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IMI/784: Der Krieg in Mali als Folge der Formierung EUropäischer Außenpolitik


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Studie Nr. 6/2017 vom 24.4.2017

Der Krieg in Mali als Folge der Formierung EUropäischer Außenpolitik

von Christoph Marischka


Einleitung

EU- und Regierungsvertreter_innen sowie regierungsnahe Thinktanks bemühen gerne das Narrativ, dass Mali zu lange als Musterland der Demokratie wahrgenommen und die "internationale Gemeinschaft" bzw. die EU dem westafrikanischen Land nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Das wirkt als (Selbst-)Kritik zunächst automatisch ehrlich und dominiert deshalb auch die öffentliche Debatte über die Geschichte der Eskalation in Mali. In Wahrheit trifft das Gegenteil zu: Der Krieg in Mali ist zumindest in Teilen Ergebnis der Institutionalisierung und Fusionierung EUropäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der hiermit zusammenhängenden Versicherheitlichung der Region und ihrer geopolitischen Rahmung als "Sahel", wie im Folgenden dargestellt werden soll. Natürlich lässt sich die Eskalation auch aus den inneren Konflikten in Mali erklären, wie Georg Klute das im Heft Nr. 86 der Inamo [1] tut, hier soll jedoch aufgezeigt werden, dass und warum die EUropäischen Interventionen alles andere als hilfreich waren, den Konflikt zu lösen oder einzudämmen.


2003: Die Europäische Sicherheitsstrategie

Blicken wir zurück ins Jahr 2003, als die Europäische Union nicht nur ihre ersten beiden Militäreinsätze unter eigener Führung durchführte - die Missionen Concordia in Mazedonien und Artemis im Congo - sondern auch eine eigene Sicherheitsstrategie formulierte und verabschiedete. Diese Sicherheitsstrategie hatte im Wesentlichen die Funktion einer selbsterfüllenden Prophezeiung indem sie postulierte, dass die Europäische Union ein Akteur und ein globaler obendrein sei: "Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaften, ist die Europäische Union ... zwangsläufig ein globaler Akteur... Europa muss daher bereit sein, Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen."

Zwar wird in der Sicherheitsstrategie bereits von einer "zunehmende[n] Konvergenz europäischer Interessen" als Voraussetzung für die Akteursrolle der EU gesprochen, im Wesentlichen diente sie aber v.a. selbst der Herstellung dieser "Konvergenz", indem festgelegt werden sollte, unter welchen Umständen und mit welchen Zielen die Mitgliedsstaaten gemeinsam und unter dem Dach der EU militärisch aktiv werden sollen, um ihre Akteursqualität zu unterstreichen. Hierzu definiert die Sicherheitsstrategie "Bedrohungen", auf die es zu reagieren gelte. Dabei ist auffällig, dass hierbei keine genuin militärische Bedrohung ausgemacht, sondern eher ein Potpourri aus Problemlagen in anderen Ländern adressiert wurde, bei denen es sich letztlich um Phänomene der Kriminalität handelt: "Der grenzüberschreitende Handel mit Drogen, Frauen, illegalen Einwanderern und Waffen machen einen wichtigen Teil der Machenschaften krimineller Banden aus, und bisweilen bestehen Verbindungen zu terroristischen Bewegungen". Weiter heißt es: "Diese Formen der Kriminalität hängen oft mit der Schwäche oder dem Versagen des Staates zusammen", womit das "Scheitern von Staaten" letztlich zur gemeinsamen Ursache und thematischen Klammer der identifizierten Bedrohungen ausgemacht wurde. "Bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente - extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität, Schwächung staatlicher Systeme und Privatisierung der Gewalt" sei "durchaus vorstellbar, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte". Zur eigentlichen Voraussetzung EUropäischen sicherheitspolitischen Engagements wurde damit eine Schwäche von Staatlichkeit nach europäischen Maßstäben erklärt, der es präventiv entgegenzuwirken gelte: "Staatlicher Zusammenbruch und organisierte Kriminalität breiten sich aus, wenn ihnen nicht entgegengewirkt wird. Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." Entsprechend müsse darauf hingearbeitet werden, "dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können".

Das könnte als erklärte Regime-Change-Strategie interpretiert werden, geht aber im Prinzip sogar noch weiter, da nicht lediglich die Spitze des Staatswesens ersetzt (und in Folge die Märkte liberalisiert) werden, sondern letztlich ganz neue Staatswesen geschaffen werden sollen, wobei als Kern des Staates der sogenannte Sicherheitssektor verstanden wird, also Militär, Gendarmerie, Polizei, Justiz und die sie kontrollierenden Behörden, Ministerien und Parlamente. Entsprechend findet sich in der Europäischen Sicherheitsstrategie auch die Aussage "Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung", die zumindest im Nachhinein nicht nur so zu lesen ist, dass ohne einen umfassenden Sicherheits- bzw. Gewaltapparat Initiativen zur ökonomischen oder gar sozialen Entwicklung zum Scheitern verurteilt sind, sondern auch dahingehend, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit (zunächst) auf den Aufbau entsprechender Sicherheitsapparate fokussieren sollte.


"Schwäche von Staatlichkeit" im "Sahel"

Allein aufgrund dieser Ausrichtung der Europäischen Sicherheitsstrategie auf "Scheiternde Staatlichkeit" und dem darin zum Ausdruck kommenden Konzept von Staatlichkeit hätte man bereits zu jenem Zeitpunkt prognostizieren können, dass jene afrikanischen Länder, die heute geopolitisch als Sahel-Region oder (aktuell) "G5 Sahel" zusammengefasst werden, zukünftig einen Schwerpunkt EUropäischer Außen- und Sicherheitspolitik bilden werden: Die Länder Mauretanien, Mali und Niger haben eine Ausdehnung, die jeweils dem Drei- bis Vierfachen derjenigen der Bundesrepublik Deutschland entspricht, und damit auch deutlich längere Grenzen, die obendrein durch dünn besiedeltes und infrastrukturell kaum erschlossenes Gebiet führen. Der Bestand an asphaltierten Straßen und gut ausgebauten Flughäfen beträgt nur einen Bruchteil auch deutlich kleinerer europäischer Staaten. Um eine mit europäischen Staaten vergleichbare "Präsenz des Staates in der Fläche" oder Überwachungsdichte an den Grenzen zu gewährleisten, wären Infrastrukturen, Finanzmittel und ein Personalaufwand notwendig, die den genannten afrikanischen Staaten schlicht nicht zur Verfügung stehen. Zwar geben sie einen (tw. deutlich) höheren Anteil des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Verteidigung aus, unterhalten jedoch mit einer um das Vier- bis Zwanzigfache kleineren Bevölkerung und einem bestenfalls um den Faktor Einhundert niedrigeren BIP Armeen, die etwa zehnmal kleiner und natürlich deutlich schlechter ausgerüstet sind, als diejenige der Bundesrepublik. Mit einer Bevölkerung unter 20 Mio. Menschen und einem Jahreshaushalt von 2,5 Mrd. US$ kann etwa Mali kaum mehr als 15.000 Soldaten und je etwa 5.000 Polizei- und Gendarmeriekräfte unterhalten und damit ist es nicht möglich, ein staatliches Gewaltmonopol durchzusetzen, die Bevölkerung im Norden zu entwaffnen und den grenzüberschreitenden Handel, von dem sie lebt, zu unterbinden. Frühere Versuche, mit "Sicherheitskräften" aus dem Süden die Kontrolle im Norden zu verdichten, mündeten in Aufständen, die durch einen Rückzug des Militärs in den Süden und die Vergabe von politischen und militärischen Ämtern an die Rebellenführer beigelegt wurden. Diese tolerierten den grenzüberschreitenden Handel und profitierten nicht selten direkt oder über Familienmitglieder von diesem. Zwar sind solche Formen intermediärer Herrschaft und Staatlichkeit in weiten Teilen des globalen Südens zu finden, ihre engen Zusammenhänge mit (aus westlicher Sicht unkontrolliertem) Handel, der in der EU-Sicherheitsstrategie eine herausragende Rolle spielt, sind jedoch in der betreffenden Region besonders augenfällig. Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, weshalb Afrika und insbesondere Westafrika zum Schwerpunkt der EU-Sicherheitspolitik wurde.


Afrika als Experimentierfeld

Denn zentrales Ziel der EU-Sicherheitsstrategie war ja die Akteurswerdung der EU selbst und hierzu gehörte wesentlich, durch erste militärische EU-Missionen in Erscheinung zu treten. In ihrer Fokussierung auf "Schwache Staaten" fehlen der Sicherheitsstrategie Festlegungen zum Umgang mit anderen Welt- und Großmächten und regionale Schwerpunkte. Diese ergeben sich jedoch aus der Praxis, denn die Strukturen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik waren zumindest zu jenem Zeitpunkt noch viel zu schwach und auch das Konsensprinzip verhinderte, dass Missionen beschlossen wurden, mit denen man anderen Groß- oder Regionalmächten ernsthaft ins Gehege gekommen wäre. Somit schieden für erste Militäreinsätze Konfliktgebieten im russischen Einflussbereich ebenso aus, wie jene auf der Arabischen Halbinsel. Übrig blieb unter Berücksichtigung logistischer Beschränkungen v.a. der afrikanische Kontinent, wo das Engagement verschiedener Groß- und Weltmächte zwar ab den späten 1990er Jahren zunahm, aber keine von ihnen oder auch den mächtigeren afrikanischen Staaten eine hegemoniale Stellung beanspruchen konnte.

Entsprechend fanden nach Concordia in Mazedonien - einer zeitlich begrenzten, formalen Übernahme einer NATO-Mission durch die EU unter Rückgriff auf NATO-Führungsstrukturen und -Logistik - die ersten EU-Militäreinsätze in der Demokratischen Republik Kongo (und Gabun) 2003 und 2006, sowie in Tschad und der Zentralafrikanischen Republik (2008) statt. Obwohl diese Missionen ab 2006 mit dem eher martialischen Kürzel EUFOR (European Union Force) bezeichnet und mit 2.000 bis 4.000 beteiligten Kräften für EU-Verhältnisse recht umfangreich waren, handelte es sich de facto eher um politisch-logistische Übungen, die kaum einen erkennbaren und v.a. keinen nachhaltigen Einfluss auf die jeweiligen Konflikte hatten, in die unter humanitärem Vorwand interveniert wurde. Die Einsätze im Kongo dienten als Vorbild für die Aufstellung von je zwei EU-Battle-Groups für je sechs Monate, die seither jedoch in dieser Form - abgesehen von intensiven gemeinsamen Übungen - nie zum Einsatz kamen.

Im Schatten der EUFOR-Missionen bildeten sich jedoch andere Formen von EU-Einsätzen heraus, darunter EUPOL-Einsätze zum Polizeiaufbau in Mazedonien (ab 2003), der DR Congo (ab 2005) und Afghanistan (ab 2007). 2008 begann dann eine kleine, hybride Mission der EU zur Reform des Sicherheitssektors in Guinea-Bissau, mit dem Ziel, Aufbau, Struktur und Aufgabenteilung zwischen Polizei, Gendarmerie und Militär in dem bitterarmen Land neu zu gliedern. Diese Mission scheiterte kläglich, unter anderem fanden während der Anwesenheit der Europäischen Berater mehrere Putschversuche statt. In der Folge wurde der Aufbau des Militärs und "ziviler" Sicherheitskräfte wieder stärker voneinander getrennt. Die erste EU-Trainingsmission (EUTM) zum Aufbau einer Armee im Kontext eines Bürgerkrieges begann 2010 und diente der Ausbildung somalischer Soldaten. Sie wurde von einem überwiegend von der EU finanzierten, umfangreichen Militäreinsatz der Nachbarstaaten unter (formaler) Führung der Afrikanischen Union flankiert und 2012 durch eine "zivile" Mission zum Aufbau der Küstenwache Somalias (und der Nachbarstaaten) ergänzt. Dabei handelte es sich um die erste sogenannte EUCAP-Mission, also ein Einsatz zum "Kapazitätsaufbau".

Die durchaus experimentelle Geschichte von EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent lässt sich somit in einer Tendenz zusammenfassen, statt kurzfristiger Entsendungen größerer Kontingente (EUFOR) verschiedene, ineinandergreifende Missionen mit den längerfristigen Zielen des Aufbaus einer Armee (EUTM) und "ziviler" Sicherheitskräfte (EUCAP) in dieselbe Region zu entsenden. Die frühen, humanitär begründeten und stark militärisch geprägten EU-Missionen unterstrichen zwar oberflächlich den Akteurscharakter den EU, hatten jedoch anders als die späteren EUTM- und EUCAP-Missionen wenig mit der eher sicherheitspolitischen Bedrohungsanalyse zu tun, die der EU-Sicherheitsstrategie zugrunde lag.


Aufrüstung im Namen des Grenzschutzes

Parallel hierzu fanden unterhalb der Schwelle zum offiziellen Einsatz eine Vielzahl von "sicherheitspolitischen" Maßnahmen zur Aufrüstung statt, die sich insbesondere auf Nordafrika und erst später auch auf die südlich angrenzenden Länder bezogen. Während die USA dort ab 2002 zunächst in den Staaten Mauretanien, Mali, Niger und Tschad (Pan-Sahel-Initiative) und ab 2005 zusätzlich in Marokko, Senegal, Algerien, Tunesien, Burkina Faso und Nigeria (Trans-Sahara Counter-Terrorism Initiative) unter der Maßgabe des "Krieg gegen den Terror" Spezialeinheiten ausbildeten, Überwachungstechnologie installierten und Geheimdienstkooperationen etablierten, standen von europäischer Seite zunächst einzelstaatliche Initiativen zur "Bekämpfung der illegalen Migration" im Vordergrund, die zunehmend mit einem breiteren Aufgabenspektrum in einen europäischen Rahmen überführt wurden.

So bemühte sich Italien bereits seit 2000 um die polizeiliche Zusammenarbeit mit Libyen bei der Bekämpfung illegaler Migration, die ab 2003 zur italienischen Finanzierung von Flüchtlingslagern in Libyen führte und es Italien 2004 erstmals ermöglichte, größere Sammelabschiebungen von Drittstaatenangehörigen nach Libyen durchzuführen. Italien bemühte sich insbesondere während seiner Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2003 darum, die EU-Sanktionen gegenüber Libyen aufzuheben, um dem südlichen Nachbarn in größerem Umfang Polizeiausrüstung und Überwachungstechnologie liefern zu können, bereits zuvor wurden Libyen Geländewagen, Nachtsichtkameras, Unterwasserkameras und 1.000 Leichensäcke geschenkt und mehrwöchige Ausbildungsprogramme für die libysche Polizei in Terrorismusbekämpfung und der Erkennung gefälschter Dokumente zugesagt. Ende 2004 besuchte auf dieser Grundlage eine "technische Mission" der EU-Kommission Libyen, um die weitere Zusammenarbeit auf Ebene der EU auszuloten, wobei es sich bei den "Experten" der EU letztlich nur um 5 Vertreter der Kommission, einen Vertreter von Europol und 15 Vertreter_innen nationaler Innen- und Außenministerien handelte. Die "technische Mission" kam zu dem Schluss, dass eine Stärkung der libyschen Institutionen und eine verbesserte Ausbildung des libyschen Grenzschutzes anzustreben sei und verwies auf entsprechende Programmlinien der EU zur Finanzierung.[2]

Entsprechende Maßnahmen wurden unter spanischer Führung auch gegenüber Marokko und Mauretanien durchgeführt und mündeten ab 2004 in das Seahorse-Programm, das einen engen Austausch, Ausbildungskurse und gemeinsame Patrouillen der Guardia Civil mit den Küstenwachen Marokkos, Mauretaniens und Senegals beinhaltete. Später kamen die Lieferung von Überwachungstechnologie und eine Anbindung nationaler Kontaktstellen auf dem afrikanischen Kontinent an die spanische Satellitenaufklärung hinzu, die zunehmend im europäischen Rahmen durch weitere Aufklärungsdaten ergänzt wurde. Neben den Seegrenzen rückten daraufhin auch zunehmend die Binnengrenzen innerhalb Afrikas in den Fokus. Von den 2004 bis 2006 im Rahmen des EU-Programm AENEAS "zur finanziellen und technischen Unterstützung von Drittstaaten im Bereich Migration und Asyl" bereitgestellten Mitteln flossen etwa 50 Mio. in Projekte zum Migrationsmanagement in Afrika, davon ein Großteil nach Nord- und Westafrika. Die Projekte beinhalteten neben der Untersuchung und dem "Informationsaustausch" über die dortigen Migrationsrouten mehrere Programme zur Förderung gemeinsamer Patrouillen an den Landgrenzen zwischen Libyen und Niger (2 Mio. Euro) bzw. Libyen und Algerien (1 Mio.), zur besseren Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden in Westafrika (2 Mio.), Aufbau und Ausstattung von 10 Grenzposten der malischen Polizei (1 Mio.), zur Überwachung der Grenzen des Niger (1 Mio.) usw.[3]

Die so in Gang gesetzten Finanzflüsse und der entsprechende Ausbildungs- und Technologietransfer boten natürlich einen starken Anreiz für die westafrikanischen Regierungen, europäische Problemdefinitionen im Kontext der Migration zu übernehmen und die hiermit verbundenen "Gefahren" zumindest nicht kleinzureden. Darüber hinaus waren sie geeignet, regionale Macht(un)gleichgewichte zu verschieben und die Konkurrenz der Anrainerstaaten über die Kontrolle der Grenzen anzuheizen. So sah etwa Algerien, das als Transitland nach Europa keine große Rolle spielte und in den entsprechenden Programmen zur Migrationsbekämpfung wenig berücksichtigt wurde, seinen Status als Regionalmacht zunehmend bedroht. Algerien verfolgte stattdessen einen Kurs der nationalen militärischen Aufrüstung und begründete diesen - damit enger angelehnt an die USA - v.a. mit der Gefahr des Terrorismus. Dabei kam dem Land zugute, dass nicht klar identifizierte Angreifer aus Algerien unmittelbar vor der Abschlussübung des ersten regionalen US-Terrorbekämpfungsprogramms 2005 einen mauretanischen Militärposten in Grenznähe überfielen. Algerien betonte fortan die Bedrohung der Region durch den Terrorismus und wurde in das Folgeprogramm der USA aufgenommen. Auch die europäischen Staaten begrüßten das algerische Bekenntnis zum Krieg gegen den Terror und zur Notwendigkeit einer intensiveren Grenzüberwachung. Deutschland etwa öffnete just zu diesem Zeitpunkt eine wahre Schleuse für Rüstungsexporte nach Algerien. Betrugen diese bis 2003 noch deutlich unter 50 Mio. Euro, stiegen sie 2005 auf 160 Mio. und bis 2010 auf knapp 1 Mrd. Euro an.


EUropäisierung der Aufrüstung

Die Aufrüstung der Region durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten verlief zunächst noch recht chaotisch. Die Projekte aus dem AENEAS-Programm entstanden meist aus nationalen Initiativen - wie das mit insg. 4 Mio. von der EU unterstützte, spanische Seahorse-Programm - und wurden erst nachträglich durch Finanzzuschüsse EUropäisiert. In der Ausrichtung waren sie gleichwohl uneinheitlich bis widersprüchlich. Unterschiedliche EU-Staaten setzten in unterschiedlichem Maße auf Marokko, Algerien, Libyen und Nigeria als Regionalmächte und entsprechend verliefen die Rüstungsexporte. Wie in der Verteidigungspolitik mit den vorrangig humanitär begründeten EU-Militärmissionen musste sich auch in der Sicherheitspolitik die EUropäische Ebene erst noch institutionalisieren und quasi dazwischenschieben. So wurden z.B. die zunächst noch auf nationaler Initiative beruhenden und aus nationalen "Expert_innen" zusammengesetzten Delegationen der EU-Kommission, die afrikanische Staaten besuchten, deren Sicherheitssektor begutachteten und Reformkonzepte erarbeiteten, zunehmend institutionalisiert. 2007 wurde eine Expert Support Facility geschaffen, die bis Ende 2009 "mehr als 40 Expertenmissionen in über 30 Ländern" durchgeführt hatte.[4] Implementiert wurde die Expertenfazilität im Rahmen des 2006 aufgelegten Instruments für Stabilität (IfS), das bis 2013 mit über 2 Mrd. Euro ausgestattet war. Im Gegensatz zum AENEAS-Programm, das auf das Thema Migration beschränkt war, orientierte sich das IfS stärker an der Europäischen Sicherheitsstrategie und am gesamten Spektrum der darin identifizierten "Bedrohungen" und benannte zunächst drei Prioritäten: Die Umsetzung der EU-Strategie gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die Bekämpfung globaler und transregionaler Bedrohungen und den Kapazitätsaufbau für effektive Krisenreaktion. Unter globalen und transnationalen Bedrohungen wurden dabei Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel verstanden und hieraus das übergeordnete Ziel der "Reduktion illegaler transnationaler Ströme" ("to reduce illicit trans-regional flows") abgeleitet. Entsprechend wurden Maßnahmen zur Justiz- und Polizeireform, zur verbesserten Bekämpfung des Terrorismus und Grenzüberwachung angestrebt, die von den Expertenmissionen vorbereitet werden sollten.[5]

Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass das Strategiepapier zur Implementierung des IfS für die Jahre 2007 bis 2011 weder Westafrika oder die Sahelregion als Ganzes, noch die damit assoziierten Staaten Mali, Mauretanien und Niger nennt.[6] Das änderte sich jedoch bereits im 2008 von der Kommission erarbeiteten Programm zur Umsetzung des IfS für die Jahre 2009-2011, das langfristige Maßnahmen zur Terrorbekämpfung in der - hier explizit so benannten - "Sahelregion" vorsah.[7] Auftakt hierzu war die Förderung des Aufbaus eines Afrikanischen Zentrums zur Erforschung des Terrorismus (African Centre for the Study and Research on Terrorism, ACSRT) in Algerien. 2009 flossen dann auch Mittel zur "Bekämpfung globaler und transregionaler Bedrohungen", also zur Reduktion illegaler Ströme, aus dem IfS an Mali, Mauretanien, Senegal und Ghana. Hierdurch inspiriert setzte die malische Regierung für die Jahre 2010 und 2011 ein Sonderprogramm für den Frieden, die Sicherheit und die Entwicklung im Norden Malis (PSPSDN) auf, das 16 Mio. Euro umfasste und zu gut einem Viertel u.a. aus dem IfS von der EU finanziert wurde. Tatsächlich verfolgte es das explizite Ziel, die "Präsenz des Staates in der Fläche" zu erhöhen und fokussierte dabei auf die "Sicherheitspräsenz", also Polizei und Militär. Hierzu wurden elf strategisch wichtige Orte ausgewählt und dort Militärstandorte, Polizeistationen und Gefängnisse errichtet, überdies sah das Programm die Rekrutierung von 3.000 zusätzlichen Ordnungskräften vor.

Damit stand das Programm zumindest in einem Spannungsverhältnis zu früheren Abkommen, mit denen Rebellionen im Norden beendet worden waren und die eine Dezentralisierung und den Rückzug der malischen Armee aus dem Norden vorsahen, wie u.a. das SIPRI [8], die International Crisis Group [9] und das US Institute of Peace [10] konstatieren. Diese Darstellungen differieren lediglich in der Einschätzung darüber, in welchem Ausmaß das von der EU inspirierte und finanzierte Programm die erneute Rebellion und anschließende Sezession im Norden ausgelöst oder nur zur allgemeinen Eskalation beigetragen hat, selbst eine Studie für das EU-Parlament kommt jedoch zu dem Schluss, dass "dieses Programm ... unbeabsichtigt zu den Problemen beigetragen hat, die es eigentlich verhindern sollte".[11]


Die Verschränkung der Politikfelder...

Mit der EUropäisierung der Außenpolitik haben sich Diskurse und Praxen in Hinblick auf das, was heute als "Sahel" geopolitisch verstanden wird, wesentlich verschoben. Während die USA bereits Ende 2002 ihr Trainingsprogramm für Westafrika im Kontext des Krieg gegen den Terror als "Pan Sahel Initiative" bezeichneten, spielte der Begriff "Sahel" bis 2007 in der EU jenseits der humanitären Hilfe keine nennenswerte Rolle. Dies änderte sich in den folgenden Jahren und heute gilt der "Sahel" als Schwerpunkt EUropäischer Außenpolitik und Brennpunkt außenpolitischer Identität.

Bis 2007 konzentrierte sich die militärisch geprägte und der Einstimmigkeit im EU-Rat unterliegende Verteidigungspolitik der EU darauf, erste eigenständige Missionen durchzuführen, die (abgesehen von Concordia) allesamt in Zentralafrika stattfanden. Die bis dato größte EU-Mission im Tschad und der Zentralafrikanischen Republik 2007-2008 offenbarte jedoch enorme Schwächen [12] und war ein grandioser Fehlschlag. Vom ursprünglich proklamierten Ziel des Schutzes von Flüchtlingen blieb zuletzt nur die Vorbereitung einer UN-Mission zur Ausbildung tschadischer und zentralafrikanischer "Sicherheitskräfte" (MINURCAT), die ebenfalls katastrophal scheiterte: Im Nachgang der Libyen-Intervention der NATO überfielen tschadische Milizen die Zentralafrikanische Republik, deren "Sicherheitskräfte" zu dieser Zeit inexistent schienen, sich anschließend jedoch als antimuslimische Mobs restrukturierten und zu einer weitgehenden Vertreibung der muslimischen Bevölkerungsgruppen beitrugen. Während sich diese Verteidigungspolitik auf die Herstellung militärischer Handlungsfähigkeit konzentrierte, stehen die Innere Sicherheit und der Schutz EUropäischer Interessen im Zentrum der sog., von der Kommission dominierten "Sicherheitspolitik", die sich entsprechend regional eher auf den "Nachbarschaftsraum" und thematisch auf die Migrationsbekämpfung fokussierte und damit mit Programmen wie AENEAS v.a. Nordafrika betrafen. Die handels- und wirtschaftspolitisch motivierte Außenpolitik hingegen sprach bis 2007 überwiegend von "Westafrika" und hatte dabei v.a. jene Küstenstaaten im Blick, mit denen sie in Aushandlung über Fischerei- und Freihandelsabkommen (Economic Partnership Agreements) stand.

Mit der Integration der EUropäischen Außenpolitik trafen sich alle drei Zugänge letztlich in jener Mitte, die heute geopolitisch als Sahel-Region bezeichnet wird. Ein entscheidendes Jahr hierfür war 2008. Im Februar beschloss der Rat der EU aufgrund der Empfehlungen einer Expertenmission eine Mission zur Reform des Sicherheitssektors in Guinea-Bissau, die primär den Schmuggel von Kokain aus Lateinamerika über Westafrika und den Sahel nach Europa unterbinden sollte. Dabei handelte es sich um die erste (zivil-)militärische Mission der EU, die tatsächlich an der oben genannten Bedrohungsanalyse ihrer Sicherheitsstrategie orientiert war. Etwa zur gleichen Zeit begannen die Planungen für weitere EU-Missionen zum Armeeaufbau (EUTM) und zur Gendarmerieausbildung (EUCAP) in Mali und Niger, wie sie im Zuge der Eskalation in Mali mittlerweile realisiert wurden. Eine wesentliche Triebfeder hierbei war der EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung, ein Amt, das 2004 im Verantwortungsbereich des Rates geschaffen wurde und v.a. der Koordination der EU-Innenminister dienen sollte.[13] Im September 2007 wurde der bis heute amtierende Gilles de Kerchove in dieses Amt berufen, der im Mai 2008 ein Papier vorlegte, das die Bedrohung der EU durch den Terrorismus in Drittstaaten thematisierte und dabei neben Pakistan die Sahel-Region hervorhob, die seit dem unter dieser Bezeichnung auf der Agenda der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU stand [14], 2009 erstmals Mittel aus dem IfS erhielt und Gegenstand von Planungen von EU-Delegationsreisen und -Missionen war. Erleichtert wurde dies durch die Vorarbeiten zur Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, der die außenpolitischen Instrumente der EU bündeln sollte und damit stärker als die zwischenzeitliche Praxis an der Sicherheitsstrategie orientiert war.


...und der Diskurse

Begleitet wurde diese geopolitische Neufokussierung jedoch auch durch Diskurse und v.a. Karten regierungsnaher, internationaler und akademischer Institutionen. So lässt sich etwa an Karten der EU-Grenzschutzagentur Frontex zeigen, wie diese zunächst v.a. Europa und seine Außengrenzen abbildeten und im Süden oft nur bis zum Mittelmeer oder an die afrikanische Nordküste reichten. Anfang 2008 veröffentlichte Frontex demgegenüber gemeinsam mit Europol und dem ICMPD (International Center for Migration Policy Development) eine Karte, auf der Afrika im Mittelpunkt stand und dort die aktiven und inaktiven Migrationsrouten eingezeichnet waren, wobei die Routen durch Gao in Mali, Agadez in Niger und Khatoum im Sudan besonders hervorgehoben waren.[15] Diese "Erkenntnisse" basierten u.a. auf jenen Forschungen, Befragungen und Institutionalisierungen von Informationsaustausch, wie sie zuvor über das AENEAS-Programm von der EU finanziert und angestoßen wurden.

Im November 2008 veröffentlichte das UN Office on Drugs and Crime (UNODC) einen Bericht mit dem Titel: "Drogenhandel als Sicherheitsbedrohung in Westafrika" in dem es heißt, der Drogenhandel in der Region wachse "exponentiell" und drohe "das Gebiet in ein Epizentrum von Rechtlosigkeit und Instabilität zu verwandeln". "Indem man die Verteidigung der [hierdurch] angegriffenen Staaten stärkt und eine regionale Reaktion ermöglicht" bestehe eine Möglichkeit, "verwundbare Staaten gegen den Ansturm durch Drogen und Kriminalität" zu verteidigen.[16] Im Juli 2009 legte das UNODC nach und veröffentlichte eine "Bedrohungsanalyse" unter dem Titel "Transnationaler Schmuggel und Rechtsstaatlichkeit in Westafrika", in deren Vorwort es heißt "West Afrika wird angegriffen".[17] Der Bericht wartet mit zahlreichen Grafiken und Statistiken zu Drogen-, Waffen-, Menschenhandel usw. auf - die jedoch oft auf Schätzungen beruhen - und enthält v.a. zahlreiche Karten, auf denen Pfeile, die illegalen Handel symbolisieren sollen, durch Mali und Niger nach Europa oder in andere Teile der Welt führen. Die Erstellung beider Dokumente wurde durch Frankreich und Schweden unterstützt. Das UNODC war darüber hinaus gemeinsam mit Europol an zwei AENEAS-Projekten beteiligt, die mit einem Gesamtbudget von über 4 Mio. Euro Migrationsrouten und staatliche Gegenstrategien einmal in Nord- und einmal ins Westafrika erforschen sollten.[18]

Während EU-Delegationen Mauretanien, Mali, und Niger bereisten, kursierten zunehmend höchst zweifelhafte Karten, die alle drei Länder sowie Teile Algeriens und Libyens und damit eine Fläche von der Größe Westeuropas zum Operationsgebiet von Terroristen erklärten.[19] Beflügelt wurden solche Vorstellungen von der Entführung eines Briten in Niger, der angeblich in Mali festgehalten wurde, während die Pressemitteilung über seine Hinrichtung von Algerien aus abgesetzt worden sein soll. Als im Juni 2010 darüber hinaus die Ermordung eines Franzosen durch Islamisten in der Region bekannt wurde, reagierte der EU-Rat mit einer Pressemitteilung, in der er feststellte, dass "die Verschlechterung der Lage im Sahara-Sahel-Streifen zunehmend eine Sicherheitsfrage für diese Region an der Pforte nach Europa" darstelle und die Notwendigkeit unterstrich, "alle internationalen und regionalen Akteure zu mobilisieren, um den Kampf gegen den Terror zu intensivieren und die Sicherheit im Sahara-Sahel-Streifen zu verstärken".[20]

Besonders Presse und Denkfabriken griffen darüber hinaus zunehmend das Narrativ des Narco-Terrorismus auf, wonach die Terroristen im Sahel zugleich im Drogenhandel aktiv seien und sich hierüber finanzieren würden - eine Behauptung, die wesentlich durch die US-Drogenbekämpfungsbehörde in die Welt gesetzt wurde und in der EU-Sicherheitsstrategie vorweggenommen wurde, sich mittlerweile jedoch als Mythos entpuppt hat.[21] Jenseits US-amerikanischer und EUropäischer Quellen spielte bei der Rahmung von Entführungen und Angriffen auf Polizei- und Militärstützpunkte im Sahel und Afrika als "Terrorismus" jenes Afrikanische Zentrum zur Erforschung des Terrorismus eine wesentliche Rolle, das als erste Institution in der Region Mittel aus dem IfS erhalten hatte.

Somit war 2010 nicht nur der Begriff "Sahel" weitgehend etabliert, sondern hatte auch eine massive Versicherheitlichung der Region stattgefunden. Sie galt als Hort des Terrorismus und der Kriminalität und als Transitraum für Drogen und Migration vor den Toren Europas. Zugleich existierte jedoch eine ganz andere Rahmung der Region, die mit der Versicherheitlichung in erstaunlichem Kontrast steht: 2009 wurde die Desertec Industrial Initiative als von deutschen Kapitalgesellschaften und Energiekonzernen dominierte GmbH ins Leben gerufen, die sich zum Ziel setzte, die Idee eines Nordafrika, die Sahara und die Arabische Halbinsel umfassenden Netzes an Wind- und Solarkraftwerken zu bauen und mit diesem "Wüstenstrom" perspektivisch bis zu 25% des europäischen Energiebedarfs zu decken. Die Energieabhängigkeit von dieser als zutiefst instabil dargestellten Region wäre aber zumindest für Frankreich nichts neues gewesen: Einen Großteil des Urans für seine auf Kernkraft basierende Energieversorgung stammte bereits zuvor aus dem Niger, in Algerien und Libyen werden Öl und Gas gewonnen und in Niger entsprechende Vorkommen vermutet. Eines der wichtigsten Exportgüter Malis ist Gold, das wie Eisen auch in den Nachbarstaaten vermutet und abgebaut wird. Die Westsahara ist wichtigster Lieferant von Phosphat, das Grundlage von Düngemitteln und damit unverzichtbar für die globale Landwirtschaft ist und dessen Abbau auch in Mali und Niger in großem Stil vorbereitet wurde. Entsprechend kursierten im Europäischen Auswärtigen Dienst bereits 2011 Karten der Region, auf denen nicht nur Schmuggel- und Migrationsrouten, Terroranschläge und "poröse Grenzen" eingezeichnet sind, sondern auch tatsächliche und vermutete Rohstoffvorkommen. Diese Karten repräsentieren sehr gut die Integration verschiedener Felder der Außenpolitik und ihrer jeweiligen Problemdefinition im Europäischen Auswärtigen Dienst und stellen zugleich das geopolitische Denken dar, auf dem die Förderung des PSPSDN und die Sahel-Strategie der EU basieren: Eine an eigenen Interessen und Hirngespinsten orientierte Politik der Kriminalisierung, Aufrüstung und Vergrenzung, die absehbar zum Krieg im Norden Malis führte.


Der Europäische Auswärtige Dienst und die Sahel-Strategie

Ungeachtet seiner negativen Folgen und zumindest nachträglich kritischen Beurteilung selbst durch EU-Institutionen wird das PSPSDN in der im März 2011 von der EU verabschiedeten "Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel" (EU Sahel Strategy) explizit als Anknüpfungspunkt für das weitere Engagement der EU in der Region genannt. Es handelt sich dabei um die erste Regionalstrategie des Europäischen Auswärtigen Dienstes der EU, der erst gut drei Monate zuvor offiziell seine Arbeit aufgenommen hatte. Seine Einrichtung wurde mit dem Vertrag von Lissabon beschlossen, der eine kohärente Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ermöglichen sollte. Faktisch handelt es sich dabei um ein Super-Ministerium, das auf Ebene der EU die Funktionen nationaler Außen- und Verteidigungsministerien bündelt, eine Geheimdienstzelle enthält und zudem Elemente der Entwicklungszusammenarbeit, Außenwirtschaftspolitik, humanitären Hilfe und Inneren Sicherheit integriert.

Praktisch bedeutet das, dass die Expertenmissionen und die sie vorbereitenden EU-Delegationen, die Finanzinstrumente und die Abteilungen zur Planung ziviler und militärischer EU-Missionen unter demselben Dach vereint waren, unter dem zugleich eine geheimdienstliche Beobachtung von Drittstaaten auch in Hinblick für mögliche Bedrohungen für die EU ausgebaut werden.

Damit war die Forderung nach Kohärenz in den verschiedenen Feldern der Außenpolitik zumindest institutionell umgesetzt und ein politisch gewollter regionaler Ansatz bei der Planung wirtschaftlicher Zusammenarbeit, ziviler Hilfe, finanzieller Programme und Militäreinsätze quasi zwangsläufig, wie u.a. in der Gründung der Task Force Sahel zum Ausdruck kommt.

Entsprechend eng ist die Verknüpfung der Themen Entwicklung, Sicherheit, Terrorismus, Kriminalität usw. in der Sahel-Strategie, die mit den Worten beginnt: "Sicherheit und Entwicklung im Sahel können nicht getrennt betrachtet werden und diesen Ländern dabei zu helfen, Sicherheit zu erreichen ist zentral, damit ihre Ökonomien wachsen können und um Armut zu reduzieren... Alle Staaten der Region werden von beträchtlichem Kapazitätsaufbau profitieren." Darüber hinaus werden wesentlich deutlicher als in der EU-Sicherheitsstrategie von 2003, auf die sich die Sahel-Strategie bezieht, wirtschaftliche Prioritäten der EU benannt: Als Ziel wird u.a. ausgegeben, "bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und EU-Investitionen zu schaffen. Die Verbesserung von Sicherheit und Entwicklung im Sahel hat einen offensichtlichen Einfluss auf den Schutz europäischer Bürger und ihrer Interessen und die Situation der Inneren Sicherheit in der EU".[22]


Die Eskalation

Während diese Zeilen verabschiedet wurden, begannen die Luftangriffe der NATO und ihrer Verbündeten auf Libyen, in deren Zug islamistische Milizen Waffenlager plünderten und Großbritannien, Frankreich, die USA und die Golfstaaten massenweise Waffen in jene Region lieferten, deren unkontrollierte (und unkontrollierbare) Grenzen zuvor im Zentrum ihrer Strategien standen. Der Bericht der Expertenkommission zur Überwachung des Embargos gegen Libyen [23] dokumentiert nicht nur das Ausmaß dieser Waffenlieferung (Frankreich etwa warf Waffen und Munition "zum Schutz der Zivilbevölkerung" mit Fallschirmen ab), sondern auch die Unmöglichkeit, ihren Transit in die Nachbarstaaten zu verhindern. Tatsächlich stellten nigrische Einsatzkräfte einige Konvois von Libyen nach Mali und konnten unter Verlusten einige Fahrzeuge anhalten bzw. zerstören.

Die Konvois bestanden vorwiegend aus Tuareg, die zuvor in Gaddafis Armee gekämpft hatten. Gaddafi instrumentalisierte zwar sowohl bewaffnete Tuareg-Stämme wie Migrant_innen, galt aber zugleich als Verfechter offener Grenzen in Afrika und als Unterstützer der Tuareg und ihrer Bewegungsfreiheit. Sowohl für deren bewaffnete Eliten wie auch die einfache, von offenen Grenzen ökonomisch abhängige Bevölkerung verloren somit durch die vom Westen forcierte Vergrenzung und Aufrüstung, wie auch durch den Regime Change in Libyen erhebliche Handlungsspielräume, was sich durch die Verfügbarkeit an Waffen absehbar Anfang 2012 in einem erneuten Aufstand im Norden Malis entlud.

Hierbei verloren viele Soldaten aus dem Süden des Landes (die u.a. im Rahmen des PSPSDN in den Norden verlegt worden waren) ihr Leben, wurden Berichten zufolge regelrecht massakriert. Daraufhin putschten in der Hauptstadt Bamako - einen Monat vor ohnehin vorgesehenen Wahlen - die verbliebenen Soldaten, die sich für eine Rückeroberung des Nordens nicht ausreichend ausgerüstet sahen. Es ist zumindest denkbar, dass auch dieser Coup zumindest in Teilen von den EU-Aufrüstungsprogrammen und -versprechen inspiriert war, denn eine der Hauptforderung der Putschisten war die schnelle Ausbildung und Aufrüstung der malischen Armee durch die EU. Letztlich hat der Putsch jedoch die Regierung vollends handlungsunfähig gemacht, woraufhin die Hauptkraft des Aufstandes im Norden, die MNLA, am 6. April 2012 die Unabhängigkeit des Nordens (Azawad) ausrief. Daraufhin übernahmen jedoch Islamisten die Kontrolle der wichtigsten Städte im Norden. Im Januar 2013 intervenierte Frankreich mit einem massiven Einsatz von Luft- und Bodentruppen angeblich in letzter Sekunde, um einen Vormarsch der Islamisten auf Bamako zu verhindern. Damit schuf Frankreich die Voraussetzung für die bereits zuvor vom UN-Sicherheitsrat beschlossene AU-Mission (AFISMA), in deren Zug tausende Soldaten aus der weiteren Nachbarschaft in Mali stationiert wurden. Deutschland unterstützte die französische Intervention und die AFISMA mit der Luftwaffe von Senegal aus und beteiligt sich seit Februar 2013 an der (ebenfalls bereits vor der französischen Intervention beschlossenen) Mission EUTM Mali zur Ausbildung malischer Soldaten.

An der AFISMA-Mission, die mittlerweile in MINUSMA unter (formaler) Führung der UN überführt wurde, waren und sind umfangreich Truppen aus den eng mit Frankreich verbundenen Ländern Burkina Faso, Niger, Tschad und in geringerem Umfang auch Mauretanien beteiligt. Das mag zunächst erstaunen, weil es sich hierbei seinerseits um Staaten handelt, die (mit Ausnahme des Tschad) aus westlicher Sicht zu wenig Sicherheitskräfte unterhalten und entsprechend unterstützt werden, deshalb beinhaltete die französische Intervention - quasi als Ausgleich - auch die Stationierung von Spezialkräften in jenen Ländern und wurde mittlerweile als "Operation Barkhane" auch offiziell auf alle fünf Staaten ausgeweitet, die mittlerweile von der EU als "G5 Sahel" bezeichnet werden. Die EU hat seit dem zwei weitere Missionen zum Kapazitätsaufbau in Mali und in Niger begonnen, die sowohl zur Terrorismus- wie auch zur Migrationsbekämpfung v.a. dem Aufbau von Gendarmerieeinheiten dienen und auch mit den (geplanten) EU-Missionen in Tunesien, Libyen und im Mittelmeer vernetzt sind. Auch der Einsatz der Bundeswehr, die sich seit 2015 umfangreich und führend an MINUSMA beteiligt, geht über Mali hinaus: Die Versorgung des deutschen Stützpunktes in Gao im Norden Malis verläuft neben Bamako auch über die Hauptstadt Nigers, Niamey, wo die Mission EUCAP Sahel Niger ihr Hauptquartier unterhält und das zunehmend zu einem dauerhaften Stützpunkt der EU in der Region ausgebaut wird.

Eine Stabilisierung Malis sei gegenwärtig nicht absehbar und die Sicherheitslage verschlechtere sich zusehends, urteilen selbst regierungs- und bundeswehrnahe Quellen übereinstimmend.[24] Ein Teil der bewaffneten Akteure im Norden, darunter die MNLA, kämpfen mittlerweile an der Seite Frankreichs gegen jene, die das nicht tun, und (entsprechend) als Islamisten oder Terroristen bezeichnet werden. Die so eroberten Gebiete soll die MINUSMA - de facto unter Führung deutscher Aufklärung - absichern, um die Stationierung der (zuvor von der EU ausgebildeten) malischen Truppen zu ermöglichen, die wiederum von der MNLA abgelehnt und (tw. offen) bekämpft werden. Mittlerweile ist auch im Zentrum Malis eine Miliz aktiv, die erfolgreich Angriffe auf die Armee und die Nachschubwege der MINUSMA durchführt, und auch in den südlichen Grenzgebieten häufen sich Überfälle und Anschläge. Die Zustimmung und Hoffnung in die internationale Truppenpräsenz schwindet vor Ort auch unter jenen, die sie zunächst befürwortet haben und die malische Regierung - gewählt im Zuge der französischen Intervention - wird zunehmend als Marionette der EU karikiert.


Auch Deutschland beteiligt an der chaotischen Aufrüstung

Auch für Deutschland ist das Narrativ, dass man "die Probleme in Mali" zu lange "ignoriert" hätte, nichts als Augenwischerei. Bereits seit den 1990er Jahren ist Mali ein Schwerpunktland der deutschen Ausbildungshilfe, weit über hundert Soldaten - die meisten in oder vor der Offizierslaufbahn - wurden in Deutschland ausgebildet. Deshalb konnte der Kommandant jenes Lagers, in dem die EUTM-Mission 2013 ihre Arbeit aufnahm, die deutschen Soldaten und die Presse auch auf Deutsch begrüßen. Spätestens seit 2005 steht Mali darüber hinaus auf der Liste jener Staaten, in denen dauerhaft eine Beratergruppe der Bundeswehr präsent ist, um die (kostenlose) Ausstattungshilfe durch die deutsche Armee zu koordinieren. Ziel war der Aufbau einer Pionierkompanie und bis heute steht deren Ausbildung an und Ausrüstung mit Schwimmbrücken und Booten [25] hierbei im Vordergrund. In Mali kann so eine Pioniereinheit eigentlich nur dazu sein, die schnelle Verlegung von Truppen aus dem Süden über den einzigen großen Fluss Niger in den Norden zu ermöglichen, womit auch diese Ausstattungshilfe letztlich die Revision früherer Friedensabkommen zwischen Norden und Süden revidierte und die Eskalation 2012 mit bedingt haben kann.

Durch einen Fall von Veruntreuung wurde 2013 überdies bekannt, dass das Kommando Spezialkräfte und andere Angehörige der Bundeswehr 2005, 2008 und 2010 an gemeinsamen Übungen in Mali beteiligt waren, bei denen es sich um "Ausbildungsunterstützung für einzelne militärische Gruppen aus westafrikanischen Staaten" gehandelt hätte, so die Bundesregierung, die jedoch "[ü]ber die exakte Anzahl der ausgebildeten Soldaten und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten militärischen Einheiten" keine Angaben machen wollte.[26] Die Übungen betrafen die Bekämpfung des Terrorismus, was bemerkenswert ist, da dieser vor 2005 gar keine Rolle in den betreffenden Staaten gespielt hatte. von 2006 bis 2007 kam es zu insgesamt drei bewaffneten Angriffen in Mali, die der bis dahin einzigen Terrorgruppe zugeordnet wurden, 2008 zu einer ersten Entführung und 2009 zu einem ersten Sprengstoffanschlag.[27] Da waren Beratergruppe und KSK bereits seit mehr als drei Jahren im Land - Wegsehen sieht anders aus. Die chaotische Militarisierung einer Region, das Entwickeln von Sicherheit und der Aufbau von Staatlichkeit haben letztlich die politischen Systeme vor Ort destabilisiert und das Konglomerat von Bedrohungen aus der Europäischen Sicherheitsstrategie zur selbsterfüllenden Prophezeiung gemacht. Der Krieg in Mali ist auch ein Krieg um Vergrenzung und westliche Konzeptionen von Staatlichkeit. Die Bundeswehr beteiligt sich an diesem Krieg mit 300 Kräften zur Ausbildung malischer Soldaten im Süden und 1.000 Kräften, Drohnen und Kampfhubschraubern in ihrem gegenwärtig gefährlichsten Einsatz, MINUSMA im Norden Malis.


Anmerkungen

[1] Georg Klute: Die sezessionistische und die islamische Forderung im nördlichen Mali, INAMO, Heft 86, Sommer 2016.

[2] European Commission: Technical Mission to Libya on illegal Immigration (Report), veröffentlicht unter:
http://www.statewatch.org/news/2005/may/eu-report-libya-ill-imm.pdf.

[3] European Commission (Europaid): Aeneas programme - Overview of projects funded 2004 - 2006.

[4] European Commission: 2009 Annual Report from the European Commission on the Instrument for Stability (COM/2010/0512 final).

[5] European Commission: The Instrument for Stability Strategy Paper 2009-2011.

[6] ebd.

[7] European Commission: 2009 Annual Report from the European Commission on the Instrument for Stability.

[8] Helen Wilandh: Wrong paths to peace: the re-emergence of armed violence in northern Mali,
https://www.sipri.org/commentary/essay/2012/wrong-paths-peace-re-emergence-armed-violence-northern-mali.

[9] ICG: Mali - Avoiding Escalation, Africa Report N°189 - 18 July 2012, https://www.crisisgroup.org/africa/west-africa/mali/maliavoiding-escalation.

[10] Susanna D. Wing : Mali's Precarious Democracy and the Causes of Conflict, USIP Special Report 331,
https://www.usip.org/publications/2013/04/malis-precarious-democracy-and-causes-conflict.

[11] Directorate-General for External Policies of the Union (Hrsg.): A Coherent EU Strategy for the Sahel, Study requested by the European Parliament's Committee on Development, DG EXPO 2012.

[12] U.a. mussten für den strategischen Lufttransport russische und ukrainische Firmen und russische Helikopter samt Besatzungen einbezogen werden, siehe: Bjoern H. Seibert: EUFOR Tchad/RCA and the European Union's Common Security and Defence Policy, SSI Monograph (Oktober 2010).

[13] Europäischer Rat (25. März 2004): Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus.

[14] Quaker Council for European Affairs: The Counter-Terrorism Coordinator, The EU's Response to the Threat of Terrorism Briefing Paper 15.

[15] ICMPD: Factsheet Mediterranean Transit Migration Dialogue, sowie:
http://www.icmpd.org/our-work/migration-dialogues/mtm/completed-projects/i-map/.
Die Karte von 2008 scheint nicht mehr online, liegt dem Autor aber vor.

[16] UNODC: Drug Trafficking as a Security Threat in West Africa, November 2008.

[17] UNODC: Transnational Organized Crime in West Africa - A Threat Assessment, Juli 2009.

[18] European Commission (Europaid): Aeneas programme - Overview of projects funded 2004 - 2006.

[19] The moor next Door: "On Maps", Blogeintrag vom 16.8.2010,
https://themoornextdoor.wordpress.com/2010/08/16/on-maps/.

[20] Declaration by the European Union following the death of Michel Germaneau, Pressemitteilung des Rates vom 26.7.2010.

[21] Kacper Rekawek: Narcoterrorism - beyond the myth, in: EU Institute for Security Studies: REPORT No 19, Juni 2014

[22] European Union External Action Service : Strategy for Security and Development in the Sahel, März 2003.

[23] Final report of the Panel of Experts in accordance with paragraph 24 (d) of resolution 1973 (2011) (S/2012/163), Zusammengefasst in: Christoph Marischka: Proliferation, Destabilisierung und der Schutz der Zivilbevölkerung - UN-Bericht zu Ablauf und Folgen des Libyen-Krieges, in: AUSDRUCK (Juni 2012).

[24] Vgl. etwa "Im malischen Treibsand", in: loyal (Zeitschrift des Reservistenverbandes) 1/2017, sowie Denis M. Tull: Mali - Friedensprozess ohne Stabilisierung, SWP-Aktuell 2016/A 75 (November 2016).

[25] Alexander Drechsel: Bundeswehr bereits seit Jahren in Mali, dwworld.de vom 27.02.2013, sowie: Bundestags-Drucksache 18/8086.

[26] Bundestags-Plenarprotokoll 17/245.

[27] Jacques Roussellier: Terrorism in North Africa and the Sahel - AlQa'ida's Franchise or Freelance, Middle East Institute Policy Brief No. 34, August 201


Die Studie kann im PDF-Format mit Abbildungen heruntergeladen werden unter:
http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2017-6-Mali.pdf


Eine leicht gekürzte Fassung dieser Studie erschien in der IMI-Broschüre "Kein Frieden mit der Europäischen Union" (Tübingen, Mai 2017). Die Broschüre kann zum Preis von 3,50 Euro (zzgl. Porto) unter imi@ imi-online.de bestellt werden.

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Quelle:
IMI-Studie Nr. 6/2017 vom 24.4.2017
Der Krieg in Mali als Folge der Formierung EUropäischer Außenpolitik
http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2017-6-Mali.pdf
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/49154, Fax: 07071/49159
E-Mail: imi@imi-online.de
Internet: www.imi-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2017

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