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IMI/375: Wehrpflicht als Auslaufmodell


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Standpunkt 2011/029 - in: AUSDRUCK (Juni 2011)

Wehrpflicht als Auslaufmodell
Warum für weltweite Militärinterventionen keine Wehrpflichtigen gebraucht werden

Von Claudia Haydt


Während des Kalten Krieges setzten die Armeen des Warschauer Paktes und der NATO auf Massenheere. Dies beinhaltete große Mengen an schwerem Kriegsgerät (z.B. Panzer oder Interkontinentalraketen) und große Mengen an Soldaten. In nahezu allen Staaten wurde ein großer Teil der dafür vorgesehenen Soldaten über eine allgemeine Wehrpflicht rekrutiert. Heute ist die Wehrpflicht in vielen Staaten verkürzt oder ganz abgeschafft. Warum diese Entwicklung wenig mit einer neuen Friedenspolitik zu tun hat, soll im folgenden erläutert werden.


Quantitative Abrüstung und qualitative Aufrüstung

Seit dem Ende der Blockkonfrontation hat sich die Militärstruktur in den meisten Staaten grundlegend geändert. In den 1990er Jahren folgte eine Welle der quantitativen Abrüstung, Panzer wurden verschrottet und Atomwaffenarsenale verkleinert. Dies hatte jedoch nur begrenzt etwas mit tatsächlicher Friedensorientierung zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Großmächte in verheerende kriegerische Auseinandersetzungen verstricken, ist zwar mittelfristig gering, dafür wurden aber ebenfalls in den 1990er Jahren in nahezu allen Armeen der reichen Industriestaaten Strukturreformen in den Armeen durchgeführt, die einhergingen mit einer qualitativen Aufrüstung. Die neuen Rüstungsprojekte wurden mehr und mehr auf ihre Tauglichkeit für Auslandseinsätze, für Kriege und Besatzung überwiegend in armen aber rohstoffreichen Regionen, ausgewählt. Die Ausbildung der Soldaten und die Struktur der Armeen wurde entsprechend verändert. Dabei wurde bereits in vielen Staaten die Wehrpflicht ausgesetzt, etwa in den Niederlanden und Frankreich (1996). Für Massenheere des kalten Krieges waren Auslandseinsätze meist eine sekundäre Aufgabe, der Schwerpunkt lag auf territorial definierter Landesverteidigung. Die juristische Begründung der Wehrpflicht ist meist mit dieser Landesverteidigung verknüpft. Folglich mussten Staaten, die Wehrpflichtige für Einsätze außerhalb der Grenzen des Heimatlandes heranzogen, meist mit massiven internen Widerständen rechnen, das galt für die Sowjetunion in Afghanistan genauso, wie für die USA in Vietnam. In den USA wurde nicht zuletzt deswegen 1973 die Wehrpflicht ausgesetzt. Da die meisten NATO-Staaten zwischenzeitlich ebenfalls von Verteidigung als Hauptaufgabe ihrer Armeen abgerückt sind, liegt es nahe, dass Wehrpflichtige mit der Fokussierung auf Auslandseinsätze zum juristischen und medialen Ballast für die modernen Interventionsarmeen geworden sind. Überdies brauchen die modernen Armeen in zunehmendem Maße Spezialisten für ihren immer höher technisierten Einsatzalltag. Solche Spezialisten brauchen längere Ausbildungen, die sich mit den kurzen Zeiträumen einer Wehrpflicht nur schwer vereinbaren lassen. Moderne Interventionsarmeen sind also strukturell Berufsarmeen und damit sind sie den vormodernen Söldnerarmeen wiederum sehr ähnlich.


Demokratische Kontrolle durch Wehrpflichtige?

Einige Staaten, wie Deutschland, hielten trotz zunehmender Bedeutung von Kriegs- und Besatzungseinsätzen "out of area", also außerhalb des NATO Bündnis-Gebietes, an der nun deutlich verkürzten Wehrpflicht fest. Wesentliche öffentliche Begründung dafür war, dass nur so das Ideal einer demokratisch kontrollierten Armee mit "Staatsbürgern in Uniform" umzusetzen sei. Ein Argument, das vielleicht zu Zeiten des Kalten Krieges eine gewisse Berechtigung hatte. Damals übten Berufs- und Zeitsoldaten zusammen mit Wehrpflichtigen für den Fall der Verteidigung des Westens Deutschlands gegen den Osten und allen war klar, dass im Falle eines Krieges wahrscheinlich niemand überleben würde. Regelmäßig neu dazu kommende Wehrpflichtige waren in diesem Kontext ein gewisses Gegengewicht gegen militärische Eigendynamiken. Während so im begrenztem Ausmaß kritische Haltungen aus der Bevölkerung in der Bundeswehr ankamen, entfalteten umgekehrt die militärischen Strukturen (Befehl und Gehorsam, Ausbildung zum Töten etc.) ihren Einfluss auf ganze Generationen junger Männer.

Durch die Fokussierung auf Auslandseinsätze wurde selbst die begrenzte "Kontrollfunktion" der Wehrpflichtigen völlig ausgehebelt. Die Bundeswehr bestand nun faktisch aus zwei Teilen, mit wenigen Berührungspunkten untereinander. Die "Profis" in der Armee organisierten sich um die Vorbereitung der Auslandseinsätze herum, während sich die Wehrpflichtigen auf den, laut Weißbuch der Bundeswehr, nicht zu erwartenden Verteidigungsfall vorbereiteten. Eine Kontrolle der Berufsarmee durch die Wehrpflichtigen war so praktisch ausgeschlossen. Lediglich die jungen Männer, die sich dafür entschieden, länger Dienst zu tun, waren mit dem Alltag der Auslandseinsätze konfrontiert. Doch diese hatten aus ökonomischen oder ideologischen Gründen häufig eine unkritische Haltung zur Bundeswehr.


Sparen durch die Abschaffung der Wehrpflicht?

In Deutschland, wie in vielen anderen Staaten, waren mögliche Einsparungen durch die Abschaffung der Wehrpflicht meist ein wichtiges Argument in der politischen Debatte. Oberflächlich ist dies ein bestechendes Argument. Durch die Abschaffung der Wehrpflicht werden in Deutschland etwa eine Milliarde Euro pro Jahr durch die Einsparung des Wehrsoldes, der Unterbringung und Verpflegung von Wehrpflichtigen gespart. Zudem werden mehrere zehntausend Berufssoldaten nicht mehr durch die Ausbildung und Betreuung von Wehrpflichtigen gebunden. Doch der Spareffekt ist stark überschätzt, denn einerseits kosten auch "Freiwillige" Geld und zweitens ist genau die Rekrutierung dieser Freiwilligen für die Armee deutlich schwieriger, wenn die Wehrpflicht abgeschafft ist. Deswegen hat der deutsche Bundestag nun ein umfangreiches Paket zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr beschlossen. Rechnet man die Rekrutierungsprämien und die Kosten für Öffentlichkeitsarbeit kritisch gegen die früheren Kosten der Wehrpflicht auf, dann zeigt sich schnell, dass der Spareffekt, sollte es ihn überhaupt geben, dann ein äußerst kleiner ist. Der deutsche Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus forderte nun sogar mehr Geld als "Anschubfinanzierung" für die Umstrukturierung der Bundeswehr nach Abschaffung der Wehrpflicht, denn die Bundeswehr müsse nun "noch mehr als bisher" (Saarbrücker Zeitung 25.4.2011) auf dem Arbeitsmarkt mit zivilen Arbeitgebern konkurrieren.


Nur noch freiwillig zur Armee?

Der größte Vorteil an der Abschaffung der Wehrpflicht ist der, dass nun junge Männer nicht mehr einem Zwangsdienst unterworfen sind und dass die teilweise entwürdigenden Tauglichkeitsuntersuchungen damit der Vergangenheit angehören. Wer jetzt zur Armee geht, tut das freiwillig und entscheidet sich bewusst für diesen risikoreichen Job. Das jedenfalls ist die Theorie, doch viele der Freiwilligen schließen sich nicht wirklich freiwillig einer Berufsarmee an. Das zeigt etwa das Beispiel der USA, wo man sehr deutlich sieht, dass für Menschen aus strukturschwachen Regionen, für Farbige oder für Migranten die Armee oft die einzige Karrierechance ist. Zugespitzt könnte man auch sagen, dass so die Armen die Kriege der Reichen führen. Jugendarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplätzen, Studiengebühren, all das sind die Rekrutierungshelfer der Berufsarmeen, die dazu beitragen, dass junge Menschen sich keineswegs wirklich "freiwillig" für den Beruf des Soldaten entscheiden. Das Ende der Wehrpflicht bedeutet für viele Freiheit von einem Zwangsdienst. Doch unter den Bedingungen, dass gerade die Armeen der reichen Staaten immer stärker zu weltweiten Interventionsarmeen werden, ist das Ende Wehrpflicht auch die konsequente Fortsetzung des Umbaus der Armeen zu effizienten Kriegsführungsinstrumenten. Ein Anlass zu ungetrübter Freude ist die Abschaffung der Wehrpflicht erst dann, wenn gleichzeitig auch ein Ende der Auslandseinsätze, ein Ende der Angriffskriege und der humanitär verbrämten internationalen Militärinterventionen beschlossen wird.


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Quelle:
IMI-Standpunkt 2011/029 - in: AUSDRUCK (Juni 2011)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2011