerungen der nationalen Einheit und Einförmigkeit geglitten und sicherte sich so zwar selbst die Legitimität zur Verleihung von "respektablen" Positionen in der öffentlichen Sphäre, kümmerte sich aber nicht darum, mehr Vorteile für jene Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten, die unter starkem kulturellen und sozialen Druck stehen. So kann es sich der offizielle griechische Staat beinahe problemlos leisten, Minderheiten oder andere Kulturen nicht anzuerkennen und diese mehr oder weniger als den inneren Feind zu behandeln.


Über Zugehörigkeit und Kämpfe

In die gegenwärtigen migrantischen Lebensläufe übersetzt sich der oben beschriebene Zusammenhang in folgenden Gemeinplatz: Wer sich nicht assimiliert (nicht assimilieren kann oder will), kann nur marginalisiert werden. Aber das beinhaltet möglicherweise eine unerwartete Wendung, die hier von Interesse ist: Die bedingungslose Assimilation, die der griechische Staat und die griechische Mainstream-Gesellschaft der migrantischen Bevölkerung explizit wie auch implizit abverlangen, wirkt sich auf die zweite Generation ihrerseits wiederum als Nötigung, aber auch als Ermutigung und Ermöglichung aus, sich sozusagen "griechische Lebensweisen" anzueignen - zumindest für diejenigen aus der zweiten Generation, die dazu in der Lage sind. Auch wenn also Akzeptiertwerden in der griechischen Gesellschaft nur durch die Übernahme der griechischen Lebensweise erreicht werden kann, verbindet sich damit für die Individuen, für die dies machbar ist und ausreichend gefestigt werden kann, ein Zugehörigkeitssinn und eine Selbstbestätigung. Dieser Zugehörigkeitssinn sowie diese Zuversicht bedeuten nicht nur größere persönliche Ambitionen, sondern in einigen Fällen auch eine "Wiederentdeckung" und intensive Aufarbeitung der migrantischen Identität und der ethnischen/kulturellen Differenz (der Eltern). Was jedoch hinsichtlich dieses Zugehörigkeitssinns von größerem Interesse ist, ist der von den meisten - insbesondere von jungen - MigrantInnen geteilte Standpunkt, dass sie eher die griechische Gesellschaft adressieren und mit ihr als gegen sie oder getrennt von ihr kämpfen können und sollten. Auch dies ist ein Produkt sowohl der Wahlmöglichkeit wie auch der Notwendigkeit - in einem Staat, in dem der strukturelle Rassismus grassiert und sich die "Entfremdung" vom Staat sozusagen stärker niederschlägt als die Entfremdung von der Gesellschaft, und zwar trotz der im griechischen Alltagsleben wie in der Verwaltung allgegenwärtigen Diskriminierung.

Haben sich MigrantInnen der "zweiten Generation" an den Protesten von Dezember "unter griechischen Bedingungen" beteiligt? Das könnte Verschiedenes bedeuten, was MigrantInnen anbelangt: dass sie sich im allgemeinen Protest "aufgelöst" haben und darin "aufgegangen" sind; dass sie innerhalb nicht-migrantischer Organisationen agierten; dass sie die Diskurse und Praxen der unterschiedlichen Bestandteile der griechischen Bewegung "en gros" für ihre migrantischen Organisationen übernahmen etc. Aber jedenfalls bedeutet es, dass es ihnen nicht gelang, dem Protest spezifische Charakteristika oder Forderungen einzuschreiben. Wir wollen hier nicht die (als Journalismus maskierte) Propaganda des Ministeriums für öffentliche Sicherheit reproduzieren und behaupten, dass "Proteste von afghanischen Flüchtlingen antiautoritäre Züge annehmen", wie dies etwa anlässlich der Unruhen im Hafen von Patras im Jänner 2008, an denen sich über 1000 AfghanInnen beteiligten, sowie im August 2008 während des No Border Camps betrieben wurde - als ob Menschen, die einen Krieg erlebt haben, nicht mit gewaltförmigen Konfrontationspraxen vertraut wären ... Was wir beschreiben wollen, ist sozusagen die innere Dynamik, die hinter dem Umstand steht, dass MigrantInnen der "zweiten Generation", insbesondere viele AlbanerInnen, aktiven Anteil an den Ereignissen von Dezember gehabt haben, nicht jedoch eine eigene deutlich wahrnehmbare Stimme.

Ein allgemeiner Eindruck könnte in der folgendem ambivalenten Empfindung gefasst werden: Optimismus hinsichtlich der Beteiligung von MigrantInnen der zweiten Generation und gleichzeitig einige Bedenken - zumindest für jene unter uns, die nicht auf Zugewinne bei Wahlen oder ein Mehr an Mitgliedschaften bei Splittergruppen aus sind - über das relative Fehlen der Artikulation erkennbarer migrantischer Forderungen oder Formen der Beteiligung (worunter wir vor allem eine an andere MigrantInnen gerichtete Beteiligung verstehen). Das ist eine widersprüchliche Situation. Wir haben bereits auf die Grenzen hingewiesen, die jede Sichtweise impliziert, welche die nach wie vor existierenden Segregationen und Differenzen innerhalb der Bewegung ignoriert, um für die Etablierung einer authentischen "Einheit" oder "Gemeinsamkeit" bzw. einer "gemeinsamen Kultur des Kampfes" zu argumentieren.

Wir nehmen nun einen letzten kurzen Umweg zur Ausarbeitung dieses Fehlens migrantischer Artikulation. Unser Vorschlag läuft darauf hinaus, dies als Ausdruck der Tatsache zu sehen, dass der "Kulturalismus", wie oben bereits angedeutet, von der pro-migrantischen Bewegung keinesfalls als Essenz oder auch nur als wesentlich hinsichtlich Fragen der Migration erachtet wurde; dieser vorsätzlich "blinde Fleck" gegenüber kultureller/ethnischer Identitätspolitik hat in Griechenland die Emphase, die Zeit, die Energie und die Ressourcen aufgespart, die anderswo in Debatten über Beziehungen zwischen verschiedenen Communities oder über ethnische Identitätspolitik kanalisiert werden; dadurch blieb relativ gesehen mehr Raum für nachdrückliche und konfrontative Diskurse gegen die Zentralgewalt. Auf der anderen Seite macht es dieser Mangel an Diskussion schwierig, Themen, die illegalisierte MigrantInnen betreffen, in einem kämpferisch-produktiven Rahmen in die Bewegung einzubringen und die praktischen, oft diskriminierenden Bedingungen, unter denen sich MigrantInnen an politischen Abläufen beteiligen oder nicht, kritisch anzusprechen.

So sah sich der "Steki albanischer MigrantInnen" mitten im Sommer der gegen MigrantInnen gerichteten Repression dazu genötigt, zu betonen:

"Solidarität zu zeigen bedeutet, ein Verständnis dafür entwickeln zu können, dass AlbanerIn, BulgarIn oder Pakistani zu sein keine Frage der Wahl ist - im Gegensatz zu Nationalistin, Internationalistin, links oder rechts sein -, obwohl dies auf einer praktischen Ebene nichtsdestoweniger die meisten Aspekte des Lebens der Betroffenen bestimmt."[11]

Weder waren MigrantInnen eine Speerspitze, noch Migration ein im Vordergrund stehendes Thema während der Dezember-Revolte. Wir können es uns nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass dies eine problematische Artikulation genuin sozialer Fragen und Gründe für einen entschlossenen Widerstand gegen den Staat durch viele der Praktiken der Revolte sichtbar werden lässt, die die Bewegung nicht gegen die Methoden der kommenden Aufstandsbekämpfung immunisieren konnte. Der düsterste Schatten senkte sich allerdings mit dem Auftauchen der selbsternannten bewaffneten Avantgarde nieder:

"Die Notwendigkeit, den proletarischen Zorn politisch zu vermitteln - und sei es, ihn durch eine bewaffnete Vermittlung zu vermitteln -, hatte seine Ursache nicht im Kampf selbst, sondern war etwas, das dem Kampf von außen und danach aufgezwungen wurde. Zu Beginn kam es zu zwei Angriffen durch die so genannte 'bewaffnete Avantgarde': erstmals am 23. Dezember, nachdem die Rebellion ihren Höhepunkt erreicht hatte, und schließlich am 5. Jänner mit dem Wiederaufleben der Rebellion. Von einem proletarischen Standpunkt aus betrachtet war alleine die Tatsache, dass wir nach einem Monat zu ZeugInnen dieser 'exemplarischen Handlungen' wurden, die niemals Teil unserer kollektiven Praxis waren, an sich bereits eine Niederlage - selbst wenn diese Angriffe nicht vom Staat organisiert wurden.

[...] Als die Rebellion abflaute, kam es zu einer bemerkenswerten Zunahme von Angriffen gegen Banken und staatliche Gebäude durch etliche Gruppen, die nicht der Kategorie der Taten der 'bewaffneten Avantgarde' zugeordnet werden können, da die meisten von ihnen nicht den Anspruch erhoben, der gegenwärtigen Bewegung voraus zu sein (obwohl es ihnen nicht notwendigerweise an einer voluntaristischen, arroganten Haltung mangelte). Die Wiederkehr der 'bewaffneten Avantgarde' ausgerechnet mit der Hinrichtung eines Polizisten einer Anti-Terror-Einheit Anfang Juni, gerade als die Erinnerung an die Rebellion schwand, lieferte dem Militarismus und der Eskalation reiner Gewalt einen Vorwand, sich selbst als Alternative zu einem (kleinen?) Teil derer zu präsentieren, die sich an der Rebellion beteiligten - als ob wir durch die politische Toleranz der antiautoritären Szene gegenüber dieser Aktion zu beurteilen wären."[12]

Abschließend wollen wir folgendes festhalten: Viele MigrantInnen der zweiten Generation beteiligten sich nicht nur deshalb an der Revolte im Dezember, um für ihre eigene prekäre Gegenwart und Zukunft einzutreten, sondern auch um Rache für das vergangene Leiden ihrer älteren Familienmitglieder in Griechenland zu nehmen - was sie vielleicht von ihren AltersgenossInnen unterscheidet. Die Ursache für das Fehlen "spezifischer Forderungen" ist wiederum Ergebnis ihrer ambivalenten Position: Einerseits sind sie ein Teil der griechischen Gesellschaft und trafen sich im Hinblick auf den Widerstandsgeist im Dezember; andererseits wussten die MigrantInnen zweiter Generation, dass sie, selbst wenn sie spezifische Themen oder Forderungen angesprochen hätten, ohnehin nicht gehört worden wären.

Clandestina ist ein mehrsprachiges Informations- und Koordinationsnetzwerk zu Migrationspolitik(en) und Widerstand.

http://clandestinenglish.wordpress.com/


Anmerkungen

[1] Zwei kürzlich erschienene Texte sind: "A Day when Nothing is Certain: Writings on the Greek Insurrection", vgl.:
http://www.occupiedlondon.org/blog/wp-content/uploads/2009/11/a-day-when-nothing-is-certain.pdf sowie "Everyone to the Streets: Communiques and Texts from the Streets and Occupations"; dieser Text kann hier bestellt werden: http://56a.org.uk/

[2] (Dromos) wurde 2008 von einigen GriechInnen und MigrantInnen gegründet. Dromos führte eine Kampagne gegen die "Richtlinie der Schande" (Rückführungsrichtlinie der EU von Juni 2008, die primär auf zwei ausgrenzenden Maßnahmen basiert: die Einführung einer willkürlichen Inhaftierung von Menschen ohne Papiere bis zu 18 Monate und die gewaltsame Rückführung ohne die Möglichkeit, innerhalb der nächsten 5 Jahre wieder europäischen Boden zu betreten). Dromos veranstaltete politische Diskussionen und Filmvorführungen, gemeinsam mit der Libertarian Syndicalist Union. Es wurden Sonntagsfrühstücke angeboten und einige Cocktailpartys gegeben (die manchmal zu erfolgreich waren). Dromos ist vor kurzem in eine ehemalige Tischlerwerkstatt in einer Fußgängerzone im Zentrum von Thessaloniki umgezogen und steht MigrantInnen, Flüchtlingen und anderen offen. Dort finden Sprachkurse, politische und kulturelle Veranstaltungen statt. Wir werden sehen, was noch. Wie jede Straße, bauen wir sie, während wir darauf gehen.

[3] Vgl. den Text "Prison and Deportation for Holding a Cell Phone Charger!",
http://clandestinenglish.wordpress.com/2008/12/19/prison-and-deportation-for-holding-a-cellphone-charger/

[4] Vgl. "Our Share of these Days!", http://clandestinenglish.wordpress.com/2008/12/19/our-share-of-these-days/

[5] Siehe das Posting auf ihrem Blog http://steki-am.blogspot.com/2009/01/11012009.html (Text auf Griechisch)

[6] Für eine ausführliche Liste dieser Morde vgl. den Text "Greece: 5 Immigrants Murdered in one Year, 50 in the last Decade",
http://clandestinenglish.wordpress.com/2009/10/14/greece-five- immigrants-murdered-in-one-year-15-in-the-last-decade/. Ebenfalls erwähnenswert ist, dass, einige Stunden bevor Alexis Grigoropoulos erschossen wurde, ein 26tägiger Hungerstreik von MigrantInnen in Chania auf Kreta beendet wurde, nachdem die Hungerstreikenden mit vielen ihrer Forderungen erfolgreich waren, obschon es trotz der Anstrengungen der lokalen "Solidarity Assembly and Forum of Immigrants" nicht gelang, die lokale Solidaritätsbewegung auf ganz Griechenland auszuweiten.

[7] Der Tod von Alexis war die traumatische Wiederholung des Mordes an dem 15jährigen Michalis Kaltezas, der 1985 in Exarcheia vom einem Polizisten in den Kopf geschossen wurde - während einer Demonstration zum Jahrestag des Aufstandes von SchülerInnen an der Polytechnischen Schule gegen die Diktatur im Jahr 1973. Der Tod von Michalis Kaltezas ist seither Symbol der Brutalität der Polizei und Bezugspunkt von AnarchistInnen und Antiautoritären.

[8] Verbalismus meint hier, dass die Form des sprachlichen Ausdrucks wichtiger genommen wird als der Inhalt des Ausgedrückten. (Anm. d. Übers.)

[9] Irredentismus bezeichnet eine Ideologie, die auf die Zusammenführung möglichst aller Angehörigen einer bestimmten Ethnie in einem einheitlichen Staat hinzielt, in der Regel durch Annexion von Gebieten anderer Staaten; siehe auch
http://de.wikipedia.org/wiki/Irredentismus (Anm. d. Übers.)

[10] Zumindest bis Anfang 2001 war den slawischen VeteranInnen des Bürgerkriegs auf Seiten der KommunistInnen die Rückkehr - und sei es zu einem Kurzbesuch - in ihre Heimatdörfer in Griechenland verwehrt, da sich die Rehabilitierung der kommunistischen BürgerkriegsteilnehmerInnen von 1982 durch den griechischen Staat nur auf die "ellines to genos" (d.h. "mit griechischer Abstammung") bezieht. Zur Politik des griechischen Staates gegenüber der bulgarischen bzw. slawischen Minderheit in Griechenland vgl. Christian Voss, Die slavische Minderheit in Griechenland. Politik der kleinen Schritte und die Liberalisierung in Ägäis-Makedonien, http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=197 (Anm. d. Übers.)

[11] Vgl. auch den Text des Albanian Immigrants Haunt (auf Griechisch)
http://steki-am.blogspot.com/2009/07/normal-0-microsoftinternetexplorer4_08.html

[12] Vgl. "The Rebellious Passage of a Proletarian Minority through a Brief Period of Time - TPTG",
http://libcom.org/library/rebellious-passage-proletarian-minority-through-brief-period-time-tptg

Raute

Karl Reitter

Kritische Bemerkungen zum Marxverständnis von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth

Oder: Wie die Autoren im von ihnen herausgegebenen Buch "Über Marx hinaus" den Verfasser des Kapital kritisieren.

Unter Mitarbeit von Marx Henninger haben Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth in "Über Marx hinaus" achtzehn Beträge gesammelt, die aus der Perspektive einer "globalen Arbeitergeschichte" - so die Selbstbezeichnung - verfasst wurden. Ich möchte mich im Folgenden auf die Kritik an Marx durch die Herausgeber konzentrieren, die meines Erachtens nicht unwidersprochen bleiben kann. Aus Vorwort wie Nachwort geht ihr Anliegen klar hervor, das Marxsche Werk in mehrfacher Hinsicht zu kritisieren. Dieses Bedürfnis ist verwunderlich, zumal aus den bisherigen Arbeiten der Herausgeber, die der Verfasser sehr schätzt und ausdrücklich zur Lektüre empfiehlt, die Notwendigkeit einer derart massiven und abwertenden Kritik nicht ersichtlich ist. Ich versuche daher, erstmals die Gründe für diese schroffe Kritik zu verstehen.

Worum geht es im Kern? Warum meinen Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth eine Kritik an Marx formulieren und ihren Sammelband unter dieses Motto stellen zu müssen? Ich vermute den Grund in der unterschiedlichen Methode von Marx einerseits und den Herausgebern andererseits. Anders gesagt: Zwischen einer Betrachtungsweise, die von Haus aus alle Phänomene in Geschichte auflöst, und dem Versuch von Marx, die geschichtliche Dynamik mit allgemein gültigen Aspekten des Kapitalismus zu verknüpfen, sind theoretische Konflikte unvermeidlich. Auch der bedeutende Sozialhistoriker E.P. Thompson stand der analytisch-synchronen Ebene der Kapitalanalyse bei Marx höchst kritisch gegenüber. Er befürchtete, Marx sei tendenziell in den Bann einer "anti-historischen Statik" (Thompson 1980; 108) geraten. "Denn es gibt zugleich Anzeichen dafür, dass Marx in eine Falle geraten war: eine Falle mit einem von der 'Politischen Ökonomie' ausgelegten Köder." (Thompson 1980; 105) Für Thompson löst sich der Begriff des Proletariats wie letztlich alle Kategorien der Kapitalanalyse in die Geschichte auf. Dadurch verlieren abstrakte Begriffe, welche die Bedingungen des Kapitalismus unabhängig von seinen je konkreten Gestalten analysieren, aus dieser Perspektive ihren Sinn. Auch die Herausgeber schlagen uns eine strikt sozialhistorische Betrachtungsweise vor, die von abstrakten analytischen Bestimmungen nichts mehr wissen will. Abgesehen von der Flut methodischer Probleme, die sich dieser Ansatz einhandelt - wie gewinnt ein rein geschichtlicher Ansatz seine Begriffe? - ist die Sachlage bei Marx weitaus komplizierter.

Scheinbar bewegen sich die "logischen" Analysen im Kapital auf einer synchronen, abstrakten Ebene. Die Begriffe, so der Anspruch im Marxschen Hauptwerk, müssen für jede nur denkbare kapitalistische Gesellschaft gelten. Daher wird der Begriff des Proletariats auch nicht aus der Beschreibung der Lage der arbeitenden Klassen um 1848 entwickelt, sondern abstrakt als Pol eines Verhältnisses: "Im Verhältnis von Kapital und Arbeit sind Tauschwert und Gebrauchswert in Verhältnis zueinander gesetzt, die eine Seite (das Kapital) ist zunächst der andren Seite als Tauschwert gegenüber (die Arbeit) dem Kapital gegenüber als Gebrauchswert." (MEW 42; 193 Herv. im. Org.) Aus dieser Relation ergibt sich die Gleichgültigkeit gegenüber jeder bestimmten Form der Arbeit. "Als Kapital kann es sich nur setzen, indem es die Arbeit als Nicht-Kapital, als reinen Gebrauchswert setzt." (MEW 42; 214) Das Kapital setzt sich aber nicht einer ganz bestimmten Arbeit gegenüber, sondern jeder Arbeit überhaupt. "D.h. die Arbeit ist zwar in jedem einzelnen Fall eine bestimmte; aber das Kapital kann sich jeder bestimmten Arbeit gegenüberstellen; die Totalität aller Arbeiten steht ihm δυνάμει [der Möglichkeit nach K.R.] gegenüber, und es ist zufällig, welche ihm gerade gegenübersteht." (MEW 42; 218) Was oder wer ist nun das Proletariat? "Träger der Arbeit als solcher, d.h. der Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht daher seinen ökonomischen Charakter aus; er ist Arbeiter im Gegensatz zum Kapitalisten. Die ist nicht der Charakter der Handwerker; Zunftgenossen etc., deren ökonomischer Charakter gerade der Bestimmtheit ihrer Arbeit und dem Verhältnis zu einem bestimmten Meister liegt. etc." (MEW 42; 218)

In dieser Marxschen Bestimmung schlummert die geschichtliche Prognose. Der Anspruch seiner Arbeiten zum Kapitalverhältnis bestand ja nicht nur darin, die aktuelle Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu begreifen, sondern ganz allgemein und abstrakt die Verhältnisse zu analysieren. Im idealen Durchschnitt des Kapitalverhältnisses sind jedoch zahlreiche dynamische, ja teilweise irreversible Prozesse zu erkennen. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen der synchronen Analyse und der Dynamik des Kapitalismus, die Marx ja aus der Analyse ableitet und begründet, eines der schwierigsten und komplexesten Themen jeder Marxrezeption. Um diesen Gedanken etwas populärer auszudrücken: Marx orientiert sich einerseits am Zustand des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, will aber zugleich allgemein gültige Verhältnisse und Dynamiken aufzeigen. Das bedeutet: Auch im Begriff des Proletariats ist eine Dynamik enthalten. Die Gleichgültigkeit gegenüber jeder bestimmten Form der Arbeit muss sich durch den historischen Prozess permanent verstärken. Zu behaupten, Marx würde eine bestimmte Form der Arbeit, etwa die Industriearbeit, als die eigentliche, der kapitalistischen Produktionsweise entsprechende definieren, widerspricht sowohl der Logik seines Ansatzes als auch zahllosen Passagen seines Werks. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, sondern nur darauf verweisen, dass etwa bei der Definition der wertbildenden, abstrakten Arbeit die "Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn" (MEW 42; 38) gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzung für diese Kategorie ist; ebenso beruht der Mechanismus des Augleichs der Profitrate auf der "Gleichgültigkeit des Arbeiters gegen den Inhalt seiner Arbeit. Mögliche Reduzierung der Arbeit in allen Produktionssphären auf einfache Arbeit. Wegfall aller professionellen Vorurteile bei den Arbeitern." (MEW 25; 206f) Behaupten die Herausgeber, Marx würde "ein bestimmtes Segment der Weltarbeiterklasse gegenüber anderen Segmenten privilegieren" (19), so gilt das Gegenteil. Marx war von der tendenziellen Aufhebung der Unterschiede der Lebenssituation der ArbeiterInnenklasse überzeugt. Über die Korrektheit dieser These müsste sehr wohl diskutiert werden. Ich muss an dieser Stelle einen kleinen demagogischen Kniff eingestehen. Die Herausgeber schieben diese Position der Privilegierung der Industriearbeit nicht Marx in die Schuhe, sondern der "Marx'schen/marxistischen Tradition" (19). Allerdings differenzieren sie nicht zwischen Marx und bestimmten Strömungen der nachfolgenden ArbeiterInnenbewegung. So wie der Text läuft, muss der Eindruck entstehen, die Konzentration auf die fordistisch-industrielle männliche Arbeiterkasse stünde genuin in der Denktradition von Marx.

Durch die Überblendung der Analysen von Marx mit bestimmten Auffassungen der Sozialdemokratie und der kommunistischen Parteien geraten auch die konkreten Beschreibungen der ArbeiterInnenklasse durch Marx (aber auch durch Engels) aus dem Blick. Es ist selbstverständlich, dass der Pol der lebendigen Arbeit, also das Proletariat, jeweils bestimmte soziologisch und historisch beschreibbare Formen annimmt. Anders gesagt: In ihren historischen Studien stellen Marx und Engels das Proletariat eben in der jeweiligen gegebenen Gestalt dar. Engels unterscheidet in seiner Studie zur Lage der arbeitenden Klasse in England sehr genau zwischen der Situation der englischen ArbeiterInnenklasse und jener der MigrantInnen aus Irland. Marx analysiert im Kapital zuerst den Manufakturarbeiter und danach die Arbeitskräfte in der Phase der großen Maschinerie. Der "typische Arbeiter" im 13. Kapitel des Kapital ist, wenn ich das mit etwas Überspitzung sagen darf, eine Frau oder ein Kind!

Zusammenfassend: Der Begriff des Proletariats bezieht sich auf den Pol der lebendigen, durch das Kapital angewandten Arbeit. Dieser Pol hat unterschiedlichste soziologische, kulturelle, aber auch rechtliche Formen angenommen, welche er permanent verändert. Letztlich, so Marx, müsse das Proletariat als universal einsetzbare Arbeitskraft dem Kapital gegenüber stehen und könne begrifflich gerade nicht mit irgendeiner bestimmten Form, etwa jener der Industriearbeit, identifiziert werden. Diese Form des Kapitalverhältnisses kann sich sogar vom formalen Kauf der Arbeitskraft loslösen, wie die Existenz der Scheinselbständigen in den Metropolen zeigt, die im Grunde mehr oder minder qualifizierte StücklohnarbeiterInnen sind. Wenn wir also einen möglichst breiten und umfassenden Begriff des Proletariats benötigen, finden wir bei Marx dazu alle Voraussetzungen.

Die Herausgeber sind aber offenbar nicht willens, trotz des Formwechsels des Arbeitsverhältnisses die gemeinsame Substanz zu erkennen, die in den Marxschen Definitionen dargestellt wird. Stattdessen unterstellen sie Marx die Identifikation des Proletariats mit bestimmten geschichtlichen Formen. Die vorgeblich enge Marxsche Auffassung des Proletariats wird nun mit der Formel "doppelt freien Lohnarbeiter" charakterisiert. Diese Formel, von Marx selbst so nicht verwendet, bezieht sich auf folgende Passage: "Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen." (MEW 23; 183) Die erste Freiheit meint nun nicht mehr oder weniger, als dass die Arbeitskraft Rechtsperson ist. An dieser Stelle wäre eine Diskussion über die Verwirklichung bzw. die Grenzen der bürgerlichen Revolution zu führen. Das kann hier nicht geschehen. Statt dessen einige Anmerkungen:

Marx analysiert das Kapitalverhältnis nicht in seinen möglichen Defiziten, sondern in seiner möglichen emanzipatorischen Gestalt. Er will ja nicht "Missstände", sondern die unhintergehbaren Strukturen aufzeigen. Die Arbeitskraft als Rechtsperson ist mit den kapitalistischen Verhältnissen vollkommen vereinbar und eine ihrer Voraussetzungen, die sie tendenziell durchsetzt. Marx war bewusst, dass diese Grenzbestimmung in der Realität keineswegs zutreffen müsse. Dazu eine kleine Passage, die zeigt, wie sehr Marx die eingeschränkten Rechte des Proletariats registrierte: "Jeder Arbeiter erhält von der Polizei ein Buch, dessen erste Seite seinen Namen, Alter, Geburtsort, Gewerbe oder Beruf und eine Beschreibung seiner Person enthält", kommentiert er 1851 die Lage der französischen ArbeiterInnen. "Er ist verpflichtet, den Namen des Unternehmers, für den er arbeitet, darin einzutragen sowie die Gründe, warum er ihn verläßt. Doch das ist noch nicht alles: Das Buch wird seinem Unternehmer übergeben und von diesem, versehen mit einer Charakterisierung des Arbeiters, im Polizeibüro hinterlegt. Wenn ein Arbeiter seine Stellung aufgibt, muß er zum Polizeibüro gehen und dieses Buch holen; er darf keine andere Stelle annehmen, ohne es vorzulegen. Dadurch hängt das Brot des Arbeiters völlig von der Polizei ab. Doch das ist wiederum noch nicht alles: Dieses Buch erfüllt den Zweck eines Passes. Wenn der Arbeiter sich unbeliebt gemacht hat, schreibt die Polizei hinein: "bon pour retounner chez lui" "gültig für die Heimreise" und er muß in seinen Heimatort zurückkehren! Die Enthüllung dieser furchtbaren Tatsache braucht keinen Kommentar! Überlassen wir es dem Leser, sich selbst die volle Auswirkung auszumalen und den tatsächlichen Konsequenzen nachzuspüren. Nicht einmal in der Leibeigenschaft der Feudalzeit oder in dem Pariawesen Indiens findet sich eine Parallele." (MEW 7; 504f) Diese als individuelles Recht existierende Freiheit ist nur die andere Seite der tendenziellen Überwindung all jener Kasten- und Zunftgrenzen, die das freie Fluktuieren der Arbeitskraft behindern könnten.

Die zweite "Freiheit" bezieht sich auf die Tatsache, dass das Proletariat nichts besitzt als seine Arbeitskraft und keinerlei andere Einkommensquellen hat. So weit ich sehe, ist es gerade diese Bestimmung, an der sich die Kritik entzündet. Der durch die Herausgeber repräsentierte Ansatz beharrt auf der Bedeutung der Haus- und Subsistenzarbeit und vermeint aus deren Unterschätzung bei Marx eine Kritik seiner Werttheorie ableiten zu müssen. Dass Haus- und Subsistenzarbeit existieren, ist aus Marxscher Perspektive nicht der Punkt. Entscheidend ist, ob das Individuum tatsächlich von dieser Gebrauchswertproduktion leben kann. Anders gesagt: Würde die Haus- und Subsistenzarbeit der Frauen den Männern alle Mittel zu leben produzieren können, wären diese keine Proletarier! Warum sollten sie unter diesen hypothetischen Bedingungen verzweifelt auf den Arbeitsmarkt drängen? Tatsächlich sind die Individuen trotz dieser Gebrauchswertproduktion ihre Arbeitskraft zu verkaufen gezwungen, wollen sie leben und gut leben. Da der Kapitalismus alle Güter in Waren zu verwandeln versucht - ich denke vor allem an Grund und Boden (Miete!) -, ist der Gelderwerb unumgänglich. In der Realität bedeutet der Ausschluss aus der kapitalistischen Verwertungsmaschine Not und Elend, so die Existenz nicht durch sozialstaatliche Transferleistungen abgesichert ist. Keine Haus- und Subsistenzarbeit kann diesen Zwang kompensieren. Die Beraubung der Produktionsmitteln, also die "Freiheit" von diesen Mitteln, besagt keineswegs, dass es neben der Erwerbsarbeit keine Gebrauchswertproduktion gibt. Diese Formel besagt nur, dass diese ökonomische Sphäre nicht genug Güter erzeugen kann, um davon angemessen zu leben.

Als ob ihre grundlegende Kritik an Marx nicht ausreichend wäre, erweitern die Herausgeber ihre eigentliche Differenz mit Marx um zusätzliche Themen. Als weiterer Konfliktpunkt wird die Marxsche Werttheorie ausgemacht. Primär stützen sich die Herausgeber dabei auf einen Artikel von Thomas Kuczynski mit dem Titel "Was wird auf dem Arbeitsmarkt verkauft?" Diesen Text möchte ich nicht kommentieren. Inhaltlich besteht seine Argumentation darin, den auf der Hand liegenden Unterschied zwischen dem Verkauf einer Ware und dem Verkauf der Arbeitskraft zu zelebrieren. Dieser Gedankengang ist weder neu noch originell. Es existieren mehrere dutzende Laufmeter Literatur, in denen der Wertbegriff bei Marx endgültig und schlüssig widerlegt wurde. Die Kritik liegt in allen Varianten und Geschmacksrichtungen vor, der Bogen spannt sich von hoch mathematisierten Modellen über allgemein philosophische Einwände bis zur Kritik aus sehr spezifischen Sichtweisen. Die Herausgeber bemerken zur Kuczynskischen Variante: "Der Beitrag Thomas Kuczynskis ist eine rühmliche Ausnahme und demonstriert exemplarisch, dass sich Marx selbst bei den elementarsten Grundbegriffen seines Systems oft widersprach oder verschiedene Lösungsmöglichkeiten ins Auge fasste." (13) Dieser sehr selbstbewusst vorgetragene Befund motiviert dazu, ein wenig die Interpretation der "elementarsten Grundbegriffe" im Vor- und Nachwort zu kommentieren.

Selbstredend ist Marx der fundamentale Unterschied zwischen dem Warenverkauf und dem Verkauf der Arbeitskraft bewusst. Marx wird nicht müde, die Besonderheit des Gebrauchswerts der Arbeitskraft und jene des Arbeitsmarktes zu betonen. "Kann der Austausch seines Teils des Kapitals gegen lebendiges Arbeitsvermögen als ein besonderes Moment betrachtet werden und muss so betrachtet werden, da der Arbeitsmarkt durch andre Gesetze regiert wird wie der Producte market etc." (MEW 42; 427) Dass die Arbeitskraft eben keine Ware wie jede andere ist, stellt letztlich die Basis des Klassenverhältnisses dar und wird von Marx auch so entwickelt. Im Gegensatz zu allen anderen Waren produziere die Bourgeoisie, so Marx, diese Ware durchaus auch mit politischen Zwangsmitteln. "Früher macht das Kapital, wo es ihm nötig schien, sein Eigentumsrecht auf den freien Arbeiter durch Zwangsgesetze geltend. So war z.B. die Emigration der Maschinenarbeiter bis 1815 bei schwerer Strafe verboten." (MEW 23; 599) Und Marx verallgemeinert: "Wie sehr der Kapitalist das Dasein einer solchen geschickten Arbeiterklasse unter die ihm zugehörigen Produktionsbedingungen zählt, sie in der Tat als die reale Existenz seines variablen Kapitals betrachtet, zeigt sich, sobald eine Krise deren Verlust androht." (ebd.) Eigentlich wäre an dieser Stelle eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses Kapital - Grundeigentum - Lohnarbeit notwendig, um zu zeigen, wie sehr Marx bereits die bloße Existenz des Proletariats an die politischen Prozesse des Klassenkampfes bindet. Die Existenz des "doppelt freien Lohnarbeiters" impliziert Prozesse der Gewalt, der Aneignung und ursprünglichen Akkumulationen. Genügt der zwanglose Zwang der Verhältnisse nicht und erweist sich die Arbeitskraft als störrisch und flüchtig, so schlägt das Verhältnis jederzeit in Gewalt um. Marx wird auch nicht müde zu erklären, der Verkauf der Arbeitskraft zu seinem Wert sei eine kontrafaktische, aber darstellungstechnisch notwendige und mögliche Unterstellung: "In den Abschnitten über die Produktion des Mehrwerts ward beständig unterstellt, dass der Arbeitslohn wenigstens gleich dem Wert der Arbeitskraft ist. Die gewaltsame Herabsetzung des Arbeitslohns unter diesen Wert spielt jedoch in der praktischen Bewegung eine zu wichtige Rolle, um uns nicht einen Augenblick dabei aufzuhalten." (MEW 23; 626) Methodisch lassen sich neunundneunzig Prozent aller Missinterpretationen des Werts der Ware Arbeitskraft auf die falsche und einseitige Auffassung zurückführen, auch diese Größe wäre bei Marx ausschließlich durch das Wertgesetz bestimmt. Tatsächlich ist der Klassenkampf ein ebenso bestimmender Faktor.

Der Mangel an Behutsamkeit im Umgang mit den "elementarsten Grundbegriffen" drückt sich im mehrfachen Gebrauch des Unwortes Arbeitswerttheorie aus. Mit Verlaub: Es existiert bei Marx keine Arbeitswerttheorie in dem Sinne, dass Arbeit unter allen sozialen Verhältnissen abstrakten Wert schaffen würde. Im Gegenteil: Die wertsetzende Qualität der Arbeit bindet Marx strikt an das Kapitalverhältnis. Um dies zu erkennen, sind keine akribischen Studien nötig, es genügt schon das erste Kapitel des Kapitals aufmerksam zu lesen. "Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären." So kommentiert Marx die vorkapitalistischen Verhältnisse Europas. "Aber eben weil persönliche Abhängigkeitsverhältnisse die gegebne gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt anzunehmen." Das heißt, sie nehmen keine Waren- und Wertform an. "Sie gehn als Naturaldienste und Naturalleistungen in das gesellschaftliche Getriebe ein. Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form. Die Fronarbeit ist ebensogut durch die Zeit gemessen wie die Waren produzierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, daß es ein bestimmtes Quantum seiner persönlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt." (MEW 23; 91) Jenseits des Kapitalverhältnisses existiert wohl Mehrprodukt und Mehrarbeit, aber kein Mehrwert. Mit dieser Bestimmung dürften sich auch die Reflexionen über die mögliche Mehrwertproduktion der Sklavenarbeit im Nachwort klären lassen. Wir können sogar von einer Tautologie bezüglich des Wertbegriffes bei Marx sprechen: Da der Wert die dingliche Form des sozialen Kapitalverhältnisses ausdrückt, ist klar, dass jenseits dieses Verhältnisses nicht von Wert gesprochen werden kann und umgekehrt. Die Dimension des Gebrauchswerts stellt eine allgemeine, für jede Gesellschaft gültige Dimension dar, die (Tausch)Wertdimension das Spezifikum des Kapitalismus. Daher verwendet Marx auch den Begriff der Produktivität im doppelten Sinne. Zum einen ist jede Arbeit produktiv, da sie Gebrauchswerte erzeugt. In Bezug auf das Kapitalverhältnis aber gilt: Nur jene Arbeit ist produktiv, die innerhalb dieses Verhältnisses verausgabt wird und dieses Verhältnis selbst produziert. Daher schreibt Marx: "Aus dem Bisherigen geht hervor, daß productive Arbeit zu sein eine Bestimmung der Arbeit ist, die an und für sich absolut nichts zu thun hat mit dem bestimmten Inhalt der Arbeit, ihrer besondren Nützlichkeit oder dem eigenthümlichen Gebrauchswerth, worin sie sich darstellt. Arbeit desselben Inhalts kann daher productiv und unproductiv sein." (MEGA II 4.1; 113) Daher ist der Ausdruck Arbeitswertlehre, den es bei Marx selbstverständlich nicht gibt, auch nicht geben kann, irreführend und unpräzise. Ich bin jedenfalls schon sehr auf die im Nachwort angekündigte "dynamische Arbeitswertkonzeption" (558) gespannt. Zudem findet sich im Vorwort eine ganze Reihe von Auffassungen, die ich nicht unwidersprochen lassen möchte. Marxens Werk ist weder ein "Steinbruch" (13), ein Ausdruck, den bereits Jürgen Habermas verwendete, um die Kritische Theorie von Marx zu lösen, noch ein "widersprüchlicher Torso" (24). Die Analyse des Kapitalverhältnisses, aber auch jene des Verhältnisses des Staates zur Gesellschaft liegt so weit entwickelt vor, dass Generationen daraus ein grundlegendes Verständnis für die gesellschaftlichen Verhältnisse schöpfen konnten und können. Wir können auch nicht zwei Briefstellen, in denen Marx sich gegen eine unmittelbare Veröffentlichung des II. Bandes ausspricht, auf "wissenschaftliche Skrupel über die Stringenz seines konzeptionellen Ansatzes" hochrechnen, von denen Marx angeblich "gepeinigt" (12) wurde. Auch der Versuch, die verbreitete MEW-Ausgabe, insbesondere die von Engels herausgegebenen Bände des Kapitals suggestiv als minderwertig gegenüber der in Arbeit befindlichen MEGA-Ausgabe darzustellen, ist nicht haltbar. Ich besitze den dritten Band in beiden Ausgaben: Engels hat eine recht gute und brauchbare Arbeit geleistet. Nach der Auffassung der Herausgeber bin ich aber zu dieser und allen anderen Aussagen zu Marx wahrscheinlich gar nicht befugt, denn: "Nur eine Handvoll von Experten ist heute in der Lage, die Auseinandersetzung mit dem wirklichen Marx'schen Erbe auf der Basis seines nun vorliegenden ungeheuren Werktorsos zu führen." (13) Ob ein Aufruf zu einer breiten und offenen Diskussion um die Problematik des Marxschen Werkes derart zu formulieren ist, möchte ich dahingestellt lassen.

E-Mail: k.reitter@gmx.net

Angesprochene Literatur und Sigel:

MEW = Marx Engels Werke, Berlin 1960ff
MEGA = Marx Engels Gesamtausgabe, Berlin 1988
MEGA II 4.1, Karl Marx "Ökonomische Manuskripte 1863 - 1867, Teil 1"
MEW 23, Karl Marx, "Das Kapital" Band I
MEW 25, Karl Marx, "Das Kapital" Band III
MEW 42, Karl Marx, "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie"
MEW 7, Karl Marx, "Die Konstitution der Französischen Republik, angenommen am 4. November 1848" Seite 494-506
Thompson, Edward E., (1980) "Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung." Frankfurt/New York
Van der Linden, Marcel; Roth, Karl Heinz Hg. (2009) "Über Marx hinaus", Hamburg

Raute

Max Henninger

Anmerkungen zu Fuzis Rezension von L'insurrection qui vient / The Coming Insurrection

Im Rezensionsteil der Grundrisse 31 ist das im März 2007 in Paris erschienene, seit 2009 auch in englischer Übersetzung vorliegende Buch L'insurrection qui vient (The Coming Insurrection) besprochen worden. Die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marié sieht in diesem Buch das Werk einer terrorismusverdächtigen 'anarcho-autonomen Strömung', wodurch es Gegenstand eines Prozesses geworden ist, den die französische Staatsanwaltschaft aktuell gegen neun im zentralfranzösischen Tarnac verhaftete Aktivisten anstrengt. Der Entschluss des Rezensenten Fuzi, den Lesern dieser Zeitschrift eine prägnante Zusammenfassung und Einschätzung von L'insurrection qui vient vorzulegen, scheint mir sehr lobenswert; mir scheint aber auch, dass wesentliche Inhalte des Buches in der Rezension auf falsche oder zumindest irreführende Weise wiedergegeben werden.

Der erste Abschnitt von L'insurrection qui vient wird in Fuzis Rezension wie folgt zusammengefasst: "Ziel des aktuellen Kapitalismus ist die Selbstverwirklichung. Ein großer Teil der Bevölkerung scheitert daran und das Leiden wird medikamentös bekämpft." Diese Zusammenfassung scheint mir verkürzt. Es geht im ersten Abschnitt ebenso wenig wie anderswo im Buch darum, die kapitalistische Gesellschaft durch den Hinweis auf das Scheitern von Selbstverwirklichungsbemühungen anzuklagen. Es soll auch nicht primär auf die Benachteiligung irgendwelcher (majoritärer oder minoritärer) Gesellschaftssegmente aufmerksam gemacht werden; die Skandalisierung struktureller Ungerechtigkeit ist dem ganzen Gedankengang von L'insurrection qui vient fremd. Es geht vielmehr um die Entwicklung einer radikal anti-individualistischen Perspektive, aus der heraus sich der Individualismus als eine für die Warengesellschaft charakteristische Herrschaftsform zu erkennen gibt, die gerade über den (als Bedürfnis introjizierten) Imperativ der Selbstverwirklichung funktioniert. Die Selbstverwirklichung gelingt allen gleichermaßen schlecht, und sie muss es tun, weil das zu verwirklichende Selbst eine - für den Kapitalismus funktionale - Fiktion ist: "Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzuzwingen versucht" (S. 17/33; Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden zuerst auf die französische und dann auf die englische Ausgabe).

In dem Ausmaß, in dem sich das, was im Kapitalismus als Gesellschaftlichkeit durchgeht, auf Warenzirkulation reduziert, muss sich auch der Individualismus als Herrschaftsform durchsetzen. Der Individualismus wird in L'insurrection qui vient als das Trennende und Ordnende schlechthin begriffen; wo er triumphiert, sieht die Welt aus "wie eine Autobahn, ein Erlebnispark oder eine neu gebaute Stadt" (ebd.). Für die derart zugerichtete Welt wird im vierten Abschnitt des Buches der Begriff der 'Metropole' geprägt. Zu ihm ist in Fuzis Rezension kaum mehr zu lesen, als dass die 'Metropole' die 'Stadt' ersetzt habe. Ich meine, es wäre wichtig gewesen, auch diesen Abschnitt etwas ausführlicher zu resümieren. Ausgegangen wird dort von der Feststellung, die Diskussionen um den Gegensatz von Stadt und Land (bzw. um seine Aufhebung, wie sie im Marxismus anvisiert wurde) hätten sich erledigt, da heute weder von der Stadt noch vom Land die Rede sein könne: "Was sich um uns herum erstreckt, hat weder aus der Nähe noch aus der Ferne betrachtet irgendetwas damit zu tun" (S. 38/52). Stadt und Land sind L'insurrection qui vient zufolge in einem einzigen unbestimmten und unbegrenzten Raum aufgegangen, einem "weltweiten Kontinuum" aus Einkaufszentren, Wohnsiedlungen, Industriezonen, Lebensmittelanbaugebieten, Ferien- und Wochenendausflugszielen (ebd.). Was als unberührte Landschaft ausgegeben wird, ist bereits Gegenstand von Marketingstrategien, und die historische Altstadt hat keine andere Bestimmung mehr als die, Kulisse für einen von Polizisten und Bürgerwehren bewachten Weihnachtsmarkt zu sein.

Gegen diese vollständig vom Kapital subsumierte Welt wird mit einem klassisch anarchistischen Gestus eine unkontrollierbare Gesellschaftlichkeit von unten gesetzt, die sich informell organisiert und damit der atomisierenden Erfassung durch die staatlichen Kontrollorgane entzieht. Diese Gesellschaftlichkeit wird allerdings nicht als eine bereits vorhandene, sondern als eine erst noch herzustellende verstanden. Eben darum haben die vier letzten Abschnitte des Buches nicht mehr den Charakter einer Zustandsbeschreibung, sondern den eines Entwurfs. Der in diesen Abschnitten entwickelte Begriff der 'Kommune' und die mit ihm einhergehenden Überlegungen zur 'Freundschaft' und zur Herstellung gemeinschaftlich genutzter 'Territorien' wären von dem oben hervorgehobenen radikalen Anti-Individualismus aus zu erschließen (S. 98/108).

Am Ende seiner Rezension berichtet Fuzi, er habe nach der Lektüre von L'insurrection qui vient Abstand genommen von seiner ursprünglichen Absicht, einen theoretischen Arbeitskreis zum Buch zu gründen. Dieses sei "theoretisch nicht besonders ergiebig." Gegen Fuzis Urteil ließe sich einwenden, dass sich in L'insurrection qui vient an vielen Stellen Bezüge auf Werke der zeitgenössischen Philosophie finden. So ist der Begriff des Territoriums der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari entnommen, während der Titel auf einen Text von Giorgio Agamben anspielt - um nur zwei Beispiele zu nennen. Und doch ist es richtig, dass ein theoretischer Arbeitskreis zu L'insurrection qui vient keine gute Idee wäre. Das Buch will nicht diskutiert werden, weil es nicht überzeugen will, sondern auf Identifikation setzt, besser: auf einen Wiedererkennungseffekt.

E-Mail: 1978@inventati.org

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Buchbesprechung von Elisabeth Steger

Lucas Cejpek: Wo ist Elisabeth?

Wien: Sonderzahl, 2009, gut gebunden, 228 Seiten, 16 Euro

Würde man "Wo ist Elisabeth?" mit Lucien Goldmanns Soziologie des Romans aus dem Jahr 1964 als Objekt einer Metasprache lesen wollen, ließe sich feststellen, daß dieses Werk eine "literarische Transformation des Alltags in der individualistischen, auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaft" darstellt, daß es also ein Roman ist, der seine Aufgabe erfüllt.

Mit einer Handtasche fängt die Geschichte an und über das verlorene Jackett des Autors, Schuhe, Strumpfhosen bis hin zu allen möglichen und unmöglichen Einrichtungs-Gegenständen des Wohnalltags - im speziellen der Couch - und schließlich Ansichtskarten erstreckt sich die Dingwelt des Buches. Aber auch Container und Banknoten kommen zur Sprache. Die Habseligkeiten, das im Jahr 2004 zum Schönsten gekürte Wort, erhält sogar ein eigenes Kapitel. Die Romanheldin, dieses nach Goldmann "hellsichtige und blinde Opfer des Antagonismus zwischen einer realen Geschichte und einer wahren Ethik" wäre dann Elisabeth, die Titelfigur. Doch Elisabeth, eine Sekretärin, die im Wiener Finanzministerium angestellt ist, glänzt durch Abwesenheit. Sie ist verschwunden. Nach ihr wird in dem auto-biographisch gefärbten Roman von Lucas Cejpek gesucht - bis zum erstaunlichen Ende. Die Recherchen, die der Autor anstellt, werden vielfach gebrochen, der Text besteht aus verwickelten Gedankensträngen, die aber alle um ein Zentrum kreisen - um Elisabeth.

Roland Barthes definiert den Roman hingegen atypisch als "allgemeines Werk mit verschwommenen Umrissen, das den Widerspruch zwischen Wissen und Schreiben löst".

Der schöne Umschlag des Buches von Thomas Kussin mit dem zyklamroten Schatten, der am Rand gelb angehaucht ist, deutet solche Undeutlichkeit an. Mittendrin erhalten wir dann schließlich sogar vom Autor selbst Auskunft über seine Praxis: "Elisabeth ist nur ein Name, das heißt, Elisabeth bedeutet nichts. Elisabeth ist das Zentrum, um das sich alles dreht, der Angelpunkt, das heißt die Leere, um die herum der Roman konstruiert ist und durch die er atmet." Die Leere, das Verschwinden, das Ungewisse, das Vergessen, ja das Vergessen des Vergessens und vielfältige andere Verluste, sich Auflösendes und Sprünge nehmen sich Raum auf den Seiten. Ganz bestimmt ereignet sich in diesem Roman nur das: Veränderung. Eine linear durchlaufende Story gibt es nicht, die Schreibweise ist zersplittert. Man kann sich den Roman als in 370 Kapitel aufgeteilt vorstellen, welche jeweils mit einer Überschrift aus einem Wort oder einem Wort plus Artikel bestehend betitelt sind und einer Art wortknappen Inhaltsangabe, die darunter in Klammer steht. Das Spektrum dieser nuancenreichen Mosaiksteinchen reicht von Wortspielen über Anagramme, kleinen Verdichtungen, Listen, Listen von Fragen, und immer wieder Fragen, einem Kirschkuchen-Konzept von Lawrence Weiner und nachfolgendem Kirschkuchen-Rezept, über Zitate aus Wörterbüchern, Found Footages aus Werbetexten bis hin zu historischen Recherchen und lustigen Ideen. Und wohl noch mehr. Dazwischen ist viel Spielraum für eigene Spekulationen - Spekulationen ohne weltweite Folgen. Am Ende des Buches werden alle die Stimmen explizit genannt, die außer Lucas Cejpek selbst im Buch zu Wort kommen.

Der Autor hat Germanistik und Amerikanistik studiert, lebt in Wien und arbeitet hier wie ein Daidalos, der ein kunstvoll geschriebenes Labyrinth erstellt. Sein Theseus ist allerdings einer, der nie zu Ariadne zurück wollte, nachdem er Minotaurus erlegt hatte, so Lucas Cejpek. Und jetzt liege er außerdem mit den Amazonen im Clinch. Wir sind eingeladen uns lesend durch dieses Labyrinth fortzubewegen. Wir machen einen Gedankengang nach Dubai, in die Stadt mit dem größten künstlich entstehenden Hafen und dem höchsten Turm der Welt, dem Mega-Mekka des globalen Kapitalismus. Elisabeth könnte eventuell dorthin entführt worden sein. Oder dort einkaufen. Oder sich freiwillig, einmal im Monat mit deutschsprachigen Frauen zum sonntäglichen Frühstück treffen. In Bowling Green im Mittelwesten der USA, wo wir auch gedanklich landen, tobt Tornado Johannes (meine Wahl aus den drei möglichen Namensangeboten fiel auf Johannes). In der Nationalbank fliegen derweil die Banknoten durch die Luft und der anwesende Bettler wird mit Scheinen überhäuft. "Jeder möchte gut leben in einem so reichen Land."

"Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos", schreibt Walter Benjamin im Passagenwerk. Lucas Cejpek schreibt einen Mythos fort. Hierzulande ist der Name Elisabeth ja auch sisihaft kakanisch konnotiert. Sisi war die Kaiserin, die von einem Anarchisten ermordet wurde, die aber auch wegen ihrer obsessiven Individualität durch intellektuelle Eliten zu einer Kultfigur erhoben wurde. Gabriele d'Annunzio schwärmte von Sisi als einer "Halbgöttin des Traums" und der rumänische Philosoph Emil Cioran schätzte ihre existenziellen Wolkenkraxeleien. "Elisabeths Versuch war es, einem Aufbruch Gefolgschaft zu leisten, sich in machtfreie Naturlandschaften zu stellen. Die Gegenwart entlarvt eine zur Unmöglichkeit gewordene Tatsache. In der Bedrohung der Umwelt spiegelt die Welt die Gewalt. Gegenstimmen müssen Orchester werden." (Lisa Fischer, Schattenwürfe in die Zukunft oder die Aktualität der Fragen einer Kaiserin, im Ausstellungskatalog: Sisi, Sisismus, Sisismen, 1998). Lucas Cejpek zieht in dem Konzert dieses Orchesters die Prosaregister. Seine Elisabeth ist keine Kaiserinheldin, sie ist Stellvertreterin der extremen Mitte, die sie flieht. Gewissheit will dort herrschen, denn "ein System, dem es um die Wahrung privater Bereicherung geht, erträgt prinzipiell jenen Aspekt von Lebendigkeit, der Verlust heißt, nicht." (Birge Krondorfer, Kulturrisse, Heft 3 2009). Tiere kommen natürlich auch vor, aber hier sind es Krokodile und Falken und das ist eine edle Abwechslung im Hundealltag Wiens. "Wo ist Elisabeth?" ist ein voll spannender Roman und einer, der vom Frau-Werden handelt. Am Ende hat Lucas Cejpeks "Elisabeth" drei Wünsche frei und taucht, verändert, auf.

E-Mail: waldnaab@klingt.org

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Buchbesprechung von Elisabeth Steger

Eva Egermann, Anna Pritz (Hg.): Class works - weitere Beiträge zu vermittelnder, künstlerischer und forschender Praxis

Wien: Löcker Verlag, 2009, 12 Euro

Class works ist der zweite Band der Publikationsreihe Arts & Culture & Education des Löcker Verlags, herausgegeben von Agnieszka Dzierzbicka. Es ist ein weiteres Bändchen (und dieses zerfällt mir nicht beim Lesen unter den Händen wie school works; siehe grundrisse Nummer 32; hatte wohl einfach ein Mängelexemplar erwischt), das durch seine Form, die sich zwischen Buch und Zeitschrift bewegt, sehr gut seinen Inhalt spiegelt. Der liegt nämlich in between Kunst und Pädagogik. Mit "Klasse lernen und verlernen" leiten Eva Egermann und Anna Pritz das Büchlein ein. Man erhielte, so heißt es, "Einblick in gegenwärtige Initiativen, Projekte, Debatten und Perspektiven der Kunst-Pädagogik im Kontext Schule". Und das stimmt. Geschichte kommt aber auch nicht zu kurz, in class works.

Also: Wer wissen möchte, wie man den neuen Tanz der Jugend auf den Trottoirs von Wien bezeichnet und was er bedeutet, erhält hier Auskunft. Wer mehr über die Bildungs-Politik der Bundesrepublik Deutschland nach dem Sputnik-Schock erfahren will, blättere zu "reformpause!" von Marion von Osten. Wen es interessiert, wie Schule und Institutionskritik zusammenhängen, wie dieser Konnex in Österreich beispielhaft mit Schüler_innen verhandelt wurde, lässt sich das am besten von Nora Sternfeld vermitteln. Wer Ideen sucht für kritische Projekte mit Schüler_innen im Kampf gegen Ausgrenzung und Diskriminierung wird bei Klub Zwei fündig werden. Wer das Integrationsgesülze im Mainstream Diskurs satt hat und/oder die zugewiesene Rolle des_der Anderen nicht gerne spielt, wird sich über den Text von Araba Evelyn Johnston-Arthur ganz besonders freuen. Allen Pippi-Langstrumpf-Fans könnte man den abgedruckten Brief einer Mutter ans Herz legen, die es gar nicht witzig fand, daß diese Geschichte von Astrid Lindgren Unterrichtsstoff ihres Sohnes war. Und was die Geschlechter-Problematik betrifft: Class works enthält einige Ansätze zu queerer Pädagogik. Daß Kunst-Vermittlung unkontrolliert und lustig wuchern kann, zeigt eine gute Dokumentation des Projektes what> in Leuven/Belgien. Und eine Fotoserie mit jeweils eingelegtem Theorie-Text-Block veranschaulicht Kunst-Unterricht in Funen/Dänemark.

Das Foto der Projektgruppe ...geregelt...geordnet...gebildet. Im Rahmen des Gesetzes. ist als Teil der Einleitung quasi repräsentativer Ausgangspunkt: ganz oben, rechts von der frontalen Tafel in einem österreichischen Klassenzimmer, noch ein Stückchen über dem rot-weiß-rot beflaggten nationalen Raubvogel sind halbnackte Frauen abgebildet aufgehängt. So schaut es aus, in aus-tria! "Von der bildenden Kunst des Handelns", ein hoch-ästhetischer Text "zur Relationalität ästhetischer Wissensproduktion" von Elke Krasny, lädt gleich daran anschließend zur Einmischung ein, erzeugt aber, weil er so hoch-ästhetisch ist, das pure faule Wohlbehagen. Man dreht sich um nach der Lektür' und denkt: Ach-schön!

Favorit meines Interesses ist diesmal: Ein Gespräch zwischen Eva Egermann (Künstlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie und und und) und Stephan Dillemuth (Künstler, Professor an der Münchner Akademie), dessen Konzept einer bohemistischen Forschung sehr sympathisch ist. Er schlägt uns nämlich vor, mit den Verhältnissen zu spielen. Die Buch-Präsentation fand übrigens im Rahmen einer Konferenz statt. Beides, Buch plus Konferenz, ist sichtlich gelungen.

E-Mail: waldnaab@klingt.org

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Buchbesprechug von Torsten Bewernitz

Klassismus oder Klassenkampf?

Kemper, Erich und Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung.
Unrast-Verlag, Münster 2009. 188 Seiten, 13,- EUR.

Kuhn, Gabriel: Mit geballter Faust in der Tasche. Klassenkonflikte in der Linken - Debatten aus Schweden.
Syndikat A, Moers 2009. 40 Seiten, 2,50 EUR.


Ein Gespenst geht um in der Linken: Das Gespenst des Klassismus

Der Begriff des 'Klassismus' ist synonym zu Rassismus und Sexismus gebildet worden und hat seinen Ursprung in den US-amerikanischen Debatten schwarzer und feministischer Zusammenhänge. Er ist auch im hiesigen Raum mit der Begrifflichkeit einer 'triple oder multiple opression' verknüpft. In Deutschland wurde die Debatte um Rassismus, Geschlechter- und Klassenverhältnisse in den frühen 1990er Jahren massiv inspiriert von dem Diskussionstext "Drei zu eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus".[1]


Marx oder Bourdieu?

Die AutorInnen dieses Textes wollten damals den "Hauptwiderspruch" Klassenkampf entlarven und auf andere gravierende Unterdrückungsverhältnisse aufmerksam machen. Die Konzentration auf die negative Unterdrückung stellt dabei die ambivalente Problematik des Ansatzes dar. Die Klasse wird nicht mehr bestimmt aufgrund ihrer Zusammensetzung oder der ihr ökonomisch und gesellschaftlich zugedachten Aufgabe, sondern rein passiv durch einen entmächtigenden Opferstatus. Ambivalent ist das, weil diese Unterdrückungsperspektive selbstverständlich stimmt. Aber sie wird mit dem Begriff 'Klassismus' überwiegend kulturell verstanden. Das ist ein negativer Effekt des Klassenbegriffs, wie ihn Pierre Bourdieu geprägt hat: Die Kritik des Klassismus konzentriert sich auf die theoretischen Klassen, die in den berühmten Schaubildern Bourdieus festgehalten sind und in keiner Weise auf die materiellen Klassen, d.h. auf jene, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Arbeitskraft.

Selbstverständlich hat auch dieser Klassenbegriff seine Schwächen, basierend auf seiner Formalität: Die Marxsche Klasse zeigt nur eine Struktur auf, nicht die individuelle Zusammensetzung der realen Klasse. An der 'Klassismus'-Debatte ist jedoch die rein kulturelle Ausprägung zu kritisieren, die über die Bourdieusche Intention noch hinaus geht: Eine vermeintliche 'ArbeiterInnenklasse' wird kulturell wie ökonomisch ausgebeutet. In der Logik der Klassismuskritik wird den ArbeiterInnen keine kulturelle Identität oder ein Stigma auf den Leib geschrieben, weil sie arbeiten, sondern die Zugehörigkeit zur ArbeiterInnenklasse ist eine kulturelle Identität, aufgrund derer sie erst zur Arbeit gezwungen werden, indem ihnen keine andere Tätigkeit zugetraut wird und z.B. eine entsprechend darüber hinaus gehende Bildung verweigert wird. Der Klassenbegriff wird von den Marxschen Füßen auf den Bourdieuschen Kopf gestellt. Aber: "Die Lohnarbeit ist keine von außen aufgezwungene Erscheinung, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, das unsere Gesellschaft strukturiert".[2] Oder einfacher: ArbeiterInnen sind nicht ArbeiterInnen, weil sie "Big Brother" oder "Deutschland sucht den Superstar" schauen und auch nicht, weil sie Hauptschulabschluss statt Doktortitel haben, sondern weil sie arbeiten (müssen).


Kultur und Herkunft

Diesen Grundirrtum der Klassismuskritik möchte ich an zwei Beispielen aus der Einführung Kempers und Weinbachs deutlich machen. Zum einen ist dies die Verwechslung von "ArbeiterInnenkultur" und "ArbeiterInnenbewegungskultur" - konsequent sprechen die AutorInnen auch von einer "ArbeiterInnenkulturbewegung" (Kemper/Weinbach S. 58). Selbst wenn die AutorInnen in einem Absatz auch eine 'Unterschichtsbewegung' (Kemper/Weinbach S. 62) benennen, so ist doch zu betonen, dass es sich bei den Bewegungen selbst zu ihren Hochzeiten immer noch um eine Minderheit - die dazu im Wesentlichen nur aus den Facharbeitern mit einem entsprechenden Berufsethos bestand - der gesamten ArbeiterInnenklasse handelte. SPD, KPD und ADGB beriefen sich zur Hochzeit der politischen ArbeiterInnenbewegung auf den Facharbeiter, ebenso wie ihre radikaleren Pendants FAUD, KAPD und AAUD.[3] Kemper und Weinbach zählen die Erfolge dieser 'ArbeiterInnenkulturbewegung' auf, die von einer Radfahrbewegung über öffentliche Bibliotheken bis zur Kunst reichen sollen (Kemper/Weinbach S. 61). Aufgrund einer solchen Erwartungshaltung kam "Drei zu Eins" zu dem Schluss, die ArbeiterInnenklasse habe bei der Verhinderung des Nationalsozialismus versagt. Diese Erwartungshaltung ist klassistisch. Wer so argumentiert, stellt übertriebene Ansprüche und muss letztendlich enttäuscht werden.[4]

Das zweite Missverständnis, das der Begriff des 'Klassismus' impliziert, ist die mangelnde Unterscheidung zwischen "Klassenherkunft" und "Klassenzugehörigkeit". Kemper und Weinbach nennen diese beiden grundverschiedenen Kategorisierungen manchmal synonym (Kemper/Weinbach S. 31). "Arbeiterkinder" gehören nach dieser kulturalistischen Definition zur "Arbeiterklasse". Die AutorInnen zitieren ein persönliches Gespräch mit einer Vertreterin der "working class and poverty class academics", nach der diese durch den Wortbeitrag einer Akademikerin zur Intervention getrieben wurde: "Gehören wir nicht alle zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen Klassen. Ich hab mir auch schon mal ausgesucht, ArbeiterInnenklasse zu sein. Ich war Kellnerin" (Kemper/Weinbach S. 45). Die Empörung über dieses Zitat ist berechtigt. Die schwedischen Herausgeber von "Mit geballter Faust in der Tasche" betonen: "[...] es liegt ein großer Unterschied zwischen einer Erfahrung, die du sammeln willst, und der Notwendigkeit, sich mit solchen Jobs den Lebensunterhalt zu verdienen". Hätte die zitierte Studentin sich ihren Job als Kellnerin nicht ausgesucht, um sich z. B. am Wochenende zu amüsieren oder ein eigenes Auto zu unterhalten, sondern wäre er für die Aufrechterhaltung der Lebenserhaltung notwendig gewesen, so hätte sie mit Fug und Recht davon gesprochen, Bestandteil der ArbeiterInnenklasse zu sein - unabhängig vom Klassenstatus ihrer Eltern und unabhängig davon, ob sie außerdem noch studiert (hat) oder nicht.

Was sowohl die AutorInnen von "Die Faust in der Tasche" wie auch Kemper und Weinbach zurecht kritisieren, ist weniger die Diskriminierung aufgrund der Klassenzugehörigkeit als vielmehr eine - auch innerhalb der Klasse relevante - Diskriminierung aufgrund von Schichtzugehörigkeit und sozialem Milieu, auch und gerade innerhalb linker Bewegungen. Die englische Sprache, aus der der Begriff 'classism' übernommen wurde, unterscheidet nur unzulänglich zwischen Klasse und Schicht. Das betrifft weniger die Konfliktförmigkeit des Kapitalverhältnisses als vielmehr die Bedingungen der Klassenzusammensetzung und -fragmentierung innerhalb der ArbeiterInnenklasse.[5]


Individuelle Flucht oder Dekonstruktion?

Während Andreas Kemper und Heike Weinbach sich in ihrer Einführung in den Klassismus auf die institutionelle, rechtliche und gesamtgesellschaftliche Diskriminierung der unteren Schichten und Milieus konzentrieren, haben die schwedischen AutorInnen von "Mit geballter Faust in der Tasche" ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen in linken Zusammenhängen zusammen getragen. Was die schwedischen AutorInnen über sich selber berichten, ist dabei häufig dem sehr ähnlich, was Kemper und Weinbach aus den amerikanischen Debatten, aus denen der Begriff des "Klassismus" entstanden ist, referieren. Die schwedischen ArbeiterInnenkinder sind sichtbar wütend auf die Linke.

Der 'Klassimus'-Debatte ist es insofern zumindest mit zu verdanken, dass Klasse in der Linken wieder thematisiert wird. Der Aspekt einer tätigen ArbeiterInnenklasse, die sich aktiv nicht nur gegen ökonomische Ausbeutung sondern auch gegen Klassifizierung wehrt oder zumindest wehren kann, fehlt hier aber leider. Die ArbeiterInnenklasse erscheint als rein kulturelle Kategorie, die allein durch Zuschreibungen - also diskursiv - entsteht und auch so dekonstruiert werden könnte. Selbstverständlich ist sie das auch, aber die kulturelle Klassenkonstruktion scheint mir doch eher Folge des materiellen Kapitalverhältnisses.[6] Dekonstruktion von Klasse im Kapitalismus wird immer eine Neukontruktion zur Folge haben. Dekonstruiert werden können allein die kulturellen Zuschreibungen: Das ArbeiterInnen eigentlich faul seien oder zumindest zu bequem für eine Karriere, ungebildet seien etc. Die Klasse selber wird bleiben, solange es Kapitalismus gibt. Und so lange es sie gibt, werden ihr auch nach jeder Dekonstruktion neue Eigenschaften kollektiv zugeschrieben, sie wird kulturell neu konstruiert: Sei es, dass sie besonders rückständig sei oder sei es, dass sie besonders revolutionär gesonnen sei.

Beides ist Klassismus. Wer aber vom Klassismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen: Ist es denn wirklich verwunderlich, dass in einem dichotomen Klassensystem ArbeiterInnen so reproduziert werden, dass sie - und möglichst auch ihre Kinder - ArbeiterInnen bleiben? Von der Schule und Hochschule, von der Regierung oder der EU zu verlangen (vgl. Kemper/Weinbach: S.111; S.114), dass sie klassenspezifische Diskriminierung zugibt, untersucht und verändert, heißt, von diesen Institutionen die Abschaffung des Kapitalismus zu fordern. Oder aber es läuft darauf hinaus, zu fordern, dass jedeR ArbeiterIn die gleiche (Markt-)Chance erhält, auch KapitalistIn zu werden. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das ist die Vision zumindest einiger Klassismus-AnalytikerInnen. Die Internet-Community arbeiterkind.de etwa ist so geprägt. Für sich, so die sozialliberale Version, soll jedeR seine ArbeiterInnenidentität abwerfen können: 'Schnell raus aus der Klasse!' lautet die Devise. Das kennen viele noch von ihren Eltern als 'Ihr sollt es doch mal besser haben'. Mit Dekonstruktion hat das allerdings gar nichts zu tun. Die Identität ArbeiterInnenklasse zu dekonstruieren, kann nur die Abschaffung des Kapitalismus bedeuten.

E-Mail: torsten.bewernitz@uni-muenster.de


Anmerkungen

[1] Strobl, Ingrid, Klaus Viehmann und GenossInnen, autonome l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. Metropolen(gedanken) und Revolution?. Verlag ID-Archiv, Berlin 1993

[2] Dauvé, Gilles und Karl Nesic 2003: Lieben die ArbeiterInnen die Arbeit? Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 65, Februar 2003. S.39.

[3] Die globale Ausnahme war die US-amerikanischen IWW, die Industrial Workers of the World, die stark bei ungelernten Wanderarbeitern ("Hobos") und als einzige US-amerikanische Gewerkschaft auch bei MigrantInnen verwurzelt war.

[4] Genau diese Enttäuschung hat Lenin z.B. denken lassen, die Arbeiterklasse sei allein nicht zu einem politischen Bewusstsein fähig, sondern allein zu einem "trade-unionistischen". Die Enttäuschung Lenins über die russische Arbeiterklasse und Viehmanns Frust über das Scheitern der Arbeiterbewegung entspringen übertriebenen Erwartungshaltungen, die allesamt auf der letztendlich Marxschen Idee der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt beruhen. Das bedeutet nun nicht, dass man diese Marxsche Idee auf den Müllhaufen der Geschichte befördern sollte, sondern liegt an einer Fehlinterpretation dieser Idee: Kulturell und politisch hat die Arbeiterklasse niemandem was voraus (hinkt aber auch nicht allgemein hinterher), aber sie hat einen bestimmten Status im Kapitalismus, der spezifische Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

[5] Vgl. zum operaistischen Begriff der Klassenzusammensetzung: Wright, Steve: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin/Hamburg 2005. Zur Klassenformation: Diettrich, Ben: Klassenfragmentierung im Postfordismus. Geschlechtarbeitrassismusmarginalisierung. Münster 1999 sowie Ders.: Klassenfragmentierung und -formierung. Die jetzigen Aufgaben. In van der Linden, Marcel und Karl Heinz Roth: Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Berlin/Hamburg 2009. S. 495-526.

[6] Es ist sicherlich fraglich, ob die Konstruktionen Geschlecht und Nation im Gegensatz dazu rein kulturell seien. Unzweifelhaft erfüllen sie eine klassenspalterische Funktion im Kapitalismus und werden somit zumindest teilweise auch ökonomisch hergestellt und genutzt. Der wesentliche Unterschied ist aber m.E., dass Geschlecht und Nation für die kapitalistische Ökonomie durch beliebige andere Konstruktionen ersetzbar wären, während die Klasse unabdingbarer Bestandteil dieser Ökonomie ist.

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Buchbesprechung von minimol

Giovanni Arrighi: Die verschlungenen Pfade des Kapitals

Hamburg: VSA-Verlag, 2009, 96 Seiten, Euro 9,80

"You have only criticized that theory for its weaknesses. You can't defeat an argument by attacking its weaknesses, you have to attack its strengths. And if you can identify the weaknesses it only means that you yourself could construct a better version of the same argument, so you have a responsibility to first construct that better version and then attack that one."[1]

Als die Redaktion der Zeitschrift grundrisse Anfang Juli 2009 bei der New Left Review um die Übersetzungsrechte des im März/April 2009 ebendort erschienenen ausführlichen Interviews von David Harvey mit dem am 18. Juni 2009 verstorbenen Giovanni Arrighi anfragte, stellte sich heraus, dass diese bereits an den VSA-Verlag vergeben waren.

Im August 2009 erschien das Bändchen, das neben besagtem Gespräch einen erstmals auf Deutsch publizierten gemeinsamen Text mit Beverly Silver unter dem Titel "Die Nord-Süd-Spaltung des Proletariats" (2001) sowie den Nachdruck eines Interviews, das von Peter Strotmann im November 2005 in Berlin geführt wurde, enthält. Insgesamt bietet das Buch sowohl einen guten Einstieg in das Werk Arrighis als auch werden aktuelle Fragen wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 oder das Ende der Hegemonie der USA und der Aufstieg Chinas angesprochen.

Das Gespräch mit David Harvey umfasst 38 Seiten und zeichnet den persönlichen, politischen und theoretischen Werdegang Arrighis nach. "Beverly Silver (...) nannte es ein 'Schmuckstück', weil es in dichter Form und anhand lebendiger Kontroversen die Herausbildung seiner systematischen und historischen Kritik des Kapitalismus schildert." (Christian Frings, Vorwort, Seite 8)

Wir erfahren unter anderem, dass Arrighi 1963 ans University College of Rhodesia and Nyasaland (UCRN) ging und dies aus dem höchst prosaischen Grund, dass es zum damaligen Zeitpunkt an italienischen Universitäten nur nach Jahren als unbezahlter Hilfsdozent die Aussicht auf eine bezahlte Stelle gab, während britische Universitäten im Zuge der Entkolonialisierung in vielen ehemaligen Kolonien Großbritanniens Colleges als Ableger einrichteten und auf der Suche nach wissenschaftlichem Personal auch tatsächlich Gehälter bezahlten. Arrighi selbst bezeichnet seine Zeit am UCRN als "regelrechte geistige Wiedergeburt" (Seite 11), da seine dortige Zusammenarbeit mit SozialanthropologInnen zur Veränderung seiner neoklassischen Vorstellungen von Ökonomie führte, die vom Studium an der Mailänder Bocconi Universität herrührten.

1966 ging er - nicht ganz freiwillig - nach Daressalam in Tansania, das erst seit einigen Jahren unabhängig war und sowohl WissenschafterInnen und Intellektuelle wie Immanuel Wallerstein oder Jim Mellon (einer der späteren Gründer der Weathermen) als auch AktivistInnen der Black-Power-Bewegung der USA und der ins Exil getriebenen Befreiungsbewegungen des südlichen Afrikas anzog, was zu einem intellektuell und politisch sehr auf- und anregenden Klima beitrug. Ich greife hier gerade diesen Teil der Lebensgeschichte Arrighis heraus - und nicht z.B. die ebenfalls spannende Zeit, die auf seine Rückkehr nach Italien im Jahr 1969 folgt -, da er einen Eindruck der intellektuellen und politischen Geschichte Afrikas vermittelt, die in europäischen Köpfen weitgehend verloren gegangen ist.

In weiterer Folge wird die Entwicklung der theoretischen Arbeit Arrighis über die Jahre hinweg beleuchtet. Von Differenzen mit Wallerstein und Brenner, den Zusammenhang der Position von Staaten oder Regionen im Peripherie-Zentrum-Gefüge und bestimmten Produktionsverhältnissen betreffend über den Einfluss Braudels auf sein Denken bis hin zu seinem letzten Buch "Adam Smith in Bejing"[2] werden zentrale Stränge seiner theoretischen Überlegungen leichtfüßig und doch komplex entwickelt, was zu einem nicht geringen Teil auch den kompetenten Fragen und Stichworten seines Gesprächspartners David Harvey geschuldet ist.

In "Die Nord-Süd-Spaltung des Proletariats" argumentieren Arrighi und Silver gegen die These, "dass die räumliche Restrukturierung der industriellen Produktion zu einer grundlegenden Abkehr von der realen oder nur vorgestellten polarisierten Struktur der Welt (...) geführt habe" und polarisierende Tendenzen "nicht mehr zwischen Nord und Süd, zwischen Erster und Dritter Welt, sondern innerhalb dieser Welten" existieren. (Seite 53)

Ihr Ausgangspunkt sind sechs zusammenfassende Thesen zur weltweiten ArbeiterInnenbewegung im 20. Jahrhundert, die in prägnanter Weise die Analysen zum weltweiten Klassenkampf und zu den hegemonialen Umbruchphasen darstellen, die von Silver in "Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870"[3] und von beiden gemeinsam in "Chaos and Governance in the Modern World System"[4] ausgeführt werden.

Daran anschließend wird - anhand der Konflikte am WTO-Gipfel 1999 in Seattle zwischen reichen Staaten und "Entwicklungsländern" um die Handelsliberalisierung einerseits und der Allianzen zwischen Gewerkschafts- und Ökologiebewegung in den Protesten gegen den Gipfel andererseits sowie der Debatten um die mögliche Aufnahme Chinas in die WTO - der widersprüchliche Zusammenhang zwischen Forderungen nach weltweiten Standards in den ArbeiterInnenrechten von Seiten der reichen Staaten und deren Protektionismus gegenüber dem Rest der Welt problematisiert.

Silver und Arrighi enden mit den Worten: "Hierin besteht letztlich die große Herausforderung, der die Arbeiter(Innen) des Nordens und des Südens im 21. Jahrhundert gegenüberstehen: nicht nur gegen Ausbeutung und Ausschluss zu kämpfen, sondern für ein Konsumniveau und eine Existenzsicherung, die für alle gelten können, und für eine Politik, die diese Verallgemeinerung tatsächlich herbeiführen kann." (Seite 78)

Abgerundet wird das Bändchen durch "Die Weltgeschichte an einem neuen Wendepunkt?", ein Interview, in dem Debatten innerhalb der Weltsystemtheorie angeschnitten sowie mögliche weitere Entwicklungen des Endes der US-Hegemonie und des Aufstiegs Chinas diskutiert werden.

Im Unterschied zu anderen WeltsystemtheoretikerInnen "fragt Arrighi nach der Bedeutung proletarischer Kämpfe für die Entwicklungspfade des Kapitalismus und nach der politischen und hegemonialen Dimension scheinbar rein 'ökonomischer' Zyklen." (Vorwort, Seite 8) Charakteristisch für Arrighi war auch seine Vorsicht - sein Bemühen, Schlussfolgerungen erst nach umfangreichen und detaillierten Forschungen zu ziehen und sich nicht allzu sehr dem Spekulativen hinzugeben, ebenso wie die Betonung des Vorläufigen seiner Antworten und die gleichzeitige Formulierung neuer Fragen, die sich aus diesen ergaben und immer noch ergeben.

E-Mail: minimol@hushmail.com


Literatur

[1] Giovanni Arrighi in einer Vorlesung zu einer/m Studierenden, zitiert im Nachruf von Steven Colatrella auf
http://www.counterpunch.org/colatrella06242009.html

[2] Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008, VSA-Verlag

[3] Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005, Assoziation A

[4] Giovanni Arrighi and Beverly J. Silver: Chaos and Governance in the Modern World System. Minneapolis 1999, University of Minnesota Press

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 10.3.2010
Redaktionsschluss der Nr.34 ist am 10.5.2010

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Die Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im
"Amerlinghaus", 1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Dieter A. Behr, Martin Birkner, Robert Foltin, Markus Grass,
Birgit Mennel, Minimol, Karl Reitter, Elisabeth Steger, Gerold Wallner, Stephanie Weiss

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sondernummer frühling 2010, nr. 33
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2010