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GRUNDRISSE/041: zeitschrift für linke theorie & debatte, frühjahr 2014


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 49, frühjahr 2014


INHALT

Redaktion:
Editorial

Mayday - Vorbereitungsgruppe:
MAYDAY 14 - Vorbereitungstreffen

Martin Birkner:
Revolutionäre Subjekte & Organisation

Dominik Götz:
Mario Tronti und die Entwicklung des italienischen Operaismus

Andreas Exner:
Wem gehört der Acker? Gemeinsame Produktionsmittel als notwendige Erweiterung von CSA: für eine Solidarische Landwirtschaft

Robert Foltin:
Geschichtsphilosophie und soziale Bewegungen

Miriam Gil:
Simone de Beauvoir und ihr sozialgeschichtliches Sachbuch "Das andere Geschlecht"

Gabriele Michalitsch:
Politische Geschlechter-Arithmetik: Die Regierung der Zahl

Ulrich Brand:
Buchbesprechung: Dieter Klein: Das Morgen tanzt im Heute.
Tranformation im Kapitalismus und über ihn hinaus

Irene Messinger:
Buchbesprechung: Bettina Haidinger: Hausfrau für zwei Länder sein.
Zur Reproduktion des transnationalen Haushalts

Sebastian Kalicha:
Buchbesprechung: Marin, Lou (Hrsg): Albert Camus - Libertäre Schriften (1948-1960)

Robert Foltin:
Buchbesprechung: Gabriel Kuhn (Hg): Bankraub für Befreiungsbewegungen.
Die Geschichte der Blekingegade-Gruppe

Redaktion:
Call for Papers: (1.Welt)Krieg - Information - Desinformation

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Kommunismus! Der Schriftzug auf dem Umschlag dieser Ausgabe verweist auf den auszugsweisen Abdruck einer Textpassage aus dem Buch Kommunismus 2.0 von Martin Birkner, Mitherausgeber dieser Zeitschrift. Zugleich geht es uns darum, diesen Begriff erneut zu rehabilitieren, ihn von üblichen Verzerrungen und falschen Identifikationen loszulösen und auf die Aktualität der Möglichkeit eine freie Gesellschaft jenseits von Kapital und Staat zu verwirklichen zu verweisen. Kommunismus eben. Mit dem Ringen um einen aktuellen Übergang zum Kommunismus war auch stets der italienische Operaismus verbunden.

Dominik Götz porträtiert in seinem Beitrag Mario Tronti und die Entwicklung des italienischen Operaismus eben jenen Theoretiker, der rasch im Schatten des weitaus bekannteren Antonio Negri stand. Indem Götz wesentliche Stadien der Theoriebildung Mario Trontis nachzeichnet, wirft er zugleich einen sehr kritischen Blick auf die Entwicklung des Operaismus und des Postoperaismus.

Vielleicht nicht um den Kommunismus insgesamt, aber doch um neue emanzipatorische Beziehungen zwischen den Produzenten und Konsumenten von Agrarprodukten geht es im Text von Andreas Exner Wem gehört der Acker?

Robert Foltin grenzt in Geschichtsphilosophie und soziale Bewegungen seine Untersuchungen zur Geschichte sozialer Bewegungen von bloßer Chronistik und deskriptiver Soziologie ab und plädiert für eine von Hegel inspirierte Betrachtungsweise, die niemals den Bezug zum emanzipatorischen Gehalt aus den Augen verliert.

Miriam Gil erinnert in ihrem Beitrag an die bahnbrechende Arbeit von Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht, die der Frauenbewegung der 50er und 60er Jahre wesentliche Impulse gab und auch heute ihren Platz in der feministischen Debatte haben sollte.

In Politische Geschlechter-Arithmetik: Die Regierung der Zahl leistet Gabriele Michalitsch Pionierarbeit indem sie Ansätze einer feministischen Kritik an der scheinbaren Objektivität von Statistik entwickelt.

Apropos Bücher: Nicht nur das Buch von Martin Birkner, zu dem in der nächsten Ausgabe ein kritischer Kommentar erscheinen wird - weitere sind willkommen - wollen wir euch ans Herz legen. Aus der Redaktion und ihrem Umkreis sind in den letzten Wochen noch folgende Bücher erschienen: Felix Wemheuer hat den Sammelband mit historischen Texten unter dem Titel Linke und Gewalt beim Verlag Promedia veröffentlicht. Bettina Haidinger und Käthe Knittler haben in der Reihe "Intro" des Mandelbaum Verlages das Buch Feministische Ökonomie, Karl Reitter den Band Von der 68er Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus. Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen beim Wiener Verlag für Sozialforschung publiziert. Der Roman Herbst 1918 von Robert Foltin ist schon vor längerer Zeit erschienen, hingegen ist das Buch Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat (Verlag Westfälisches Dampfboot) von Roland Atzmüller, einem langjährigen Freund und Autor der grundrisse, geradezu druckfrisch. Abschließend möchten wir auf den neuen Call for Papers auf der letzten Umschlagseite verweisen.

Eure grundrisse Redaktion

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MAYDAY 14 - Vorbereitungstreffen

Seit Jahren bieten die MAYDAY-Paraden einen fixen Bezugspunkt für Menschen die sich mit verschiedenen Aspekten prekären Lebens auseinandersetzen und davon betroffen sind. Durch das gemeinsame Raumnehmen mit der Demonstration/Parade am Nachmittag des ersten Mai zeigen wir diese oft unsichtbaren Unsicherheiten auf. Klar ist, dieses Ereignis organisiert sich nicht von selbst. Auch wenn in den letzten Jahren immer mehr Personen am ersten Mai teilnahmen, wünschen wir uns doch einen kräftigen Zuwachs für die organisatorische Arbeit, die oft ebenfalls unsichtbar bleibt, ohne der das Ereignis aber nicht stattfinden kann. Im Großen scheint es nicht vermessen, vom MAYDAY als von einer sozialen Bewegung mit internationaler Wirkung zu sprechen. Lasst uns gemeinsam die Route und den Treffpunkt überlegen, verschiedene Stationen am Weg festmachen, uns überlegen wie wir mit den Behörden und möglicher Repression umgehen. Es gilt zu organisieren, Gruppen zu involvieren, Geld aufzustellen, Infomaterial zu produzieren. Über vielfältigste Beteiligung, auch nur in einzelnen Bereichen, freut sich die MAYDAY 14. Erstes Treffen am 13.3.14, um 18:30 in der d3zentr4le (Akademie Bildende Künste Wien, Schillerplatz 1-3, Raum e4 - Nähe U4 Karlsplatz). Mehr zur MAYDAY 14 findet ihr (in Kürze) unter der Webseite: http://mayday-wien.org

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Martin Birkner:

Revolutionäre Subjekte & Organisation(*)

KommunistInnen sind eine kleine Minderheit der politisch Aktiven, gesellschaftliche Umwälzungen von unten erfordern jedoch Massenbewegungen. Es ist also notwendig, breite Allianzen zu schmieden, um grundlegende Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen durchzusetzen. Das bedeutet nicht, dass soziale Bewegungen per Willensentscheid ins Leben gerufen werden könnten. Bei aller Wichtigkeit vorbereitender Gruppierungen und Strukturen gehorchen Massenbewegungen eigenen Gesetzen und können nicht vorherbestimmt oder gar strategisch geplant werden. Dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - ist es wichtig, die Zusammensetzung sozialer Bewegungen zu analysieren und Bündnispartner für kommunistische Kräfte auszumachen. In den gegenwärtigen Bewegungen können zwei Strömungen ausgemacht werden, die sich quer zu den historisch bekannten Grenzlinien der ArbeiterInnenbewegung (reformistisch / revolutionär) unterscheiden. Drei Begriffspaare sind für eine aktuelle Ent-Scheidung ausschlaggebend: defensiv / offensiv, Wachstum / Postwachstum sowie Staat / kommunistisches Gemeinwesen, wobei sich für gewöhnlich Verkettungen je eines Pols der Gegensatzpaare ergeben. Das Paar defensiv / offensiv bildet meines Erachtens die Hauptlinie von Positionierungen zu gesellschaftlichen Fragestellungen. Falls eine defensistische Position überhaupt zu einer weiterreichenden (Transformations)Strategie weiterentwickelt wird, ist diese für gewöhnlich um die Begriffe Wachstum und Staat gruppiert, meist garniert mit einer Portion Vollbeschäftigung. Diese "Defensivverkettung" ersetzt die historische Position des Reformismus: mit Kollektivsubjekten, die sich dieser Position verschreiben, werden revolutionäre Kräfte ohne weiteres Bündnisse eingehen, um zum Beispiel Privatisierungen öffentlicher Güter oder Leistungen zu verhindern oder um gemeinsam gegen reaktionäre Mobilisierungen aufzutreten. Allianzen mit diesen Kräften zu schmieden, um gesellschaftliche Verhältnisse umzuwälzen oder auch nur schrittweise zum Besseren zu verändern, ist jedoch Kräfteverschwendung. Dabei ist auch nicht entscheidend, wie radikal ihre Forderungen vorgetragen werden. Ein Beispiel: Ob ein Mehr an staatlicher Regulation des Krisenkapitalismus oder die totale Verstaatlichung der Industrie - eine am Staat ausgerichtete Strategie mag ob ihrer Radikalität früher für die Unterscheidung zwischen reformistisch und revolutionär tauglich gewesen sein (auch dies wage ich allerdings zu bezweifeln), heute jedoch findet sich die Demarkationslinie zwischen den am Staat orientierten Kräften und jenen, die eine gänzlich andere Art von Vergesellschaftung anstreben. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf die Frage "Wachstum oder Nicht-Wachstum" zeigen. Die kommunistische Verkettung lautet dementsprechend "offensiv - Post-Wachstum - Kommunismus", und dahingehend sind zukunftsträchtige Allianzen zu schmieden. Dabei ist nicht entscheidend, "wie radikal" die Positionen der AllianzpartnerInnen sind, sondern ob sich Dynamiken in Richtung der kommunistischen Verkettung entwickeln können. In diesem Sinne sind für eine kommunistische, also offensive Strategie der Befreiung scheinbar handzahme Alternativökonomieprojekte oder linkschristliche Basisbewegungen wichtigere AnsprechpartnerInnen als traditionssozialistische Gewerkschaften oder revolutionäre Altlinke. Entscheidend sind die Offenheit der Beziehung, die Begegnung auf gleicher Augenhöhe und die Möglichkeit zur gegenseitigen positiven Beeinflussung. Solidarische Umgangsweisen zwischen unterschiedlichen Teilen sozialer Bewegungen, wie sie sich in der globalen Protestbewegung, in den Sozialforen oder im arabischen Frühling und bei Occupy praktiziert wurden, weisen einen Weg für künftige Kämpfe. Als die drei "provisorischen Imperative", aus denen sich dieser Weg zusammensetzt, seien genannt:

Ausgehen von der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit (stofflicher Reichtum, Gemeingüter, General Intellect) anstatt von der politischen Herrschaft des Kapitals. Commonsdebatten und solidarische Ökonomie als Bewegungen neuer Demokratisierung der Ökonomie.

Anerkennen der fundamentalen Krise der repräsentativen Demokratie: Die Krise beschränkt sich nicht auf die Ökonomie → Vielfachkrise, auch ökologische! Der Arabische Frühling und Occupy als Bewegungen neuer Demokratisierung der Gesellschaft. Verbindung symbolischer Aktionen mit der Taktik des "metropolitanen Streiks" (als Form des Klassenkampfes im Postfordismus) bringt: 1. Mediale Sichtbarkeit der Gegenkräfte und ihrer Ideen, 2. Dynamik in die notwendigen Prozesse der Neuformierung emanzipatorischer Kräfte.

Es geht um politische Organisierung und Vernetzung bereits existierender alternativer Projekte, um das Unterbrechen der Ströme des Kapitals sowie des Kommandos der Staaten und um die Verbindung alternativer Ökonomien und politischer Formen. Wir wissen nicht nur, wie's nicht geht, nämlich mit Parteien und über die Eroberung staatlicher Macht, wir haben auch Beispiele und Experimente neuer demokratischer Formen gesellschaftlicher Organisation: die Piqueteros während der argentinischen Krise von 2001, die Zapatistas (von der Organisation ihres Aufstandes 1994 über die Konstitution der autonomen Gemeinden, vom Internationalismus zu den "Räten der guten Regierung"), die spontan gebildeten Räten in der Massenstreikbewegung in Frankreich 1995, bei der es nicht zuletzt um die Wiederaneignung der Verwaltung und des Sozialstaates ging, und nicht zuletzt die Kampfformen des arabischen Frühlings und die Organisierungsweisen der Occupy-Bewegung. Viele dieser Kampf- und Organisationsformen entwickelten sich in und aus unmittelbaren Abwehrkämpfen gegen Privatisierung, Unterdrückung und sozialen Kahlschlag. Auch die unibrennt-Bewegung kann hier eingemeindet werden: Die neuen Post-Partei-Organisationsformen nehmen dabei ein Stück weit die Form eines neuartigen Zusammenlebens und - handelns der Menschen voraus, weil Emanzipation ein Prozess ist und nicht automatisch auf von Avantgarden geleitete Ereignisse folgt. Der Prozess revolutionärer Umgestaltung verändert die gesellschaftliche Objektivität ebenso wie die involvierten Subjekte, und dies gilt nicht nur für politische Prozesse, sondern auch und gerade für die mehr oder weniger neuen Formen ökonomischen Handelns, von den lateinamerikanischen, oft aus Not geborenen Projekten solidarischer Ökonomie über die Landlosenbewegungen und jene des kleinbäuerlichen Widerstands bis zur kollektiven Erschaffung von Computerprogrammen und neuen Vergesellschaftungsformen im Kampf gegen soziale Enteignung qua Privatisierung, wie seit letztem Jahr in der Steiermark, Fabriksbesetzungen, Food-Coops, Kostnixläden etc.

Es geht also nicht um ein Ausspielen der politischen gegen die ökonomische Sphäre oder vice versa. Es soll auch nicht die Zuspitzung des Widerspruchs von institutioneller Politik einerseits und Basisbewegungen andererseits betrieben werden. Um jedoch an einer produktiven Dynamik zwischen zumindest potenziell progressiven Institutionen wie z.B. Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und Basisinitiativen zu arbeiten, müssen die altbekannten Vormachtstellungsphantasien der großen Institutionen überwunden werden; unter den veränderten Vorzeichen sind sie zur Wirkungslosigkeit verdammt, wenn sie die neuentransnationalen, migrantischen, subjektkritischen und prekären Subjekte und Kollektive nicht als wichtige AkteurInnen sozialer Veränderung anerkennen. Genauso wie die linken Basisbewegungen, sozialen Experimente und mikropolitischen AkteurInnen zur gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit verdammt sind, wenn sie nicht ihre Szene-Scheuklappen ablegen und sich in Theorie und Praxis mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen.

Toni Negri hat geschrieben, KommunistIn zu sein, bedeutet als KommunistIn zu leben. Selbst wenn wir das revolutionäre Pathos aus dieser Aussage abziehen, so spricht sie doch eine tiefere Wahrheit über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus. Revolutionären Subjekten ist die politische Ethik niemals rein äußerliches Mittel zur Veränderung von Machtverhältnissen. Gesellschaftsveränderung und Transformation von Subjekte gehen Hand in Hand, wenn jene mehr als nur eine schrittweise Verbesserung oder die Verhinderung von Verschlechterungen sein soll. Authentische Revolutionen sind überhaupt nur möglich, wenn die an ihr Beteiligten sich dem radikalen Ethos einer zukünftigen Gesellschaftsordnung verschreiben, und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in ihren politischen Handlungen - und allen voran im Alltagsleben. Als KommunistIn zu leben, bedeutet mithin, der imperialen Lebensweise ebenso wie den Bequemlichkeiten jener Aspekte hierarchischer Arbeitsteilung zu entsagen, von denen mensch profitieren könnte: etwa der Care-Arbeit von Frauen oder den HandlangerInnentätigkeiten von Neulingen in politischen Organisationen. Als KommunistIn zu leben, bedeutet, weder den Raum des Alltäglichen noch jenen der Politik zu privilegieren, sondern in beiden jene Maßstäbe einer kommunistischen, d.h. befreiten Gesellschaft anzulegen, die der Ethik der politischen Zielsetzung adäquat sind. Das wird vielen nicht leicht fallen, und jenen, die überproportional von existierenden gesellschaftlichen Hierarchien profitieren, am wenigsten. Sich von bürgerlicher Karriere, Kleinfamilie, Eigenheim und Auto zu verabschieden, ist tatsächlich keine geringe Zumutung. Wollen wir aber nicht bloß schöne Reden über den Kommunismus schwingen, sind diese Abschiede unumgänglich. Zum Glück eröffnen sie die mannigfaltigen Möglichkeiten gewonnener Zeit - Zeit der Solidarität, des Kampfes und der Liebe. Und, mal ganz ehrlich: Gibt es etwas Schöneres, als alles anders machen zu können?

Der gegenwärtige Stand des gesellschaftlichen Reichtums, die produktive Realität existierender Gemeingüter materieller und immaterieller Natur könnten bereits heute weltweit ein Leben ohne Ausbeutung und Mangel ermöglichen. Selbst und gerade wenn wir die ökologische Dimension der Reichtumsproduktion in die Debatte einbeziehen, stellt sich heraus, dass angesichts der künstlichen Vervielfachung der Produktion vieler Gebrauchsgüter (besucht einmal das Joghurt-Regal bei Tesco oder den nächsten Drogeriemarkt) nur ein Bruchteil jener Arbeit notwendig ist, um dennoch ein gutes Leben für alle zu gewährleisten. Von der unnötigen Produktion von Waffen, SUVs und anderen Blödheiten einmal abgesehen.

Ist aber der Begriff der Demokratie überhaupt noch aus den Händen des Kapitalismus zu befreien? Taugt er, angesichts seiner etablierten herrschaftlichen Verfasstheit als liberaler Parlamentarismus überhaupt noch, oder sollen wir ihn einfach rechts liegen lassen? Ist Kommunismus überhaupt demokratisch, ist er gar demokratischer als Demokratie?

(*) Vorabdruck aus: Lob des Kommunismus 2.0, mandelbaum kritik & utopie 2014

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Dominik Götz:

Mario Tronti und die Entwicklung des italienischen Operaismus

Einleitung

"Der offene Widerspruch der operaistischen Tradition [...] und der politischen Philosophie der Multitude, die ihr gefolgt ist - der Widerspruch der trotzdem den grundlegenden Marxschen Einsichten treu bleibt - ist die doppelte Bekräftigung, einerseits der integralen Immanenz kapitalistischer Verhältnisse im Sozialen (einer grundlegenden Vergesellschaftung der Produktion) und andererseits der Radikalisierung des Antagonismus von Kapital und Arbeit. Reelle Subsumption manifestiert sich als eine irrationale Befehlsform und kündigt die Möglichkeit einer kommunistischen Aneignung der Produktion an. Heruntergebrochen ist das Problem jenes der Verwirklichung des Kommunismus in der Situation eines fortgeschrittenen, dynamischen Kapitalismus, in dem politische Krisen und [Klassen]antagonismus in keiner Weise notwendig mit Knappheit und Stagnation verbunden sind (veranschaulicht durch die Tatsache, dass das goldene Zeitalter von FIAT in Italien mit gewaltigen Arbeiterkämpfen verbunden war, welche die Fabriken selbst involvierte, während der Konzern in der Zeit relativen sozialen Friedens der 80er und 90er Jahre eher kontinuierlich schwächer wurde und schließlich kollabierte)."[1]

Der Operaismus war eine politische Bewegung im Italien der 1960er Jahre. Er entstand in einer Zeit großen wirtschaftlichen Aufschwungs, der Umstrukturierung des Produktionssektors sowie eines Kampfs der Ideologien im Kalten Krieg. Der Operaismus versuchte sich sowohl vom orthodoxen Marxismus - einerseits vom russischen Weg, andererseits vom hegemonialen gramscianischen Zweig, der in Italien dominant war - als auch vom herkömmlichen westlich-kapitalistischen Parlamentarismus abzugrenzen und mit ständigem Rekurs auf das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse als einzigem relevanten politischen Akteur eine eigenständige revolutionäre Politik zu entwickeln. Er war gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Aversion gegenüber allen möglichen Institutionen wie beispielsweise Gewerkschaften, aber auch der politischen Partei selbst.

Der klassische oder frühe Operaismus unterscheidet sich in einigen wichtigen Punkten von seinem aktuellen Ausläufer, dem Post-Operaismus à la Negri. Die überragende Gallionsfigur dieses klassischen Operaismus war Mario Tronti, der mit seiner sogenannten "kopernikanischen Wende" (der Umkehrung der Determiniertheit von Arbeiterklasse und Kapitalverhältnis - dazu später mehr) eine ganze Generation italienischer marxistischer Denker beeinflusste und das Denken in Italien noch heute prägt. Dieser Text stellt sich zur Aufgabe, Trontis theoretischen Werdegang nachzuzeichnen. Er konzentriert sich dabei auf die 60er Jahre, lässt aber auch Ausblicke auf die Zeit vor und nach den historischen Ereignissen, die traditionell mit der Ära des Operaismus verknüpft werden, zu. Ziel soll sein, einige Beweggründe dafür offenzulegen, warum Tronti den Weg vom Operaismus zum Post-Operaismus nicht mitgehen konnte; dieser Übergang bleibt mit Antonio Negri verbunden. Dieser Artikel wird sich also überwiegend mit diesen zwei Theoretikern beschäftigen, obwohl damit einige andere Theoretiker, die maßgeblich an der Entwicklung und Weiterführung des operaistischen Denkens beteiligt waren - Raniero Panzieri, Romano Alquati, Massimo Cacciari, Mariarosa Dalla Costa etc. - außen vor bleiben müssen.

Einleitend gehe ich auf die politischen und theoretischen Rahmenbedingungen der 50er Jahre ein, die im revolutionären Klima der 60er Jahre kulminierten. Anschließend stelle ich die historischen Eckdaten der beiden mit der Entwicklung des Operaismus direkt verbundenen Zeitschriften, Quaderni Rossi und Classe Operaia, dar. Im letzten Abschnitt werde ich schließlich erläutern, wie Tronti und Negri von den gleichen operaistischen Prämissen ausgehend dennoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen. Tronti wendet sich nach seinem politischen Experiment wieder der KPI zu und steigt sogar zu einem ihrer führenden Funktionäre auf. Negri wird sich vollkommen von empirischen Grundlagen lösen, obwohl den Operaismus unter Panzieri gerade die Betonung der Empirie ausgezeichnet hatte. Davon wird sich Negri also verabschieden und mit der Multitude eine eher post-strukturalistisch inspirierte Theorie der politischen Subjektivierung ohne Subjekt (i.e. Multitude) ins Leben rufen.

Meine These wird sein, dass beide Wege, die politische Bewegung des Operaismus nach deren Höhepunkt weiterzuführen, sein notwendiges Ende einleiten mussten. Was dem politischen Operaismus also nicht vergönnt war, gelang jedoch dem damit verbundenen theoretischen Impuls, der sich fortentwickeln und in das politische Denken Italiens und vielleicht sogar darüber hinaus einschreiben konnte.

Gramsci und Della Volpe

Karin Priester schreibt in ihrer Arbeit "Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und Della Volpe": "Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem theoretischen Ausdruck der politischen Identität der kommunistischen Partei Italiens stößt man unweigerlich auf die zunächst alles überragende Integrationsfigur Antonio Gramsci. [...] Doch dieses Bild entspricht nicht voll der Realität, denn unterhalb dieses zur weithin sichtbaren Fahne aufgerichteten Phänomens Gramsci vollzog sich nicht erst neuerdings, sondern schon in den fünfziger Jahren ein von Togliatti politisch eingeleiteter und von Della Volpe theoretisch begründeter Überlagerungsprozess, der 'über Gramsci hinaus' zu gehen versprach. Und 'über Gramsci hinaus' hieß gleichzeitig auch: über Lenin und die Denkmodelle der III. Internationale hinaus."[2]

Sie meint, mit Hilfe Della Volpes verließen die Auffassungen der Partei ("die Parteilinie") nach Ende des zweiten Weltkriegs langsam aber sicher den theoretischen Boden Gramscis, ohne jedoch aufzuhören, sich weiterhin auf ihn zu berufen. Da sich Della Volpe stets allzu lautstark und viel zu explizit gegen Gramsci positionierte, wurde ihm in Togliattis Partei trotz der grundlegenden politischen Affinität immer nur eine Randstellung zugestanden.[3]

Della Volpe ging von einer ähnlichen Fragestellung wie Gramsci aus. War Gramscis Reibungsfläche vorwiegend der bürgerlich-idealistische Benedetto Croce gewesen, so übernahm diese Funktion für Della Volpe der Croce-Schüler und spätere faschistische Erziehungsminister Giovanni Gentile. Deren beider (Gramscis und Della Volpes) Aufgabe war zunächst die Behauptung der materialistischen Theorie gegenüber einer hegemonialen idealistischen Weltanschauung mittels einer Neubestimmung des Verhältnisses von Marx zu Hegel. Anders als Althusser, mit dem Della Volpe auch einige Gemeinsamkeiten hatte, hielt Letzterer an der Definition des Marxismus als Humanismus fest, definierte ihn aber als positive Wissenschaft und nicht mehr als Philosophie der Praxis, wie dies Gramscis historistischer Konzeption entsprochen hätte.

Ausgehend von dieser Grundüberzeugung entwickelte Della Volpe einen regelrechten Anti-Hegelianismus. So argumentiert er in seinem Hauptwerk "Critica dei principî logici" (1942) mit Aristoteles gegen den mystizistischen Idealismus eines Platon, dem auch ein Leibniz und ein Hegel verfallen seien.[4] Mit Aristoteles setzt er sich für eine anti-dialektische Positionierung der Sinneseindrücke als basale Grundstoffe der Wissensobjekte ein, verknüpft durch das logische Prinzip der "Nicht-Widersprüchlickeit". An die Stelle einer triadischen Dialektik von These-Antithese-Synthese setzt er auf die "tauto-heterologische Identität"[5] der Vernunft als Einheit der Mannigfaltigkeiten, i.e. die mannigfaltigen diskreten Sinneseindrücke als Basis einer materialistischen Epistemologie. Die Tauto-Heterologie als diadische Dialektik beschreibt die relationale Verknüpfung der einzelnen Sinnesdata durch die Verstandesleistung. Mit Hilfe seines neu gewonnenen Verständnisses sah er in "Critica della filosofia hegeliana del diritto pubblico" (1950) die Marxsche Methode als im Kern anti-hegelianische, determinierte Abstraktion (astrazione determinata), die sich sowohl von einem formalistischen Deduktivismus als auch von einem naiven Induktivismus abgrenzt. Diese materialistische Logik verläuft in der Abfolge Konkret-Abstrakt-Konkret. Indem die Bewegung von konkreten Phänomenen ausgeht, um über Abstraktion und Hypothesenbildung zu einer erneuten konkreten, praktischen Auseinandersetzung mit den Phänomenen zu gelangen, verankert Marx, so Della Volpe, die Schnittstelle von Theorie und Praxis als das Grundproblem aller Wissenschaft. Della Volpe sah in Marx den Geist Galileis verkörpert, der sich gegen den falschen Apriorismus seiner scholastischen Vorgänger auflehnte, um auf Basis empirischer Grundbausteine eine neue Wissenschaft zu entwickeln.

Charakteristisch für sein theoretisches Projekt des Marxismus als positive Wissenschaft sind seine späteren Forschungsinteressen, u.a. die Entwicklung einer materialistischen Ästhetik und Kritik gegen den bürgerlichen Liberalismus. In Anlehnung an Machiavelli tritt Della Volpe jedoch auch in einen immer legalistischeren Diskurs ein.

"Wenn wir Gramscis politische Strategie summarisch als Kampf um Hegemonie und Kampf um Staat definiert haben, so können wir Della Volpes Position ebenso vorläufig und summarisch als Kampf um das Recht bezeichnen. Die theoretische Begründung der "sozialistischen Legalität" als Bewahrung (nicht: Aufhebung im hegelschen Sinne) des liberalen Erbes in einer sozialistischen Staatstheorie und der Ausbau von nach-bürgerlichen Rechtspositionen in der Phase des Übergangs zum Sozialismus ist Della Volpes zentrales Thema."[6] Della Volpe scheint damit eine Art Rechtsmarxismus (im Gegensatz zu einem eher links orientierten Marxismus der Arbeiterautonomie) theoretisch ermöglicht zu haben, dem sich Tronti in weiterer Folge ab den 1970er Jahren immer stärker annähern wird.

Das Italien der 50er Jahre

Nach dem zweiten Weltkrieg hatte sich die politische Situation für die PCI insoweit geändert, als erstens durch die Neuaufteilung Europas Italien nun direkt an der Grenze zwischen den Systemen lag, zweitens die kommunistische Partei aus dem antifaschistischen Kampf der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gestärkt hervorgegangen war und die Federführung bei der Neuordnung der italienischen Gesellschaft beanspruchen durfte. An einer Umwälzung Italiens nach russischem Modell hatte Togliatti jedoch kein Interesse, da dies die neugewonnene Machtkonstellation Europas zum Einsturz gebracht und dadurch womöglich erneutes Chaos ausgelöst hätte. Dieser Tendenz wurde weiter bestärkt, als 1956 sowjetische Panzer in Ungarn einfielen, was von der überwältigenden Mehrheit der italienischen Intellektuellen verurteilt wurde.

Erklären wollte man den italienischen Weg des Kommunismus mit Berufung auf Gramscis Historismus, indem man den Hauptwiderspruch in der italienischen Gesellschaft mit der relativen Zurückgebliebenheit eines Großteils des Landes identifizierte.[7] Hauptaugenmerk war damit dem Aufbau der Wirtschaft "im nationalen Interesse" gewidmet bei gleichzeitiger, selbst zugesprochener "Schonfrist" gegenüber dem kapitalistischen System. Nachdem jedoch Italien Ende der 50er Jahre ein regelrechtes Wirtschaftswunder zu verzeichnen hatte und scheinbar gegensätzliche Phänomene wie neo-kapitalistische Tertiarisierung der Wirtschaft und Erstarken einer selbstbewussten und kampfbereiten Arbeiterklasse aufeinanderprallten, verlor die traditionelle Parteilinie an Plausibilität. Die Arbeiterschaft zeigte erstmals offen Unzufriedenheit mit der Parteilinie; es kam zu Massenaustritten aus den kommunistischen und sozialistischen Gewerkschaften. In dieser Krise zog das Marxismuskonzept Della Volpes mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich.

"Den Dellavolpianern ging es in kritischer Absetzung gegenüber den marxistischen Historisten um die genaue Bestimmung der theoretischen Methode, mit der nicht die Objektivität des Widerspruchs analysiert, sondern das Bewusstsein über ihn bloßgelegt werden könne."[8] Den Dellavolpianern ging es nicht um das Vorantreiben eines angeblich neutralen Fortschritts, sondern um die Diskrepanz zwischen den Grenzen der formalen, bürgerlichen und den realen Bedürfnissen nach einer materiellen, substantiellen Demokratie. Della Volpe wollte den Marxismus dabei ausdrücklich als Methodologie begreifen und nicht, wie Gramsci, Marxismus als dialektische Einheit von Philosophie und Praxis qua Weltanschauung.[9]

"Indem Galvano Della Volpe seine Untersuchungen auf die Besonderheit der Ideologiekritik und der wissenschaftlichen Methodologie bei Marx konzentrierte, hatte er [...] mit Nachdruck hingewiesen, dass der Marxismus seinen eigenen theoretischen Status definieren müsse [...]."[10] Somit sprach Della Volpe sich einerseits gegen den von der III. Internationale propagierten Dogmatismus aber andererseits auch gegen den historisierenden Holismus Gramscis aus. Genau diese Neuorientierung zwischen Stalinismus und Gramscianismus hindurch eröffnete einen dritten Weg, dem sich gerade nicht-parlamentarische marxistische Gruppierungen anschlossen. Eine davon war die Gruppe um die Quaderni Rossi.

Quaderni Rossi

So gingen die 50er Jahre mit einem nachkriegszeitlichen, fordistischen Wirtschaftswachstum und der dazugehörigen Umstellung der Klassenzusammensetzung des Proletariats (massenhafte Arbeitsmigration aus dem ärmlichen Süden in den industrialisierten Norden), zwei dadurch ungeheuer angeschwollenen, aber im Kern konservativen Arbeiterparteien (PCI - Kommunisten, PSI - Sozialisten), mit Massenaustritten aus den Gewerkschaften und der Erinnerung an einen niedergeschlagenen Arbeiteraufstand im "sozialistischen" Ungarn 1956 zu Ende. Vor allem die Ereignisse in Ungarn wirkten auf viele Operaisten traumatisch und folgenreich, war doch die Auffassung der Orthodoxie, dass die Planwirtschaft ein Ende des Klassenkampfes bedeute, indem sie technologische Erneuerung befördert und den Konkurrenzdruck und den Druck auf die Löhne entschärfe. Zudem schien diese Auffassung bestätigt durch die aufkeimende Liebe zur Planwirtschaft im Westen, da der Keynesianismus den Liberalismus als kapitalistische Doktrin abgelöst hatte. Die Niederschlagung der spontanen Selbstorganisation sozialistischer Arbeiter in Ungarn durch die russische Führung brachte Zweifel über die bisher verfolgte theoretische Konzeption auf und provozierte eine erneuete Hinwendung zur konkreten Situation der Arbeiter im Arbeitsprozess.

Raniero Panzieri (1921-64) war Herausgeber der PSI-Theoriezeitschrift "Mondo operaio" von '57-'59 und ging dann nach Turin, wo er anfing, für Einaudi zu arbeiten. Angestoßen von dem Problem der Diskrepanz zwischen Arbeiterinteressen und gewerkschaftlichen politischen Forderungen gelang es ihm neben dem marxistischen Soziologen Romano Alquati in Turin auch noch linke Denker wie Luciano Della Mea in Mailand, Antonio Negri und Massimo Cacciari in Venedig und Mario Tronti in Rom für seine Sache zu gewinnen und die sogenannten Roten Hefte (Quaderni Rossi) ins Leben zu rufen, welche sich hauptsächlich als soziologische Zeitschrift verstanden und ihre Studien direkt am Schauplatz Fabrik durchführten. Ihre sogenannte CONRICERCA bestand aus Befragungen und Beobachtung, beinhaltete aber auch aktive Beteiligung am und Einfühlung in den Arbeitsprozess durch Arbeit in der Fabrik, vorwiegend in den Werken von Fiat und Olivetti. Vor allem das sorgfältig reflektierte Verhältnis von Arbeitern und Intellektuellen als untrennbare Einheit von Praxis und Theorie, welche beide demselben Grundwiderspruch verpflichtet sind, bildete eine neue Komponente in der italienischen Soziologie, die traditionellerweise vorwiegend von Max Weber beeinflusst war, und stützte sich ihrerseits auf die bürgerliche Soziologie der Chicago-Schule einerseits als auch auf die Veröffentlichungen der französischen Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie" von Cornelius Castoriadis. Die Zeitschrift wurde als Jahrbuch veröffentlicht und war eine mehrere hundert Seiten starke Zusammenstellung verschiedener langer theoretischer Texte.

Relativ früh kam es jedoch zur Aufspaltung in zwei Lager. Ausgelöst wurde dieser Theoriestreit durch die Ereignisse im Juli 1962 am Piazza Statuto in Turin. Als es im Juni zu Konflikten um die Vertragsverlängerung für große Teile der Fabriksarbeiter gekommen war, wurde für den Zeitraum vom 7. - 9. Juli ein großflächiger Streik ausgerufen. Währenddessen hatte jedoch die betriebsinterne Gewerkschaft der Fiat-Werke mit ihrer Geschäftsführung einen Deal ausgehandelt, sodass durch das Wegbrechen der Fiat-Arbeiter für einen Streikbeschluss plötzlich die Mehrheit fehlte. Dennoch wurde dieser Streik durchgeführt. In seinem Verlauf kam es zu Ausschreitungen, die sich überwiegend gegen die abtrünnige Gewerkschaft UIL (Unione italiana del lavoro) richteten.[11]

Standen die "Quaderni Rossi" zunächst noch geschlossen hinter den Protesten der Arbeiterschaft, so entbrannte kurz darauf ein folgenschwerer Theoriestreit zwischen dem soziologischen ("reformistischeren") und dem politischen ("revolutionäreren") Lager. Hauptstreitpunkt war die genaue politische Ausrichtung der Zeitschrift: Sollte man Kritik an den Gewerkschaften üben, um zu versuchen, die Politik der Gewerkschaften zu verändern, oder sollte es mehr um eine Politik außerhalb und gegen die herkömmlichen Traditionen der Arbeiterbewegung und ihren Organisationsformen gehen? Während Panzieri als Sozialist eher für erstere Option einstand, wandte sich Tronti in Richtung einer direkten Partizipation der Arbeiterschaft am politischen Willensbildungsprozess. Panzieris Forschungsschwerpunkte waren die Nicht-Neutralität des technologischen Fortschritts und die Abkopplung der Politik der Arbeiterbewegung von den planwirtschaftlichen Vorgaben des sowjetischen Realkommunismus. Er konnte sich jedoch nie völlig von seinen syndikalistischen Wurzeln befreien. So mochte er zwar die Ursachen von 1962 verurteilen wie jeder andere auch, doch sollte diese Kritik seiner Meinung nach bloß als konstruktive Kritik an den Gewerkschaften gelesen werden. Die "Quaderni Rossi" werden sich in weiterer Folge negativ gegen die Proteste aussprechen, und die Zeitschrift wird eine Großzahl ihrer Anhänger verlieren.[12]

Unglücklicherweise stirbt Panzieri wenig später im Jahre 1964 an einer Hirnembolie. Die fünfte und letzte Ausgabe der "Quaderni Rossi" wird nach seinem Tod, 1965 veröffentlicht. Tronti schreibt rückblickend: "Panzieris Marx war jener von Luxemburg, nicht der von Lenin. Wie Rosa Luxemburg las er das Kapital und träumte von der Revolution. Anders als Lenin, der das Kapital las, um die Revolution zu organisieren. Er war kein Kommunist und hätte es auch nie sein können. Seine Tradition war die des revolutionären Syndikalismus mit einer Dosis anarchistischen Sozialismus, der auch historisch in der PSI aufzufinden war."[13]

Ein Großteil der kommunistischen Theoretiker verließ die "Quaderni Rossi", um eine neue Arbeiterzeitschrift, genauer gesagt eine Monatszeitung, "Classe Operaia", mit neuer politischer Ausrichtung zu veröffentlichen. Während der Beginn des Operaismus offiziell mit der Gründung der "Quaderni Rossi" datiert wird, markiert die "Classe Operaia" den eigentlichen Beginn mit der Übernahme der theoretischen Führung durch Tronti und seine epochemachenden "kopernikanische Wende".

Die Kopernikanische Wende des Operaismus

Riccardo Bellofiore interpretiert Trontis frühes theoretisches Projekt als zweiseitig: "Dies ist mehr oder weniger der Ausgangspunkt Trontis, der mit einigen von Panzieris Punkten bricht und andere weiterentwickelt. Bei Tronti findet man, meiner Ansicht nach, auch zwei Gesichter, und mehr oder weniger finden sich beide auch in den Texten von "Operai e capitale" (nicht "Arbeit und Kapital", sondern "Arbeiter und Kapital"!). Einerseits ist Tronti sehr klar, und dies ist eine absolute Neuheit, in seiner Definition des Marxismus als zweiseitig: Marxismus als die Wissenschaft vom Kapitals und Marxismus als revolutionäre Theorie. Marxismus als Wissenschaft vom Kapital untersucht die Arbeiter als Arbeitskraft. Die Arbeiter sind in dieser Hinsicht komplett integriert in das Kapitalverhältnis. Diese Seite ist die Seite, von der aus der Marxismus als eine Theorie der ökonomischen Entwicklung gesehen werden kann; diese Seite demonstriert den Blick auf die Arbeitskraft durch die Brille des Kapitals. Die andere Seite, die Seite des Marxismus als revolutionäre Theorie ist die Seite der Arbeiter als Klasse. Die Arbeiter als Arbeiterklasse widersetzen sich der Integration. Diese Seite des Marxismus ist der Marxismus als Theorie der politischen Ablösung des Kapitalismus. Dies ist das Kapitalverhältnis gesehen durch die Brille der Arbeiterklasse."[14]

Aus dieser "zwei Brillen"-Metapher zieht Tronti die nötigen Schlüsse, um eine theoretische und - wie er meint - "kopernikanische" Wende einzuleiten, die prägend blieb für alle späteren Strömungen des Operaismus. Es gelingt ihm, die beiden Stränge (Wissenschaft/revolutionäre Theorie) zu vereinen in der Bestimmung, dass die Klasse des Proletariats nicht erst durch das Kapitalverhältnis geschaffen werde, sondern dass die Arbeiterklasse dem Kapitalverhältnis notwendig immer schon vorausgesetzt sei. Anders als die orthodoxe ökonomistische Lesart des Kapitals, nach der die Arbeiterklasse immer nur einen reinen Abwehrkampf gegen die der Logik des Kapitals gemäße Entwicklung auszufechten habe, geht der Operaismus von der Determiniertheit der kapitalistischen Entwicklung durch soziale, kulturelle und politische Vorgaben der Arbeiterschaft aus. Behauptet wird also glatt das Gegenteil der traditionell-orthodoxen Position, die kapitalistische Entwicklung sei bloß als Abwehrreaktion gegenüber dem revolutionären Befreiungskampf der Arbeiter zu begreifen.

"Das Kapitalverhältnis während des Produktionsprozesses kommt nur heraus, weil es an sich im Zirkulationsakt existiert, in den unterschiednen ökonomischen Grundbedingungen, worin Käufer und Verkäufer sich gegenübertreten, in ihrem Klassenverhältnis. Es ist nicht das Geld, mit dessen Natur das Verhältnis gegeben ist; es ist vielmehr das Dasein dieses Verhältnisses, das eine bloße Geldfunktion in eine Kapitalfunktion verwandeln kann. [zit.: Kapital II, MEW 24, S. 37] Für Marx also besteht darin kein Zweifel, dass das Klassenverhältnis an sich schon im Zirkulationsakt existiert. Und gerade dies ist es, was während des Produktionsprozesses das Kapitalverhältnis enthüllt und ans Licht bringt. Das Klassenverhältnis geht also dem Kapitalverhältnis voraus, verursacht es und produziert es. Mehr noch: gerade die Existenz des Klassenverhältnisses ermöglicht erst die Verwandlung des Geldes in Kapital. Dies ist ein Punkt von erheblicher Bedeutung. Denn im allgemeinen wird behauptet, Marx habe genau das Gegenteil gesagt, und es ist gängiger 'marxistischer' Brauch, auch das Gegenteil zu sagen: dass nämlich allein aus dem kapitalistischen Produktionsverhältnis der Gegensatz, der Antagonismus der Klassen herauskommt, der dann nur ein Antagonismus neuen Typs ist im Vergleich zu dem alten, der immer existiert hat, seitdem die menschliche Gesellschaft keine primitive Gemeinschaft mehr ist; und dass es deshalb das Kapital ist, das die Klassen hervorbringt, oder besser, das die alten Klassen in neue, gleichwohl immer gleiche gegensätzliche Gruppen verwandelt."[15]

Die Fabrik wird somit im fordistischen Italien der 60er Jahre zum direkten Nexus des Umsturzes der kapitalistischen Verhältnisse, weil sich in ihr das Kapitalverhältnis stets neu reproduzieren muss. Und genau wie sich die technologische Entwicklung von der Fabrik auf die Gesellschaft überträgt, so breitet sich der gesamte Klassenkampf auf diesem Weg aus. Die Gesellschaft ist somit direkt in der Fabrik verankert und erfährt über diese all ihr revolutionäres Potential. Der Klassenkampf ist direkt in das Kapitalverhältnis eingeschrieben, das revolutionäre Subjekt ist der Massenarbeiter in der Fabrik. Diese Einsicht geht direkt in die politische Ausrichtung der Classe Operaia ein. "Das Primat der Politik war von Anfang präsent in Classe Operaia, veröffentlicht seit 1963 als 'die politische Zeitung der Arbeiter im Kampfe". Der Slogan meines Leitartikels 'Lenin in England', in der ersten Ausgabe - 'zuerst die Arbeiter, dann das Kapital'; das meint: es sind die Arbeiterkämpfe, die den Kurs der kapitalistischen Entwicklung bestimmen - das war Politik: Wille, Entscheidung, Organisation, Konflikt. Die Bewegung weg von der Analyse der Umstände der Arbeiter, wie es Quaderni Rossi weiterführte, hin zur Intervention in die Forderungen der Klasseninteressen der Arbeiter - das war es, was den Sprung von der Zeitschrift zur Zeitung bewirkte."[16]

Die Arbeitskraft geht nicht mehr in der ökonomischen Akkumulation der Wertschöpfung auf, sondern generiert eine Akkumulation der politischen Forderungen. Politik bedeutet Interventionismus. Der Antagonismus wird vom Produktionsprozess analytisch getrennt und verdient nun alleiniges Augenmerk bei der Analyse des revolutionären Kampfes. Es kommt zu einer direkten Verknüpfung von Theorie und Praxis, klassische marxistische Kapitalanalyse mischt sich mit Tipps zur direkten und indirekten Sabotage des Produktionsprozesses. Die Agenda verändert sich von den Forderungen nach höheren Löhnen zu einer Infragestellung der Arbeit als Ganzes und als Teil der ökonomischen Entwicklung. Tronti steigt zu einer führenden theoretischen Figur in Italien auf. Negri wird später Tronti neben Gramsci und Luisa Muraro zu einen der drei bedeutendsten Denker Italiens im 20. Jahrhundert küren.[17]

Es war eine Strategie, die nicht zum Erfolg führte. In dezidiert leninistischer Manier sah sich die Zeitschrift als Transmissionsriemen zwischen revolutionärem Arbeiter und politischer Führung. Doch dieser Dialog konnte nie hergestellt werden. 'Nicht abonnieren!', hieß es auf der letzten Ausgabe 1967: 'wir gehen jetzt.' Die Entscheidung, sich von dem Projekt zu verabschieden, wurde aus der Angst geboren, man würde zu einem bloßen Splittergruppenphänomen heruntergespielt, "mit all den üblichen Deformierungen: Minoritarismus, Selbstreferentialität, Hierarchisierung, Entkoppelung, gemäß der zwei Seiten des bürgerlichen Staates"[18], i.e. Staatsapparat und bürgerliche Gesellschaft. Die Zeitschrift sah ihre Energie erschöpft. Sie konnte niemals über eine kleine bescheidene Leserschaft hinaus an Einfluss gewinnen. Die Arbeiterkämpfe der 60er Jahre sollten sich überwiegend gegen die Parteilinie der PCI richten. Die revolutionäre Frischluft von 1968 wurde überwiegend von Studenten in das Land hineingetragen.

Tronti negiert die Kontinuität zwischen dem politischen Operaismus der 60er Jahre und den vermeintlich anti-politischen sozialen Kämpfen der nach-68er-Ära. Er sieht in der Bewegung von 68 eher eine Umstrukturierung der bürgerlichen Führungselite als eine wahre Revolutionsbewegung von unten. Und zu allem Überfluss schien auch die kommunistische Partei von dieser Umstrukturierung nicht verschont zu bleiben: "Konträr zur allgemeinen Annahme, war die 'Partei der Arbeiterklasse' eher dazu geneigt, auf die 68er der Studenten zu hören, als auf die 69er der italienischen Arbeiter. (Hier zeigt sich ebenfalls der Beweis ex post facto: In den Jahren die folgten, wurde die Parteiführung bei Weitem mehr durch die Reihen der Studenten erneuert als durch die der Arbeiter)"[19]

Die Geschichte nach 68 ist mehr eine Geschichte der Kämpfe der Minderheiten und der neuen sozialen Bewegungen, der Kämpfe um Anerkennung innerhalb des Systems, als eine wirkliche Kampfansage gegen das System. Somit markiert für Tronti das Jahr '68 das Ende des Operaismus. Das Projekt der Classe Operaia wird Tronti später als gescheitert einstufen, und die Erfahrung dieses Scheiterns wird zu einer Neubewertung der Kategorie des Politischen führen.

Autonomie des Politischen

Die Bestimmung Trontis, der Ursprünglichkeit der Proletarisierung vor der Entstehung des Kapitalverhältnisses bedeutet zugleich eine folgenschwere Repositionierung der Ökonomie hinter die Politik. Dieser folgt zunächst auch Negri, der jedoch mit seiner Bestimmung des gesellschaftlichen Arbeiters allgemein alle soziale Praxis in den Rang des Politischen emporhebt. Für Tronti sind es allerdings zuerst die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die das entsprechende Biotop für die Proletarisierung der Bevölkerung geschaffen haben noch bevor die ökonomischen Grundlagen geschaffen waren. Für Tronti verläuft der Übergang von den Klassenkämpfen hin zur Reaktion des Kapitals und der entsprechenden technologischen Entwicklung anders als für Negri nicht automatisch. Die autonome Sphäre des Politischen schiebt sich als Mediator dazwischen, die politische Taktik und Parteienpolitik gewinnen für ihn wieder an Bedeutung. Hatte Tronti sich in der Zeit der Classe Operaia (seit den Ereignissen 1962) von der PCI distanziert, so war es für ihn die bürgerliche Revolution 1968, die überwiegend von Studenten getragen wurde, welche dem für ihn interessanteren heißen Herbst 1969 (überwiegend von Arbeiterkämpfen dominiert) den Wind aus den Segeln nahm, das entscheidende Ereignis, um die Prioritäten für die politische Praxis neu zu bewerten. "Politik hat ihre eigene Autonomie, sogar unabhängig vom kulturellen Rahmen, der sie stützt und sogar legitimiert. Wir lassen uns selbst überwältigen vom faszinierenden Genuss alternativen Denkens. Aber der beharrliche Zweifel bleibt, dass der andere Pfad eher der richtige gewesen wäre: etwas weniger sagen und ein bisschen mehr tun. Die theoretische Entdeckung der 'Autonomie des Politischen' fand in der praktischen Erfahrung des Operaismus statt; es war lediglich seine historisch-konzeptuelle Entwicklung, die später kam - und mit ihr die Erkenntnis, die Synthesis von 'inside and against' (darin und dagegen) verfehlt zu haben."[20]

Die Autoritäten zu hinterfragen und zu demontieren, bedeutete noch nicht die Befreiung der menschlichen Spontaneität und Vielfalt. Vielmehr folgte eine noch rigorosere Befreiung der "animalischen Triebe" (Tronti) des Kapitalismus, die zuvor noch vom Parteiensystem als Mediator im Zaum gehalten werden konnten und sich nun im freien Fluss befanden. "Arbeiterkämpfe bestimmen den Weg der kapitalistischen Entwicklung, aber die Entwicklung wird diese Kämpfe für ihre eigenen Zwecke nutzen, falls kein organisierter revolutionärer Prozess ermöglicht wird, fähig das Kräftegleichgewicht zu verändern. Es ist leicht, dies zu erkennen im Falle sozialer Kämpfe, in denen der komplette Apparat der Domination sich neu positioniert, sich reformiert, sich demokratisiert und sich neu stabilisiert."[21]

Die Arbeiterkämpfe übersetzten sich für ihn nicht mehr direkt in politische Macht. Trontis politisches Projekt der 70er Jahre war, die Politik von einem unterschwelligen Ökonomismus zu befreien. Es wäre ein Gewinn für das Kapital, ließe sich der Klassenantagonismus rein im Produktionsprozess einschließen: Dies hieße die Klassenkämpfe nach der Eigenlogik des Kapitals zu führen und würde notwendig zur Niederlage im ständig sich wiederholenden Abwehrkampf des orthodoxen Marxismus führen. Aufgabe des Politischen sei es gerade, den im Produktionsprozess auftretenden Klassenantagonismus durch seine vermittelnde Funktion in die Gesellschaft hineinzuholen, um ihn dort auszutragen.

War also für den klassischen Operaismus die Fabrik der privilegierte Ort der Austragung der gesellschaftlichen Kämpfe, so leitet die Zeit nach '68 auch theoretisch das Ende des politischen Subjekts des Massenarbeiters ein. Tronti kehrt zu seinen leninistischen Wurzeln zurück und wechselt nunmehr endgültig von der Erforschung des Fabriksarbeiters hin zum politischen Realismus mit der Oktoberrevolution als unhintergehbarem Vorbild für politischen Erfolg. Das Kriterium des Politischen ist für ihn in Anlehnung an Carl Schmitt die eindimensionale Freund-Feind-Gegenüberstellung. Tronti kümmert sich nicht mehr um eine Neubestimmung der Kategorie des Subjekts, nachdem das revolutionäre Subjekt des Massenarbeiters die Hoffnungen nicht erfüllen konnte, sondern ihn interessiert viel mehr eine Neubestimmung des Austragungsortes des Konflikts. Trontis neu eingeschlagene Richtung wird als Rechts-Operaismus (operaismo di destra) rezipiert. Erst von diesem Punkt aus schlägt Negri einen anderen Weg ein: mit seiner Kategorie der gesellschaftlichen ArbeiterIn versucht er eine Neubestimmung des revolutionären Subjekts, die ebenfalls auf eine Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie verweist.

Links-Operaismus und Arbeiterautonomie

In Weiterführung des operaistischen Diktums, im Versuch also die Arbeitskraft als dem Kapital vorrangig zu bestimmen, hypostasiert Negri die menschliche Produktivität in eine unabhängige ontologische Sphäre der Wertschöpfung, intrinsisch produktiv noch bevor es in das Kapitalverhältnis hineingezwängt wird.[22] Negris theoretischer Schritt in Reaktion auf die Krise des revolutionären Subjekts ist die Subjektivierung des Kapitalverhältnisses selbst. Während die menschliche Produktivkraft alles ist, wird das Kapital in seinem Kampf gegen die Abhängigkeit von menschlicher Arbeitskraft sukzessive ausgehöhlt, zu einem leeren Kommando degradiert. Kommunismus wird so für Negri von einer nach-kapitalistischen Gesellschaftsform zu einer konstitutiven Praxis im Hier und Jetzt, eine Praxis, die sich immer schon der reellen Subsumption durch die kapitalistische Wertschöpfung widersetzt. Die Errungenschaften für die Arbeiter in den 60er Jahren hätten gezeigt, dass Lohnerhöhungen sich ohne direkten Bezug auf die Kapitalakkumulation erzwingen ließen, ein Phänomen, welches Negri das Ende des Marxschen Wertgesetzes postulieren ließ. Die Autonomie der Arbeiterklasse wird direkt als Bedingung der Kapitalakkumulation ausgewiesen. Negri und seine Gruppe Potere Operaio werden sich in weiterer Folge forciert politischen Kämpfen um Lohnerhöhungen zuwenden, da sie diese als Hauptangriffspunkt der, aus ihrer Sicht, Krisenhaftigkeit des Kapitalverhältnises ansehen.

Genau in diesem Nexus bildet sich der Keim für die autonomia organizzata der 70er Jahre. "Die Praxis der Massenillegalität (unilaterale Schuldenschnitte, Häuserbesetzungen, usw.), Sabotage und gewalttätige Behauptung der materiellen Realität der Unabhängigkeit der Arbeiter, all das charakterisierte die Autonomie-Bewegung in den 70er Jahren und wurde als Versuch verstanden, den strukturellen Antagonismus und seine Tendenz zu immer größerer Willkür der Befehlsmacht zu vergrößern."[23] Autonomie wurde als geeignetes Mittel interpretiert, den kapitalistischen Staat zu destabilisieren und sein Einflussgebiet einzudämmen. Was Negri jedoch als positiv erachten wird - deren Spontaneität - ist für Tronti genau der Nachteil dieser Bewegungen. "Die Radikalisierung des Diskurses um die Autonomie des Politischen der frühen 70er wurde verursacht durch den Misserfolg der politischen Aufstände - von den Arbeiterkämpfen bis zu den Jugendrevolten -, die die 60er Jahre auszeichneten. Was fehlte war die bestimmte Intervention einer organisierten Kraft, welche allein aus der existierenden Arbeiterbewegung hätte kommen können, d.h. von den Kommunisten."[24] So sieht Tronti den Heißen Herbst (autunno caldo) als genau durch seine Spontaneität limitiert, er blieb so in einer Logik der Erneuerung ohne Revolution stecken.

Während sich die Gruppen um Quaderni Rossi und Classe Operaia noch als kritische Stimmen innerhalb der Arbeiterbewegung verstanden hatten, kreisten spätere Projekte nur mehr um das Thema Selbstorganisation. Die innere Geschlossenheit der Arbeiterklasse wurde niemals hinterfragt: sie ist durch ihre intrinsische Fähigkeit Wert zu schöpfen verbunden. So ließ sich für Negri jedoch in weiterer Folge die Aushöhlung der Kategorie des Fabriksarbeiters nur mehr als reaktionäre Umstellung des Produktionsprozesses lesen, nicht aber als progressive Auflösungsbewegung der Arbeiterklasse selbst. "Potere Operaio zwang den Heißen Herbst und die etwaigen Reaktionen darauf in die konzeptuelle Zwangsjacke eines hauptsächlich auf Lohnfragen basierenden Konfliktes, unfähig zu erkennen, dass die Kämpfe von '68-69 die Arbeitserträge direkt negativ beeinflussten. Diese waren jedoch seit den 'Restrukturations-Programmen ohne Investitionen' Mitte der 60er Jahre sehr angeschlagen. Somit überrascht es nicht, dass ein paar Jahre später Potere Operaio die zersetzende Kraft gegen die Arbeit, mit der das Kapital auf den Klassenkampf in der Produktionssphäre antwortete, nicht erkennen konnte."[25]

Der Übergang vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter vollzieht sich durch die Umstrukturierung des Produktionssektors und den massenhaften Ausbau des terziären Sektors.[26] Dieser vollzieht sich laut Negri in direkter Reaktion auf die Abkehr von der herkömmlich "produktiven" Arbeit. Der operai sociale stellt jedoch insofern einen radikalen Bruch dar, als er zum ersten Mal nicht mehr nur auf einen kleinen wirtschaftlichen Sektor, wie vormals noch der Fabriksarbeiter oder der Facharbeiter vor ihm, beschränkt blieb, sondern in alle Fugen der Gesellschaft eindrang. Über diesen theoretischen Schachzug konnten auch die gerade auftretende feministische Bewegung, sowie Studenten und Arbeitslose angesprochen werden. Durch die These vom Ende des Wertgesetzes kann Negri die produktive Tätigkeit von der kapitalistischen Abschöpfung des Mehrwerts trennen. Es sollte sich jedoch zeigen, dass sich die Erhaltung einer homogenen Kategorie des Proletariats nur noch unter Aufgabe einer definitiven Bestimmung dieser Kategorie erreichen ließ, wodurch bei Negri Proletariat ein ewig schwammiger Begriff bleibt. Negris Konzept des gesellschaftlichen Arbeiters wird später den Post-Operaismus einläuten, die Arbeiterklasse wird der Multitude weichen und die produktive Arbeit durch die sogenannte "immaterielle Arbeit" oder affektive Arbeit ersetzt bzw. mit ihr identifiziert.

In These 1 seiner Zusammenfassung über die Grammatik der Multitude schreibt Paolo Virno, dass die Multitude sich innerhalb der Phase des Postfordismus herausgebildet hat und direkt mit ihr verbunden ist. Er beschreibt diese Entwicklung jedoch vorwiegend anhand der Geschichte Italiens: "Der Postfordismus (und mit ihm die Multitude) ist in Italien mit den sozialen Kämpfen, die man üblicherweise als die 'Bewegung von 1977' bezeichnet, auf den Plan getreten. [...] Jede drastische Wandlung in der Arbeitsorganisation ruft unweigerlich die Unruhen der 'ursprünglichen Akkumulation' in Erinnerung, da sie ein Verhältnis von Dingen (neue Technologien, geänderte Allokation der Investitionen usw.) in ein völlig neues gesellschaftliches Verhältnis verwandeln muss. [...] Die Großtat des italienischen Kapitalismus besteht nun darin, dass er genau die Verhaltensweisen, die sich zunächst in die Gewänder des radikalen Protests gehüllt hatten, in eine produktive Ressource verwandelt hat, die Umwandlungen der kollektiven Handlungen der 77er-Bewegung - Auszug aus der Fabrik, Desinteresse an der fixen Anstellung, Vertrautheit mit kommunikativen Wissensformen und Netzen - in ein innovatives Bild der Berufswelt [...]. Recht besehen nahm die 77er-Bewegung einige charakteristische Züge der postfordistischen Multitude vorweg. Mag sein, dass ihre Virtuosität sich noch schwach ausgebildet und r oh darstellte, nichtsdestotrotz war sie alles andere als unterwürfig."[27]

Der Postoperaismus signalisiert somit die endgültige Niederlage einer langen fordistischen Geschichte der Arbeiterkämpfe. Die Multitude wird in die Zeit des neoliberalistischen Aufschwungs - des Reaganismus/Thatcherismus - hineingeboren. Was in neoliberaler Eigenlogik sich in den 80er und 90er Jahren durchzieht, lässt sich dabei für das Lager postmoderner Theoriebildung beinahe noch als Sieg gegen das Kapital auslegen. Durch die völlige Auflösung eines sichtbaren, monolithischen Blocks der Arbeiterklasse wird das Proletariat gleichzeitig unangreifbarer und erhält dadurch seine Macht, das Kapitalverhältnis von innen aufzulösen. Die Tradition des Operaismus kann sich somit nur mehr durch völlige Preisgabe einer positiven Definition des Proletariats erhalten. Die Multitude wird völlig amorphisiert und entbehrt jeglichen Bewusstseins ihrer selbst (zumindest noch, denn diese würde ja bereits die Transformation zur kommunistischen Gesellschaft einläuten), besitzt jedoch alle revolutionäre Macht, da sich das Kapitalverhältnis sowieso nur mehr als leeres Kommando über die Produktionsverhältnisse legt.

Fazit

Es erscheint tragisch, dass Tronti von seiner größten theoretischen Errungenschaft (der Priorität der Proletarisierung vor der Vergesellschaftung des Kapitals und der damit einhergehenden Priorität der Politik vor der Ökonomie) nicht mehr abzuweichen imstande war und dabei in eine Sackgasse geriet. Er postuliert die Autonomie des Politischen in der Zeit der Ölkrisen, der Stagflations-Krise des Keynesianismus und der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems, eines US-Umschwungs von einer Überschuss- zu einer Defizitökonomie etc. Eine Zeit also, in der der Wandel der Gesellschaft stärker denn je von der kapitalistischen Eigenlogik (bzw. vom finanzkapitalistischen Kalkül) bestimmt zu sein schien.

Der Operaismus wurde nach kurzer "Schonfrist" in den 60er Jahren von der Expansionsbewegung des Kapitals wieder eingeholt. Die Operaisten verpassen die Zeichen der Zeit und versuchen, den globalen Wandel zunächst auf nationaler Ebene zu theoretisieren. Ein Fokus der sich bereits methodologisch (mit Schwerpunkt auf die stark lokalisierten Fabriksarbeiter des italienischen Nordens) festschreibt, und der den Operaismus als Theoriegebäude nur allzu rigide werden lässt und eine theoretische Weiterentwicklung kaum ermöglicht. Tronti spricht von der Einverleibung der Arbeit durch das Kapital, und nur durch diese Einverleibung wird es der Arbeiterklasse möglich sich als Gegenmacht zur Klasse der Kapitalisten zu formieren.[28] Die Grundthese des gesamten Operaismus gerinnt also zu einer nur relativen Trennung von Politik und Ökonomie. Der Ökonomie nach ist der Arbeiter ein Teil des Systems und ökonomisch gesehen gibt es keine Gegenposition: Das Kapital ist eine gesellschaftliche Totalität von der aus selbst noch der Feudalismus retroaktiv neuen Sinn erhält. Nur vom Standpunkt des Politischen aus lässt sich die Situation neu lesen. Die lebendige Arbeit lässt sich niemals vollständig in das ökonomische System integrieren, die grundsätzliche Kluft des Klassenkampfes bleibt erhalten.

Somit bleibt die relative Trennung von Politik und Ökonomie eine Grundthese des Operaismus, eine Grundthese, die zwar auch Negri übernimmt, deren Konsequenzen er jedoch am liebsten ignorieren würde. Tatsächlich schlägt Negris aktuelles Unterfangen mit dem bei ihm üblichen Triumphalismus genau in diese Kerbe. Für ihn existiert der Kommunismus bereits, da sich durch den sozialen Arbeiter die kapitalistische Produktionslogik aus dem direkten Produktionsverhältnis verabschiedet habe und sich das Empire nur mehr wie eine Hülle über die eigentliche Produktivität des "Kognitariats" legt. Seine post-operaistische Wende scheint damit seltsamerweise gerade in der Aufgabe der These zu bestehen, dass die Arbeiter selbst ihr Schicksal in die Hand nähmen. Tatsächlich nämlich hat sich dieser heraufbeschworene Kommunismus der Produktionsverhältnisse der eigenlogischen Sackgasse des fordistischen Akkumulationsmodells zu verdanken, die in einem kontinuierlichen Fall der Profitrate bis in die 80er Jahre bestand und zu maßgeblichen Umstrukturierungen führen musste, eine Tatsache, die Negri nicht einmal als negativ begreifen kann, da für ihn mit jeder Expansionsbewegung des Kapitals nur dessen brüchige Fassade des nackten Befehls mehr und mehr verfällt.

Für Negris Deleuzianismus entbehrt der Klassenkampf jeglicher dialektischer Entfaltung. Negris politische Ontologie wirkt allzu sehr nach einem eindimensionalen Reiz-Reaktions-Modell konstruiert, in dem sich die neuen historischen Subjekte erst im Widerstand in bestehenden Konflikten formieren und daher auf eine ewige Kette von Reaktionen zurückgestuft werden, ohne ihnen die Fähigkeit zur Bildung neuer und unabhängiger Organisationsformen zuzugestehen. Diese ist ja auch nicht nötig, insofern der Kommunismus latent immer schon präsent war und damit enthistorisiert wird. Genau wie die ahistorische Organisationsform der Multitude, die auch nur deshalb heute sichtbarer ist, als noch vor 500 Jahren, weil sich erst jetzt die Produktionsverhältnisse vom maroden Gerüst des politischen Zwangsapparates so weit befreien konnten, dass sie nun erstmals unverfälscht hervortreten. Trotz Erhaltung der operaistischen Grundthese, wird deren Inhalt damit vollkommen entleert, da der Arbeiterschaft lediglich der reaktionäre Gegenpart übrig bleibt, nämlich die Sphäre der eigenen produktiven Arbeit vor dem Zugriff der kapitalistischen Verwertungslogik zu immunisieren (vgl. Virno, "Exodus").

Operaismus bleibt damit eine Strömung mit sehr kurzer Lebensdauer. Sie war direkt auf das fordistische Modell des Fabriksarbeiters zugeschnitten und hat den geschichtlichen Wandel nicht (oder bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt) überlebt. Insofern wirkt Trontis Weg sogar noch konsequenter: Er hat die historische Bedingheit des Operaismus erkannt und nach dem gescheiterten politischen Projekt eben einen anderen Weg eingeschlagen. Sein Weg führte ihn zurück in die PCI, doch auch dort erwarteten ihn nur Enttäuschungen, da sich das "window of opportunity" für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel spätestens nach 1977 wieder geschlossen zu haben schien. In jüngeren Texten begründet für ihn das Postulat von der Autonomie des Politischen nunmehr sogar eine völlige Absage an den demokratischen Staates als Ganzes, er polemisiert gegen das vorherrschende Demokratie-Verständnis, ohne jedoch greifbare Alternativen anzuführen.[29]

Zweifellos ist die kurze Geschichte des Operaismus auch eine Geschichte des Scheiterns. Ungeachtet des Scheiterns der realen politischen Bewegung des Operaismus hat sich jedoch das theoretische Gedankengut weit in die italienische Kultur hinein verbreitet. existiert Diese Generation Intellektueller, von Tronti über Negri zu Cacciari, Bologna, Muraro etc. ist immer noch aktiv und bestimmt nach wie vor das intellektuelle Leben Italiens. Spannend bleibt, ob das operaistische Denken an die nachfolgenden Generationen weitergereicht und damit auch weiterentwickelt werden kann, denn nur wer es schafft, die "Trontianische" Wende noch einmal neu und abseits der aktuellen Stränge zu denken, schafft es vielleicht, sie auch für heutige Krisen zu reaktualisieren.



Anmerkungen

[1] Alberto Toscano, Chronicles of Insurrection: Tronti, Negri and the Subject of Antagonism. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009) 77f. Übersetzt durch den Autor; orig.: "The open paradox of the workerist 'tradition' (to adopt a term whose intensely problematic character has been highlighted by Sergio Bologna) and of the political philosophy of the multitudes that has followed in its wake-which is of course a paradox faithful to some of the key insights of Marx-is precisely the twin affirmation of an integral immanence of capitalist relations to the social (of a thoroughgoing socialization of production) and of the radicalization of the antagonism between capital and labour. Subsumption, precisely to the extent that it is real, manifests itself as an irrational form of command and heralds the possibility of a communist appropriation of production. In a nutshell, the problem is that of the realization ofcommunism in a situation of advanced and dynamic capitalism, in which political crisis and antagonism are by no means necessarily accompanied by scarcity or stagnation (as witnessed by the fact that the golden age of FIAT in Italy was concurrent with fierce struggles that invested the factories themselves, whilst the relative social peace of the 80s and 90s saw its progressive enfeeblement and eventual collapse)."

[2] Karin Priester, Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und Della Volpe (Frankfurt/New York 1981) 9f.

[3] Vgl. ebd.

[4] http://www.treccani.it/enciclopedia/galvano-della-volpe_(Dizionario-Biografico)/ (20.12.2013)

[5] Vgl. Priester, 146.

[6] Priester, Gramsci und Della Volpe, 12f.

[7] Vgl. ebd., 132.

[8] Ebd., 133.

[9] Vgl. Mariachiara Fugazza, Dellavolpismo e nuova sinistra. Sul rapporto tra i "Quaderni Rossi" e il marxismo teorico (Aut-Aut 1975/3) 128.

[10] Giuseppe Vacca, Introduzzione. In: Giuseppe Vacca (Hg.) Politica e teoria nel marxismo italiano 1959-1969 (Bari 1972) 27.

[11] http://www.leftcom.org/it/articles/2010-07-01/la-spontaneit%C3%A0-giovanile-1962-piazza-statuto (27.12.2013)

[12] Dario Lanzardo, La rivolta di Piazza Statuto. Torino, Luglio 1962 (Feltrinelli, Mailand 1979) 5.

[13] Mario Tronti, Our Operaism. In: New Left Review (73: 2006) 123. Übersetzt durch den Autor; orig.:"Panzieri's Marx was that of Luxemburg, not Lenin. Like Rosa, he read Capital and imagined the revolution. Unlike Lenin, who read Capital in order to organize the revolution. He was not, and could never have been, a Communist. His tradition was that of revolutionary syndicalism, with a dose of the anarchic socialism that the old PSI historically bore within itself."

[14] Riccardo Bellafiore, Between Panzieri and Negri: Mario Tronti and the Workerism of the 1960s and 1970s. (Response to Mario Tronti at the 2006 Conference on Historical Materialism in London): https://www.facebook.com/notes/economisti-di-classe-riccardo-bellofiore-giovanna-vertova/between-panzieri-and-negri-mario-tronti-and-the-workerism-of-the-1960s-and-1970s/120242154719421 (27.12.2013).

Übersetzt durch den Autor; orig.: ""This is more or less the starting point of Tronti that breaks with some points in Panzieri and develops others. In Tronti too there are, in my view, two faces and more or less both are embodied in the writings included in Operai e capitale (not "Labour and Capital", but Workers and Capital). In the first face, Tronti is very clear and this is an absolute novelty, on distinguishing in Marxism two sides: Marxism as the science of capital and Marxism as revolutionary theory. Marxism as the science of capital looks at workers as labour power. Workers as labour power in this view are completely integrated within capital. This side is the side from which Marxism can be seen as a theory of economic development; this side is the side in which labour power is seen through the capital's spectacles. The other side, the side of Marxism as a revolutionary theory, is the side that looks at workers as working class. Workers as working class refuse politically to be integrated. This side of Marxism is Marxism as the theory of the political dissolution of capitalism. It is capital seen through the working class's spectacles."

[15] Mario Tronti, Arbeiter und Kapital (Neue Kritik, Frankfurt 1974) 103f.

[16] Tronti, Our Operaismo, 124f. Übersetzt durch den Autor; orig.: "The primacy of politics was present from the start in Classe operaia, launched in 1963 as 'the political newspaper of the workers in struggle'. The slogan of my editorial, 'Lenin in England', in the first issue-'first the workers, then capital'; that is, it is workers' struggles that drive the course of capitalist development-that was politics: will, decision, organization, conflict. The movement from analysing workers' conditions, as Quaderni rossi continued to do, to intervening in the claims they advanced for their class interests, was what gave the leap from the journal to the newspaper its meaning."

[17] Vgl. Antonio Negri, The Italian Difference. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009) 11.

[18] Tronti, Our Operaismo, 135. Übersetzt durch den Autor; orig.: "with all the usual deformations: minoritarianism, self-referentiality, hierarchization, 'dual layers', unconcciously imitating the practices of the 'dual state'"

[19] Tronti, Our Operaismo, 129. Übersetzt durch den Autor; orig.: "Contrary to what is commonly supposed, the 'party of the working class' was more willing to listen to the 68 of the students than to the 69 of the Italian workers. (Here too there is proof ex post facto: in the years that followed, the Party leadership was replenished far more from the ranks of the students than from those of the workers.)"

[20] Tronti, Our Operaismo, 122. Übersetzt durch den Autor; orig.: "Politics has an autonomy of its own, even from the cultural framework that sustains and at times legitimates it. We let ourselves get carried away by the fascinating pleasure of alternative thinking. But the lingering doubt remains that the other path may have been the right one: saying a little less and doing a little more. The theoretical discovery of the 'autonomy of the political' took place within the practical experience of operaismo; it was only its historical-conceptual elaboration that came later-and with it, the realization of having failed to reach a synthesis of 'inside and against'."

[21] Ebd., 128. Übersetzt durch den Autor; orig.: "Workers' struggles determine the course of capitalist development; but capitalist development will use those struggles for its own ends if no organized revolutionary process opens up, capable of changing that balance of forces. It is easy to see this in the case of social struggles in which the entire systemic apparatus of domination repositions itself, reforms, democratizes and stabilizes itself anew."

[22] Vgl. Bellafiore, Between Panzieri and Negri.

[23] Toscano, Chronicles of Insurrection, 87. Übersetzt durch den Autor; orig.: "The practice of mass illegality (unilateral reduction of bills, house occupations, and so on), sabotage and violent assertions of the material reality of worker independence, all of which characterized the 'autonomist' movement in the 1970s, are thus conceptualized as an attempt to force the structural antagonism and its tendency towards an evergreater arbitrariness of command."

[24] Tronti, Our Operaismo, 135. Übersetzt durch den Autor; orig.: "The radicalization of discourse on the autonomy of the political from the early 70s was born from this failure of the insurrectionary movements, from the workers' struggles to the youth revolt, that had spanned the decade of the 60s. What was lacking was the decisive intervention of an organized force, which could only have come from the existing workers' movement, and therefore the Communists."

[25] Bellafiore, Between Panziere and Negri. Übersetzt durch den Autor; orig.: "Potere Operaio forced the Hot Autumn and its aftermath into the straightjacket of a wage-centred vision, failing to see that the struggles of 1968-69 directly damaged levels of work output that the 'restructuring without investments' of the mid sixties had already stretched to breaking point. It is not surprising, then, that a few years later Potere Operaio failed to recognise the destructuring force against labour through which capital responded to class struggle within the sphere of production."

[26] Vgl. Romano Alquati, Università, formazione della forza-lavoro e terziarizzazione, In: Aut-Aut, (n. 154: 1976).

[27] Paolo Virno, Grammatik der Multitude (Turia + Kant, Wien 2005) 138f.

[28] Vgl. Tronti, Arbeiter und Kapital, 26.

[29] Vgl. Mario Tronti, Towards a Critique of Political Democrady. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009).



Literatur

Romano Alquati, Università, formazione della forza-lavoro e terziarizzazione, In: Aut-Aut, (n. 154: 1976).

Mariachiara Fugazza, Dellavolpismo e nuova sinistra. Sul rapporto tra i "Quaderni Rossi" e il marxismo teorico (Aut-Aut 1975/3).

Dario Lanzardo, La rivolta di Piazza Statuto. Torino, Luglio 1962 (Feltrinelli, Mailand 1979).

Antonio Negri, The Italian Difference. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009).

Karin Priester, Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und Della Volpe (Frankfurt/New York 1981).

Alberto Toscano, Chronicles of Insurrection: Tronti, Negri and the Subject of Antagonism. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009).

Mario Tronti, Arbeiter und Kapital (Neue Kritik, Frankfurt 1974).

Mario Tronti, Our Operaism. In: New Left Review (73: 2006).

Mario Tronti, Towards a Critique of Political Democrady. In: Cosmos and History: The Journal of Natural and Social Philosophy (vol. 5/1: 2009).

Giuseppe Vacca, Introduzzione. In: Giuseppe Vacca (Hg.) Politica e teoria nel marxismo italiano 1959-1969 (Bari 1972).

Paolo Virno, Grammatik der Multitude (Turia + Kant, Wien 2005).



Weblinks:

http://www.treccani.it/enciclopedia/galvano-della-volpe_(Dizionario-Biografico)/ (20.12.2013).

http://www.leftcom.org/it/articles/2010-07-01/la-spontaneit%C3%A0-giovanile-1962-piazza-statuto (27.12.2013).

https://www.facebook.com/notes/economisti-di-classe-riccardo-bellofiore-giovanna-vertova/between-panzieri-and-negri-mario-tronti-and-the-workerism-of-the-1960s-and-1970s/120242154719421 (27.12.2013).

*

Andreas Exner:

Wem gehört der Acker?

Gemeinsame Produktionsmittel als notwendige Erweiterung von CSA: für eine Solidarische Landwirtschaft

Seit einigen Jahren werden auch in deutschsprachigen Ländern Bewegungen für eine Solidarische Landwirtschaft stärker sichtbar. Am prominentesten in dieser Hinsicht ist wohl der CSA-Ansatz, zumindest ein erster Schritt in diese Richtung. CSA steht für das englische Community Supported Agriculture, wörtlich übersetzt also eine von der Gemeinschaft unterstützte Landwirtschaft. Wo liegen ihre Potenziale, wo die Grenzen - und wie könnte eine Perspektive für eine solidarische Landwirtschaft in Mitteleuropa aussehen?

CSA: eine ungleiche Beziehung

CSA hat keine einheitliche Definition. Die Ansätze und Projekte, die unter diesem Titel diskutiert werden, eint vor allem der Versuch, Lebensmittel anders als üblich zu produzieren und zu verteilen. Die meisten CSA-Projekte gehen von der Arbeitsteilung zwischen einem bäuerlichen Betrieb und den Konsumierenden aus. Diese Arbeitsteilung wird zwar im Verlauf der Entwicklung vieler Projekte mehr oder weniger verändert. Dennoch lohnt es sich, zuerst einmal das Verhältnis der Motive dieser beiden Gruppen zu betrachten, die für die meisten CSA-Projekte konstitutiv bleiben. Die folgende Auflistung stützt sich unter anderem auf die Beiträge der rund 70 Teilnehmer*innen des Workshops "Von der CSA zum Flächenfreikauf?" beim Solidarökonomie-Kongress in Wien im Februar 2013. Die vorrangigen Motive der Konsumierenden eine CSA zu bilden sind demnach:

  • Erhalt kleinbäuerlicher Landwirtschaft und ökologische Bewirtschaftungsmethoden; Teilung des Produktionsrisikos; Abnahmegarantie für die Produzierenden; Übernahme von Verantwortung für die Produktion
  • Gesunde Lebensmittel und regionale Produktion, die selbst überpüft werden kann
  • Mehr Bezug zu Landwirtschaft, Boden und Menschen
  • Mehr Solidarität zwischen den Konsument*innen; Umverteilung; mehr Krisensicherheit und soziale Gleichheit; Eigenproduktion; Befriedigung von Grundbedürfnissen abseits des Marktes
  • Mehr Mitsprache im Betrieb; Aufhebung der Trennung zwischen Konsumierenden und Produzierenden; Entkoppelung von Preisen und Produkten
  • Schaffung eines Experimentierraumes für alte Sorten; Verringerung des Effizienzdrucks, der auf der Landwirtschaft lastet
  • Bewusstseinsbildung

Zusammengefasst geht es vor allem um soziale und politische Motive. Individuelle Lebensqualität wie etwa der Wunsch nach guten Lebensmitteln spielt ebenfalls eine Rolle. Sofern es sich nicht um Nischenprodukte handelt, so etwa die Sortenraritäten der GELA Ochsenherz[1] in Wien, sind diese Motive wohl auch durch Bioprodukte im Supermarkt zu erfüllen und insofern eher zweitrangig.

Anders gelagert sind die Motive der Produzierenden, wenn man einmal diejenigen CSA-Projekte betrachtet, die nicht mehr oder weniger kollektiv gestaltet werden wie in Ansätzen nicht-kommerzieller Landwirtschaft. Für herkömmliche Produzent*innen, die ein Geldeinkommen erwirtschaften wollen und auch müssen, besteht das Motiv vorrangig im Erhalt des Betriebs durch:

  • Absatzsicherung mittels Kund*innen-Bindung und Marketing durch Imagevorsprung
  • Risikostreuung und Vorfinanzierung

Weitere Motive können die erhöhte Wertschätzung der eigenen Arbeit und ihrer Produkte, aber auch die Befriedigung durch den Kontakt mit den Konsumierenden sein. Doch in den meisten Fällen, so ist anzunehmen, stehen die monetär-ökonomischen Motive klar im Vordergrund. Dies deshalb, weil ein Agrarbetrieb in einer Marktwirtschaft aus strukturellen Gründen zuerst einmal ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften muss. Alle anderen Anliegen, die Freude am Tun zum Beispiel, können erst in zweiter Linie zum Tragen kommen.

Während die Konsument*innen ausschließlich am Gebrauchswert interessiert sind, müssen die Produzent*innen in einer Marktwirtschaft das Augenmerk folglich zuerst auf den Tauschwert ihrer Produkte legen. Die Motivlagen der Konsumierenden sind also von denen der Produzierenden deutlich verschieden. Während die Konsumierenden Solidarität mit den Produzent*innen üben wollen und politische Motive verfolgen, sind jene auf die Konsumierenden als Mittel des wirtschaftlichen Überlebens angewiesen. Von ihrer Seite aus mögen sich durchaus noch andere Motive geltend machen, doch erst wenn dem harten Zwang des Geldeinkommens Folge geleistet worden ist.

Freilich kann die augenscheinliche Solidarität der Konsument*innen auch durchaus eigennützige Motive haben. So etwa in jenen Fällen, wo die Produkte besonders begehrt sind und man diese am Markt kaum erhält (zum Beispiel Sortenraritäten). Auch die Aufweichung der Trennung zwischen Konsumierenden und Produzierenden, die mit der CSA verbunden wird, muss nicht unbedingt emanzipatorischen Charakter tragen. Diese Trennung wird auch von Ikea aufgehoben, wo die Kunden ihre Kästen selbst zusammenschrauben, oder auf einem Selbsternteacker. Und die früheren Tupperware-Parties haben durchaus Elemente einer sozialen Bewegung mit Eigenarbeit und emotionalem Engagement verbunden. Ikea und Tupperware sind freilich Großkonzerne.

Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen die Motive von Konsumierenden und Produzierenden zusammenpassen; und ob diese Bedingungen die Grundlage einer Solidarischen Landwirtschaft als gesellschaftliche Perspektive sein können. Dabei gilt es auch diese Motive selbst zu hinterfragen. Nicht alles, was zusammengehen will, geht auch zusammen. Auf der anderen Seite wäre zu eruieren, welche Voraussetzungen denn gegeben sein müssten, damit Konsumierende und Produzierende sich zum gleichen Wohle aller ergänzen, und zwar jenseits des Randphänomens, das CSA heute auch in ihren entwickeltsten Formen noch ist. Welche Struktur also schafft die Grundlage für eine stabile Solidarität zwischen diesen beiden Polen?

Antworten auf diese Frage lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen, sondern nur im beständigen Versuch und der Reflexion von Irrtümern und Erfolgen entwickeln. Wichtig scheint dabei ein nüchterner Zugang zur eigenen Praxis, der Idealisierungen vermeidet. Wenn der Wunsch nicht gleich für die Wirklichkeit gehalten wird, können Defizite ein Ansporn sein für das eigene Projekt.

Fragen an konkrete Projekte und die Ambivalenz von CSA

Wichtiger als fertige Antworten sind so betrachtet gute Fragen. Sie können einen Prozess fortlaufender Reflexion anleiten oder inspirieren. Hier sind einige Vorschläge für Fragen, die darauf abzielen, Projekte diskutierbar zu machen und gegebenenfalls Neues zu probieren:

  • Ist der Markt in einem Projekt wirklich außer Kraft gesetzt?
  • Wie weit geht Solidarität in einem Projekt im Ernstfall?
  • Gibt es eine strukturelle Gleichheit zwischen Produzierenden und Konsumierenden, gibt es eine echte Mitsprache aller im Betrieb?
  • Werden Strategien der Kund*innen-Bindung eingesetzt?
  • Wenn ja, welche?
  • Geht die Initiative nur oder vor allem vom Betrieb aus?
  • Was unterscheidet das Projekt strukturell von einer herkömmlichen Produktion?

Es kann sein, dass der Wunsch, Landwirtschaft in einer CSA ganz anders zu machen als üblich, diese Fragen unverständlich erscheinen lässt. Wie etwa kann es sein, möchte man vielleicht fragen, dass in einem CSA-Projekt Kund*innen-Bindung betrieben wird? "Wir wollen doch keine Kundinnen sein, und der Produzent ist wirklich an unserem Wohlergehen interessiert", könnte die Antwort lauten - und das mag auch zutreffen. Doch ein plakatives Gedankenexperiment hilft, die Frage nüchterner zu betrachten: Würde man die Produkte einer CSA auch kaufen, wenn der Produzent ein unkommunikativer Griesgram wäre, der weder eine Website betreibt noch Rezepte in die Lieferkiste legt, keine Feste veranstaltet und auch sonst keine Anstalten macht etwas anderes zu tun als Gemüse zu produzieren? Und umgekehrt: Würde eine solche Produzentin dann genügend Absatz für ihre CSA-Produkte finden? Tupperware ist ein krasses Beispiel, doch es zeigt, dass Gefühl und Beziehungen auch von kapitalistischen Betrieben eingesetzt werden. In einer Marktwirtschaft dienen Beziehungen letztlich eben zumeist wiederum der Marktwirtschaft, und dem Zwang Einkommen zu erzielen. Man kann die oben gestellten Fragen noch auf konkrete Problemstellungen eines Projekts zuspitzen: Bekommen auch die zu essen, die nicht zahlen können?

  • Können sich nur Gutverdiener*innen eine CSA leisten?
  • Gibt es Privateigentum an Boden und Maschinen?
  • Wie würde das Projekt auf Peak Oil oder die nächste Bankenkrise reagieren?

Momentan scheint noch nicht klar, welche Richtung die CSA-Bewegung einschlagen wird. Wesentlich für eine positive Entwicklung von CSA im Sinn Solidarischer Ökonomie ist jedenfalls das Hinterfragen der Strukturen, die das Handeln in den Projekten bestimmen. Nur so könnte es im längeren Zeitverlauf und im größeren Kooperationszusammenhang gelingen, kapitalistische Strukturen und Prägungen zu überwinden. Das wäre für eine Solidarische Landwirtschaft von Nöten.

Die CSA-Bewegung ist in emanzipatorischer Hinsicht - wie jeder solcher Ansatz - ambivalent. Die Frage entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung, ob die CSA insgesamt, als gesellschaftliche Tendenz, nicht auch eine Art des vertieften Neoliberalismus ist, die eine Privatisierung von Agrarpolitik und eine Überwälzung von Risiken der Lebensmittelversorgung auf die Konsumierenden auf ihre Weise vorantreibt, und deren soziale Ungleichheit hinsichtlich Geld und Zeit fortschreibt.

Ebenso relevant ist die Frage, ob CSA-Projekte nicht mitunter auf sinnvolle Größenvorteile und eine vernünftige Arbeitsteilung zwischen Betrieben verzichten. Was heutigen CSA-Projekten in dieser Hinsicht als vernünftig gilt, setzt ja (relativ hohe) Geldeinkommen der Konsument*innen voraus, die auf bestimmte Vorteile der Arbeitsteilung verzichten können, weil sie es sich im wahrsten Sinn zu leisten vermögen. Sie konsumieren zudem wohl in der Regel viele Nahrungsmittel jenseits des in CSA-Betrieben üblichen Gemüse-Schwerpunkts, um ihren Kalorien- und Proteinbedarf zu decken. Diese werden vielleicht konventionell, jedenfalls auf einem hohen Niveau nicht nur von Maschineneinsatz, sondern auch von Arbeitsteilung produziert und kaum auf Höfen, die quasi alles machen und anbauen.

Die CSA-Betriebe wiederum setzen zum Teil durchaus Lohnarbeit ein, die zudem schlecht bezahlt ist (wenngleich, wie in einem mir bekannten Beispiel, im kollektivvertraglichen Rahmen) und die Arbeit auch der Eigentümer erinnert mitunter an die für viele kleinbäuerliche Betriebe typische Plackerei. An all diesen Aspekten ist zu sehen, dass eine Rücknahme von Arbeitsteilung und damit der Produktivität in einer Marktwirtschaft buchstäblich ihren Preis hat. In einer Wirtschaftsweise jenseits des Marktes verlängert eine Rücknahme der Arbeitsteilung zwischen und innerhalb von Betrieben jedenfalls die Arbeitszeit und intensiviert die physische Anstrengung. Dies gilt auch für die Marktwirtschaft, mit dem Unterschied, dass sich dies dann in höheren Preisen ausdrückt.

Manchmal steht hinter dem Wunsch, möglichst viel selbst machen zu wollen und ursprünglich oder autark zu produzieren, wohl eher das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Naturerfahrung; vielleicht auch die Suche nach einer Unabhängigkeit von der krisenhaften kapitalistischen Gesellschaft. Krisensicherheit könnte jedoch eher in größeren als in kleineren Zusammenhängen aufgebaut werden. Es ist eine Art optischer Täuschung, wenn man klein mit krisensicher assoziiert. Tatsächlich waren auch vor dem Kapitalismus relativ krisensichere Gesellschaften niemals nur lokal organisiert.

So genügt in einem kleinen, auf sich gestellten Projekt eine einzige Missernte, die Erkrankung des Produzenten oder sonst eine Unwägbarkeit, um eine potenzielle Krisensituation zu provozieren. Das gilt für eine herkömmliche, marktorientierte CSA ebenso wie für eine Initiative nicht-kommerzieller Landwirtschaft. Normalerweise werden die Konsument*innen in diesem Fall auf den Supermarkt ausweichen und die Produzentin hoffentlich auf eine Versicherung zurückgreifen können. Die Vorfinanzierung der Produktion auf der Ebene des Einzelbetriebs, wie im idealtypischen Modell der CSA, bietet keinerlei Versicherung gegen Risiken für die Konsumierenden. Dieser Ansatz unterschreitet das Niveau der Kooperation der Produzierenden in Versicherungen etwa gegen Hagel.

Schon an diesem einfachen Beispiel ist also zu sehen, dass Krisensicherheit auf jeden Fall eine Kooperation in einem Maßstab voraussetzt, der weit größer ist als eine einzelne CSA. Das liegt auch auf der Hand, wenn man an heute relativ einfache Produktionsmittel wie Traktoren denkt, die wohl niemand mehr missen will.

All diese Aspekte betreffen die Frage, inwieweit CSA-Projekte Schritte zu einer gesamtgesellschaftlichen Alternative zur heute üblichen Landwirtschaft sein können. Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang aber ist, ob CSA wirklich die im Kapitalismus vorherrschende Form der Landwirtschaft überwinden kann, solange sich der Boden, das wichtigste agrarische Produktionsmittel, sowie der Hof, Maschinen und Betriebsmittel im Privateigentum befinden: entweder der Betriebe selbst oder der Verpächter. Pachtverhältnisse sind von Haus aus auch ungleiche Abhängigkeits- und Machtverhältnisse und gehen mit Solidarität schwer zusammen.

Die zwei Dimensionen der CSA und ihre vielen Formen

Für eine genauere Diskussion verschiedener Formen von CSA in Hinblick auf ihr transformatisches Potenzial scheinen zwei Dimensionen wichtig, die in den Motiven der Konsumierenden immer wieder auftauchen: Beziehung und Gleichheit. Man kann CSA-Projekte einerseits entlang einer Achse abnehmender Bedeutung von Marktverhältnissen anordnen. Diese Achse spiegelt zugleich eine zunehmende Bedeutung von Solidarität und Kooperation. Denn Solidarität ist das Gegenteil des Marktes. Sie wird dort stärker, wo der Markt schwächer wird und umgekehrt.

Andererseits lassen sich verschiedene Projekte auch entlang einer Achse zunehmender sozialer Gleichheit sortieren: von einer Situation, wo allein die Eigentümerin oder der Eigentümer eines Betriebs Entscheidungen trifft bis hin zu einem Projektzusammenhang, wo alle Beteiligten gleichermaßen in Entscheidungsprozesse eingebunden sind.

An dem einen Ende von Ungleichheit und Markt befindet sich das recht konventionelle Schema der Biokiste. Es beruht auf Anonymität und die Lieferung ist jederzeit kündbar. Viele würden diesen Ansatz vermutlich gar nicht zur CSA zählen, doch scheint die Grenze zu einem Modell von Biokiste, das einen gewissen emotionalen Bezug zum Produzenten beinhaltet, eher graduell. Und solche Projekte sind wohl eine relativ verbreitete, vielleicht sogar die dominierende Form von CSA. Die idealtypische CSA geht freilich einige Schritte weiter in Richtung von mehr Gleichheit in der Produktion. Relevant sind in dieser Hinsicht die Risikostreuung über eine Vorfinanzierung des Betriebs, die Möglichkeit der Mitarbeit der Konsumierenden, und ein gemeinsamer Produktionsplan.

Am anderen Ende von Gleichheit und Beziehung im Diagramm befinden sich Beispiele nicht-kommerzieller Landwirtschaft. Solche Ansätze können auf gepachteten Flächen realisiert sein oder auf Flächen, die im kollektiven Eigentum der CSA-Gruppe stehen. Ein Beispiel für den ersten Fall hat Jan-Hendrik Cropp beschrieben[2]. Die Initiative Bodenfreikauf in der Steiermark zielt auf nicht-kommerzielle Landwirtschaft mit Kollektiveigentum an Boden[3].

Markt oder Solidarität?

Jede CSA ist bis auf Weiteres Teil einer kapitalistischen Gesellschaft. Je enger ihr Zusammenhang mit dieser, desto stärker sind die unvermeidlichen Widersprüche in alternativen Ansätzen. Das betrifft in besonderem Maße die üblichen Formen von CSA, wo Produktion und Verteilung geldorientiert erfolgen und kein Kollektiveigentum an Produktionsmitteln existiert. Dann wird der Widerspruch zwischen solidarischem Anspruch und marktwirtschaftlicher Realität besonders deutlich: Während das Verhältnis zwischen Konsumierenden und der Produzentin oder dem Produzenten mehr oder weniger solidarische Elemente aufweist, stehen beide Gruppen freilich unweigerlich und im überwiegenden Maße mit der kapitalistischen Wirtschaft in Kontakt, die gänzlich unsolidarisch agiert.

Für die Konsumierenden und die kleinbäuerlich Produzierenden ist Geld ein Tauschmittel. Wenn Geld mit G bezeichnet wird und die Ware, zum Beispiel ein Sack Erdäpfel, mit W, dann gilt W-G-W. Die Lohnabhängigen verkaufen ihre (eigentlich nur fiktive) Ware Arbeitskraft (W) an Betriebe und erhalten dafür einen Lohn (G). Dieser ermöglicht ihnen den Kauf der Lebensmittel (W), unter anderem vom CSA-Betrieb. Im Konsumzyklus spielt Geld eine vermittelnde Rolle. Die Konsumierenden bezahlen die Lebensmittel, der Hof erhält ein entsprechendes Einkommen. Dies erlaubt ihm die erneute Produktion, die Lieferung von Ware und wiederum ein Einkommen.

Eine so genannte Geldwirtschaft entsteht allerdings überhaupt nur in einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel wenigen, scheinbar unabhängig voneinander Produzierenden gehören, der Rest zur Lohnarbeit für die Eigentümer dieser Mittel gezwungen ist, und der Stoffwechsel zwischen den Menschen deshalb indirekt, nicht durch Absprachen vermittelt wird. Das Geld als eine dominierende soziale Form ist also kein neutrales Medium zur Erleichterung von Tausch, sondern Resultat einer spezifischen Herrschaftsstruktur. Systematischer Warentausch existiert nur in einer Geldwirtschaft. Und das Geld ist ebenso Kapital für die Eigentümer wie es das notwendige Mittel für die Lebenshaltung der Lohnabhängigen und der kleinbäuerlichen Produzenten darstellt.

Die bestimmende Dynamik im Kapitalismus ist daher nicht W-G-W, sondern G-W-G'. G' bezeichnet dabei den Geldvorschuss der Produktion, der sich vermehrt hat, also einen Profit abwirft. Dieser Kapitalzyklus bestimmt den Konsumzyklus, den Bäuerinnen bzw. Bauern und die Konsument*innen der CSA zwischen sich vollziehen. Dies deshalb, weil der Konsumzyklus wie skizziert nicht aus sich heraus existiert, sondern ein vom Kapitalzyklus abhängiges Moment darstellt. Freilich, der CSA-Betrieb wirtschaftet, solange er keine Lohnarbeit einsetzt, nicht-kapitalistisch - denn Lohnarbeit ist das für den Kapitalismus charakteristische Produktionsverhältnis. Dennoch bleibt er Teil einer kapitalistischen Wirtschaft. Auch die scheinbar traditionelle kleinbäuerliche Landwirtschaft ist geschichtlich nur als Element einer kapitalistischen Wirtschaft zu verstehen. Was heute traditionell wirkt, gehört genauso zur Moderne wie das fabrikmäßig Moderne.

Solange ein Hof Produktionsmittel kauft und eventuell sogar Pacht bezahlt, bleibt er vom Kapitalzyklus abhängig und damit von den Krisen und Ungleichheiten des Kapitalismus. Dies gilt auch für die Konsumierenden, die ihre Geldmittel zur Unterstützung der CSA mit Lohnarbeit bzw. prekärer so genannter Selbstständigkeit erzielen müssen. Oder sie profitieren im seltenen Fall selbst von der Arbeit Anderer, wenn sie Unternehmer sind. Festzuhalten ist: Im Gesamtzusammenhang der Marktwirtschaft zählt Solidarität grundsätzlich nichts. Jeder Versuch, den Markt zugunsten von Kooperation und Solidarität zurückzudrängen, stößt daher auf viele Hindernisse. Dennoch ist genau das im Anspruch der Solidarischen Landwirtschaft formuliert.

Eine realpolitische Strategie Solidarischer Landwirtschaft in Mitteleuropa

Wenn Initiativen für eine Solidarische Landwirtschaft perspektivisch dahin kommen sollen, den Warentausch zwischen Konsumierenden und Produzierenden durch Kooperation zu ersetzen, so läuft dies zuerst einmal auf eine Vergemeinschaftung der Produktionsmittel hinaus; im Unterschied zu einer Kollektivierung in größerem Maßstab, wenn man eine solche Strategie allein von den bestehenden Projekten der CSA her denken will. Die Vergemeinschaftung muss Hof, Maschinen, Betriebsmittel und Boden umfassen. Für konkrete Ansatzpunkte einer solchen Vergemeinschaftung gilt es zunächst einmal die sozialen Kräfteverhältnisse zu betrachten, die in einer CSA wirken.

Führen wir uns dazu die Struktur der Beziehung in einer CSA nochmals vor Augen: In der heute idealtypischen Form der CSA spielt de facto die Solidarität der Konsumierenden mit den Produzierenden die Hauptrolle. Die Konsumierenden verzichten auf Kostenvorteile, tragen eigene Arbeit bei, übernehmen einen Teil des Betriebsrisikos und manchmal Verwaltungsarbeiten. Die Produzierenden erfahren dadurch Erleichterungen, zumindest sofern sie tatsächlich auch Aufgaben an die CSA abgeben, was nicht alle Höfe gerne tun.

Dies bedeutet zweierlei: Erstens schränkt es den Kreis der CSA-Teilhaber*innen tendenziell auf privilegierte Bevölkerungsgruppen ein. Zwar bleibt noch auszuloten, welches Preisniveau ein CSA-Betrieb erreichen kann, wenn er auf gutem Standort technisch optimal wirtschaftet. Schließlich fällt der Zwischenhandel komplett aus. Im Schnitt sind die Lebensmittelpreise in der jüngeren Vergangenheit gestiegen und die Einkommen der Bauern und Bäuerinnen gesunken. Zwischen diesen beiden Tendenzen hat sich eine Schere aufgetan, die den wachsenden Profit des Zwischenhandels speist. Im Grunde sollte es möglich sein, sofern der Betrieb auf herrschendem Produktivitätsniveau wirtschaftet, die Preise der Lebensmittel in einer CSA zumindest auf Supermarktniveau zu halten und zugleich den Bäuerinnen und Bauern ein höheres Einkommen zu ermöglichen. In der Praxis haben jedoch vor allem unterproduktive Betriebe die größten ökonomischen Schwierigkeiten und damit auch den stärksten Anreiz sich einer CSA zu öffnen. Die potenzielle Möglichkeit bleibt dann wohl zumeist Theorie.

Zweitens bedeutet die Struktur einer CSA, dass der Hof an marktwirtschaftlich definierter Selbstständigkeit einbüßt und sich potenziell mehr in soziale Beziehungen einbettet. Er wird zu einem wichtigen Teil von den Konsumierenden aktiv unterstützt[4], noch dazu unter gewissem Verzicht auf bestimmte Vorteile, die der Markt ihnen bieten würde. Diese Entwicklung nun ist möglicherweise politisch für eine Solidarische Landwirtschaft relevant. Denn mit der Abhängigkeit des Hofes von direkten sozialen Beziehungen wächst auch die Möglichkeit der Mitsprache und der gemeinsamen Gestaltung.

Das Kräfteverhältnis zwischen Lohnabhängigen und den Bäuerinnen bzw. Bauern, das sich ansonsten hochgradig vermittelt über den Markt und die vielen darin involvierten Akteure ausdrückt, kommt hier in direkte Konfrontation. Als konfrontativ versteht sich CSA in der Tat nicht, die demgegenüber ja gerade Kooperation und Solidarität betont und lebt. Doch ist diese Kooperation wie zu sehen war durch den Markt gebrochen, und die Solidarität durch die Einbindung von Produzent wie Konsumentin in den Kapitalzyklus arg limitiert. Nüchtern betrachtet bleiben deshalb auch CSAs vorerst Teil des Machtverhältnisses zwischen diesen beiden sozialen Klassen, auch wenn davon abgegangen werden soll.

Dieses Machtverhältnis war lange Zeit nicht spürbar, ist aber manchen noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung. Damals waren Nahrungsmittel teils nur zu Wucherpreisen, gegen Naturalien oder Arbeitsleistung in der Art von Knechtschaft zu haben. In einer Situation sich verschärfender Krise wird die Verfügung über Land und andere agrarische Produktionsmittel wieder wichtiger werden. In Ländern wie Griechenland ist dies längst für nicht wenige eine Überlebensfrage. Wer über Land verfügt, und dazu über die Mittel und das Wissen selbst Nahrung zu produzieren, entgeht dem Hunger. Wer den Job verliert und das Pech hat in der Stadt zu leben, ist davon jedoch nur allzu oft bedroht.

Die alleinige Verfügungsmacht der Höfe über ihre Produktionsmittel nimmt in dem Maße potenziell ab, als ihre Produktion in der CSA nun ersichtlich von der Mithilfe und der Subvention durch die Konsumierenden abhängt. Unter gewissen Voraussetzungen könnte diese strukturell neue Situation dazu führen, dass Konsumierende mehr Eingriffsrecht und Teilhabe einfordern. Ökonomisch wären sie dazu ähnlich legitimiert wie als Lohnabhängige in ihren Betrieben oder Aktionär*innen in ihren Aktiengesellschaften. Ohne diese grundverschiedenen Rollen hier gleichsetzen zu wollen: was sich darin ausdrückt ist die materielle Fundierung von demokratischer Mitbestimmung. Selbstverständlich kann diese Möglichkeit auch ungenutzt bleiben, wie die Lohnabhängigen in der Regel illustrieren.

Keinesfalls sollte man sich über die bei vielen, vermutlich den meisten Bäuerinnen und Bauern fest verankerte Ideologie der Selbstständigkeit hinwegtäuschen. Unter kapitalistischen Bedingungen gilt die Bäuerin geradezu als paradigmatische Kleinunternehmerin und versteht sich zumeist auch so. Der eigene Hof ist ja in der Tat die materielle Basis einer gewissen Autonomie. Viele Bauern fühlen sich daher heute auf den Status von Subventionsempfängerinnen wider Willen reduziert. Das politische Ziel vieler Kleinbäuerinnen und -bauern, über den Preis der eigenen Produkte ihren Lebensunterhalt zu erzielen, das heißt auf Subventionen zu verzichten, drückt neben anderen Motiven wohl auch den Wunsch aus, eigenständig und ehrlich, sozusagen von eigener Hände Arbeit leben zu können. Die Subvention wird als künstlicher Eingriff erlebt, der Preis solle demgegenüber die Wertschätzung gegenüber dem Produkt ausdrücken und irgendwie wahr sein.

Es wäre möglich, dass die CSA diese Illusion in zweierlei Hinsicht aufweicht, womit sie zur Weiterentwicklung Solidarischer Landwirtschaft beitragen kann: Sie zeigt praktisch die Abhängigkeit nicht nur des Konsumenten von der Produzentin, sondern auch die Abhängigkeit des Betriebs von der Solidarität der Konsumierenden. Dies unterminiert die Illusion der selbstständigen Produktion, die eine hegemoniale Vorstellung im Kapitalismus ist und ihn ideologisch festigt. Es ist zudem schwer einzusehen, warum gerade die Erde einer kleinen Gruppe von Menschen oder gar ein paar Stiftungen gehören soll, die selbst nicht von allen Menschen, sondern von Anleger*innen getragen oder gebildet werden. Zwar sind die Kleinbäuerinnen und -bauern und ihr Grundbesitz angesichts von Kirche, Staat und Großgrundeigentum sicher der geringere Faktor. Dennoch halten auch sie die Hegemonie des Privateigentums mit aufrecht, die Ansicht also, dass das so seine Richtigkeit hat.

Diese Position betrifft das politische Verhältnis zur Kleinbäuerlichkeit. Dieses Verhältnis muss sich in Mitteleuropa deutlich von zum Beispiel Afrika unterscheiden. Dort herrscht zumeist (differenzierter) kleinbäuerlicher Besitz vor, jedenfalls betreibt der bei weitem überwiegende Teil der Bevölkerung Landwirtschaft zur Subsistenz. Unter solchen Bedingungen unterstützt die Stärkung von kleinbäuerlicher Produktion und dörflicher Kollektivität unmittelbar demokratische Verhältnisse und das Recht auf Nahrung, weil fast alle auch Kleinbäuerinnen und -bauern sind. Das ist im globalen Norden mit seiner verschwindend kleinen Zahl von Bauern und Bäuerinnen völlig anders. Die Stärkung kleinbäuerlicher Produktion hat hier nicht notwendig und als solche gar noch nicht mit Demokratisierung, gesellschaftlicher Gestaltung und dem Recht auf Nahrung zu tun, wie es etwa häufig mit der Perspektive der Ernährungssouveränität verbunden wird.

Freilich gehört noch Weiteres zu einem Prozess Solidarischer Landwirtschaft, an erster Stelle eine Antwort auf die Frage, wie Menschen zu CSA-Nahrungsmitteln kommen, die nicht über Zeit und Geld verfügen. Viele arm Gemachte leiden unter einem drastischen Mangel an Beidem. Die notwendige Antwort lässt sich nicht einfach auf die klassische Forderung nach höheren Löhnen reduzieren. Diese Forderung ist zwar in gewissem Sinne nach wie vor richtig. Sie setzt jedoch gerade eine vergrößerte Autonomie der Lohnabhängigen voraus. Sich auch teilweise unabhängig vom Kapital reproduzieren zu können ist zum Beispiel eine Voraussetzung um wiederkehrende und langfristige Streiks durchfechten zu können.

In Hinblick auf die notwendige Alternative zum kapitalistischen System insgesamt greifen Lohnforderungen zu kurz, weil Löhne das Kapital voraussetzen. Die Entwicklung Solidarischer Landwirtschaft müsste also vielmehr mit der Entwicklung von Aneignungskämpfen der Lohnabhängigen zusammengedacht und auch praktisch zusammengebracht werden. Eine Losung in der Art von "dann müssen die Konsument*innen eben höhere Löhne fordern" reicht nicht, um der Benachteiligung bestimmter auf Lebensmittel angewiesenen Gruppen entgegenzutreten und diese gleichberechtigt in Solidarische Landwirtschaft einzubinden.

Eine sukzessive vergrößerte Mitsprache von CSA-Konsumierenden im Betrieb und eine Koppelung mit Initiativen der Überführung von CSA-Flächen in Gemeineigentum, das auf der Basis sozialer Gleichheit und jenseits repräsentativer Strukturen verwaltet werden müsste, sind noch nicht alle Komponenten einer Strategie Solidarischer Landwirtschaft in Verhältnissen wie in Österreich.

Die dritte Komponente ist davon relativ unabhängig, würde jedoch erst im Zusammenspiel mit den beiden zuvor genannten ihre größte Wirkung entfalten: der Aufbau von Kooperativen im Vorleistungsbereich der landwirtschaftlichen Betriebe. Eine solche Bewegung setzt eine schon große Zahl von CSA-Betrieben und entsprechendes politisches Bewusstsein sowohl bei den Produzenten als auch bei den Konsumentinnen voraus. Mit ziemlicher Sicherheit müsste sie auch eine Reihe juristischer Hindernisse bewältigen, die der Staat der kooperativen Selbstorganisation jenseits der verrosteten und konservativ-hierarchischen Genossenschaftsstrukturen entgegensetzt, wie sie etwa der Österreichische Genossenschaftsverband und - noch krasser - der Raiffeisenverband verkörpern.

Unmöglich wäre eine solche Entwicklung jedoch nicht. Synthetische Düngemittel oder Pestizide, so sie zum Einsatz kommen sollen, sind schwer in Kooperativen herzustellen, können aber in Einkaufsgenossenschaften bezogen werden. Saatgut könnte von den Betrieben in sinnvoller Arbeitsteilung produziert und ohne monetär vermittelten Tausch wechselseitig weitergegeben werden. Dies wäre ein zentrales Element einer Gegenbewegung zur Einhegung der Gemeingüter durch den Kapitalismus und wird zum Beispiel von Jack Kloppenburg im Konzept der Open Source Seeds angesprochen[5]. Denkbar wäre auch, die Ergebnisse der Initiative Open Source Ecology[6] oder von Farmhack[7] auf ihre Anwendbarkeit in der Praxis zu befragen. Sollte die lokale Herstellung von einfachen landwirtschaftlichen Maschinen wirklich in großem Maßstab möglich sein, wie die Open Source Ecology glaubt, so wären auch kooperative Maschinenfabriken in Reichweite.

Die Auflösung der Illusion der Selbstständigkeit der Produzierenden bietet unter der Voraussetzung von mehr substanzieller Mitsprache der Konsumierenden noch eine weitere Perspektive. Die Praxis der CSA könnte auch zur eigentlich naheliegende Frage inspirieren, warum nur auf der Ebene des Einzelbetriebs eine Planung der Produktion im Voraus erfolgt. Solange man eine gewisse Rolle von Marktverhältnissen unterstellen will, führt dies auch zur Frage, warum nur die einzelne CSA auf sich gestellt eine Vorfinanzierung bewerkstelligen soll; vor allem, wenn man die oben angesprochenen Risiken für die Konsumierenden bedenkt. Eine Kooperation zwischen CSAs, wie sie sich etwa im Rahmen der französischen AMAPs[8] zu entwickeln scheint, würde auch eine praktische Antwort auf diese Frage erlauben. Gerade bei Lebensmitteln wäre es sogar leicht möglich, die Jahresproduktion einer ganzen Region im Voraus zu planen, ausgehend von den Bedürfnissen der Konsumierenden.

Solche Fragen und daraus folgende Antworten setzen vermutlich eines voraus: dass Bedürfnisse nach der persönlichen Verbindung mit einem bestimmten Betrieb, die wohl häufig, neben anderen Gründen, zur Teilnahme in CSA-Projekten motivieren, zugunsten gesamtgesellschaftlich sinnvoller Kooperation in anderer Form Erfüllung finden als in einer Erweiterung der Selbstständigkeitsillusion durch parzielle Hereinnahme einer Gruppe von Konsumierenden in das Betriebsgeschehen; oder in einer paternalistischen bloßen Teilhabe eines Anlegers am Betrieb, wie eine Studie von Demeter es als Perspektive beschreibt[9].

Anleihen könnte eine solche Bewegung am teilweise weitreichenden Genossenschaftswesen nach der Zwischenkriegszeit nehmen. Damals wie heute steht ein Klassenbündnis zwischen Bäuerinnenschaft und Lohnabhängigen auf der Agenda. Es müsste zu einer Aufhebung dieser Klassen, das heißt des monetär zwischen ihnen vermittelten Tausches sowie der damit gesetzten Eigentumsverhältnisse und ungleichen Abhängigkeitsverhältnisse führen. Ein solches Bündnis zwischen Lohnabhängigen und Bäuerinnenschaft jedenfalls würde auf die tendenzielle Aufhebung des strukturellen Konflikts zwischen diesen Klassen abzielen, und damit auf die Aufhebung dieser Klassen selbst. Vielleicht könnte dies unter mitteleuropäischen Verhältnissen von einem weiterentwickelten CSA-Ansatz mit seiner oben skizzierten Potenz der stärkeren kooperativen Verschränkung von Produzierenden und Konsumierenden ausgehen. Ebenso wichtig wären gemeinsam entwickelte und vertretene Forderungen gegen Staat und Kapital.



Anmerkungen

[1] www.ochsenherz.at
[2] www.streifzuege.org
[3] www.bodenfreikauf.wordpress.com
[4] und zwar im Unterschied zur Anlage von Kapital wie im Modell der Demeter-Studie
[5] www.grain.org
[6] www.opensourceecology.org
[7] www.farmhack.net
[8] Association pour le maintien d'une agriculture paysanne (Vereinigung zum Erhalt einer bäuerlichen Landwirtschaft)
[9] www.demeter.de

*

Robert Foltin:

Geschichtsphilosophie und soziale Bewegungen

Ich habe ein Buch über die Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich geschrieben (Und wir bewegen uns doch 2004, zwischen 1968 und 2000) und eine Fortsetzung davon (Und wir bewegen uns noch, 2011). Auch in meinen anderen Texten nehme ich Bewegungen und Entwicklungen als Beispiele um die Veränderungen des Kapitalismus zu beschreiben: eine Einführung in den so genannten Postoperaismus (2006, gemeinsam mit Martin Birkner) und diese Theorie aus einem queer-feministischen Blickwinkel (Die Körper der Multitude, 2010). So werde ich manchmal in Schubladen gesteckt, mit denen ich gar nicht glücklich bin wie "Sozialwissenschaftler" oder "Bewegungsforscher"[1]. Mit diesem Text will ich meine Methode und deren philosophische Grundlagen offenlegen. In den historischen Beschreibungen beziehe ich mich auf den "Postoperaismus", wie er in Empire, Multitude und CommonWealth von Michael Hardt und Toni Negri dargelegt wurde. Ich zitiere auch gerne eine Reihe von Denker_innen, die als "poststrukturalistisch" gelten wie Judith Butler, Michel Foucault oder auch Gilles Deleuze und Felix Guattari[2]. In meiner Herangehensweise bin ich trotzdem von Georg Friedrich Wilhelm Hegel beeinflusst - oder besser, einer materialistischen Interpretation von Hegel, die sich praktisch nie in direkten Zitaten ausdrückt, aber implizit immer einfließt[3].

Einleitung

Hegel war der herrschende Staatsphilosoph, der begründete, warum der preußische Staat (oder die christliche Religion in seiner reformatorischen Ausprägung) das zu erreichende Ziel seiner philosophischen Anstrengungen ist. Es gibt allerdings eine linke, subversive Interpretation, die als Ziel nicht den bestehenden Staat, das herrschende System (jetzt das "Empire") erkennt, sondern revolutionäre Umwälzungen ins Zentrum stellt. Hegel beschreibt eine dialektische Entwicklung mit unterschiedlichen Stadien des Weltgeistes, der im Allgemeinen sein Ziel findet, das ist der Staat oder die Religion[4]. Jedes erreichte Ziel ist aber wieder durchzogen von neuen Widersprüchen und Auseinandersetzungen. Bei mir ist die Gegenwart der Ausgangspunkt und das Ziel, und zwar die aktuelle, zu verändernde Situation, nicht wie bei Hegel das (vor)herrschende System.

Mein Blickwinkel ist der revolutionäre Hegel der Phänomenologie des Geistes oder besser, einer revolutionären Interpretation des jungen Hegel. Hegelphilolog_innen wären wahrscheinlich über meine Interpretation empört, aber ich befinde mich in guter Gesellschaft, wie etwa von Alexandre Kojéve (1975).

In Kojéves Interpretation steht die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft im Zentrum (Hegel 1986, S. 145ff). Selbstbewusstsein kann sich nur entwickeln mit einem anderen Selbstbewusstsein, von dem die Anerkennung kommt. Jedes Bewusstsein hat eine Begierde, diese Begierde wird nur zum befriedigten Selbstbewusstsein, wenn es mit einem anderen Selbstbewusstsein auf Leben und Tod kämpft. Der Herr führt diesen Kampf bis zum Ende, während der Knecht seine Begierde hemmt und sich dem Herrn unterwirft. Der Herr kann aber keine Befriedigung finden und bleibt eine "existentielle Sackgasse" (Kojéve 1975, S. 36, Hegel 1986, S. 152), weil er (sic) den Knecht nicht als Selbstbewusstsein anerkennt, sondern nur als Ding. Der Knecht bildet aber die Natur um durch Arbeit, nicht für seine eigene Begierde, sondern für die des Herrn. In der Arbeit, in seinem Werk erkennt er seine Fähigkeit, die Welt zu ändern. An diesem Punkt bricht die Herr-Knecht-Dialektik ab und in den folgenden Abschnitten kommt das knechtische Bewusstsein als "unglückliches Bewusstsein", das Christentum zu sich selbst. Das revolutionäre Moment, das sich der Knecht an Stelle des Herrn setzt und durch Kampf und Anerkennung zum Selbstbewusstsein kommt, entwickelt sich erst im Laufe der weiteren Phänomenologie (Zur Herr-Knecht-Dialektik vgl. auch Foltin 2002, S. 41f, A.M. 2012).

Zentral in diesem Abschnitt sind der Kampf und die Arbeit. Unschwer lässt sich eine marxistische Lesart hinein interpretieren, dass das Entscheidende der Klassenkampf ist. Die Betonung des Klassenkampfes ist ein zentraler Aspekt des so genannten Operaismus. Die Welt, die Geschichte des Kapitalismus wird vom Blickwinkel des Kampfes, des Klassenkampfes und der sozialen Bewegungen betrachtet. Dass der revolutionäre Blickwinkel auch ein wissenschaftlicher Blickwinkel sein kann, will ich im Weiteren zeigen, auch in dem Sinne als Texte in ihrer Interpretation sowohl abhängig sind von den gesellschaftlichen Verhältnissen, aber auch Teil der möglichen Veränderungen. Dass die Geschichte selbst eng mit dem Diskurs über Geschichte verknüpft ist.

Erkenntnis

Der erkennende Blick ist vorerst die völlige Ungewissheit über das, was ist. Warum können wir erkennen, was ein Tisch ist? In Hegels "Phänomenologie des Geistes" (Hegel 1986, 82ff) wird die sinnliche Gewissheit diskutiert. Ich sehe den Tisch, dann drehe ich mich weg (Nicht-Tisch), und sehe ihn nicht mehr. Die Negation ist das Tun, das Handeln. Ich kann aber darüber reflektieren, ich kann darüber sprechen und weiß, dass es ein Tisch ist. Der Tisch ist im Wissen und in der Sprache aufgehoben (erhalten, zerstört, auf eine andere Ebene, die Sprache gehoben). In der aktuellen Philosophie wird das als Linguistic Turn diskutiert - der Diskurs, die Sprache bestimmt die Wahrheit / Wirklichkeit. Was weiter in diesem erkenntnistheoretischen Akt angelegt ist, ist die Handlung. Nicht nur die Negation ist ein Tun, sondern auch die Verwendung der Sprache, die Reflexion ist Handeln. Die Hegelsche Philosophie ist eine Handlungsphilosophie[5].

Wieso ist der Tisch aber für unterschiedliche Menschen ein Tisch? Weil wir in sprachlichen und Wahrnehmungskonventionen leben und dadurch den Tisch als Tisch erkennen und bezeichnen. Es existiert zwar das handelnde Subjekt, aber es gibt etwas vorindividuelles, gesellschaftliches, vorgegebene Bedingungen, unter denen Individuen, Gruppen oder Gemeinschaften handeln können und müssen "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." (MEW 8, S. 115)

Um wieder einen Schritt zurück zu treten. Der Tisch bleibt ein Tisch, auch wenn ich ihn von verschiedenen Seiten betrachte und alle anderen Menschen (aber auch Tiere) nehmen die feste Materie wahr und erkennen etwas, das konventionell als "Tisch" bezeichnet wird. Wenn ich allerdings das "Wesen" oder die "Essenz" des Tisches erfassen will, muss ich mich auf Sprache oder zumindest Konventionen der Wahrnehmung zurückziehen. Das Allgemeine, bei Hegel der "Begriff", existiert nur in der Sprache. Ein Einwand gegen diese Überspitzung ist, dass es ein Außerhalb gibt, das unabhängig von gesellschaftlichen oder sprachlichen Konventionen existiert. Ein Stein fällt durch die Schwerkraft zu Boden, unabhängig von einer Wissenschaft, die feststellt, dass ein Stein zu Boden fällt. Es gibt physikalische Gesetzmäßigkeiten, die Masse der Erde bewirkt die Anziehung des Steines (Massen ziehen sich an). Diese Analyse ist aber wieder eine physikalisch/mathematische Verallgemeinerung. Mathematik ist eine Sprache. Dass die physikalischen Gesetze gelten, auch wenn sie niemand beachtet, wird dadurch wissenschaftlich begründet, dass die Beweise wiederholt werden können. Physiker_innen nehmen an, dass sich Massen überall anziehen, nicht nur auf der Erde, sondern auch im Andromeda-Nebel. Allerdings wird es schwierig sein, einen wiederholbaren Beweis dafür zu finden. Tatsächlich ist es nur eine unbewiesene, allerdings sehr starke These, dass die Schwerkraft auch an einem anderen Ort (und in einer anderen Zeit) gilt. Aber selbst diese physikalischen Wahrheiten veränderten sich, die Theorie der Gravitation wurde inzwischen von der Relativitätstheorie in Frage gestellt.

Wieder zurück auf die Erde, physikalisch/mathematische Konzepte sind einfach, so beschränkt in einer eventuellen Versuchsanordnung, dass sie unbezweifelbare Tatsachen zumindest für die Erde bieten. Bei komplexen wissenschaftlichen Phänomenen wird es schon schwieriger. Mathematik und Logik mit ihren Axiomen wurden geschaffen, um uneindeutige Wahrheiten möglichst zu vereindeutigen (was nicht immer gelingt). Empirische (Natur)wissenschaftler_innen schaffen jetzt Versuchsanordnungen, die jederzeit von anderen nachvollzogen werden können und dadurch die entsprechenden Erkenntnisse bestätigen können. Die Daten, die sich aus den empirischen Untersuchungen ergeben, hängen allerdings neuerlich von der Anordnung des Versuchskontextes, also von der Methode ab[6]. Die Vorgaben, die Methoden veränderten sich im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung.

Die Themen, die erforscht werden, sind von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig, konkret von den jeweiligen Schulen, die an den jeweiligen Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen existieren und gelehrt werden. Aber sogar die relativ konservativen Wissenschaftsapparate an den Universitäten verändern sich, angestoßen durch die sozialen Bewegungen. Haraway beschreibt, wie sich die Primatenforschung in den Jahrzehnten nach den 1960ern durch den Einfluss des Feminismus veränderte. Zuerst wurde der Blickwinkel auf bereits bestehende Untersuchungen geändert, es wurden neue Verhaltensweisen "gefunden", die scheinbar vorher übersehen wurden. Neue Primatenformen wurden untersucht, die andere Verhaltensweisen zeigten. Die vermeintliche männliche Dominanz bei Primaten wurde in Frage gestellt. Damit wurde gezeigt, dass selbst naturwissenschaftliche Ergebnisse von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig sind (Haraway 1995, S. 123ff).

Spektakulär war die "Entdeckung" von Homosexualität im Tierreich (Bagemihl 2000), die bei fast allen Tierarten, bei manchen sogar dominant vorkommt, aber vorher immer als Ausnahme oder nicht repräsentativ gewertet und nicht weiter berücksichtigt wurde. Diese "Entdeckung" ist ganz offensichtlich ein Ergebnis der Emanzipationsbewegung der Schwulen und Lesben[7].

Veränderungen finden in der Wissenschaft normalerweise nur langsam statt. Es ist notwendig, vom herrschenden Forschungsstand auszugehen (sonst "verstehen" es die Mitforscher_innen nicht). Wenn einmal eine These aufgestellt wurde, kann sie zitiert werden. So ist jeder Fortschritt die Zitierung der vorherigen Ergebnisse, ergänzt durch eigene Thesen, die entweder theoretische Konzepte sind, oder durch empirische Untersuchungen gewonnen werden. Größere wissenschaftliche Revolutionen waren dabei immer mit Revolutionen im gesellschaftlichen Bereich verbunden. Das wurde durch direkten Einfluss der revolutionären Diskurse bewirkt, aber auch durch eine Verschiebung des Personals. Foucault (1971) beschreibt die Verschiebung der Denksysteme an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert von einer synchronen Sichtweise (tableau) zu einer diachronen, einer Entwicklung in der Zeit (Hegel würde darin erkennen, dass die "Zeit" der Begriff wird, vgl. Kojéve 1975, S. 90ff). Eine Reihe von wissenschaftlichen Revolutionen fanden in den 1950ern und 1960ern statt, in Wechselwirkung mit den Bewegungen vor und nach der "Weltrevolution" 1968 (Wallerstein 2002, S. 37). Um ein Beispiel aus einem Bereich zu nennen, den ich kenne, ist die Durchsetzung der generativen Grammatik im Sinne von Noam Chomsky, die ausdrücklich keine explizit politische oder gesellschaftskritische Bedeutung hat[8].

Gesellschaft / Geschichte

Wenn schon die Naturwissenschaften von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig sind, so gilt das erst recht für die Gesellschaftswissenschaften. Die "Versuchsanordnung" wird von den gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst, selten lässt sich eine wiederholbare, nachvollziehbare Anordnung herstellen. Gesellschaft verändert sich, ist ständig im Fluss. Eine neuerliche Forschungsanordnung stößt auf neue Bedingungen. Mit der Geschichte, dem, was vergangen ist, erscheint es einfacher. Wenn ich den selben Blickwinkel einnehme, dieselben Quellen, werde ich in der Geschichte zu den gleichen Ergebnissen kommen, aber mit dem Vorbehalt, dass die Geschichtsforscher_in Teil der Quellenlage wird und die Methode legen fest, was als Quelle anerkannt wird.

Als wissenschaftlicher Anspruch bleibt, dass die Methode transparent sein muss. Es gibt Versuche, objektiv zu sein, wenn durch "empirische Studien" die Daten so beschränkt werden, dass statistisch messbare Werte entstehen. So ist manche Bewegungsforschung das Sammeln von Daten, die Einordnung nach der Größe, ihre innere Struktur und Organisationsform, ihre institutionelle Wirkung (vgl. Rucht 1994). Dabei entsteht ein Bild über die Bewegungen, die eine Distanz suggeriert, die Daten werden sozusagen mit methodischen Stelzen angefasst. Sie sind richtig und wahr, aber hauptsächlich eine Bestätigung der Annahmen, die an die Methode gestellt wurden. In einer enzyklopädischen Aneinanderreihung sind sie oft langweilig. Und es beeinflusst das Bild, das die Wissenschaft auf die Bewegungen hat. Damit will ich nicht behaupten, dass in dieser Sammlung von Daten kein emanzipatorisches Interesse besteht und ich profitierte in meinen Arbeiten von solchen Texten, aber das Verhältnis ist und bleibt distanziert.

Dass es überhaupt so etwas wie eine Bewegungsforschung gibt und geben kann, liegt einerseits an der Existenz der "Neuen Sozialen Bewegungen" (NSB) in Abgrenzung zur Arbeiter_innenbewegung und Bewegungen, die ihren Ausdruck in politischen Parteien und Organisationen gefunden haben. Umgekehrt ist es so, dass es diese NSBs erst gibt, seit die Wissenschaft darüber schreibt. Allerdings gibt es Ökologiebewegungen oder Frauenbewegungen schon viel früher, sie wurden aber nicht als "neu" bezeichnet, sondern als Marginalie, die hinter den großen historischen Ereignissen zurücktreten mussten. Es waren die vielfältigen Revolten um und nach 1968, die sowohl die Gesellschaft wie auch die Wissenschaft veränderten. Eine Multitude tauchte auf, die die vereinheitlichenden Repräsentationen in Staat, Nation, Klasse oder Geschlecht in Frage stellten.

Die Aktivität der Bewegungen hat sozusagen eine neue Geschichte und eine neue Geschichtsschreibung hervorgebracht. Was mache ich als Historiker der NSB jetzt anders? Wo doch auch ich abhängig bin von der historischen Situation. Auch ich hätte wahrscheinlich vor einigen Jahrzehnten nicht über "soziale Bewegungen" geschrieben. Der Unterschied ist, dass meine Methode eine ist, die nicht so tut, als hätte ich mit meinen "Objekten" nichts zu tun. Sie ist eingebunden in die Bewegungen, in denen ich Aktivist war und bin. Ich möchte die Welt zeigen, wie sie ist, eine Wahrheit produzieren, die nachvollziehbar ist und die Fakten korrekt abbildet. Ich beziehe in der Beschreibung der Fakten Position, obwohl meine Texte gerade auch Teil eines herrschenden (oder besser vorherrschenden) Diskurses sind.

Die Methode ist die Wahrheit und die Methode ist Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Ungewissheit, das Bewusstsein von der Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Situation, die sich auch permanent verändert - aus meiner Sicht angestoßen durch die sozialen Bewegungen - diese Relativität von Wahrheit und Wissen macht es für mich möglich, poststrukturalistische Diskussionen ernst zu nehmen. Ich erkenne, dass ich als autonomes Subjekt nicht unbeeinflusst von der herrschenden Situation bin. Umgekehrt zeichne ich trotzdem ein Gesamtbild, gebe "Welterklärungen" aus meiner Perspektive, die ich als eine revolutionäre Perspektive verstehe. Das widerspricht poststrukturalistischen Annahmen[9].

Methode

Marxistischen Hegelinterpretationen wird gerne ein historischer Determinismus unterstellt. Die Teleologie, die Zielgerichtetheit wird (nicht von Marx selbst) mit geschichtlicher Gesetzmäßigkeit gleichgesetzt. Prominent war diese Position in der Sozialdemokratie, als sie noch revolutionär war. Vertreter_innen nahmen ein notwendiges historisches Ende des Kapitalismus an und sahen das als Bestätigung für die eigene Politik. Klassenkämpfe waren Beiwerk, die dem Kapitalismus, der als dem Untergang geweiht erachtet wurde, den Todesstoß versetzen müssen. Die logische Konsequenz war passives Abwarten[10].

Diese Teleologie ist keine Gesetzmäßigkeit, sondern der methodische Ausgangspunkt. Wenn ich etwas schreibe, gehe ich von der gegenwärtigen Situation aus und will dadurch etwas bewirken. Ich schreibe über die emanzipatorischen Bewegungen, um sie zur Geschichte zu machen. Ich gehe von der Zukunft aus, ich erhoffe und wünsche mir eine emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus, wende den Blick in die Vergangenheit, sammle und beschreibe die Fakten aus dieser Sicht und komme schließlich in der Gegenwart an. Auch wenn ich länger zurückliegende Ereignisse beschreibe, ist der Diskurs von der gegenwärtigen Situation, den gesellschaftlichen Bedingungen und vorherrschenden Theorien und Diskussionen beeinflusst, aber auch von meinen Wünschen nach emanzipatorischer Veränderung. Mein Ausgangspunkt ist die aktuell zerrissene Situation der Gegenwart mit einer Tendenz zur Revolution, die ich in der bisherigen Entwicklung angelegt sehe.

Aus den Ergebnissen meiner Untersuchungen, beeinflusst vom vorherrschenden Diskurs (in meiner Interpretation des hegelschen "Weltgeists") und von meinem Blickwinkel, kann ich nachträglich gewisse Gesetzmäßigkeiten feststellen, die eine beschränkte Voraussage auf zukünftige Entwicklungen erlaubten. Es kann aber auch anders sein. Ich versuche immer wieder, die revolutionären und emanzipatorischen Tendenzen heraus zu schälen, um sie zu fördern[11]. Das individuelle Tun von Personen oder Gruppen kann das Geschehen beeinflussen. Wenn es nicht so wäre, wäre es sinnlos, politisch und emanzipatorisch aktiv zu sein. Es würde genügen, zu warten, bis sich die Geschichte erfüllt.

Mit "Teleologie" wird auch die dialektische Methode verbunden. Das ist kein schematisches Bild, wie es gerne gemalt wird von "These - Antithese - Synthese", sondern wenn auf schematische Begrifflichkeiten zurückgegriffen wird, dann wäre das "Sein - Tun - Werden". Zuerst geht es um die Beschreibung der (herrschenden) Strukturen, gegen diese wenden sich die Subjekte, sowohl als Einzelpersonen / Individuen / Subjektivitäten, wie als Gruppen, Organisationen, soziale Felder etc. Sie negieren die herrschenden Strukturen[12]. Hier zeigt sich, dass ich (post)strukturalistische Autor_innen zitieren kann und trotzdem den hegelianischen Blickwinkel beibehalten: Die Beschreibung des "Seins" ist eine eigentlich strukturalistische Beschreibung, und die Subjektivitäten (die "Negativität" oder die "Differenz", das Andere) sind das Thema des Poststrukturalismus, sowohl bestimmt von den herrschenden Verhältnissen wie in ihrer Möglichkeit, die Welt zu verändern. Und der Begriff "Werden" drückt aus, dass das Ergebnis, das Ziel ein Prozess ist, eine Entwicklung, eine Dynamik. Ich beschreibe einen neuen Zustand, aber nicht als stabiles Ergebnis, was meine Position von der Hegelschen unterscheidet. Wenn ich von einem "Ende der Geschichte" spreche, dann nur als ein Ende in der aktuellen Gegenwart, nicht in eine Zukunft gedacht.

Einen Unterschied zwischen Poststrukturalismus und der Hegelschen Dialektik möchte ich allerdings aufmachen. Die Entwicklung der Gesellschaft hat eine Richtung, wenn auch nur als Tendenz. Es gibt eine Geschichte mit Fäden, denen sich folgen lässt, nicht nur das vermeintlich ziellose Rhizom von Deleuze / Guattari (1992, S. 13ff). Ich kann Geschichte und Geschichten schreiben[13]. In einem anderen Punkt widerspreche ich Hegel und nehme Position für den Poststrukturalismus. Historisch kommt Hegel immer wieder auf den "Begriff" zurück. In den politischen Diskussionen bei Holloway und Negri wird dieses Enden in einem Begriff in Frage gestellt: Die endgültige "Vermittlung", zwischen Begriff und Wirklichkeit, wird bei Hegel im preussischen Staat gefunden, bei Kojève (angeblich) in der stalinschen Sowjetunion und für viele revolutionäre Theoretiker_innen in der staatlichen Verfasstheit des "realen Sozialismus", Sozialdemokratie oder nationalen Befreiungsbewegungen. Aus der historischen Erfahrung heraus ist dieses Eine, in dem wir in einer neuerlichen Form der Unterdrückung und Ausbeutung landeten, nicht mehr akzeptabel. Holloway löst das Problem, indem er bei der Negation der Negation stehen bleibt (eine negative Dialektik), während Negri kein Ziel, keinen Begriff mehr in einem transzendenten Außerhalb findet (in einer Nation, in einem Staat, in einer Identität), sondern nur im Exodus, in der Verweigerung, in der Ablehnung der leeren und nur noch brutalen Schale der herrschenden Verfasstheit (vgl. Birkner/Foltin 2010, S. 182f.).

Ich würde wie Negri die "Vermittlung", die bei Hegel sogar als "Versöhnung" vorkommt, vermeiden, das Zusammenfallen von Ideal und Wirklichkeit, sondern neuerlich das Werden, den Prozess betonen. Es entsteht nicht der eine Begriff, sondern eine Vielfalt von Begriffen, die sich auch immer wieder verändern. Es ist die Kritik an einem entstehenden Allgemeinen zu Gunsten der Verwirklichung der Individuen gemeinsam mit Anderen. Viele Interpretationen von Hegel betonen das (verstaatlichte) Allgemeine[14]. Es ist das Unterschiedliche, das das Gemeinsame ausmacht, um es abstrakt philosophisch auszudrücken: die Differenzen sind der Begriff (darum auch die Multitude). Das Gemeinsame, die Kommunikation, das Leben mit anderen erzeugt die Individualität / Subjektivität im Gegensatz zu einer vereinheitlichten Repräsentation wie Staat, Volk oder anderen starren Identitäten etwa Rasse und Geschlecht. Mein Begriff ist nicht mehr ein Begriff, sondern viele (vgl. auch Virno 2005, S. 102ff).

Ich arbeite in meinen Arbeiten mit Texten, mit Diskursen. Die Kritik, dass diese Beschäftigung nicht materialistisch sei, geht ins Leere, denn ich kann nichts schreiben, ohne mich auf Texte zu beziehen. Auf der anderen Seite sind Begriffe und damit Formen von Texten gesellschaftlich äußerst wirkmächtig, sind wichtiger Teil der Konstitution von Gesellschaften. Symbole und Worte werden zu transzendenten Begründungen von Völkern und Nationen. Angeblich wird die Begründung von Staaten im Nationalismus gefunden, tatsächlich ist es umgekehrt, die Völker und Nationen werden als "imaginierte Gemeinschaften" zur Legitimation von Staaten produziert (vgl. Anderson 1998). Der größte Teil der wissenschaftlichen Geschichtsproduktion hatte das Ziel die Erzeugung und Bestätigung der Nationen (vgl. Hobsbawm 2004). Die bisherige Geschichtsschreibung als Teil des "Weltgeistes" war, bis auf Ausnahmen praktisch nur nationale Geschichtsschreibung. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bedingungen geändert, sowohl durch die vorherrschenden internationalen kapitalistischen Strukturen, als auch die dazu antagonistischen Bewegungen. Nationale Geschichtsschreibungen werden zurückgedrängt, wie Hobsbawm (2004, 209) feststellt: Nationalismus kann inzwischen historisch analysiert werden und wirkt nicht als unreflektierte Methode und Ziel im Hintergrund. Die Wirkmächtigkeit des Nationalismus fällt nicht zufällig mit dem Höhepunkt der idealistischen Philosophie zusammen. Hegel wird hier als der bürgerliche Philosoph sichtbar, während Marx als Sozialrevolutionär Internationalist sein musste. Im Kommunistischen Manifest sehen Marx und Engels den Nationalismus noch als untergeordnet gegenüber dem Internationalismus des Proletariats.

Es gibt auch keine Bewegungen ohne Textproduktion. Über sich nicht selbst repräsentierende Bewegungen wie etwa den Aufstand 2005 in den Banlieues von Paris wird von anderen geschrieben, von Polizeiprotokollen über die "bürgerliche" Geschichtsschreibung bis hin zu sympathisierenden Linken (vgl. Unsichtbares Komitee 2010 betont die Nicht-Repräsentiertheit dieses und anderer Aufstände). Aus diesem Grund habe ich kein Problem damit, Texte zu verwenden, wenn ich über aktuelle Bewegungen schreibe. Mein Materialismus drückt sich in der Beschreibung der realen Lebensverhältnisse aus und deren Beziehung zu den lebendigen Körpern und nicht in nationalistischer Symbolproduktion (mit der ich mich zwangsläufig beschäftigen muss, weil die historische Bedeutung zwar geringer, aber keineswegs verschwunden ist).

Beispiele

Meine "große Erzählung" über die sozialen Bewegungen in Österreich seit 1968 (Foltin 2004) ging von dem Ziel aus, die emanzipatorischen Bewegungen zu bestätigen und anzudeuten, dass es möglich ist, den Kapitalismus zu überwinden. Ich habe in der Vergangenheit begonnen und bin in der zerrissenen gegenwärtigen Situation angekommen. Das Buch ist ein Ergebnis meiner Beteiligung an den sozialen Bewegungen. Es will aber auch Teil der aktuellen Bewegungen sein. Nicht umsonst freute es mich, dass in Teilen der autonomen Szene der Wunsch entstand, mehr über die eigene Geschichte zu erfahren.[15] Ich zeigte, dass es eine Kontinuität gibt, dass die aktuellen Bewegungen nicht aus dem Nichts kommen, sondern eine Geschichte und Vorgeschichte haben. Und ich konnte Tendenzen für die Zukunft andeuten, die dazu motivieren sollen, sich weiter an emanzipatorischen Bewegungen zu beteiligen.

"Die Körper der Multitude" (Foltin 2010) könnte programmatisch den Titel Phänomenologie der Multitude tragen. Es gibt drei große Abschnitte, in "Produktive Körper" beschreibe ich das Sein als Verhältnis zwischen Natur und Körper, zwischen den Geschlechtern und in der geschlechtlichen Arbeitsteilung des Kapitalismus. In "Subjekt-Werden" werden die Subjektivitäten verhandelt, beginnend bei "großen" Subjekten wie die Arbeiter_innenklasse bis hin zu den vielen Feminismen. In der Folge geht es um die konstituierenden Elemente einer Multitude im Werden: das "Gemeinsame", Körperlichkeit und Wissen, Beziehungen und Kommunikation, dann die "Singularitäten" oder Subjektivitäten, die sich im Gemeinsam-Sein entwickeln und differenzieren und schließlich zur "Multitude" werden, die aus der Vielfältigkeit des Alltagslebens besteht, aus den Kämpfen gegen die (vor)herrschenden Strukturen und eine Geschichte erzeugen, die das herrschende System verändert. Die Widersprüche des herrschenden Systems provozieren neue (Klassen)Kämpfe, weil einerseits Autonomie, Vielfalt, Kreativität etc gefordert wird, aber immer wieder begrenzt und eingeschränkt.

Eine Ergänzung zur Bewertung von Personen ist noch notwendig. Ich zitiere solche und schreibe nicht nur anonyme Pamphlete. Rezipierte Autor_innen drücken eine bestimmte Form des Diskurses aus (des Weltgeistes, des general intellect). So war Frantz Fanon Sprecher und Repräsentant der antikolonialen Bewegungen, aber durch die Rezeption seiner Texte schuf er die Verbindung zu den revolutionären Bewegung in den Metropolen (Foltin 2001). So konnte er maßgeblich zur Analyse der entsprechenden Entwicklungen beitragen, die noch bis in heutige Bewegungen und Positionen hineinwirken[16]. Hardt/Negris Empire (2000) nahm maßgeblich Einfluss auf die globale Protestbewegung um 2000. Umgekehrt ist dieser "Postoperaismus" aus meiner Sicht die adäquate Sicht auf die herrschende Gesellschaft in ihrer dialektischen Beziehung zu den (nicht nur) revolutionären Bewegungen in der aktuellen Situation, ein Grund, diese und andere Texte, die durch Autor_innen vermittelt werden, zur Diskussion zu stellen.

Die Geschichte verändert sich

Meine Texte sind durch die aktuellen Bewegungen, an denen ich mich beteilige, beeinflusst, genauso wie von anderen Texten, die revolutionäre Ziele verfolgen. Umgekehrt beeinflussen soziale Bewegungen die Geschichte und die Geschichtsschreibung im Allgemeinen. So haben die antikolonialen Bewegungen, aber auch deren Fortsetzung im Antirassismus in den Metropolen des Westens die Geschichte verändert. Die bisher weitgehend ignorierte Haitianische Revolution um 1800 beginnt inzwischen Teil des revolutionären Kanons zu werden (neben der amerikanischen und der französischen Revolution). Sie wurde bisher nicht anerkannt, weil die Kritik des Eigentums nicht ins bürgerliche Denken passte. Das Eigentum rebellierte selbst, die revoltierenden Sklav_innen stellten die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Frage!

Gerade Hegel schreibt (nicht nur) über Afrika in den schlimmsten kolonialistischen Projektionen (vgl. Hegel 1986a, S. 120ff). Es ist offensichtlich, dass die von Hegel postulierte Universalgeschichte eine Geschichte Europas ist, ein eurozentristisches, rassistisches und imperialistisches Projekt. Aber gerade weil die Wahrheit abhängig ist von den entsprechenden Diskursen, dem "Weltgeist", ist es möglich, jetzt einen anderen Blick auf die Welt zu werfen, wie Buck-Morss in der Einleitung zu "Hegel und Haiti" klarlegt: "Gerade wegen seines Insistierens auf der zwangsläufigen gegenseitigen Abhängigkeit von Geschichte und Wahrheit bleibt Hegels Philosophie untrennbar verbunden mit jenen Verdrängungen, durch die der Referent, den wir Hegel nennen, historische Bedeutung erlangte." (Buck-Morss 2011, S. 33) Und jetzt kann endlich eine andere Interpretation gefunden werden. Hegel erwähnt die haitianische Revolution nie, aber Hegel erwähnt auch die französische Revolution nie, die unstrittig an einigen Abschnitten festgemacht werden kann. Buck-Morss weist nach, dass Hegel über diese Revolution diskutiert haben muss. Gerade in einer heutigen Sichtweise, nach den antikolonialen Bewegungen und der antirassistischen und postkolonialen Kritik sollte die Haitische Revolution als Verwirklichung der Universalgeschichte, wie sie Buck-Morss sieht, anerkannt werden. Es erscheint einleuchtend, dass die berühmte Herr-Knecht-Dialektik mehr mit einem Aufstand der Sklaven in Verbindung zu bringen ist als mit einer kapitalistischen Arbeiter_innenklasse (wenn mensch die Interpretation unbedingt historisch festmachen möchte). Hegel setzte sich zwar gegen die Sklaverei ein, allerdings nicht in einer schnellen, revolutionären Form, so bleibt er der bürgerliche Philosoph. "Die Sklaverei ist an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit, doch zu dieser muss er erst reif werden. Es ist also die allmähliche Abschaffung der Sklaverei etwas Angemesseneres und Richtigeres als ihre plötzliche Aufhebung" (Hegel 1986a, S. 129).

Buck-Morss Sichtweise wurde als Kritik an der westlichen, eurozentristischen und rassistischen Geschichtsschreibung gefeiert. Sie schlägt trotzdem eine Rückbesinnung auf eine Universalgeschichte vor, nicht im Sinne eines eurozentrischen oder androzentrischen Blickwinkels, sondern dass jede lokale, regionale oder partikulare Geschichte auch eine Weltgeschichte ist: so ist die Geschichte des Feminismus, der antikolonialen und antirassistischen Aktivitäten, die Schwulen- und Lesbenbewegung immer auch Weltgeschichte, revolutionär und reformistisch, aufbrechend und die Grenzen des Systems überschreitend oder in die herrschenden Strukturen eingefügt / vermittelt. Die Gemeinsamkeit ist keine, die sich an einzelnen Begriffen, z.B. "Österreich" oder wie Buck-Morss (S. 149) aufzählt, "England", "Europa", "die Aufklärung", "die Wirtschaft", "der Fortschritt", "die Zivilisation" festmachen lässt, bei denen sich von der jeweiligen historischen Situation her nur um Mythen handeln kann. Sondern eine Multitude, die revoltiert und auch eine Multitude von Begriffen. Fakten lassen sich ohne Begriffe nicht erklären, aber die unterschiedlichen Begriffe zeigen nur eine einzige Gemeinsamkeit, die Gemeinsamkeit der Differenz, das, was bei Hardt/Negri die Multitude ist, als Analysemethode, als Organisationsform der Bewegungen und als Perspektive einer zukünftigen Gesellschaft. Das verstehe ich als neuerliche Verbindung von Philosophie und Geschichtsschreibung. Wie "Empire", "Multitude" und "CommonWealth" sind auch meine Texte "große Erzählungen", sind Teil der Geschichte als Versuch das herrschende System emanzipatorisch zu überwinden.



Anmerkungen

[1] Der ursprüngliche Titel wäre "Geschichtsphilosophie statt Bewegungsforschung" gewesen, weil ich mich über empirizistische Beiträge zu sozialen Bewegungen geärgert habe. Aber ich schreibe mehr über meinen philosophischen Blickwinkel als über Bewegungsforschung.

[2] Hardt/Negri (2000 / 2004 / 2008), Butler (1991 / 1995), Foucault (1971 / 1977 / 1983), Deleuze/Guattari (1992).

[3] Ich habe mich sehr gefreut, als mein erstes Buch "Und wir bewegen uns doch" (Foltin 2004) in einer Rezension im TATblatt als große Erzählung bezeichnet wurde, das es ja auch ist, obwohl angeblich die großen Erzählungen in der Postmoderne verschwunden sind.

[4] Dass das Ziel nicht unbedingt der Staat sein muss, zeigen linkshegelianische Interpretationen wie etwa von Marx oder dem Anarchisten Max Stirner (1972).

[5] Die linguistische Pragmatik und die pragmatische Philosophie entsprangen auf mehr oder weniger reflektierte Art aus dieser Hegelschen Philosophie des Tuns.

[6] Ich gehe jetzt nicht auf die Veränderungen der Wissenschaft ein, wie sie in wissenschaftstheoretischen Untersuchungen behandelt werden (vgl. Singer 2005, S. 62ff). Dass vor dem 19. Jahrhundert ein Idealbild entscheidend war und später ein vermeintliches "objektives" außerhalb Stehen und beobachten der Verhältnisse.

[7] Die sich verändernde Geschichte der biologisch-medizinischen Definition von "Geschlecht" wird in Voß (2009) gezeigt. Nicht umsonst erscheinen solche Untersuchungen erst im neuen Jahrtausend, nach dem sichtbaren Auftreten der Transgenderbewegung und queeren Diskussionen.

[8] Chomsky wehrte sich dagegen, seine "Entdeckungen" als unpolitisch zu sehen, er positioniert sich durch seine Idee einer Universalgrammatik gegen jede nationalistische Definition durch die Sprache.

[9] Auch wenn es oft bestritten wird, auch viele poststrukturalistische Ansätze sind "Welterklärungen".

[10] Nicht umsonst bevorzugten viele sozialdemokratische Philosoph_innen weniger einen dynamisch-revolutionären Hegelmarxismus, sondern den Neokantianismus, dessen Schwerpunkt auf Bildung und Aufklärung der Individuen liegt und nicht in den (Klassen)Kämpfen.

[11] Sehr schön illustriert wird das bei Marx durch den Abschnitt "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate", wo sich in der Überschrift "Tendenz" und "Gesetz" zu widersprechen scheinen (MEW 25, S. 221ff).

[12] Nicht umsonst zeichnen sich Texte und Theorien der Autonomen dadurch aus, dass sie ein negatives Bild der herrschenden Verhältnisse zeichnen und so die Aktivitäten dagegen begründen.

[13] Auch in den Tausend Plateaus gibt es Geschichte und Geschichten, wenn auch mit unerwarteten Wendungen und niemals in einer dauerhaften Vermittlung. Das Buch kommt zu keinem Ende, es bleibt ein permanentes Werden im Hin und Her.

[14] Vgl. den Prozess der Individuationsprinzip, das Virno (2005, S. 102ff) an Hand von Simondon beschreibt. Auch Stirner hat diese Problematik auch in der Auseinandersetzung mit Marx aufgeworfen, wie A.M. (2012,S. 54ff) beschreibt: "Diese Polemik zwischen Max Stirner und dem (Links)Hegelianismus, der bekanntlich von Karl Marx in seiner Schrift »Die deutsche Ideologie« fortgesetzt wird, bildet im Grunde bis heute die andauernde Polemik zwischen dem (Staats)Kommunismus und dem Anarchismus; verkürzt gesagt jene Polemik, die darum streitet, ob die (soziale) Befreiung aus dem Herrschaftsverhältnis sich in der Aufhebung des Einzelnen zu Gunsten der Ermächtigung allgemeiner Strukturen und Zusammenhänge ereignet oder gerade durch die Bemächtigung des Einzelnen gegen eine Verallgemeinerung." (S. 57f)

[15] Ich sehe die Erinnerung an die Vergangenheit ambivalent. Einerseits akzeptiere ich die Argumente Negris, dass Vergessen besser ist, als sich an den Niederlagen der Vergangenheit abzuarbeiten. Ich selbst war manchmal froh, meine Erfahrungen nicht eingebracht zu haben, weil jüngere Menschen dadurch unbelastet zu Aktionen schritten. Ich wäre z.B. 2009 zu Beginn der damaligen Studierendenbewegung in Wien sicher gegen eine Besetzung des Audimax aufgetreten aufgrund von früheren Erfahrungen mit den Sektenstreitereien in diesem ungemütlichem dunklen Loch. Gerade diese Besetzung war aber schließlich entscheidend für die Breite und Ausbreitung der Bewegung.

[16] Fanon bezieht sich im antikolonialen Kampf ausdrücklich auf die Herr-Knecht-Dialektik (vgl. Foltin 2001)! Der Herr kann nicht die gesamte Welt erkennen, weil seine Vermittlung zur Natur nur über die Arbeit des Knechtes läuft. Im Gegensatz dazu kennt der Knecht alle Welten, die Welt des Herren genau so wie seine eigene der Arbeit. Und in der Geschichte wird der Knecht als der, der alles erfassen kann, schließlich über den Herrn triumphieren (Hegel 1986, S. 145ff, vgl. Kojéve 1975)



Literatur:

A.M. (2012): Das Ereignis der Befreiung in Hegels Phänomenologie des geistes oder: Was bedeutet noch einmal Herrschaft. In: grundrisse 43, S. 54-58.

Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein.

Bagemihl, Bruce (2000): Biological Exuberance: Animal Homosexuality and Natural Diversity. New York: St. Martins Press.

Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp (es 2623).

Butler Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Birkner, Martin / Foltin, Robert (2006): (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte & Gegenwart, Theorie & Praxis. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling Verlag. Theorie.org.

Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures.

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve.

Foltin Robert (2001): Frantz Fanon wiederlesen? grundrisse 1, S. 40-51.

Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien, edition grundrisse.

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Voß, Heinz-Jürgen (2010): Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld: transcript.

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Miriam Gil:

Simone de Beauvoir und ihr sozialgeschichtliches Sachbuch "Das andere Geschlecht"

Ein Versuch die Welt vom "Standpunkt der Frau" zu beschreiben.

Zum Begriff der "existenzialistischen Ethik" im Widerstreit mit katholischen Argumenten in einer seit Jahrtausenden von starren Vorurteilen geprägten Geschlechterbetrachtung.


Das Buch birgt zwei Bücher in sich: als erster Teil werden "Fakten und Mythen", als zweiter die "Gelebte Erfahrung" präsentiert. "Auf dem Weg zur Befreiung", das letzte Unterkapitel des zweiten Buches beginnt mit der Überschrift "Unabhängigkeit" und endet mit der Attestierung an die Welt sie hätte den Frauen ihre Möglichkeiten bisher unterdrückt - nun sei es jedoch "hohe Zeit" endlich auch ihnen all diese zu eröffnen. Thema ist nicht "Das Kapital", es ist nicht der flächendeckend durchgesetzte Ausschluss von den potentiellen "Waren" - es ist "das andere Geschlecht", und zwar auf solch konsequente Art und Weise, dass man sich schier verneigen möchte erkennt man an, wie belesen die Beauvoir doch gewesen. Bekanntermaßen hat die Simone viel Zeit mit Sartre verbracht und so "wie die Emanzipation des Weibes schlussendlich Hand in Hand mit der des Mannes einhergeht", so haben sie zusammen gearbeitet und gelebt, so gut sie es eben konnten und mit dem was sie eben so hatten, bis es dann irgendwann einmal vorbei war. Lesen kann man sie beide noch und auch eigenständige Urteile fällen, - dies ist ein Versuch sie dem interessierten Leser in ihrer Abwesenheit näherzubringen: wer Lust hat mehr zu erfahren der habe an dieser Stelle eine Empfehlung zu Füßen gelegt, wer es ganz genau wissen möchte der solle allerdings das Hauptwerk des alten Marx nicht beiseite legen. Auch er arbeitet in der Beauvoir und diese hat gearbeitet, obwohl sie scheinbar wahrscheinlich nie richtig durfte.


1. Existenzialistische Ethik und bewusste Voreingenommenheit - vom praktisch betroffen sein und eine Meinung haben

Simone de Beauvoir lässt ihr Werk "Das andere Geschlecht" mit einem Geständnis beginnen. Sie gibt zu, dass es bereits viel Literatur über den Feminismus gäbe, allerdings noch keine die das "Problem" bereits in befriedigendem Maße erleuchtet hätte. "Unermüdlich hat man zu beweisen versucht, dass die Frau überlegen, dass sie unterlegen oder dem Manne gleich sei; (...)." Sie stellt fest, dass das Thema der "Weiblichkeit" sowohl von Männern, als auch von den Frauen selbst stets irgendwie "befangen" betrachtet werden würde. "Die Männer sind Richter und Partei: ebenso die Frauen." An dieser Stelle ist jedoch noch nicht ganz klar von was genau diese "Befangenheit" zeugen solle. "Richter" sein impliziert wohl die Tatsache eine ausführende Gewalt hinter sich stehen zu haben, wahrscheinlich auch Träger von Entscheidungsmacht zu sein. Sie war eine Diva."Partei sein" könnte von "Partei ergreifen" herrühren, also von einer positiven Bezugnahme auf gesetzte Interessen und von dem Bestreben klare Überzeugungen nach vorheriger Auseinandersetzung haben zu können. "Das andere Geschlecht" nun soll ein Versuch sein "Klarheit" über den Gegenstand der "Frauenfrage" zu erlangen. In der Vergangenheit wäre dieser Versuch nur in theoretisch unproduktiven Streitereien, zum Beispiel zwischen Gläubigen und Atheisten, gemündet. Weiter schreibt Beauvoir in der ausführlichen Einleitung, dass es verlogen wäre, den Anspruch einer Objektivität an sein eigenes Schaffen zu richten, weil man damit gleichzeitig längst festgefahrene Prinzipien im gesellschaftlichem Umgang mit dem zu behandelndem Gegenstand "verschleiern" würde. Diese geforderte "Objektivität" läge also in einem Widerspruch zu der Tatsache, dass manche Standpunkte über Dinge gesamtgesellschaftlich eben nicht objektiv ausgehandelt worden wären: "Sicher aber ist es unmöglich, irgendein menschliches Problem ohne Voreingenommenheit zu behandeln: die Art der Fragestellung schon, der Blickpunkt, den man sich zu eigen macht, setzen eine gewisse Rangordnung der Interessen voraus;" Das interessante ist, dass an dieser Stelle diese "Voreingenommenheit" nicht als negativ oder gegenüber der Wahrheitsfindung gar abtrünnig bezeichnet wird. Im Gegenteil: die im Vorfeld der theoretischen Arbeit klar formulierten Interessen, "ethischer Hintergrund" genannt, würde davor bewahren in Verlegenheit zu geraten sich für aufgestellte Thesen und Formulierungen scheinbar ständig entschuldigen zu müssen. An dieser Stelle weist die Existenzialistin Beauvoir darauf hin, dass ein subjektiver Faktor bei der Formulierung von Meinungen letztlich doch ganz normal wäre. "Wenn wir einige Werke, die sich mit der Frau beschäftigen, an unserem geistigen Auge vorbeiziehen lassen, so sehen wir, dass am häufigsten der Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses dabei geltend gemacht wurde; tatsächlich aber versteht jeder darunter das Interesse der Gesellschaft, so wie er sie sich wünscht." An dieser Stelle wird der denkende Mensch als einer ernst genommen, der eben auch Ansprüche und Gedanken entwickelt die er für sich selbst für richtig hält und sich nicht in einem scheinbar allgemeinem Interesse an seinen Bedürfnissen verliert.


2. Transzendale Existenz als ihre Ausweitung in eine unendlich geöffnete Zukunft - vom denkenden und sich ständig weiterentwickelndem Menschen

Beauvoir nun würde es bei ihrer Arbeit um die Perspektive der "existenzialistischen Ethik" gehen: "Jedes Subjekt setzt sich konkret durch Entwürfe hindurch als eine Transzendenz; es erfüllt seine Freiheit nur in einem unaufhörlichen Übersteigen zu anderen Freiheiten, es gibt keine andere Rechtfertigung der gegenwärtigen Existenz als ihre Ausweitung in eine unendlich geöffnete Zukunft." Dieses Credo klingt so lebensbejahend, der denkende Mensch wird als in ständiger Bewegung und Entwicklung gesehen. Was könnte ihn schon aufhalten? Nur eine "Immanenz", eine starre Verhaftung in konstruierten Wesensmerkmalen. Einfacher ausgedrückt wird hier behauptet, der Mensch sei ein autonomes und selbstdenkendes Wesen, würde sich ständig selbst Ziele und Gedanken setzen, würde eben versuchen sich mit eigener und freien Urteilskraft in der Welt zurechtzufinden. Das Individuum also wäre im ständigen Begriff Urteile zu fällen, zu verwerfen, Standpunkte zu prüfen, anzunehmen oder zu kritisieren. Der Mensch wäre damit frei, würde sich mit seiner Intelligenz Übergänge zwischen seinen eigenen, und deswegen "wesentlichen" Interessen und der Gesellschaft, der Geschichte und dem Weltwissen schaffen. Die Frauen aber nun würde man versuchen "erstarren zu lassen", die Männer würden sie zu einer "Immanenz", also zur starren Unbeweglichkeit in der Welt samt ihrer Herausforderungen an das Individuum verurteilen: "Das Drama der Frau besteht in dem Konflikt zwischen dem fundamentalen Anspruch jedes Subjekts, das sich immer als das Wesentliche setzt, und den Anforderungen einer Situation, die sie als unwesentlich konstatiert." Die Männer hätten also ein festgefahrenes Urteil über die Frauen durchgesetzt: die Frauen wären "unwesentlich", es würde eigentlich gar nicht darauf ankommen wie eine Frau selbst gerne in der Welt aufgehen wollen würde. Die Freiheit der Frauen würde ganz klar beschränkt werden, weil für sie eine "weibliche Wirklichkeit" konstruiert worden wäre die es nachzuvollziehen und zu prüfen gelte. Simone de Beauvoir erklärt in der Einleitung zu "Das andere Geschlecht" sie interessiere sich für die "Möglichkeiten des Individuums", sie wolle die Frage klären wie man "Unabhängigkeit inmitten von Abhängigkeit" finden könne. An dieser Stelle wird von der französischen Philosophin der Anspruch formuliert scheinbar Widersprüchliches theoretisch aufzulösen zu wollen.


3. "Das andere Geschlecht" wider der Metaphysik von der Frau - von einer geforderten praktischen Teilhabe an der Welt

Das existenzialistische Credo von Beauvoirs Werk lautet: Der Mensch ist frei geboren. Ein Satz, der heute, in Zeiten der entmündigenden Psychologisierung und verschleiernden Mystifizierung der "Differenz" zwischen Geschlechtern, Rassen oder Kulturen - brennend aktuell ist." Friedrich Engels hatte schon in seinem "Anti-Dühring" Gedanken über eine umfassende und nicht irgendwie bornierte Art der Weltbetrachtung formuliert: "Wenn wir die Natur oder die Menschheitsgeschichte oder unsre eigene geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wie und wo es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht." Während Beauvoir in der Einleitung zum "anderen Geschlecht" die provokante Frage stellt: "Gibt es überhaupt Frauen?", schreibt Engels: "Für den Metaphysiker sind Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andere zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. [...] Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht." Die oben angeführte "provokante" Frage kann auch als Suggestivfrage gesehen werden: in dem Sinne, dass Beauvoir allen bisherigen Bestrebungen über die Frau zu schreiben unterstellt, einen metaphysischen Ansatz gewählt zu haben. Beauvoir will überhaupt nicht in Frage stellen, dass es Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt, sie will mit ihrem umfassenden Werk versuchen zu zeigen "wie sich die 'weibliche Wirklichkeit' konstituiert hat, warum die Frau als das 'Andere' definiert worden ist, und welche Folgen sich daraus ergeben." "Das andere Geschlecht" soll "vom Standpunkt der Frau aus die Welt beschreiben" und ein Verständnis für Schwierigkeiten erarbeiten, auf welche die Frau "stößt, sobald sie sich aus der ihr bis jetzt zugewiesenen Sphäre hinausbegeben und am menschlichen 'Mitsein' teilnehmen will." Beauvoir attestiert der Welt also den Ausschluss der Frauen. Diese ernst gemeinte "Voreingenommenheit" benennt sie, bevor sie das Buch beginnt und auf über 700 Seiten ausführlich darauf eingeht wie Geschichte, literarische und wissenschaftliche Vorbilder, aber auch gelebte Realität und Erfahrung diese Anfangsthese untermauern und mit dem Geschlecht der Frauen umgehen. "Diese Welt war und ist seit Jahrtausenden eine männerbeherrschte Welt; und der Aufbruch der Frauen vom Rand dieser Welt in ihr Zentrum ist ein langer, beschwerlicher, immer wieder unterbrochener Weg."


4. Die "poetische" Betrachtung der Frau als Entfremdung ihrer selbst - Schönheit der Frau als Mittel zur Flucht von politischer Realität

Im dritten Teil des ersten Buches mit Überschrift "Fakten und Mythen", im Kapitel "Breton oder die Poesie" wird auf eine ganz besondere Art der Mystifizierung von Erotik und Körperlichkeit eingegangen. Hier widmet sich Beauvoir einer von dem bekannten Theoretiker des Surrealismus ausgeführten "poetischen" Sicht auf die Frau.

Im Dudeneintrag findet man als Synonym für poetisch die Ausdrücke "gefühlvoll" und "beseelt". Anhand von mehreren Beispielen wird Breton überführt der Erotik zuzuschreiben sie wäre etwas sehr Geheimnisvolles und Mächtiges. Hier findet also eine Überhöhung von Erotik und Schönheit statt, an einer Stellung schreibt Breton sogar das Aufeinandertreffen mit einer Frau wäre für ihn eine "Offenbarung" gewesen von der er aus unerklärten Gründen schon gewusst hätte bevor er ihr gegenübersteht. "Ich wusste, dass die Offenbarung, die du mir brachtest, eine Offenbarung sei, noch bevor ich wusste, worin sie bestehen konnte." Es wird auf keine Inhalte dieser Offenbarung näher eingegangen, Beauvoir schreibt die Frau eine "Offenbarung" zu nennen heißt sie sei dann die personifizierte "Poesie". Dichterisch wird diejenige Frau beschrieben, welche mit einem einzigen Partner in einer untrennbaren Liebe aufgeht und für den Mann "eine vollkommene magnetische Durchdringung, über die nichts mehr Macht besitzt" ermöglichen würde. Diese unzerstörbare und gegenseitige Liebe ist absolut einmalig und soll dem Dichter also eine Sphäre eröffnen in der keinerlei im normalen Alltag geltenden Kräfte und Machtverhältnisse mehr wirken. "Da die Perspektive Bretons ausschließlich poetisch ist, wird die Frau darin auch ausschließlich als "Poesie", also als "Anderes" ins Auge gefasst." Der Dichter findet in der Poesie eine Art absolute Entgrenzung, geht mit Leib und Seele in ihr auf. Beauvoir nun stellt eine ganz einfache Gegenfrage: sie stellt die Frage, ob die Frau dies, in dieser wortgewaltigen Konstruktion ihrer selbst, als eine Art Medium der Welt zu entfliehen, denn ebenfalls tun würde. "Man möchte jedoch gerne wissen, ob auch für sie die Liebe Schlüssel der Welt, Offenbarung der Schönheit ist; wird auch sie diese Schönheit in ihrem Geliebten finden oder in ihrem eigenen Bilde, wird sie sie die dichterische Kraft in sich finden, durch die man die Poesie in Gestalt eines sichtbaren Wesens zu realisieren vermag, oder wird sie sich darauf beschränken, das Werk des Mannes zu würdigen?" Von männlicher Seite aus wird ein sehr detailliertes Bild der Frau gezeichnet, mit dem Anblick der weiblichen Schönheit hätte der Mann ein Tor hinaus aus der alltäglichen Welt erblickt. Man könnte auf den Gedanken kommen, der Mann sei ein getriebenes Wesen auf der Flucht und das Erscheinen einer schönen Frau nun, die ihn liebt, würde ihm Wege hinaus aus der realen Welt weisen. Man kennt folgende Fragestellung, beispielsweise aus dem Literaturunterricht: "Welche Attribute werden der Dame an dieser Stelle des Gedichtes zugesprochen?" Beauvoir nun fängt an diese scheinbar alltägliche Fragestellung ganz neu aufzurollen: Sie frägt sich einfach nur, ob die Frau das denn überhaupt auch wollen würde. Kann es denn nicht auch einschüchternd wirken Fähigkeiten zugesprochen zu bekommen, die es in der realen Welt, genauer eigenen Lebensrealität so überhaupt gar nicht gibt? Ist es nicht vielleicht sogar belastend durch das eigene äußere Erscheinungsbild und den eigenen Habitus lediglich als "Sprachrohr" des Dichters zu fungieren? Ein bloßes Mittel für das Interesse des Mannes zu sein, den Zustand vollkommener Entgrenzung von der irdischen Welt mit all seinen Schranken und Unannehmlichkeiten zu erreichen? Für Beauvoir drückt sich hier eine absolute Entrückung der Frau von ihrer selbst aus. Es wird von den selbstständig gesetzten Zielen der weiblichen Person vollkommen abgerückt, diese werden gar nicht zum Thema gemacht. Dafür aber wird sie mit zu Werten erhobenen Begrifflichkeiten gleichgesetzt: "Sie ist Wahrheit, Schönheit, Poesie, ist Alles: alles in der Gestalt des Anderen, Alles, nur nicht sie selbst." Sicherlich ist Breton nur ein Beispiel von vielen für diese mystifizierende Ausgestaltung eines starren Bildes vom weiblichen Geschlecht.


5. Mutterschaft und praktizierte bürgerliche Heuchelei - zur Geschichte von Schwangerschaftsabbrüchen : moralische Erziehung des Volkes

"Das andere Geschlecht" erschien 1949 erstmals in Frankreich, 1952 dann in Deutschland. Zu dieser Zeit gab es noch keine staatlich geregelte Fristenregelung in Sachen Schwangerschaftsabbruch. Es war noch nicht daran zu denken, dass staatlich geförderte Stellen sich für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Verhütungsmitteln einsetzen. Noch 1959 wurde in der Bundesrepublik Werbung für Kondome gemäß Gewerbeordnung § 41a verboten: "Mittel oder Gegenstände, die zur Verhütung der Empfängnis oder zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten dienen, dürfen in Werbeautomaten an öffentlichen Plätzen, Wegen und Straßen nicht feilgeboten werden." Das Kapitel "Mutterschaft" beginnt mit folgenden Worten: "In der Mutterschaft vollendet die Frau ihr physiologisches Schicksal. In ihr liegt ihre "natürliche" Berufung, da ihr ganzer Organismus auf die Fortpflanzung der Art ausgerichtet ist." Dieser so absolut anklingenden These wird jedoch sofort nachgesetzt "dass sich die menschliche Gesellschaft nie einfach mit der Natur abfindet." Das in den 1950er Jahren bestehende Risiko einer potentiellen Schwangerschaft war ohne einem gesicherten und unproblematischem Zugang zu Verhütungsmitteln viel höher als heutzutage. Beauvoir schreibt es gäbe, besonders in den Ländern in denen die empfängnisverhütende Methode noch mehr in den Anfängen steckt, eine starke "Wider-Natur", welche der Abtreibung zugesprochen werde. Davor werden Beispiele genannt die bezeugen, dass die Menschen schon seit längerer Zeit Methoden wie den "Coitus interruptus" und den Frauen als unangenehm erscheinende Vaginalspülungen anwenden um der Natur Herr zu werden und Schwangerschaften wissentlich ausschließen zu können. In Frankreich und Deutschland wurden Abtreibungen bis in die 70er Jahre hinein heimlich durchgeführt. "Das größte Problem wäre gewesen wenn Frauen ein uneheliches Kind bekommen hätten. Das war eine Schande, da hatten wir alle Angst davor, das durfte nicht passieren, da waren die Frauen 'unten' durch und die ganze Familie auch." Das sagt eine Frau in der Filmdokumentation: "Tabubruch: Wir haben abgetrieben. Das Ende des Schweigens" noch über ihre Jugend in den sechziger Jahren, also gut ein ganzes Jahrzehnt nach Veröffentlichung des "anderen Geschlechtes". Alice Schwarzer bezeichnet den Umgang mit der Verschreibung der Anti-Babypille noch im Jahr 1968 als "totale Entmündigung", weil man vor Erhalt des Rezeptes nachweisen musste das man verheiratet ist. Nur die allerwenigsten Gynäkologen wären bereit gewesen einer unverheirateten Frau die Pille zu verschreiben weil sie sich einfach die Freiheit nahmen ihren eigenen Moralvorstellungen höhere Gewichtung als den Anliegen der Patientinnen einzuräumen. Außerdem habe man sich Moralpredigen anhören müssen, denn wenn man die Pille verschrieben haben wollte war man sofort verdächtig ein "sexuell ausschweifendes" und "unzüchtiges" Leben zu führen. An genau dieser Stelle würde die Grundannahme der "existenzialistischen Ethik", wie in der Einleitung zum "anderen Geschlecht" formuliert und bereits oben erläutert eine ganz "starre Immanenz" sehen. Würde die Frau, also das Subjekt gegen dessen Interessen diese starre Immanenz aufrecht erhalten werden solle diese zu ihrem eigenen Interesse machen wäre sie nach Beauvoir moralisch zu verurteilen, dann würde sie einen Fehler begehen.


6. Das Recht auf Leben: Willkür und Entmündigung \ ökonomisch begründete Ängste von der göttlichen Allmächtigkeit und verschlossenen Himmelspforten

Die Feministinnen die in Deutschland in den 1970er Jahren gegen den Paragraph 218 auf die Straße gingen und sich öffentlich dazu bekannten schon einmal abgetrieben zu haben begaben sich in eine "freiwillige Illegalität" um Aufmerksamkeit zu erregen. Auch die Tatsache, dass sich eine Frau bis in die 70er Jahre hinein noch eine Erlaubnis vom Ehemann abholen musste wenn sie arbeiten gehen wollte und unter Umständen kein eigenes Bankkonto eröffnen durfte wird in der filmischen Dokumentation erwähnt. Alles in allem herrschten verschiedenste, auch ökonomisch begründete Ängste bezüglich des Risikos einer Schwangerschaft: das Recht des Embryos auf "Leben" wurde geschützt und gewährt indem man einen Abbruch gänzlich unter Strafe stellte. "Der Gedanke an sie [die ungewollte Schwangerschaft] zieht sich dort durch das Liebesleben der meisten Frauen." Beauvoir nun schreibt: "Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryo zu verteidigen, sich um die Kinder nicht mehr kümmert, sowie sie auf der Welt sind." Bis heute werden Familien zwar beobachtet, aber auch in der heutigen Zeit liest man von "Verwahrlosung" und ähnlichen schlimmen Dingen. Nun wird exakt auf die Argumentation der Katholiken eingegangen. In Deutschland haben die Konservativen mit Unterstützung der katholischen Kirche es ja sogar geschafft der Frauenbewegung einen herben Rückschlag zu erteilen indem sie dafür gesorgt haben, dass die Liberalisierung des Paragraphen 218 nach ersten Erfolgen wieder gekippt wurde." Die sittlichen Gründe gehen auf ein altes katholisches Argument zurück. Der Foetus habe eine Seele, der man das Paradies verschließt, wenn man ihn ungetauft beseitigt." Beauvoir geht darauf ein, dass die Kirche durchaus immer wieder zulässt, dass ungetaufte Seelen in den Himmel gelassen werden: "Es ist bemerkenswert, daß die Kirche bei Gelegenheit den Mord an ausgewachsenen Menschen gestattet: in Kriegen oder wenn es sich um Menschen handelt, die zum Tode verurteilt sind. Hier wird er nicht durch die Taufe erlöst. Aber zur Zeit der Kreuzzüge gegen die Ungläubigen wurden diese es ebensowenig, und zu ihrer Niedermetzelung wurde von oben herab gerufen. Die Opfer der Inquisition waren zweifelslos nicht alle im Zustand der Gnade, ebensowenig wie heutzutage der Verbrecher, der geköpft wird, und die Soldaten, die auf dem Schlachtfeld sterben." Beauvoir versucht nun die christlichen Dogmatiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und wirft ihnen vor, sich in die Angelegenheiten Gottes auf anmessende Weise einzumischen. Außerdem würde diese Unterbindung der göttlichen Allmächtigkeit ausgerechnet nur im Falle der Diskussion um das Recht auf einen selbstbestimmten Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch stattfinden: "In allen diesen Fällen stellt es die Kirche der Gnade Gottes anheim. Sie läßt es zu, daß der Mensch in seiner Hand nur ein Werkzeug ist und das Heil einer Seele zwischen ihr und Gott abspielt. Warum verbietet man dann Gott die Aufnahme einer embryonalen Seele in seinen Himmel?" Eine Antwort auf diese Frage kann man weiterführend nicht nachlesen.

Spanien und Portugal als Exempla - Am Ende ist es der Staat, der seinen Leuten sagt was sie zu tun und zu lassen haben

Sieht man sich heute die Berichterstattung aus Spanien und Portugal bezüglich der Abtreibungsdebatte an lässt sich der vorhandene Einfluss des Katholizismus auf die Lebensrealität der Leute nicht wegleugnen: für die strengen Katholiken ist Abtreibung gleich Mord, sozialistische und demokratische Bürgervertreter, aber auch die Faschisten bilden sich Meinungen, wollen mal orthodoxer, mal ungläubiger gegenüber dem bürgerlichen Rechtsapparat regulieren. Was noch für alle klar ist sei die Tatsache, dass sie regieren wollen und ihren Untertanen samt (potentieller) Leibesfrucht den Weg weisen wollen. Zu einem Herrscher gehört bekanntermaßen immer auch einer der sich beherrschen lässt. Diejenigen Frauen die abtreiben wollen werden zwar in diesem konkreten Falle nicht mehr unbedingt eine Staatsgrenze überwinden müssen, sie werden aber auf einen Arzt angewiesen sein der die kleine Operation durchführt, wollen sie das Ganze so schonend wie möglich hinter sich bringen und nicht selbst zu brachialen Werkzeugen wie Stricknadeln oder ähnlichem greifen. Am besten wäre es natürlich sie würden selbst wissen was sie wollen und begreifen, dass auch sie "nichts anderes zu verlieren haben als ihre Ketten".

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Simone de Beauvoir hat einmal gesagt: "Es ist richtig, glaube ich, dass das Denken von den gelebten Erfahrungen geleitet wird: das ist auf jeden Fall der Weg, den ich gegangen bin." Sie war eine Gelehrte und gleichzeitig auch eine politische Aktivistin. Wenngleich die immerwährende Rede von "Unterdrückung" und "Gewalt", dogmatischer Gemeinheit und dem Vorurteil auf Dauer bedrückend wirkt und Beauvoir kein Geheimnis daraus macht, den scheinbar ewigen Unterdrücker als "Mann" zu benennen, gibt es auch folgendes Zitat bezüglich der privaten Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau: "Ist eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau immer repressiv? Könnte man nicht dahingehend arbeiten, daß man nicht diese Beziehung verweigert, sondern sie ändert? (...) Ich denke, eine Zivilisation, die Männern und Frauen gerecht wird, sollte sexuelle Beziehungen finden, die nicht repressiv sind."


Literatur:
Schwarzer, Alice, (2007) "Simone de Beauvoir - Rebellin und Wegbereiterin", Köln

Engels, Friedrich, (MEW 20) "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft"

Beauvoir, Simone de, (1951) "Das andere Geschlecht - Sitte und Sexus der Frau", Hamburg, Titel der französischen Originalausgabe 1949: "Le deuxieme sexe"


Internetquellen:
http://plato.stanford.edu/entries/beauvoir/#SitBea (Eintrag über Beauvoir in der Stanford Encyclopedia of Philosophy)

http://condomi.com/condomi_hi/index.php?option=com_content&task=view&id=107&Itemid=203 (Eintrag über "Die Geschichte des Kondoms" auf der Internetpräsenz eines führenden deutschen Unternehmens das mit Kondomen Handel betreibt)

http://www.uni-due.de/de/mercatorprofessur/2010.shtml


Referat:
Alice Schwarzer (14. Dezember 2010) "Die Funktion der Gewalt im Verhältnis der Geschlechter". Vortrag an der UDE



Filmdokumentation:
"Wir haben abgetrieben", (Deutschland, 2011, 53min),

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Gabriele Michalitsch:

Politische Geschlechter-Arithmetik: Die Regierung der Zahl

Ansätze einer feministischen Kritik der Statistik

"Die Ideologie versteckt sich in der Wahrscheinlichkeitsrechnung" (Horkheimer/Adorno 1997 [1944], 167), formulierten Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung mit Bezug auf die moderne Statistik. Dieser "Ideologie"[1] gehe ich im vorliegenden Beitrag am Beispiel der Geschlechterverhältnisse nach, um aufzuzeigen, wie mit Hilfe von Statistik Geschlechter regiert werden. Statistik, so die Ausgangsthese, leitet den herrschenden Blick auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten an, formiert solcherart Wissen über Geschlechterrelationen und stellt so eine wesentliche Dimension der Produktion von Wahrheit dar, mittels derer Macht ausgeübt wird.

Um Statistik solcherart als Machttechnologie im Kontext von Geschlechterregierung zu fassen, nehme ich im Folgenden einerseits auf die historische Genese der Statistik im Kontext des Staates, andererseits auf zentrale sozioökonomische Indikatoren Bezug, anhand derer gesellschaftliche Geschlechterungleichheiten gegenwärtig im Allgemeinen vermessen werden. Statistik soll damit als zentrale Wissensform und als Element der Regierungskunst des modernen Staates auf inhärente Geschlechterdimensionen und deren Implikationen für die gegenwärtige Konstruktion von Geschlechterverhältnissen untersucht werden, um davon ausgehend sieben Thesen einer feministischen Kritik der Statistik zu formulieren.

Theoretisch knüpfe ich dabei an Foucaults Konzeptionen von Wahrheit, Macht, Regierung und Gouvernementalität an. In westlichen Gesellschaften ist Wahrheit Foucault folgend um den wissenschaftlichen Diskurs und die diesen produzierenden Institutionen zentriert. Permanenten ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt, wird sie vorrangig unter Kontrolle weniger großer politischer und ökonomischer Apparate wie Universität, Armee und Massenmedien produziert und verteilt, in Erziehungs- und Informationsapparaten zirkulierend verbreitet und konsumiert (vgl. Foucault 1978, 52). Wahrheit ist eng mit Macht verknüpft, denn nur über die Produktion von Wahrheit kann Macht - keineswegs bloß repressiv, sondern produktiv zu deuten - ausgeübt werden.

Regierung bezeichnet eine Form von Machtausübung, die Individuen durch die Produktion von Wahrheit anleitet, lenkt, führt und so zu Subjekten formt. Sie umfasst die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, durch welche Menschen gelenkt werden, sowie sämtliche Prozeduren, Techniken und Methoden, welche die Lenkung von Menschen untereinander gewährleisten (Foucault 1996, 119). Als "Führung der Führungen" zielt sie auf das Verhalten von Menschen. Mit Regierung verbindet sich nicht bloße Unterwerfung oder Beherrschung von Subjekten, sondern vielmehr deren Hervorbringung. Regierung bezieht sich im Kontext des modernen Staates auf die Lenkung der Bevölkerung mit Hilfe von Sicherheitsmechanismen auf Basis des von der politischen Ökonomie hervorgebrachten Wissens. Die den Regierungstechniken des modernen Staates innewohnende Rationalität fasst Foucault mit dem Begriff der Gouvernementalität.

Dieser hier nur grob umrahmte Foucaultsche Theoriehorizont bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Textes, der eine erste, weiter zu elaborierende Skizze geschlechterkritisch-reflexiver Annäherung an Statistik darstellt. Intention des vorliegenden Beitrags ist nicht, mit Statistik verbundene methodische Probleme etwa der Datenerhebung oder -auswertung zu thematisieren, sondern den Statistik anhaftenden Nimbus der Objektivität (geschlechter-)kritisch zu beleuchten und den Stellenwert von Statistik für die Wahrnehmung von Gesellschaft im Allgemeinen und Geschlechterverhältnissen im Besonderen zu verdeutlichen, um damit das Politische der Statistik beispielhaft zu explizieren. Die grundlegende Bedeutung von Statistik für wissenschaftliche Forschung steht dabei nicht in Frage.

1. Statistik als Wissensform

Politökonomische ebenso wie wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diskurse rekurrieren in hohem Maße auf - insbesondere von staatlichen Ämtern ermittelte - quantitative Daten. Diese stellen somit zumindest eine wesentliche Grundlage ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Forschung und des von ihr produzierten Wissens dar. Mit Statistik verbindet sich der Anspruch der Abbildung von Realität, der Neutralität und Objektivität[2], sie gilt außerhalb der eigenen Disziplin meist als Methode und solcherart als Garantin "reiner" Wissenschaft.

Reinheit geht dabei mit Härte einher. Quantitative Methoden gelten gemeinhin als "hart" - im Gegensatz zu mit dem Attribut des "Weichen" ausgestatteten qualitativen Methoden. Statistisch fundiertes Wissen präsentiert sich als "hard facts" scheinbar unverrückbar, unantastbar, unbestreitbar. Mit Hilfe qualitativer Methoden generierte Forschungsergebnisse werden hingegen oft als vergleichsweise defizitär, als weniger valide betrachtet. Geschlechtliche Konnotationen von "Härte" und "Weichheit" markieren hier letztlich auch wissenschaftsinterne Hierarchien: rationale, standhafte, verlässliche Männlichkeit des Quantitativen, emotionale, instabile, unzuverlässige Weiblichkeit des Qualitativen. Reiner Geist, höchste Vernunft finden denn, so lässt sich schließen, nur in der mathematischen Form ihren adäquaten Ausdruck - dass dabei "schließlich die Vernunft tatsächlich die Sklavin der Leidenschaften" (Feyerabend 1999, 252) sein mag, legt mehrfache grundlegende Verdrängungen nahe, von denen hier lediglich zwei erwähnt seien. Der Ruf des Rebells "Wider den Methodenzwang" (Feyerabend) wird mit der Konvention etablierter wissenschaftlicher Standards gebannt, während den "Skandal der Ambivalenz" (Bauman 1992, 33) Reduktion von Vielfalt, Trennung, Absonderung und Grenzziehung beseitigen, denn die Ermittlung von Quantitäten fordert Herstellung von Eindeutigkeit: Nur Ausschluss von Ambivalenz ermöglicht Klassifikation von Elementen und damit Quantifizierung zwecks statistischer Erfassung. Die Illusion von wissenschaftlicher Reinheit wird so erst durch Ausschließung geschaffen.[3]

Statistik verbindet sich demnach mit Eindeutigkeit und präsentiert sich als Methode, die schließlich Gesellschaft berechenbar und planbar macht, sie verspricht solcherart Sicherheit. Vor allem wenn sie gesellschaftliche Verhältnisse auf einen leicht zu fassenden numerischen Nenner bringt, scheint die Klarheit der Zahl verführerisch. Die Komplexität allzu unüberschaubarer, zunehmend globalisierter sozialer Relationen und ihrer Bewegungen vermittelt, auf statistische Zahlenreihen reduziert, Handhabbarkeit, Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit. Gleichermaßen entkontextualisierend wie enthistorisierend wird statistisches Wissen zu Krücke und Leuchtturm nahezu unanfechtbarer Wahrheit. Macht- und Herrschaftsverhältnisse verschwinden hinter Tabellen, Kurven und Wahrscheinlichkeiten.

Wenn Statistik etwa aus Wald exakt berechnete Kubikmeter Holz macht, artikuliert sich darin auch ein ökonomisches Interesse, das dem Gegenstand dessen Verwertung nicht bloß aufprägt, sondern diesen selbst verwandelt: Wald wird zu Holz. Statistik bringt ihr Objekt somit erst hervor, indem sie Wirklichkeit in spezifischer Weise fasst und damit ihren Gegenstand schafft - um den Preis der Vernichtung. Auf diese Weise macht sie sichtbar wie unsichtbar, lässt entstehen und bringt zum Verschwinden.

Mit Statistik verbindet sich demnach, sobald Indikatoren bestimmt werden, unweigerlich Definition. Definitionen aber sind unmittelbar mit der Herstellung von Sinnzusammenhang verknüpft und stets Ausdruck und Quelle von Macht (Kreisky/Sauer 1997, 25). Statistische Indikatoren gehen vielfach als Begriffe in den Diskurs ein, damit aber werden nicht nur Relationen hergestellt oder Vergleichsmaßstäbe gesetzt, sondern Realitäten konstruiert. Statistik ist somit nicht von Macht- und Herrschaftsverhältnissen - und Geschlechterverhältnissen als eine ihrer Artikulationsformen - zu lösen. Selbst der Rahmen ihrer Kritik wird solcherart vorgegeben, insofern ist auch diese - im Anschluss an Foucault - nie außerhalb von Macht.

Mit einem gerade im Bereich des Sozioökonomischen weitgehenden Monopol legitimer Quantifizierung ausgestattet, produzieren Staatsapparate statistischen Wissens nicht nur Datengrundlagen wissenschaftlicher Forschung, sondern vielfach auch deren Begrifflichkeit, die sich zirkulierend verallgemeinert. Statistik stellt somit ein Element von Wahrheitsproduktion dar, mit dem Wissen gebildet und gesellschaftliche Realität konstruiert wird. In Statistik artikuliert sich daher stets eine Politik der Wahrheit mit vielfältigen gesellschaftlichen Wirkungen. Die genannten statistischen Konstruktionsprozesse fügen sich der Tradition, insbesondere artikuliert sich in ihnen eine Strategie des Wissens, die, wie im Folgenden verdeutlicht wird, an den modernen Staat gekoppelt ist.

2. Das Wissen des Staates: Statistik und politische Ökonomie

Schon etymologisch wird die enge Verknüpfung von Staat und Statistik deutlich. Das lateinische statisticum, das sich als "den Staat betreffend" übersetzen lässt, leitet sich direkt von status (Staat) ab[4] und bezieht sich auf die Lehre vom Staat. Im 18. Jahrhundert bedeutete Statistik die systematische Sammlung vorrangig demographischer und ökonomischer Daten im staatlichen Kontext, erst ab dem 19. Jahrhundert erweiterte sich die Bedeutung des Begriffs im heutigen Sinn.

Die Anfänge der Statistik liegen zunächst in der Universitätsstatistik, die sich auf die verbale Beschreibung von Staaten beschränkte, und schließlich in der "Politischen Arithmetik"[5] des 17. Jahrhunderts, die auf aus quantitativen Daten der Staatsbeschreibung abzuleitende Gesetzmäßigkeiten zielte. Als deren Grundsteine gelten insbesondere John Graunts 1662 veröffentlichte Natural and Political Observations upon the Bills of Mortality und William Pettys Political Anatomy of Ireland (1672).[6] Schon Graunts Sammlung und Analyse von Sterbe- und Geburtslisten, aus der er auf allgemeine Gesetze der Bevölkerungsentwicklung zu schließen suchte, richtet sich insbesondere auf weibliche Fruchtbarkeit. Auch Petty widmete sich eingehend der Untersuchung von Fertilität und übertrug Graunts Ansatz schließlich auf die Ökonomie. Soziale und ökonomische Verhältnisse in messbaren Größen zu beschreiben - induktiven Empirismus im Gefolge Francis Bacons - verstand er nicht nur als Voraussetzung für die Ableitung von Gesetzmäßigkeiten, sondern insbesondere als notwendige Grundlage rationaler Staatslenkung. Statistik und Politische Ökonomie, die Adam Smith folgend "eine Lehre für den Staatsmann und Gesetzgeber entwickeln will" (Smith 1990/1776, 347), haben in Pettys Werk gemeinsame Wurzeln.[7] Statistisches und ökonomisches Wissen sind demnach nicht voneinander zu trennen, sie dienen gleichsam als "Augen des Souveräns", indem sie Wissen für die Führung des Staates bereitstellen, dessen Oberhaupt im Gegensatz zum pater familias "beinahe nichts, es sei denn durch die Augen anderer sieht" (Rousseau 1977, 22).[8]

Die politische Ökonomie, die sich innerhalb der Staatsräson entwickelt und im Sinne der Bereicherung des Staates - zu dessen Vermögen nicht nur Güter, sondern primär Menschen zählen - auf Wachstum und Unterhalt der Bevölkerung zielt, ermittelt die Bevölkerung als Kräften und Techniken der Transformation zugänglich und macht sie somit als Bereich des Wissens und der Intervention sichtbar. Regierung wird damit zur "Kunst, die Macht in der Form der Ökonomie auszuüben" (Foucault 2004, 144f).

Foucault folgend stellen Sicherheitsdispositive das charakteristische technische Instrument der Regierung des modernen Staates dar. Da sich mit der Emergenz der Bevölkerung der Blick von Regierung auf als natürlich betrachtete Phänomene richtet, die nicht durch Systeme von Aufforderungen, Befehlen oder Verboten zu reglementieren sind, sondern vielmehr respektiert, beachtet und berücksichtigt werden müssen, hat sich Regierung auf deren Verwaltung durch Beeinflussung, Erleichterung, Anreizung oder Bremsung zu beschränken. Es werden folglich Mechanismen der Sicherheit eingerichtet, Formen staatlicher Intervention, deren wesentliche Funktion darin besteht, die Sicherheit dieser natürlichen Phänomene, dieser für die Bevölkerung wesentlichen Prozesse (wie etwa wirtschaftliche) zu garantieren (Foucault 2004, 506). Sofern es sich hierbei um Erfassung und Steuerung von Leben, von biologischen Prozessen - etwa im Hinblick auf Geburten- und Sterberaten oder Lebenserwartung - handelt, nennt Foucault diese Biopolitik. Sicherheitsmechanismen werden hierbei "um dieses Zufallsmoment herum, das einer Bevölkerung von Lebewesen inhärent ist", errichtet, um "das Leben zu optimieren" (Foucault 2001/1996, 290). Sicherheit fungiert folglich als Oberbegriff für den Gegenstand biopolitischer, auf die Regierung von Bevölkerungen zielender Maßnahmen, Sicherheitsmechanismen sind als regulierende Kontrollen im weitesten Sinn zu verstehen.

Normalisierung fungiert hierbei als wesentliche Machttechnologie. Das als Ergebnis statistischer Analyse festgestellte "empirisch Normale" dient als Ausgangspunkt. In der Bevölkerung auftretende Phänomene werden im Zuge ihrer statistischen Erfassung mit Normalitätskurven verknüpft und ermöglichen damit eine Ortung von Normalem und Anormalem. Die Normalitätskurven, die in ihnen ausgedrückten Häufigkeiten, dienen schließlich als Norm. Die Norm leitet sich also vom "Normalen" ab. Normalisierung besteht darin, als ungünstig betrachtete Normalitätsverteilungen auf als günstig eingestufte zurückzuführen. Sicherheitsmechanismen etablieren demnach Normen als "optimales Mittel" auf Basis empirischer Normalität (vgl. Foucault 2004, 88ff).

Die Kontrolle und Steuerung weiblicher Gebärfähigkeit und der damit verbundene Zugriff auf den weiblichen Körper als zentraler biopolitischer Topos wurde im Rahmen von Geschlechterforschung vielfach untersucht, doch umfassen Normalisierungsprozesse etwa auch die geschlechtsspezifische Zuweisung von bezahlter und unbezahlter Arbeit oder die Ausrichtung vielfältiger Alltagspraktiken. Dass die politische Ökonomie implizit ebenso wie explizit Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert und von Maskulinismus durchzogen ist[9], legt ähnliche Geschlechterdimensionen innerhalb der Statistik nahe, geschlechterkritische Untersuchungen fehlen bis dato jedoch. Dabei scheint eine feministische Analyse etwa von Adolphe Quetelets bis in die Gegenwart überaus einflussreichem Werk und dessen bestimmender Konstruktion des homme moyen vielversprechend, zumal Quetelet Körperkennzahlen wie den nach wie vor als medizinischer Standard geltenden Body-Mass-Index von diesem statistisch ermittelten "mittleren Menschen" ausgehend entwickelte.

Abschließend sei auf einen weiteren Aspekt der Statistik verwiesen, den Foucault mit der Problematik des Gleichgewichts der europäischen Staaten verknüpft, der aber durchaus auch im Geschlechterkontext wesentlich scheint. Die Statistik fungiert nicht zuletzt als Instrument, mit dem die Kräfte des Staates - des eigenen und der anderen - vorrangig an der Größe der Bevölkerung, der Stärke der Armee, der Höhe der Produktion und dem Ausmaß natürlicher Ressourcen bemessen werden (Foucault 2004, 414). Den Feinden des Staates sollten diese Kräfte verborgen bleiben. Statistische Daten des Staates wurden folglich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegend geheim gehalten, sie konstituierten die "Geheimnisse der Macht", die arcana imperii (Foucault 2004, 398).

Auf die Macht des Geheimen verweisen auch Kreisky/Sauer (1997), sie beziehen sich dabei jedoch auf Wissen und Wissenschaft. Das Geheimnis kennzeichnet das nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bestimmte, von diesen gehütete Wissen, das weithin Unbekannte, das Unerforschte, das sich der Erfassung zu entziehen scheint. Es deutet auf das Ungesagte, die Blindstellen der Disziplin, aber auch deren Verleugnung, auf verborgene begriffliche Bedeutungsinhalte, auf systematische Auslassungen in Begriffsdeutungen oder auf unbewusste und implizite Verwendungen von Konzepten (Kreisky/Sauer 1997, 10ff.). Das "Geheimnis der Macht", ließe sich hier anschließen, liegt demnach in der Statistik selbst. In dem, was sich ihrem Zugriff entzieht, was sie ausblendet, was sie unsichtbar hält. Dies gilt in besonderer Weise im Hinblick auf die statistische Fassung von Geschlechterverhältnissen, die Dominanz von Männern vielfach unsichtbar macht.

Im folgenden Abschnitt wird die Problematik statistischer Konstruktion und Unsichtbarkeit anhand einzelner soziökonomischer Indikatoren verdeutlicht. Im Fokus stehen dabei ausgewählte statistische Kennzahlen, die die sozialwissenschaftliche und politische Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen ebenso wie davon abgeleitete (Gleichstellungs-)Politiken gegenwärtig weitgehend anleiten.

3. Daten und Fakten: Geschlechter-Konstruktionen

Der den sozioökonomischen Geschlechterdiskurs bestimmende statistische Blick fokussiert vielfach auf weibliche Teilhabe an spezifischen gesellschaftlichen Bereichen, etwa auf Frauenanteile in politischen oder wirtschaftlichen Führungspositionen. Nicht Dominanz von Männern wird ins Blickfeld gerückt, vielmehr lenkt die Explizierung von Frauenanteilen die Aufmerksamkeit auf ein weibliches Defizit, mit dem Frauen implizit letztlich Ungenügen zugeschrieben wird. Der Blick auf geringe Frauenanteile legt nicht etwa eine Problematisierung von Ausschließung, sondern von (weiblicher) Unzulänglichkeit nahe, auf deren Basis auch die Vorstellung eines "Aufholprozesses" von Frauen produziert wird. Geschlechterungleichheiten an niedrigen Frauenanteilen festzumachen, entspricht folglich einer Festschreibung von Weiblichkeit als mangelhaft, mit der männliche Dominanz verschleiert wird. Eine kritische statistische Perspektive hätte demgegenüber geschlechtsspezifische Differenzen vielmehr als Frage von männlicher Macht und Herrschaft und den Fokus der Darstellung auf Männeranteile etwa in Entscheidungspositionen zu richten.

Die nähere Betrachtung einzelner Indikatoren[10], anhand derer sozioökonomische Geschlechterdisparitäten vorzugsweise vermessen werden, eröffnet vielfältige weitere Problematiken:

- Erwerbsbeteiligung: Einen grundlegenden Indikator von Geschlechterverhältnissen stellt die Erwerbsbeteiligung von Frauen dar, zu deren Messung die Frauenerwerbsquote eingesetzt wird. Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote auf mindestens 60 % in den einzelnen EU-Mitgliedsländern wurde auch im Vertrag von Lissabon als politisches Ziel europäischer Gleichstellungspolitik festgeschrieben. Die Frauenerwerbsquote gibt den Anteil erwerbstätiger Frauen an der weiblichen Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter an, wobei üblicherweise die Altersgruppe der 15- bis 64jährigen als erwerbsfähig gilt (Statistik Austria 2012, 82).

Der kontinuierliche Anstieg der Frauenerwerbsquote ist vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten auf die Umverteilung von Erwerbsarbeit zwischen Frauen zurückzuführen, da atypische, vielfach prekäre Beschäftigung zunehmend weibliche Vollzeiterwerbsarbeit ersetzte. Erwerbsbeteiligung impliziert demnach keineswegs Existenzsicherung. Dies wird durch die Bezugnahme auf das Labor-Force-Konzept verdeckt, dem zufolge Personen dann als erwerbstätig gelten, wenn sie in der Referenzwoche mindestens eine Stunde erwerbstätig waren, im Falle von Urlaub, Krankheit oder Elternkarenz gelten sie ebenso als erwerbstätig wie Lehrlinge (Statistik Austria 2012, 83).

- Arbeitslosigkeit: Das Labor-Force-Konzept dient im Rahmen von Eurostat auch als Grundlage der Berechnung der Arbeitslosenrate, die dem Verhältnis der Arbeitslosenzahl zur Summe von Arbeitslosen und Erwerbstätigen entspricht. Als arbeitslos gelten jene, die im Sinne des Labor-Force-Konzepts nicht erwerbstätig sind, jedoch innerhalb von zwei Wochen Erwerbsarbeit aufnehmen könnten und - während der Referenzwoche und den drei Wochen davor - aktiv Arbeit gesucht haben oder in maximal drei Monaten eine neue Stelle antreten (Statistik Austria 2012, 83). Bei dieser Ermittlung der Arbeitslosenquote ergeben sich beträchtliche Differenzen im Vergleich zur herkömmlichen österreichischen Methode. Hierbei wird die Zahl der beim Arbeitsmarktservice (AMS) als arbeitslos registrierten, nicht erwerbstätigen Personen auf die Summe aus diesen arbeitslos Gemeldeten und den - nach Angaben des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger - unselbständig Beschäftigten bezogen (Statistik Austria 2012, 83). Die ausgewiesene Arbeitslosenquote liegt nach österreichischer Definition nahezu doppelt so hoch wie die nach Eurostat. Doch auch diese ist mit einem geschlechtsspezifischen Bias behaftet. So befinden sich etwa deutlich mehr erwerbslose Frauen als Männer in Schulungen, diese aber werden nicht als Arbeitslose gezählt. Darüber hinaus stellen Frauen einen deutlich höheren Anteil an der in Österreich zuletzt rund 126.000 Nicht-Erwerbspersonen (Statistik Austria 2014) umfassenden "Stillen Reserve" des Arbeitsmarktes: Unter den 15- bis 64jährigen, die zuletzt zwar nicht (mehr) aktiv Arbeit gesucht haben, aber gerne erwerbstätig und innerhalb von zwei Wochen verfügbar wären (Statistik Austria 2012, 85), liegt der Frauenanteil - seit Jahren - bei rund 60 % (Statistik Austria 2014). Das tatsächliche Ausmaß an Arbeitslosigkeit von Frauen wird damit im Verhältnis zu dem von Männern deutlich unterschätzt, zumal gerade Verfügbarkeit für Erwerbsarbeit bei Frauen angesichts primärer Zuständigkeit für familiäre Betreuungsleistungen vielfach deutlich eingeschränkt ist.

- Einkommen und Vermögen: Geschlechtsspezifische Einkommensdifferenzen werden im Allgemeinen anhand von Bruttojahreseinkommen auf Basis der Lohnsteuerstatistk und anhand des Gender Pay Gap, der prozentuellen Differenz der Bruttostundenlöhne, vermessen. In beiden Fällen bildet das höhere Männereinkommen die Grundlage für die Berechnung der relativen Differenz, und verringert damit im Verhältnis zu deren Berechnung auf Basis des geringeren Fraueneinkommens deren numerischen Wert. Der vor allem im letzten Jahrzehnt verbreitete Gender Pay Gap verdeckt - weit höhere - gesamtgesellschaftliche geschlechtliche Ungleichheiten der Erwerbseinkommen durch Ausblendung unterschiedlicher Arbeitszeiten.

Statistisch gänzlich unbelichtet bleiben geschlechtsspezifische Ungleichheiten hingegen in Bezug auf Kapital- und Vermögenseinkommen. Geschlechterdisaggregierte Daten zur Vermögensverteilung in Österreich fehlen weitestgehend, deren geschlechtsspezifische Asymmetrie bleibt unsichtbar. Damit ist auch eine statistische Erfassung des geschlechterdifferenten Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen nicht möglich.

- Armut: Da sich die statistische Erfassung von Armut und Armutsgefährdung auf Haushaltseinkommen bezieht und implizit deren Gleichverteilung innerhalb des Haushalts angenommen wird, wird Armut von Frauen statistisch nur sichtbar, wenn diese alleine leben.

Allein lebende Frauen, egal ob in Rente oder erwerbstätig, zählen denn auch zu den Gruppen mit dem höchsten Armutsrisiko (vgl. BMASK 2010, 176f).

Diese hier nur exemplarisch aufgezeigten Tendenzen statistischer Ausblendung qua Darstellungsweise, Definition oder fehlender Erfassung machen deutlich, dass Statistik Geschlechterverhältnisse konstruiert, deren Perzeption wesentlich mitbestimmt. Dabei reicht die Problematik impliziter Geschlechtlichkeit von statistischen Größen sehr viel weiter: Wenn etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in Einklang mit dem herrschenden Ökonomiebegriff Wirtschaft anhand des Bruttoinlandsprodukts vermessen wird, bleiben vor allem von Frauen erbrachte Leistungen im Rahmen des privaten Haushalts oder informellen Sektors gesellschaftlich unsichtbar und solcherart auch (wirtschafts-)wissenschaftlich und (wirtschafts-)politisch unbedacht.[11]

4. Feministische Kritik statistischer Wahrheitsproduktion

Die Machtwirkungen der Statstik hervorhebend, werden nun abschließend - ebenso thesenhaft wie vorläufig - die zentralen Überlegungen dieses Beitrags zusammengefasst.

These 1: Statistik stellt eine zentrale Wissensform der Regierung des modernen Staates dar und bestimmt im Einklang mit der politischen Ökonomie dessen Gouvernementlität. Die Regierung der Bevölkerung ist, was Foucault außer Acht lässt, stets Geschlechter-Regierung, wie nicht zuletzt am historischen Konstitutionsprozess der Statistik deutlich wird. In diesem artikuliert sich das vorrangige Interesse des Staates an der Kontrolle weiblichen Gebärvermögens, stellten doch Mortalität und Fertilität die ersten zentralen Untersuchungsgegenstände der Statistik dar.[12]

These 2: Aus der Verknüpfung der Entwicklung von Statistik und politischer Ökonomie lässt sich schließen, dass Statistik im Kontext von Normalisierung Geschlechter weit über die Frage der Reproduktion hinaus formiert und solcherart Wirklichkeit herstellt.

These 3: Statistik durchzieht den gesamten sozioökonomischen (wissenschaftlichen) Diskurs und leitet damit den gesellschaftlichen Blick auf Geschlechterverhältnisse an, sie stellt somit eine Form von Wahrheit dar, mit der Macht ausgeübt wird. Zugleich bildet sie als Methode selbst eine wesentliche Grundlage von wissenschaftlichen Objektivitäts- und Neutralitätsansprüchen. Eben diese mit Statistik verknüpften Ansprüche lassen sich nicht aufrechterhalten.

These 4: Statistik ist die bestehende binär-hierarchische Geschlechterordnung eingeschrieben, diese artikuliert sich insbesondere an sozioökonomischen Indikatoren.

These 5: Statistik konstruiert anhand sozioökonomischer Indikatoren Geschlechterverhältnisse und unterschätzt, in dem, was sie sichtbar macht, ebenso wie in dem, was sie unsichtbar macht, systematisch gesellschaftliche Geschlechterungleichheit. Dabei kommen folgende Strategien zum Einsatz: Entnennung durch fehlende Daten (etwa Vermögensdifferenzen), spezifische Benennung durch Bestimmung von Indikatoren und damit einhergehende Ausschließung (etwa Arbeitslosenquote), Definition von Indikatoren auf der Basis männlicher Norm (etwa Gender Pay Gap).

These 6: Statistik reduziert Geschlechterverhältnisse als die gesamte Gesellschaft durchziehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu "Diskriminierung". Die Problematik einer Fokussierung auf Diskriminierung wäre vor allem in der Geschlechterforschung verstärkt zu diskutieren.

These 7: Statistik stellt ein wesentliches Kampfmittel im Ringen um den Diskurs dar, ihr emanzipatorisches Potenzial hängt grundlegend davon ab, wie sie eingesetzt und wie ihre Indikatoren ausgerichtet werden. Gegenwärtige Statistik wäre verstärkt auf Strategien der Thematisierung und Dethematisierung hin zu untersuchen, um sie so zu politisieren und ihre Machtwirkungen zu verdeutlichen.



Anmerkungen

[1] Auch wenn ich mich in weiterer Folge auf Foucault beziehe und sich dieser über den Begriff der Ideologie überaus kritisch äußerte, halte ich Horkheimers/Adornos Verständnis von Ideologie für hochgradig kompatibel mit Foucaults Konzeption des "wahren Diskurses".

[2] Diesen Objektivitätsanspruch macht William Petty, der als einer der Begründer der Statistik gilt, im Zuge der Erläuterung seiner Methode im Vorwort zu seiner Political Anatomy of Ireland wie folgt deutlich: "The Method I take [...], is not yet very usual; for instead of using only comparative and superlative Words, and intellectual Arguments, I have taken the course (as a Specimen of the Political Arithmetick ? I have long aimed at) to express my self in Terms of Number, Weight, or Measure; to use only Arguments of Sense, and to consider only such Causes, as have visible Foundations in Nature; leaving those that depend upon the mutable Minds, Opinions, Appetites, and Passions of particular Men, to the Consideration of others" (Petty 1899, Bd. 1, 207).

[3] Dies lässt sich an der Entwicklung modernen ökonomischen Denkens, auf das ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde, illustrieren. Die Vertreter der politischen Ökonomie fordern im 18. Jahrhundert wissenschaftliche Rationalität als unbedingt notwendige Grundlage guter Regierung. In weiterer Folge beginnen sich Wissenschaft und Entscheidung voneinander abzusetzen: einerseits "eine Wissenschaftlichkeit, die immer mehr ihre theoretische Reinheit beanspruchen, die die Ökonomie sein wird", die andererseits "zugleich das Recht einfordern wird, von einer Regierung berücksichtigt zu werden, die ihre Entscheidung nach ihr auszurichten hat" (Foucault 2004, 504). Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung schließlich mit der Durchsetzung der Neoklassik und der damit einhergehenden Verschiebung von der "politischen" zur "reinen" Ökonomie in den 1870er Jahren. Von politischen und gesellschaftlichen Verknüpfungen gelöst, wird das Feld der Ökonomie neu vermessen, mikroökonomisch ausgerichtet und zunehmend formalisiert (vgl. Michalitsch 2012, 122f).

[4] Das spätmittelhochdeutsche sta(a)t (Stand, Zustand, Lebensweise, Würde) geht auf lateinisch status (das Stehen, Stand, Stellung, Zustand, Verfassung, Rang) zurück.

[5] Der Begriff "Politische Arithmetik" selbst stammt von Petty, der ihn erstmals in einem Brief an Lord Anglesea vom 17. Dezember 1672 verwendet (Petty 1899, Vol. 1, 158).

[6] Als Hauptvertreter der politischen Arithmetik in Deutschland gilt Johann Peter Süßmilch mit seinem 1741 veröffentlichten Werk Die Göttliche Ordnung in den Verhältnissen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen. Der Begriff Statistik wurde 1749 von Gottfried Achenwall eingeführt.

[7] Nicht zufällig steht Petty neben Boisguillebert Marx zufolge - im Gegensatz zur gegenwärtig dominanten Setzung Adam Smiths - auch am Beginn der politischen Ökonomie

[8] Dem liegt der Bedeutungswandel zugrunde, den der Begriff der Ökonomie durch seine Übertragung von der Lenkung des Hauses auf die Lenkung des Staates durchlaufen hat, Rousseau sieht sich in seinem Beitrag zu Diderots und d'Alemberts Encyclopédie Mitte des 18. Jahrhunderts noch genötigt, auf diese Bedeutungsverschiebung Bezug zu nehmen, für Adam Smith gilt diese zwanzig Jahre später bereits als selbstverständlich, sie wird im Wealth of Nations (1776) nicht mehr thematisiert.

[9] Ich habe dies etwa am Besipiel Adam Smith verdeutlicht, siehe Michalitsch, Gabriele (2010): Geschlechterregierung und politische Ökonomie: Was Adam Smith damit zu tun hat, dass Frauen heute weniger als Männer verdienen, in: L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, H. 2/2010, 21. Jg., 119-133.

[10] Die hier thematisierten Indikatoren entsprechen fast ausschließlich internationalen Standards, die insbesondere von der International Labour Organisation (ILO) und Eurostat erstellt werden.

[11] Die Gegebenheit von quantitativen Größen mag zwar die statistische Erfassung der Marktökonomie erleichtern, doch liegt Quantifizierbarkeit keineswegs in der "Natur der Dinge", auch sie wird gesellschaftlich erst hergestellt.

[12] Als weiterer Hinweis mag auch die Persistenz der - neuerdings aufgewerteten - Demographie mit ihrer ausschließlichen Bezugnahme auf weibliche Fertilität dienen.



Literatur

Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg.

BMASK (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) (2010, Hg.): Sozialbericht 2009-102, Wien.

Feyerabend, Paul (1999/1976): Wider den Methodenzwang, Frankfurt/Main.

Foucault, Michel (2001/1996): In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt/Main.

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1997/1944): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften 3, hg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt/Main.

Kreisky, Eva/Sauer, Birgit (1997): Heimlichkeit und Kanonisierung. Einführende Bemerkungen zur Begriffsbildung in der Politikwissenschaft, in: Kreisky, Eva/Sauer, Birgit (Hg.): Das geheime Glossar der Politikwissenschaft. Geschlechtskritische Inspektion der Kategorien einer Disziplin, Frankfurt/New York, 7-45.

Marx, Karl (MEGA II, 1.1.) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie

Michalitsch, Gabriele (2010): Geschlechterregierung und politische Ökonomie: Was Adam Smith damit zu tun hat, dass Frauen heute weniger als Männer verdienen, in: L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, H. 2/2010, 21. Jg., 119-133.

Michalitsch, Gabriele (2012): Politische Ökonomie. Begriffe, Horizonte und Wissenspolitik, in: Kreisky, Eva/Löffler, Marion/Spitaler, Georg (Hg.): Theoriearbeit in der Politikwissenschaft, Wien, 117-129.

Petty, William (1899): The Economic Writings of Sir William Petty, together with The Observations upon Bills of Mortality, more probably by Captain John Graunt, 2 Bd., hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge.

Rousseau, Jean-Jacques (1977/1755): Politische Ökonomie (Discours sur l'économie politique), hg. v. Hans-Peter Schneider und Brigitte Schneider-Pachaly, Frankfurt/Main.

Smith, Adam (1990/1776): Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. v. Hort Claus Recktenwald, München.

Statistik Austria (2012, Hg.): Arbeitskräfteerhebung. Ergebnisse des Mikrozensus, Wien.

Statistik Austria (2014):
http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitslose_arbeitssuchende/arbeitswunsch_stille_reserve/index.html (Zugriff: 28.2.2014).

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Buchbesprechung von Ulrich Brand

Dieter Klein: Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus.

Hamburg: VSA 2013, 216 Seiten, Euro 16.80


Tanz, so Dieter Klein in seinem Buch "Das Morgen tanzt im Heute" mit Verweis auf den Tänzer Rudolf Nurejew, kann in der Gegenwart Sachverhalte ausdrücken, die noch kaum sichtbar sind, aber bereits spätere wichtige Entwicklungen vorwegnehmen. Dieser Gedanke leitet die vielschichtige und dennoch kohärente Reflexion linker gesellschaftspolitischer Dilemmata sowie Ansprüche an eine Strategiebildung auf der Höhe der Zeit.

Um Perspektiven einer linken radikalen Realpolitik zu formulieren, wird der Begriff der "doppelten Transformation" stark gemacht. Zwei Perspektiven sind demzufolge zentral. Eine weist über den Kapitalismus hinaus und führt in eine solidarische und ökologisch nachhaltige Produktions- und Lebensweise, die Klein "demokratischer grüner Sozialismus" nennt. Die andere Seite der Transformation anerkennt realpolitisch: Unter den gegebenen Bedingungen scheinen Bündnisse dringend erforderlich, die der kapitalistischen Entwicklung einen anderen drive geben. Klein nennt in Anlehnung an eine breite Diskussion um einen Green New Deal dieses Szenario einen sozial und ökologisch regulierten postneoliberalen Kapitalismus. Auch diese Option bedarf sich gründlich verändernder Kräfteverhältnisse. Doch sie scheint dem Autor aus linker Perspektive mittelfristig eher gangbar als eine radikale gesellschaftliche Transformation. Der Horizont einer doppelten Transformation wird entwickelt, um zwei Sachverhalte in den Blick zu nehmen. Zum einen wird bereits heute in der Krise des neoliberalen Kapitalismus heftig darum gekämpft, welche Projekte miteinander ringen und welche Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung sich möglicherweise entwickeln.

Er nennt deren fünf: Ein neoliberales "Weiter so", einen zunehmend autoritäreren und entzivilisierten Kapitalismus, ein staastsinterventionistisch modernisierter, grün-neoliberaler Kapitalismus. Bei Letzterem, in dem viele Strategien der ökologischen Modernisierung verortet sind, wird der Marktradikalismus "durch mehr Staatsinterventionismus verteidigt. Keynesianisch inspirierte staatliche Politik dient neoliberaler Grundorientierung." (41) Diese drei Szenarien gilt es politisch zu bekämpfen.

Das vierte und das fünfte Szenario sind die zwei Seiten der doppelten Transformation. Das realpolitische Movens liegt in der Annahme begründet, dass der aktuelle Kapitalismus reformfähig ist (Szenario Green New Deal), der radikale Antrieb in der Einsicht in die Grenzen dieser Reformfähigkeit. Allerdings sind die beiden Dimensionen einer doppelten Transformation nicht konsekutiv zu verstehen. Bereits in den hart umkämpften Veränderungen hin zu einem postneoliberalen und progressiven Kapitalismus scheinen Elemente einer solidarischen und post-kapitalistischen Formation auf. Eine solidarische, gerechte und nachhaltige Gesellschaft jedoch kann in ihren Grundzügen nur demokratisch und sozialistisch organisiert sein.

In dieser Konstellation und angesichts fragmentierter linker Debatten und Strategien geht es Klein darum, einen gemeinsamen Rahmen für emanzipatorisches politisches Handeln zu entwickeln, der nicht starr ist, sondern sich entlang von Leitideen auf unterschiedliche Erfahrungen bezieht und eben diese sich selbst in einem umfassenderen Kontext stellen lässt. Er argumentiert, dass für die Linke grundsätzliche Kritik und politische Initiativen wichtig bleiben. Doch es fehle oft der innere Zusammenhang, eine lebendige Erzählung "von unten" gegen die mit vielen Ressourcen verbreiteten Durchhalteparolen der Herrschenden. Notwendig sei es, einen "kühnen Bogen zwischen den elementarsten Vorwärts-Bedürfnissen, die im Gegenwärtigen schlummern, und der Vision von Wegen und Zielen ihrer Verwirklichung zu schlagen. ­ ... Aufzuspüren, welche Lebensfragen im Dasein der Menschheit zu Antworten drängen und geahnte Antworten dem Unausgesprochenen zu entreißen ..." (61f.) Handelnde sind wichtig in einer Erzählung, der dieser Lebendigkeit verleiht und welche die Bedingungen wie auch Optionen klärt, die Zumutungen durch herrschende Entwicklungen, Gefahren und positive Erfahrungen. Es ist dem Autor klar, dass es gegen eine solche Erzählung gute Einwände gibt: Das zapatistische "fragend gehen wir voran", das seit 20 Jahren vor den Verheißungen oft nur vermeintlich radikaler Projekte warnt; das Argument einer unhintergehbaren Pluralisierung von Verhältnissen und Kämpfen, die nur um den Preis neuer (oft alter) Hierarchisierung aufgegeben werden kann. Doch es wird von Dieter Klein insistiert: Die sich selbst befreienden Menschen benötigen für ihre Selbstentfaltung und der entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen eine faszinierende zentrale Idee, welche die zentrale Wahrheit der kapitalistischen Gesellschaft, den Profit, überwindet. Diese offene Erzählung ermöglicht "die Orientierung aller einzelnen Transformationsschritte und -projekte an sozial gleichen Bedingungen für die freie Persönlichkeitsentfaltung aller".(66)

In bester unorthodoxer marxistischer Tradition werden Ansatzpunkte einer emanzipatorischen Erzählung aus den Widersprüchen des Kapitalismus sowie aus den Kämpfen seiner Bändigung und Überwindung gewonnen: Die strukturellen Antagonismen zwischen arm und reich, zwischen profitorientierter politischer Ökonomie und dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, zwischen starken demokratischen Ansprüchen sowie Erfahrungen in der Gesellschaft und einer undemokratischen Wirtschaft und tendenziellen Entdemokratisierung des Politischen, zwischen auskömmlichem internationalen Zusammenleben und der Brutalität des kapitalistischen Weltmarktes und der Geopolitik. Sie führt den Autor zu den Eckpunkten einer modernen linken Erzählung, die er umfangreich ausführt: Der Umverteilung von Lebenschancen und Macht, den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, deren Demokratisierung sowie internationale Friedenssicherung und Solidarität. Wichtig ist hierfür, die Dichotomie von Reform und Revolution aufzuheben und in der Linken eine Kultur des gegenseitigen Respekts zu stärken, die nicht entlang von Wahrheitspositionen tendenziell andere ausschließt. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts entsteht aus Such- und Lernprozessen, die nicht beliebig sind, sondern eben sich durchaus verfestigen können, ja müssen.

Klein argumentiert stärker als andere kapitalismuskritische Positionen, dass es auch darum geht, an Bestehendes anzuknüpfen und die "Modernequalitäten" zu erhalten, so etwa den Stand der Produktivkräfte, wobei diese sehr umfassend in Richtung Umwelttechnologien entwickelt werden sollten; ein bürgerlicher Staat, der zwischen progressiven und autoritären Elementen selbst umkämpft ist, aber als Terrain von Auseinandersetzungen nicht aufgegeben werden sollte; ein wachsendes Problembewusstsein in Teilen der Bevölkerung, trotz aller Bestrebungen und Tendenzen der Entpolitisierung und Sachzwangargumenten.

Politisch unmittelbar relevant sind für ihn weniger die oben genannten Großprojekte bzw. Szenarien oder selbst umfangreiche Teilprojekte wie die Energiewende. Menschen engagieren sich meist um konkrete Probleme, Konflikte und Interessen herum, was Dieter Klein in vielen früheren Arbeiten bereits als "Einstiegsprojekte" bezeichnet hat. Sie können erfolgreich sein, "wenn sie ungelöste Widersprüche und Probleme zum Ausdruck bringen, die die Interessen wichtiger sozialer Gruppen betreffen. Sie können sich als Beginn wesentlicher Veränderungsprozesse erweisen, wenn sie für diese Kräfte in absehbaren Zeiträumen positive Veränderungen versprechen, wenn sie also machbar sind und deshalb mobilisierend wirken." (196f.) Doch um ihnen eine Richtung zu geben, bedarf es eben einer Erzählung, anhand derer Erfahrungen verarbeitet und Handeln orientiert werden kann.

Das Buch formuliert indirekt auch ein Forschungsprogramm. Die recht knapp gehaltenen Kapitel zu sich möglicherweise herausbildenden alternativen Akkumulationsregimen und Regulationsweisen - Klein stellt einer finanzdominierten Ausrichtung eine sozial-ökologische entgegen - sollten anregen für weitere Diskussionen, um Konturen möglicher Zukünfte auf der ökonomischen, politischen und kulturellen Ebene stärker in den Blick zu bekommen. Denn auch ein reformierter Kapitalismus muss ja auf der Ebene der Kapitalkreisläufe, ihrer gesellschaftlichen Einbettung und der Herausnahme immer weiterer Bereiche aus der Profitlogik funktionieren. Hier wird etwa eine Perspektive genannt, dass ein reformierter Kapitalismus nach einer Phase zunehmender Investitionen von einer erweiterten Reproduktion des Kapitals zu einer einfachen Reproduktion übergeht: Öffentliche Daseinsvorsorge, starke Sozialsektoren und Care-Economy werden zu Wachstumsbremsern (was übrigens ein starker und berechtigter Widerspruch zu den meisten Ansätzen eines progressiven Green New Deal ist). Die Gegenrichtung würde eine Intensivierung des finanzmarktdominierten Kapitalismus implizieren. Genauer zu untersuchen wären hier in Anschluss an das Buch etwa die Dynamiken der weiteren Finanzialisierung der Natur und, allgemeiner, die Konturen eines grünen Kapitalismus.

Im Kontext der recht breiten Debatte um Transformation, der Klein zu Recht vorwirft, einen diffus-unverbindlichen Allerweltbegriff zu prägen (man fühlt sich in der Tat oft an einen Großteil der Debatte um Nachhaltigkeit erinnert), macht das Buch einen starken Punkt. Denn der "menschliche Reichtum" (Marx), den Klein in Anlehnung an die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug entwickelt, spielt in den ökologisch inspirierten Diskussionen um Transformation kaum eine Rolle. Zu groß und systemisch scheinen die Probleme und ihre mögliche Bearbeitung. Menschheitsprobleme können nur global angegangen werden, die planetarischen Grenzen nur im Großen angegangen. Allenfalls wird noch das Individuum als "Handlungsebene" genannt. Doch damit, und darauf weist der Entwurf von Dieter Klein hin, wird in den meisten Beiträgen der Bezugspunkt der Emanzipation aufgegeben. Demokratie, wenn davon überhaupt die Rede ist, dient nicht dem Abbau von Herrschaft über Menschen und Natur, sondern wird als Partizipation funktional für eine bessere und legitimere Problemlösung eingesetzt.

Das umsichtig argumentierende, dennoch überaus starke und plausible Positionen entwickelnde Buch zeigt, dass der Transformationsdebatte insgesamt und der wachstumskritischen Debatte im Besonderen eine gründlichere Diskussion von Fragen wie der Rolle von Kapitalmacht und Eigentum einerseits, Emanzipation und Demokratie andererseits guttun würde. Und es geht nicht nur um Nischen, konkrete Alternativen und anderes individuelles Verhalten, sondern eben auch um eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Zugespitzt: Solange in EU-Europa Austerität und Lissabon-Strategie herrschen, drohen Share Economy und die Stärkung der Gemeingüter prekär zu bleiben. Etwas unterbelichtet bleibt meines Erachtens die Problematik der Hegemonie. Eine doppelte Transformation muss ja Lebensweisen und Subjektivitäten verändern. Das wird durchaus benannt (und etwa auf die Herausbildung des Kapitalismus und seines "Geistes" samt seiner mentalen Infrastrukturen verwiesen), doch in den politisch-strategischen Überlegungen kommt das etwas zu kurz. Was wären etwa Konflikte und Einstiegsprojekte innerhalb von Gewerkschaften, progressiven Verbänden und linken Parteien, gerade in der aktuellen Krise, um emanzipatorische sozial-ökologische Veränderungen voranzutreiben?

So wichtig es ist, analytisch unterschiedliche Szenarien und Strategien zu identifizieren, so stark vereinfacht wirkt die Gegenüberstellung einer Profitlogik und einer "sozial-ökologischen Gegenlogik". Das Sozial-Ökologische selbst ist doch ein Terrain sozialer Auseinandersetzungen: Auch die neoklassische Umweltökonomik oder ein wachstumsfixierter, wenig progressiver Green New Deal beansprucht solch ein Vokabular für sich. Das betrifft auch die Kämpfe darum und Selbstverständnisse darüber, was als "positive Veränderungen" - so die formulierte Bedingung für erfolgreiche Einstiegsprojekte - gesellschaftlich, für einzelne Gruppen und für Menschen relevant ist. Als positiv empfunden werden heute von vielen Menschen die nächste Handy- und Autogeneration, die mit ressourcenintensivem Marketing der Anbieter dieser Produkte "promoted" werden.

Gleichwohl nennt Klein viele Beispiele für Einstiegsprojekte auf dem Weg zu einer attraktiven Produktions- und Lebensweise, die seinen oben dargelegten Prinzipien entsprechen. Die Untersuchung ist explizit begrenzt auf Deutschland und sich dieser Schwäche bewusst - eine solidarische Gesellschaft muss natürlich die Imperative des kapitalistischen Weltmarktes aussetzen. Doch es ist gleichzeitig die Stärke, weil eben nicht über konkrete Erfahrungen und Kämpfe hinweggegangen wird, Akteure und Konstellationen auch konkret werden; was allzu oft in Beiträgen zu "globalen" Veränderungen fehlt und dort auch fehlen muss.

Das Buch ist Teil einer marxistischen und sozialistischen Debatte, die in den letzten Jahren Kohärenz gewinnt. Die lange Zeit vorherrschenden Trennungen sozialer und ökologischer Fragen werden mehr und mehr überwunden. Das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Dieter Klein eng verbunden ist, wie auch die Stiftung insgesamt sind institutionelle Orte des Kohärent-Arbeitens analytisch fundierter Vorschläge, in die aktuelle Erfahrungen linker Kämpfe eingehen. Die vierteljährlich erscheinende Publikation "LuXemburg" ist nicht zufällig die am meisten zitierte Quelle der Inspiration. Entsprechend handelt es sich nicht um ein programmatisches Buch für die Linkspartei, obwohl diese immer wieder Bezugspunkt ist. Transformationen im Kapitalismus und über ihn hinaus, so der Untertitel, sind ungleich komplexer. Die Metapher des Tanzes, so wird später im Buch deutlich, steht für eine zweite Dimension: Tanz kann Widerstand ausdrücken, wenn er gegen die herrschaftlichen Zumutungen "die Desorganisation des Lebens tanzt". Wenn er sich so dagegen wehrt, dass Körper, Gefühle und Wahrnehmungen zu kapitalistischen Waren werden, zum Objekt von kommerziellen Erlebnisanbietern und einer Öffentlichkeit, in der es nicht mehr zuvorderst um die Aushandlung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte geht, sondern um die Zurschaustellung von um den Profit Willens produzierten Produkten. Tanzen zeigt also vielfältige widerständige Praxen an und in ihm können sich Ansätze größerer Entwicklungen andeuten, die zunächst kaum erkannt, sondern eher nicht selten missachtet werden, aber bereits heute für ein anderes Morgen stehen.

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Buchbesprechung von Irene Messinger

Bettina Haidinger: Hausfrau für zwei Länder sein. Zur Reproduktion des transnationalen Haushalts

Münster: Westfälisches Dampfboot 2013, 289 Seiten, Euro 29,90

Den meist unsichtbaren "Putzfrauen" ein Gesicht zu geben, das versuchen aktuell verschiedene Formate wie der Dokumentarfilm "Mama illegal" von Ed Moschitz, die Ausstellung der Künstlerin Anna Jermolaewa oder die Undercover-Reportage "Saubere Dienste" der Journalistin Sibylle Hamann. Zeit, dass sich auch die Wissenschaft diesem wichtigen Thema widmet und eine fundierte Auseinandersetzung mit schwierigen Fragestellungen an den Schnittstellen von (Arbeits- )Migration, Wohlfahrtsstaat, Pflegepolitik und globalen ökonomischen Differenzen aus intersektionaler Perspektive bietet.

Die an der Wiener Wirtschaftsuniversität approbierte Dissertation der feministischen Ökonomin und Politikwissenschaftlerin Bettina Haidinger wurde für das im Juni 2013 erschienene Buch gekürzt und überarbeitet. Es behandelt die oben angeführten Themen anhand der Lebenssituation ukrainischer Haushaltsarbeiterinnen in Wien. Im Fokus ihrer Forschung steht dabei ihre Verortung im transnationalen sozialen Raum zwischen der Ukraine und Österreich, und die sich verändernden Strategien und Praktiken der Haushaltsorganisation.

Für die empirische Forschung wurden neun Expert_inneninterviews mit Vertreter_innen aus NGOs und Wissenschaft sowie 23 biografische Interviews in Österreich und der Ukraine geführt. Bei den interviewten Frauen standen insbesondere Mütter im Vordergrund, die ihre Kinder nicht nach Österreich bringen konnten und daher im Herkunftsland versorgen lassen mussten ("Transnational mothering"). Ein interessanter Fakt ist, dass alle interviewten Frauen zumindest die Reifeprüfung einer höheren ukrainischen Schule und der Großteil sogar ein Studium an einem weiterführenden Kolleg oder der Universität absolviert hatten. Fast alle lebten zum Zeitpunkt der Interviews ohne Aufenthaltsrecht in Österreich. Die sehr reflektierten Erzählungen berichten von ihrem Leben in Österreich und dem Leben ihrer Familien in Abwesenheit der Mutter und werden aus vielfältigen theoretischen Blickwinkeln von der Autorin interpretiert und dadurch in ihrer Aussagekraft vertieft.

Haus-halten über Grenzen hinweg...

Die von der Autorin beschriebenen Frauen agieren gleich in drei Haushalten: an ihrem Arbeitsort in Wien, wo sie bezahlte Hausarbeit verrichten, in ihrem eigenen privaten Wiener Haushalt und jenem von ihnen finanzierten Haushalt in der Ukraine.

Warum der Haushalt als Untersuchungseinheit und relevanter ökonomischer Akteur gewählt wurde, wird schlüssig erklärt: Der Haushalt wird als Ort verstanden, an dem (re)produktive Arbeit stattfindet, soziale sowie Machtbeziehungen gelebt und Konsumentscheidungen getroffen werden. Da "der Haushalt" nicht an das Konzept der Kleinfamilie gebunden ist und damit innerfamiliäre Dynamiken wie beispielsweise Patchworkfamilien besser erfassen kann, ist er als Analyseeinheit besonders geeignet. Unter "transnationalen Haushalten" versteht Haidinger soziale und familiäre Netzwerke, die zwar geografisch verstreut und dennoch miteinander verbunden sind.

Als Protagonist_innen dieser transnationalen Haushalte werden sechs Prototypen nachgezeichnet: Neben den in Wien tätigen Migrantinnen ("The Absent Agent") sind dies zum einen in der Ukraine die "Väter in Reserve", die (erweiterte) Familie und die Kinder, zum anderen in Österreich die Arbeitgeber_innen, und jene familienersetzenden Beziehungen und (Wohn-)Gemeinschaften, die zwischen Solidarität und Konkurrenz pendeln.

Drei theoretische Kapitel stecken den anspruchsvollen Rahmen ab, in dem sich die Untersuchung bewegt: Aus dem Blickwinkel der Migrationsforschung werden die Praxen der Migration im Kontext neoliberaler ökonomischer Veränderungen sowie der Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung dargestellt und geschlechts- und klassenspezifische Machtverhältnisse anhand des Beispiels transnationaler Mutterschaft und globaler Betreuungsketten verdeutlicht. Warum und wie die Beziehung der Haushaltsorte zueinander ausgestaltet sind, wird mittels des Konzepts der "Gendered Geographies of Power" erklärt.

Dieses von Sarah Maler und Patricia Pessar entwickelte Modell ermöglicht die systematische Analyse der Geschlechterdimension im transnationalen Raum. Für die Analyse von Geschlecht führen sie erstens "geograpical scales" wie etwa die Nationalstaaten ein, die in der Ausgestaltung ihrer Geschlechternormen und -beziehungen dominant sind, und "social scales" wie Körper oder Familie. Dabei ist zu beachten, dass Geschlecht gleichzeitig und zwischen transnationalen Räumen sowie zwischen den "scales" wirksam und veränderbar wird. Der zweite Teil des Konzepts, die "Machtgeometrien" machen sichtbar, "wie institutionelle geschlechterdifferenzierende Rahmenbedingungen und ihre sozialen Verortungen von Menschen ihren Ressourcenzugang und ihre Mobilität betreffen, welche gleichzeitig Handlungen als Initiator_innen, Interpret_innen und Transformator_innen eben dieser Verortungen setzen" (S. 70). Als dritter Teil des Konzepts fungiert "Agency", also Handlungsfähigkeit und -macht im Kontext sozialer Positionierungen.

Die Autorin bereichert ihre Analyse dadurch, dass sie Studien zu anderen transnationalen Räumen wie jene der vergleichsweise gut erforschten philippinischer Migrantinnen in Bezug zur untersuchten Gruppe der ukrainischen Frauen in Wien setzt, um die Besonderheiten aber auch Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Die Autorin analysiert die Tatsache, dass weibliche Ukrainerinnen in Privathaushalten arbeiten als "Produkt des Grenzregimes" (S. 9). Dabei werden die makroökonomische und politisch-legislative Ebene ebenso einbezogen wie die Mikroebene der Lebenserfahrungen und -perspektiven ukrainischer Migrantinnen. Sie zeigt beide Seiten des Grenzregimes: in der Ukraine und in Österreich.

Wir lesen über die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in der Ukraine durch die Orange Revolution 2004 und über Maßnahmen zur Grenzsicherung wie die Auswirkungen der Ausländer_innengesetze, jedoch auch über Strategien der Migrantinnen, diese Kontrollapparate - wenn auch unter großem Risiko - zu unterwandern. Diese Grenzregime, die vordergründig Abschottung intendieren, schaffen gleichzeitig illegalisierte Migrant_innen, von denen sie profitieren. Haidingers Analyse verdeutlicht die Mächtigkeit der unsichtbaren Grenzregime, abseits der Grenzen, mitten in der Stadt Wien und insbesondere im Privathaushalt.

"Wer nicht riskiert, trinkt keinen Champagner"

Als primären Grund geben die befragten Personen an aus wirtschaftlichen Gründen die Ukraine verlassen zu haben, die Mütter porträtierten sich zudem als selbstlose Personen, die sich für die Zukunft ihrer Kinder aufopfern. Haidinger beschreibt hingegen die Entscheidung zur Migration als "wohldurchdachtes Projekt" und zeigt auch weitere vielfältigere Motivationen für die zeitweise Arbeitsmigration auf, die nicht nur mit dem "Zwang der Verhältnisse" erklärt werden können, wie der Wunsch Neues zu entdecken oder das Nutzen einer günstigen Gelegenheit (zum Beispiel durch Arbeitsplatzsicherheit in der Karenzzeit). Die Entscheidung zur Migration ist meistens ein Balanceakt zwischen Notwendigkeit und Strategie, die vorsieht, ein Jahr im Ausland zu bleiben, und dann zurückzukehren.

In der Realität dauert der Aufenthalt meist länger. Eine Haushaltsarbeiterin erzählt, dass die 50 Euro Tagesverdienst als Putzfrau ihrem Monatseinkommen als Lehrerin der Ukraine entsprechen. Damit wird nachvollziehbar, warum viele Frauen diese unqualifizierte Arbeit auf sich nehmen, und nicht nur gehen, sondern auch bleiben, auch ohne Aufenthaltsstatus. Der persönliche Kontakt mit der Familie ist außer durch Telefon und Internet schwierig, weil die Frauen ohne Aufenthaltsrecht leben und daher nur auf informellen teuren Wegen aus- und vor allem wieder nach Österreich einreisen können. Die materiellen Rücküberweisungen in Form von Geld oder Konsumwaren sind wichtig, um den ukrainischen Haushalt aufrecht zu erhalten und entsprechend Einfluss zu üben. Der Arbeitsplatz Privathaushalt bietet einerseits einen Ort des Schutzes vor staatlicher Kontrolle, andererseits kann er gerade aufgrund seiner Unsichtbarkeit zum Ort der Ausbeutung, rassistischer Diskriminierung und Gewalt werden. Möglichkeiten der Aufenthaltsverfestigung gibt es aus dem prekären Status heraus kaum, einige entscheiden sich für die Eheschließung mit einem Österreicher, wodurch sie zwar legalisiert werden könnten, doch nicht mehr als eigenständige Hausarbeiterin tätig wären, sondern die gleiche Arbeit fortan unbezahlt als Ehefrau verrichten müssten.

Währenddessen in der Ukraine...

Während die Frauen in Österreich arbeiten, werden die Familie und der Haushalt im Heimatland meist von anderen Frauen versorgt: Großmütter, Tanten oder Nachbarinnen sorgen (teilweise gegen Bezahlung) für die Kinder, manche Teenager versorgen sich mit dem von der Mutter geschickten Geld selbst. In einigen Fällen waren auch Väter und Großväter unterstützend tätig. Während die Rücküberweisungen am Anfang des Auslandsaufenthalts das Überleben dieser (erweiterten) Familie sicherten, werden später kleinere Luxusgeschenke wie Spielsachen geschickt. Diese Geschenke sind als Kompensation für die Abwesenheit einerseits und als Versicherung der Möglichkeit einer Rückkehr andererseits zu sehen. Die Frauen berichten von der zwiespältigen Situation, sich in der neuen Rolle der Familienernährerin bestätigt und anerkannt zu fühlen, gleichzeitig wird die Trennung von den Kindern und die fehlende Möglichkeit der Einflussnahme als Mutter als belastend erlebt. Die Väter - so noch vorhanden und in dieser Rolle aktiv - sind mit der emotionalen und sozialen Verantwortung oft überfordert. Wenn die Mütter nach einigen Jahren aus dem Ausland zurückkehren, hat sich die Familie oft völlig verändert. Für manche Frauen barg die Migration emanzipatorisches Potential, denn sie wollten und konnten aus festgefahrenen Beziehungsmustern oder tradierten Rollen ausbrechen.

Ergebnisse

Das Resümee der Studie beschreibt den transnationalen Haushalt als "Raum widersprüchlicher Klassenmobilität und geschlechterdifferenzierender Verortung" (S. 258). "Widersprüchliche Klassenmobilität", ein Ausdruck den Rhacel Parreñas in ihrem Buch "Servants of globalizations" geprägt hat, bedeutet also in diesem Zusammenhang einerseits mehr Einkommen, andererseits Dequalifizierung am Arbeitsmarkt und Verlust des sozialen Status. Die "geschlechterdifferenzierende Verortung" bezieht sich darauf, dass Geschlechterverhältnisse gleichzeitig in verschiedenen räumlichen und sozialen Dimensionen sowie über die Grenzen der involvierten Nationalstaaten operieren. Der Staat, in diesem Fall also die Ukraine und Österreich, regelt die strukturellen Rahmenbedingungen in Form der Ausgestaltung der Migrations- und der Wohlfahrtsregime. Die Autorin zeigt auf, dass die den Frauen zugeschriebene Zuständigkeit für Pflege und Haushalt trotz ihrer teilweise prekären Erwerbstätigkeit bestehen bleibt.

Das Buch beschreibt auf der einen Seite in sehr eindrucksvoller und berührender Weise das Leben ukrainischer Hausarbeiterinnen in Wien, auf der anderen Seite analysiert es auf hohem theoretischen Niveau das komplexe Phänomen transnationaler Haushalte und wie nebenbei viele andere globale soziale Ungleichheiten. Es schafft den Spagat zwischen wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Zugängen und setzt auf vielen Ebenen an, um sich der Beantwortung der Fragestellungen in der notwendigen Dichte zu nähern.

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Buchbesprechung von Sebastian Kalicha

Lou Marin (Hrsg.): Albert Camus - Libertäre Schriften (1948-1960)

Hamburg: Laika Verlag 2013, 384 Seiten, Euro 24,90

Es war abzusehen: Albert Camus' Geburtstag jährt sich zum 100. Mal und die Feuilletons lassen sich das nicht zweimal sagen. Bei einem Schriftsteller und Philosophen wie Camus ist dies prinzipiell auch zu begrüßen. Was jedoch damit einhergeht, ist eine teils hart geführte Debatte über die "richtige" Interpretation seiner Werke bzw. wie Camus politisch einzuordnen ist. Von rechts-konservativen Neoliberalen wie Nicolas Sarkozy bis hin zu Linksradikalen und AnarchistInnen beziehen sich viele - quer durch die Bank - immer wieder positiv auf Camus, wenn es um letztere Frage geht. Um den libertären Camus ist seit jeher der in Frankreich lebende Publizist Lou Marin bemüht, der in der Camus-Debatte anlässlich des 100. Geburtstages in Frankreich und Deutschland (glücklicherweise) gehörig mitmischt. Marin porträtiert diesen libertären Camus eindrücklich in diesem aus dem Französischen übersetzten Sammelband, in dem viele jener Artikel versammelt sind, die Camus zwischen 1948 und 1960 in anarchistischen Zeitschriften veröffentlicht hat. Der Titel "Albert Camus - Libertäre Schriften" ist jedoch nur eine unvollständige Beschreibung dessen, was im Buch versammelt ist, denn es sind nicht nur tatsächlich von Camus selbst verfasste Beiträge in dem Sammelband, sondern auch viele Artikel anderer AutorInnen, die sich mit Camus in unterschiedlichen Belangen auseinandersetzen.

Camus, Bakunin und der Anarchismus

Dabei inkludierte Herausgeber Marin aber nicht nur wie auch immer geartete "Lobeshymnen" der anarchistischen Szene auf Camus, sondern auch Beiträge, die mit Camus aus anarchistischer Perspektive hart ins Gericht gehen. Und das ist auch gut so, beweist es letztendlich ja nur, dass selbst Camus mit seinem damals schon sehr hohen Bekanntheitsgrad nicht als "Idol" begriffen wurde, dem andere "No-Name-AnarchistInnen" schlicht nacheiferten oder als Trophäe hoch hielten, sondern dass er in der anarchistischen Bewegung völlig egalitär und auf Augenhöhe mit anderen diskutierte und arbeitete, was sowohl für Camus als auch für die anarchistische Bewegung spricht. Beispielhaft für die Teils hart ausgetragenen Debatten ist z.B. die vierteilige Artikelserie "Bakunin und Der Mensch in der Revolte von Albert Camus", die Mitte der 1950er Jahre in der Zeitschrift Le Libertaire veröffentlicht wurde. Autor ist Gaston Leval (1895-1978), ein antimilitaristischer Anarchist und Mitbegründer der heute noch existierenden anarchistischen Zeitschrift Le monde libertaire. Leval watscht hier Camus förmlich ab und kritisiert dessen Darstellung von Michael Bakunins Ideen in Der Mensch in der Revolte. "Albert Camus - was haben Sie von Bakunin gelesen?" (S. 171) wird dieser zum Einstieg provokant gefragt. Seine "Aufgabe", so Leval, sei "die Erinnerung und das Denken eines Menschen [Bakunin] zu verteidigen, den Sie [Camus] schlecht kennen und den Sie [...] mit einer mir völlig unerklärlichen, geistigen Einseitigkeit dargestellt haben". (S. 147) Aber selbst bei derartig harten Auseinandersetzungen blieb die Stimmung letztendlich solidarisch und Leval schlägt gegen Ende hin versöhnlichere Töne an. Camus antwortete auch auf diese Artikelserie, berichtigt einige Dinge, verteidigt sich, gesteht aber auch Fehler in seiner Bakunin-Rezeption ein und schreibt für eine anarchistische Camus-Interpretation schön zitierbare Sätze wie "Bakunin [ist] in mir lebendig". (S. 151) Er glaube, so Camus in seiner Replik, dass er "dem libertären Denken", auf das "die morgige Gesellschaft nicht [...] verzichten kann" dennoch einen "Dienst erwiesen" habe. (S. 152)

Offenkundige Verbindungslinien Camus' zum Anarchismus gibt es noch weitere. Eine, die im Buch ausführlich dargestellt wird, ist sein Engagement für die republikanischen Kräfte im Spanischen Bürgerkrieg und sein Einsatz für exilierte spanische AnarchistInnen. Sein Einsatz für das republikanische Spanien ging einher mit einer generellen, sichtlich großen Sympathie für den revolutionären Syndikalismus, die vor allem in den Beiträgen sichtbar wird, die aus der Zeitschrift La Révolution prolétarienne nachgedruckt wurden (Johann Bauer titelte in der Dezember-Ausgabe der Graswurzelrevolution anlässlich von Marins Buch gar: "Albert Camus, Anarchosyndikalist").

Doch hier kommt auch der libertäre Gewaltkritiker Camus mit ins Spiel, als er beispielsweise veranlasste, dass Simone Weils kritischer Bericht über republikanische Gräueltaten (sie selbst war auf anarchosyndikalistischer Seite in der "Kolonne Durruti" aktiv) in der Zeitschrift Témoins wieder abgedruckt wird. Die darauf folgende (und im Buch abgedruckte) Debatte kommentiert Camus so, dass es gut sei, "dass die revolutionäre Gewalt, die unvermeidlich ist, sich manchmal von dem scheußlich guten Gewissen trennt, in dem sie sich heute eingerichtet hat." (S. 222) Seine Kritik der Gewalt wird auch durch sein frühes Engagement für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung deutlich und er zählte stets zu den standhaftesten UnterstützerInnen von inhaftierten KriegsdienstverweigerInnen. Selbst, wenn diese religiös motiviert waren, war ihnen die Unterstützung des Atheisten Camus und der antimilitaristisch-anarchistischen Szene sicher.

Zur Résistance

Bemerkenswert auch der Beitrag Camus' zu Résistance und seinen Aktivitäten in dieser. Der Text war ursprünglich ein Vorwort zu dem Buch L'Allemagne vue par les écrivains de la Résistance française (Deutschland aus der Sicht der Schriftsteller aus der französischen Résistance). Unter dem Titel "Die Verweigerung des Hasses" schreibt er froh darüber zu sein, sich "dazu gezwungen zu haben, nichts an diesem Volk zu hassen, das wir bekämpft haben". (S. 197) Und hier wird schon deutlich, was damit gemeint ist. Sich dem Hass zu verweigern bedeutet keinesfalls, seinen Gegner nicht zu bekämpfen (selbst mit Gewalt). "Ja, wenn es jemals einen berechtigten Kampf gegeben hat, dann war es bestimmt dieser Kampf, in den man erst einwilligte, nachdem man bewiesen hatte, dass man ihn nicht wollte." (S. 194) Einen Gegner zu bekämpfen, sich aber gleichzeitig dem zu verweigern, was Totalitarismus, Barbarei und Genozid erst möglich macht, nämlich die vollständige und kompromisslose Entmenschlichung des "Anderen", das ist die Essenz dessen, was Camus hier anspricht. Widerstand ja, aber nicht um den Preis, sich seinem Gegner (vor allem, wenn dieser Gegner der deutsche Nationalsozialismus und seine faschistischen Verbündeten ist) moralisch auch nur anzunähern. Camus erklärt weiter zu den KämpferInnen der Résistance, dass diese "Menschen [...], die den Krieg verabscheuten und die sich dem Hass gegenüber einem andere Volk verweigerten, [...] in einen [...] Krieg hineingezogen" (S. 194) wurden. "Um damals irgendetwas aus der Katastrophe zu retten" so die Schlussfolgerung "konnten sie lediglich versuchen, sich nicht dem Hass zu übergeben." (S. 192)

Camus und die autoritäre Linke

Dieser Artikel zur Résistance führte wiederum (durch einige Bemerkungen, die für den/die in der Thematik nicht gänzlich trittfeste/n Leser/Leserin eher schwer herauslesbar sind) zu einem Disput ob und wie Camus hier den zu der Zeit bereits schwelenden Konflikt mit Jean-Paul Sartre und der autoritären, teils stalinistischen Linken zusätzlich befeuerte. Der Vorwurf lautete in etwa auf "Missbrauch der Résistance um persönliche Streitigkeiten auszutragen". Die Erwiderung Camus' findet sich ebenfalls im Buch. In diesem Streit mit der autoritären/stalinistischen Linken liegt übrigens auch das Missverständnis begraben, warum selbst Konservative sich positiv auf Camus beziehen, weil sie in ihm lediglich den "Anti-Stalinisten" erkennen, dabei aber völlig außer Acht lassen und geflissentlich ignorieren, dass Camus sehr wohl Sozialist war, nur eben ein libertärer. Dies zu übersehen bedarf schon besonderer Blindheit. Camus: "[D]er Kampf zwischen dem libertären Sozialismus und dem cäsarischen Sozialismus ist nicht beendet, und es kann keinen Kompromiss des einen im Hinblick auf den anderen geben." (S. 323) Ein anderes Zitat (aus angesprochener Erwiderung) macht deutlich, wie er sich - im historischen Kontext der Kalten-Kriegs-Dichotomie, die auch in der Linken stark spürbar war - positionierte:

"Ich weiß, dass es brutal war zu sagen, dass, so wie die rechten Intellektuellen damals in ihrer Raserei der Realpolitik ihren Nationalismus jedes Inhaltes entleert haben, auch die fortschrittlichen Intellektuellen heute nach demselben Muster Gefahr laufen, den Gehalt ihres eigenen Sozialismus zu verraten. Und dass unsere Intellektuellen in beiden Fällen fasziniert von der Macht einer fremden Nation sind, die vorgibt, ihr Ideal zu verwirklichen, und deshalb die Neigung haben, diese Nation unaufhörlich Entgegenkommen zu beweisen. Ja, das war brutal; aber man kann nicht mit gedämpfter Stimme Alarm schlagen. [...] Denn ich bin in einer Familie, der Linken, geboren und werde dort auch sterben; aber es fällt mir schwer, nicht deren Verfall zu beobachten." (S. 202)

Hier wird deutlich, was schon im Klappentext zu lesen ist, dass Camus nämlich diese dichotome Parteiname verweigerte und so "der einzige französische Intellektuelle" war "der sich bewusst auf ein drittes Lager stützte: das der Kriegsdienstverweigerer, der mundtot und vergessen gemachten Anti-KolonialistInnen [gemeint ist hier vor allem der Syndikalist und anti-kolonialistische Aktivist Messali Hadj aus Algerien; Anm. S.K.] und der revolutionären SyndikalistInnen."

Diskussionen mit und um Camus im libertären Milieu werden vom Herausgeber nachgezeichnet, in einer ausführlichen Einleitung in den richtigen Kontext gerückt und direkt im Text zusätzlich kommentiert. Konfrontiert wird man stets jedoch mit einem Camus, bei welchem die libertäre Grundhaltung "nicht mit gedämpfter Stimme" (S. 202) vernehmbar ist. Um den lauten, libertären Albert Camus verstehen zu können, ist dieser Sammelband essentiell.

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Buchbesprechung von Robert Foltin

Gabriel Kuhn (Hg): Bankraub für Befreiungsbewegungen. Die Geschichte der Blekingegade-Gruppe.

Münster: Unrast-Verlag, 2013, 230 Seiten, Euro 14

Am 2. Mai 1989 dringt die Polizei in die Wohnung Blekingegade 2 in Kopenhagen ein. Dort werden Radioempfänger, Sendeanlagen und Antennen, Masken, falsche Bärte, Polizeiuniformen und Maschinen zur Herstellung gefälschter Dokumente gefunden, außerdem das größte illegale Waffenlager, das in Dänemark je gefunden wurde: kistenweise Sprengstoff, Pistolen, Gewehre, Handgranaten, Landminen, Maschinengewehre und 34 Panzerabwehrraketen. Damit beginnt die mediale Geschichte der "Blekingegade-Bande" oder freundlicher Blekingegade-Gruppe genannt. Der Begriff setzte sich so stark in der Öffentlichkeit durch, dass sich selbst die Gruppenmitglieder gezwungen sahen, ihn zu verwenden.

Bei einem Raubüberfall auf einem Geldtransporter im Hof eines Postamtes am 13. April 1989 wird ein Polizist angeschossen, der wenig später stirbt. Kurz darauf werden mehrere Männer und eine Frau verhaftet, vier Verdächtige, Peter Döllner, Niels Jörgensen, Torkil Lauesen, Jan Weimann, bleiben bis Anfang Mai in Untersuchungshaft und sollten aus Mangel an Beweisen freigelassen werden. Sie haben Wohnungsschlüssel bei sich, tausende Wohnungen in Kopenhagen wurden getestet, aber die Schlüssel passen nicht. Am 2. Mai wird Carsten Nielsen bei einem Autounfall schwer verletzt. Weil sich verdächtige Utensilien im Auto befinden, wird einer Telefonrechnung für die Wohnung Blekingegade 2 Aufmerksamkeit geschenkt. Die Schlüssel passen zu dieser Wohnung. Das Besondere an diesem Kriminalfall ist nicht nur, dass Verwandte und Bekannte nichts von den illegalen Aktivitäten der Gruppe wussten, sondern dass es sich um Personen handelte, die als Linksradikale von der politischen Polizei überwacht wurden.

Das öffentliche Interesse in Dänemark war sehr groß: ein 800-seitiges Buch des bekannten dänischen Journalisten Peter Övig Knudsen erscheint, das die Ereignisse aus dem Blickwinkel der Ermittlungsbehörden darstellt (auf Deutsch: Der innere Kreis: Die Blekingegade-Bande)[1], das zu einem Bestseller wurde, weitere Bücher erscheinen (Die Geheimnisse der Polizei: Kriminalinspektor Jörn Moos rollt den Blekingegade-Fall auf), ein Dokumentarfilm, ein Theaterstück und die Ausstrahlung einer TV-Serie Blekingegade. Um der Darstellung der Medien und der Polizei etwas entgegen zu setzen, wurde dieses Buch zusammengestellt.

Nach einer Einleitung, die sowohl die politische wie die kriminelle Geschichte der Blekingegade-Gruppe erzählt, enthält das Buch drei Teile: eine Erklärung von Niels Jörgensen, Torkil Lauesen und Jan Weidmann, die als Antwort auf die Medienberichterstattung in der Zeitschrift Social Kritik im März 2009 veröffentlicht wurde und die die Geschichte der Gruppe nachzeichnet. Einige in der dänischen Öffentlichkeit falsch dargestellte Fakten, etwa in Bezug auf die Kontakte zu politischen Organisationen wie zur PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) und RAF (Rote Armee Fraktion) werden klargestellt. Und es wird betont, dass die Aktionen nie den Zweck über die Mittel setzten und versucht wurde, so wenig Gewalt wie möglich anzuwenden. Eine Entführung wurde zwar akribisch vorbereitet, aber nie durchgeführt.

Der zweite Teil beinhaltet ein Interview des Herausgebers mit Tokil Lauesen und Jan Weimann (Niels Jörgensen war im September 2008 gestorben, hatte aber noch an der Erklärung mitgearbeitet), wo noch einmal die politischen Motive und Kontakte hinterfragt werden. Ein dritter Teil enthält Dokumente der politischen Gruppen, der KAK (Kommunistik Arbejdskreds, Kommunistischer Arbeitskreis) und M-KA (Manifest - Kommunistik Arbejdsgruppe, Manifest - Kommunistische Arbeitsgruppe), in denen die Aktiven der Blekingegade-Gruppe engagiert waren und die die politischen Position klarlegen etwa in der Abgrenzung zu westdeutschen Gruppen, dem maoistischen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) und der RAF. Ergänzt wird das noch durch eine Zeittafel und ein Glossar der politischen Organisationen.

Die so genannte "Schmarotzerstaattheorie", die von KAK und M-KA vertreten wurde, besagt, dass der Kapitalismus Extraprofite durch die Ausbeutung der "Dritten Welt" lukriert und nach langen und harten Kämpfen konnte sich die Arbeiter_innenklasse in den imperialistischen Ländern umverteilten. Die Interessen von Kapitalist_innen und Arbeiter_innenklasse näherten sich an. Eine revolutionäre Entwicklung ist nur möglich von Seiten der Arbeiter_innen und Bäuer_innen im globalen Süden. Aufgabe von Revolutionär_innen in den imperialistischen Ländern ist die Unterstützung der Befreiungskämpfe im Süden. Der Erfolg der dortigen Kämpfe würde den Kapitalismus in eine Krise stürzen und damit die Arbeiteraristokratie revolutionieren. Diese Analyse entstand durch die Erfahrungen der späten 1960er und bedeutete den Bruch mit dem Maoismus, der weiter auf die Kämpfe der Arbeiter_innen in Westeuropa setzte.

Das Konzept der Blekingegade-Gruppe unterschied sich von dem der RAF oder dem der Roten Brigaden. Die kriminellen Aktionen wurden nicht durch Erklärungen begleitet, im Prozess wurde nicht verlangt, diesen auch politisch zu führen. Die Überfälle wurden in einer parallelen Welt durchgeführt, die politische Aktivität war völlig davon abgetrennt. In den bürgerlichen Medien wurde über die Rolle der politischen Polizei spekuliert, die die Verdächtigen die ganze Zeit überwachte, aber keine Beweise für die kriminellen Aktionen bringen konnte. Die völlige Trennung von Politik und krimineller Aktivität war Teil des Erfolges der Blekingegade-Gruppe. Es ging nicht um Öffentlichkeit, sondern um die konkrete Unterstützung der antiimperialistischen Kämpfe ("Solidarität ist etwas, das du in der Hand halten kannst"). Es wurden nur Gruppen mit Geld und Materialien unterstützt, die ein eindeutig sozialistisches Konzept hatten: "Wir unterstützen die PFLP nicht in erster Linie deshalb, weil sie einen palästinensischen Staat anstrebte, sondern weil sie eine sozialistische Vision für die arabische Welt und eine internationalistische Perspektive hatte." (S. 57)

Die Blekingegade-Gruppe mied aus konspirativen Gründen den Kontakt zu anderen bewaffneten Organisationen in Europa. Sie kritisierten die RAF, weil sie den Widerstand in den imperialistischen Ländern überbewertete ("bewaffneter Ökonomismus"). Die Blekingegade-Gruppe weigerte sich, mit der Special Operations Group unter Wadi Haddad zusammen zu arbeiten, denn deren bewaffnete und terroristische Aktionen seien zu elitär und würden im Gegensatz zur PLPF unter George Habash nichts dazu beitragen, die palästinensischen Massen zu organisieren.

Der Blekingegade-Gruppe wurde wegen der sogenannten Z-Datei Antisemitismus vorgeworfen: Im Auftrag der PLFP wurden Daten über eventuelle israelische Agent_innen gesammelt, da viele Europäer_innen in die Lager der PLFP gereist seien und ein relativ gutes Bild der dort bestehenden Strukturen bekommen hätten. Agent_innen, die als linke Tourist_innen kommen, sollten ferngehalten werden. Die Interviewten bezeichnen die Anlage dieser Datei nachträglich als schweren Fehler, nicht nur, weil es falsch verstanden wurde und in der Öffentlichkeit eine "Judendatei" auftauchte, sondern weil es in der Konsequenz nicht durchdacht war und tatsächlich in einer Zeit des steigenden Antisemitismus und Rassismus Angst erzeugte (S. 144f).

Das Buch zeigt in der Geschichte der Blekingegade-Gruppe ein Bild über antiimperialistische Solidarität, wie sie in den meisten anderen Zusammenhängen ungewöhnlich war. Und es ist ein Versuch, sich die linke Bewegungsgeschichte nicht vom herrschenden Diskurs enteignen zu lassen.

P.S.: Jörgensen, Lauesen, Nielsen und Jan Weimann wurden für den Raubüberfall auf den Geldtransporter verurteilt, alle anderen Vorwürfe konnten nicht bestätigt werden. Eine Mordanklage wurde fallengelassen, weil der Schütze nicht identifiziert und keine kollektive Tötungsabsicht festgestellt werden konnte.



Anmerkung

[1] Vergleiche die reißerische Bewerbung auf Amazon: "Die Erzählleistung des preisgekrönten Journalisten ist unangefochten und hat dazu beigetragen, dass Knudsen einen Real-Polit-Thriller von der Qualität eines John le Carré und Frederick Forsyth vorlegen konnte. Eine spannende Geschichte, die auf wahren Ereignissen beruht. Nachdem die Bande Polizei und Geheimdienst beinahe 20 Jahre an der Nase herum geführt hat, findet die Polizei im Kopenhagener Stadtteil Amager 1989 durch Zufall ein umfangreiches Waffenlager und begreift, dass in der Blekinge-Straße eine Terror-Organisation herangewachsen ist. In den 70er- und 80er-Jahren begeht diese Gruppe Linker in Dänemark aufsehenerregende Raubzüge. Trauriger Höhepunkt ist ein Überfall, bei dem ein Polizist getötet wird. Die Gruppe ist mit der deutschen RAF, den italienischen Roten Brigaden und der Volksfront zur Befreiung Palästinas vernetzt. Die Rebellen wollen mit ihren Raubzügen Geld für Palästina und die Dritte Welt sammeln. Knudsen geht der brisanten und topaktuellen Frage nach, wie aus jungen Menschen aus geordneten Verhältnissen fanatische Terroristen und Mörder werden können.

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Call for papers:
(1.Welt)Krieg - Information - Desinformation

Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs sind die großen mit dem Krieg verknüpften Fragen einer emanzipatorischen und kommunistischen Perspektive ungelöst. Zudem resultieren aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusätzliche Problematiken. Eine davon ist der Informations- und Gegeninformationskrieg, die alle militärischen Konflikte begleitet.

Wir möchten diesem Themenkreis die nächste Ausgabe der grundrisse widmen und freuen uns über Artikel und Essays bis 40.000 Zeichen. Aus der Fülle der Fragen wollen wir nun einige hervorheben, die euch eventuell besonders zur Abfassung von Texten motivieren. Da wäre zunächst die Frage, ob es - immer noch? - gerechte Kriege gibt, also militärische Konflikte, deren Ausgang entweder Revolutionen oder Konterrevolutionen befördern. Ist etwa die Epoche der antiimperialistischen Kämpfe vorbei oder hat diese Form des Befreiungskampfes erneut an Aktualität gewonnen? Wie steht es um bewaffnete Konflikte in Namen nationaler Selbstbestimmung? Weiters stellt sich die Problematik der Veränderung der Kriegsführung selbst, auf die Söldnerkriege des Mittelalters folgten die Kriege der nationalen Heere im 19. Jahrhundert um im 20. von den totalen Kriegen abgelöst zu werden. Gegenwärtig scheinen Kriege oftmals den Charakter von erweiterten Polizeiaktionen anzunehmen, wobei in den meisten Fällen ein extremes militärisches Ungleichgewicht festzustellen ist. Brandaktuell erscheint uns auch die Thematik der Kriegshandlungen, die vorgeblich in Namen der Menschenrechte und der Demokratie geführt werden. In diesem Kontext erweist sich die Frage der Informationspolitik als besonders relevant und es kann diskutiert werden, ob der Begriff der Manipulation nicht doch rehabilitiert werden muss. Leider viel zu selten wird die Tatsache der Kriegstraumata diskutiert.

Hunderttausende, ja Millionen Männer wie Frauen erlitten und erleiden durch Kriegshandlungen schwere seelische Schäden. Welche Wirkungen hinterließ dies für die Gesellschaften und für die nachfolgenden Generationen? Und wie sollen oder können revolutionäre Organisationen mit der Frage der Traumata und der Verrohung von Gesellschaften durch die Permanenz der militärischen Konflikte umgehen? Etwas allgemeiner gefragt: Können über Kriterien und Methoden zur Beurteilung und Einschätzung von Kriegen sinnvoll allgemeine Debatten geführt werden, etwa an der prinzipiellen Ablehnung von Kriegshandlungen orientiert, oder ist jeder Konflikt für sich zu beurteilen?

Wir ersuchen um Beiträge bis zum 5. Mai 2014 an:
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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15. März 2014
Redaktionsschluss der Nr. 50: 5. Mai 2014

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Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Maria Gössler,
Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Paul Pop, Walter S.

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

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ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 49, frühjahr 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2014