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IMI/985: Türkischer Angriffskrieg in Nordsyrien


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Analyse 2019/34 vom 24. Oktober 2019

Türkischer Angriffskrieg in Nordsyrien

von Luca Heyer


Seit dem 9. Oktober 2019 befindet sich die Türkei in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die selbstverwaltete Konföderation Nordsyrien (Rojava) auf syrischem Staatsgebiet. Die Invasion mit der zynischen Bezeichnung "Operation Friedensquelle" wurde durch den (vermeintlichen) Abzug US-amerikanischer Soldat*innen aus der Region ermöglicht. Inwiefern es sich dabei tatsächlich um einen Abzug der US-Armee aus Syrien handelt und wie dies aus antimilitaristischer Perspektive zu bewerten ist, soll später weiter ausgeführt werden. Die Rolle Deutschlands ist ebenfalls Thema des vorliegenden Texts.


Was ist das Ziel der Intervention?

Die Türkei plant erklärtermaßen die Einrichtung einer "Sicherheitszone" in einem 35 km in syrisches Staatsgebiet reichenden Korridor entlang der türkisch-syrischen Grenze. Diese "Sicherheitszone" soll durch die türkische Armee sowie durch von der Türkei kontrollierte teils islamistische Milizen kontrolliert werden. Ziel ist es, dort Geflüchtete, die momentan in der Türkei leben, anzusiedeln und die bisher in der geplanten Pufferzone lebende hauptsächlich kurdische Zivilbevölkerung sowie die kurdischen Milizen YPG und YPJ zu vertreiben. Auch in den bereits von der Türkei in Syrien eroberten Gebieten (die Region um Afrin und Jarablus) wurde ein Großteil der hauptsächlich kurdischen Zivilbevölkerung vertrieben. Die Zurückgebliebenen leiden kurdischen Medien zufolge seit dem Einmarsch der Türkei unter Terror, Plünderungen, Repressalien, willkürlichen Hinrichtungen, Enteignungen, Entführungen, Lösegelderpressungen und der Einführung der Scharia durch die türkisch kontrollierten Milizen. Auch die UN kritisiert diese Verbrechen.[1]

Offiziell begründet die Türkei die Invasion mit ihrem Recht auf Selbstverteidigung, das völkerrechtlich in dieser Situation jedoch nicht greift, da es keinen Angriff der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), zu denen auch die kurdischen Milizen YPG und YPJ gehören, gegen die Türkei gab.


Schwere Kriegsverbrechen

Im bisherigen Verlauf der Invasion kam es zu schweren Kriegsverbrechen durch die Türkei und die mit ihr verbündeten Terrormilizen. So kam es immer wieder zu gezielten Angriffen auf medizinische Einrichtungen,[2] zivile Wohngebiete[3], die Stromversorgung oder Zivilist*innen. Für Aufsehen sorgte diesbezüglich die Ermordung der Frauenrechtlerin und Vorsitzenden der Partei Zukunft Syriens (FSP), Havrin Khalaf, auf offener Straße.[4] Außerdem kam es zur gezielten Bombardierung eines zivilen Konvois durch die Türkei, bei dem übereinstimmenden Angaben kurdischer Medien und der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge elf Zivilist*innen, darunter zwei Journalist*innen, getötet und 74 Zivilist*innen verletzt wurden.[5]

Auch Amnesty International kritisiert diese Kriegsverbrechen: "Die türkische Militäroffensive im Nordosten Syriens hat verheerende Auswirkungen auf das Leben der syrischen Zivilbevölkerung, die wieder einmal gezwungen wurde, aus ihren Häusern zu fliehen, und die in ständiger Angst vor wahllosen Bombardements, Entführungen und Tötungen lebt. Die türkischen Streitkräfte und ihre Verbündeten haben kalte Missachtung für das Leben der Zivilbevölkerung gezeigt und illegale tödliche Angriffe in Wohngebieten gestartet, bei denen Zivilisten getötet und verletzt wurden", sagte Kumi Naidoo, internationaler Generalsekretär von Amnesty International.[6]

Zudem wurde der Türkei von kurdischer Seite vorgeworfen, im Zuge der Invasion international geächtete chemische Kampfstoffe und Phosphorbomben eingesetzt zu haben.[7] Der Einsatz von Phosphorbomben oder anderer chemischer Kampfstoffe durch die türkische Armee widerspräche dem UN-Waffenübereinkommen von 1983 und würde somit einen Bruch des Völkerrechts darstellen. Überprüfen lassen sich die Vorwürfe des Einsatzes international geächteter Waffen jedoch nur schwer.


Entfesselung des Daesh

Problematisch ist die Tatsache, dass durch die türkische Militärinvasion eine Reorganisation des Daesh (des sogenannten IS) droht. Durch die Kämpfe im Norden waren die SDF gezwungen, ihre Kampfverbände dorthin zu verlegen und die Bewachung der Camps, in denen die Daesh-Kämpfer und ihre Familien gefangen sind, auf ein Minimum zu reduzieren. Dadurch kommt es immer wieder zu Ausbruchsversuchen, die zum Teil auch erfolgreich sind. Im wahrsten Sinne des Wortes Schützenhilfe erhält Daesh dabei direkt vom türkischen Militär: "Viele IS-Terroristen sind mittlerweile aus der Haft geflohen oder befreit worden, viele andere könnten folgen. Verantwortlich dafür sei Ankara, zitiert das amerikanische Fachblatt "Foreign Policy" zwei namentlich nicht genannte hohe US-Beamte. Sie werfen der türkischen Armee vor, Lager und Gefängnisse gezielt bombardiert und damit die Flucht von IS-Terroristen ermöglicht zu haben. Zudem behaupten sie, dass von der Türkei im Krieg in Nordsyrien eingesetzte islamistische Söldner in den von ihnen eroberten Gebieten inhaftierte IS-Kämpfer freigelassen hätten."[8]


Repression gegen Kritik am türkischen Einmarsch

Innenpolitisch geht die Türkei äußerst hart gegen Kritik an ihrer Offensive vor. Schon zwei Tage nach dem Einmarsch waren bereits 121 Personen wegen kritischer Internetbeiträge festgenommen worden. Der türkische Innenminister Soylu sagte am 11. Oktober 2019: "Diejenigen, die das Krieg nennen, begehen Verrat." Weitere Ermittlungen seien im Gang. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, einigen Betroffenen würden Terrorpropaganda und Aufwiegelung vorgeworfen.[9] Zudem wurden vier Bürgermeister der HDP festgenommen, weil sie sich gegen den türkischen Angriffskrieg stellten - offiziell wegen angeblicher Kontakte zur PKK.[10] Zudem seien die Rathäuser dreier kurdischer Städte durchsucht und verwüstet worden, beklagt die HDP, die sich als einzige Partei im türkischen Parlament kritisch über die Invasion äußert.[11]


"Abzug" der USA

Auch die Rolle der USA in dem Konflikt ist wenig ruhmreich. Von kurdischer Seite wird ihnen immer wieder vorgeworfen, durch ihren Abzug die türkische Invasion sehenden Auges überhaupt erst möglich gemacht zu haben. Die Bezeichnung "Abzug" für das Vorgehen der USA ist in diesem Fall jedoch irreführend und wohl eher eine Propagandalüge: Die USA machten lediglich den Weg für die türkische Invasion frei, zogen sich jedoch keineswegs gänzlich aus dem Syrien-Konflikt zurück. Die Verbände aus Nordsyrien wurden in den Irak verlegt. Von dort aus sollen sie sich jedoch weiter am Syrien-Konflikt beteiligen. Ziel sei die Bekämpfung des Daesh.[12] Ob daraus etwas wird, ist jedoch fraglich. So teilte das irakische Militär mit: "Es gibt keine Genehmigung für diese Truppen, im Irak zu bleiben."[13]

Doch selbst falls ein weiteres Eingreifen in Syrien ausgehend vom Irak nicht möglich sein sollte, sind die USA weiter in Syrien präsent. Donald Trump teilte mit, ein Teil der US-Armee sei zur Sicherung von Ölquellen weiterhin im Osten Syriens - außerhalb der momentanen Kampfzone.[14] Zudem betreibt die US-Armee bereits seit Jahren einen Militärstützpunkt im Südosten Syriens, in Al-Tanf. Dieser Stützpunkt befindet sich außerhalb der SDF-kontrollierten Gebiete an einem strategisch wichtigen Grenzübergang, an dem Syrien, Irak und Jordanien aneinandergrenzen. Dort werden die USA aller Voraussicht nach auch weiterhin präsent bleiben. Es handelt sich also mitnichten um einen Abzug der US-Armee, sondern vielmehr um eine Kollaboration mit dem NATO-Partner Türkei. Eine NATO-Armee (USA) wird hier durch eine andere NATO-Armee (Türkei, die zudem massenhafte, mörderische Vertreibungen plant) mit ihrer Militärpräsenz im Norden Syriens ersetzt, während die USA an den bislang von ihnen kontrollierten strategischen Punkten südlich davon auch weiterhin militärisch präsent bleiben.


Gewinner: Assad

Nachdem die USA aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet abgezogen waren, verbündeten sich die SDF mit Russland und dem syrischen Machthaber Assad. Die syrische und russische Armee sollten gemeinsam mit den SDF die Grenze verteidigen und rückten daraufhin in die Gebiete des selbstverwalteten Rojava ein. In den folgenden Tagen kam es zu ersten kleineren Gefechten gegen die türkische Armee und die mit ihr verbündeten Milizen. Offiziell wird die Selbstverwaltung durch den Einmarsch der syrischen Armee nicht angetastet - inwiefern sich die Selbstverwaltung jedoch angesichts des Einmarschs der syrischen Armee halten kann, ist fraglich. Assad ist neben Putin somit der große Gewinner der türkischen Invasion, da er auf einen Schlag die militärische Kontrolle über einen Großteil des Landes wiederherstellen konnte.


Deutsche Rolle

Die Bundesregierung wirkte vor allem zu Beginn des türkischen Einmarsches überfordert damit, adäquat darauf zu reagieren. So drucksten Regierungsvertreter ganze elf Tage lang herum, bevor sie sich dazu durchringen konnten, den türkischen Angriff zumindest als das zu bezeichnen, was er ist: einen völkerrechtswidrigen Militäreinsatz. Und selbst das musste Außenminister Maas zu diesem Zeitpunkt "aus der Nase gezogen" werden, bis er schließlich sagte: "Wir glauben nicht, dass ein Angriff auf kurdische Einheiten oder kurdische Milizen völkerrechtlich legitimiert ist oder auch legitimierbar ist." Und weiter: "Wenn es keine Grundlage im Völkerrecht gibt für eine solche Invasion, dann ist sie auch nicht im Einklang mit dem Völkerrecht."[15] Schon Tage zuvor war der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags zu dem wenig überraschenden Ergebnis gekommen, dass die türkische Aggression völkerrechtswidrig sei: "Im Ergebnis lässt sich selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht erkennen. [...] Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar."[16]


Sogenannter "Rüstungsexportstopp"

Am 17.10.2019 kündigte die Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die Bundesregierung werde "unter den jetzigen Bedingungen auch keine Waffen an die Türkei liefern."[17] Ein kompletter Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei wäre tatsächlich ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen. Wenig später korrigierte sich die Bundesregierung jedoch in der Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: Die Bundesregierung erteile lediglich "keine neuen Genehmigungen" mehr für Rüstungsgüter, die im Syrienkonflikt genutzt werden könnten.[18] Heißt im Klartext: Alle bislang genehmigten Rüstungsexporte laufen weiter. Und die Zahl der Genehmigungen stiegen 2019 deutlich an: Bis zum 9. Oktober wurden Rüstungslieferungen im Wert von 28,5 Millionen Euro genehmigt. Das ist bereits jetzt mehr als doppelt so viel wie im gesamten Jahr 2018 mit 12,9 Millionen Euro. "Auch die Einzelgenehmigungen an die Türkei stiegen dieses Jahr an - waren es 2018 noch 58, haben sie sich in den ersten neuneinhalb Monaten dieses Jahres auf 182 mehr als verdreifacht."[19] Somit werden weiter munter Waffen in die Türkei exportiert. Nicht nur die Zahl der neuen Genehmigungen, sondern auch die momentan tatsächlich stattfindenden Lieferungen erreichen Rekordwerte: "In den ersten acht Monaten des Jahres [2019] hat die Türkei Kriegswaffen im Wert von 250,4 Millionen Euro von Deutschland erhalten. Das ist bereits jetzt der höchste Jahreswert seit 2005."[20] Es wirkt so, als sei der "Exportstopp" weniger mit dem Ziel verhängt worden, die Türkei zu einem Abzug aus Syrien zu bewegen, sondern vielmehr mit dem Ziel, die Bevölkerung in Deutschland zu besänftigen, die sich mit 91% mehrheitlich gegen den Export von Rüstungsgütern in die Türkei ausspricht.[21]

Zudem profitiert die türkische Armee weiterhin von der Ausbildungshilfe, die ihr aus Deutschland zukommt. So gab das Verteidigungsministerium bekannt: "Die gegenwärtige Praxis ist unverändert, keine Nato-Partner im Rahmen internationaler Ausbildungskooperationen einseitig auszuschließen." So werden beispielsweise nach wie vor türkische Spezialkräfte am Ausbildungszentrum Spezielle Operationen in Pfullendorf ausgebildet - von deutschen Soldat*innen. Die türkischen Spezialkräfte kämpfen im Krieg in Syrien an vorderster Front. Sevim Dagdelen (DIE LINKE) nannte dies "Beihilfe zum Völkerrechtsbruch".[22]


Forderung nach europäisch kontrollierter Sicherheitszone

Am 21. Oktober 2019 preschte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit dem Vorschlag vor, eine internationale Sicherheitszone in Nordsyrien einzurichten. Zur Ausgestaltung dieser Zone sagte sie wenig. Geplant ist, dass die EU-Staaten Militär in die Region schicken sollen. Offensichtlich war der Vorstoß jedoch weder mit Verbündeten noch mit dem Koalitionspartner SPD abgestimmt. Für Verwirrung sorgte die Wortwahl der Ministerin: Mal verwendete sie den auch von Erdogan verwendeten Begriff "Sicherheitszone", mal den Begriff "humanitäre Schutzzone", der eher einer UN-Blauhelm-Zone zum Schutz der Zivilbevölkerung entsprechen würde. Die genaue Ausgestaltung der Zone hänge jedoch von Gesprächen mit Russland und der Türkei ab, die beide ausdrücklich einbezogen werden sollen. Die Antwort auf die Frage, wie genau eine solche Zone unter Einbeziehung der Türkei, die bereits positiv auf den Vorstoß reagiert habe, aussehen soll, bleibt die Verteidigungsministerin schuldig. Am 23. Oktober 2019 sagte sie, die rechtliche Grundlage für den möglichen Einsatz solle ein UNO-Sicherheitsmandat sein.

Die Sicherheitszone könne in Sektoren eingeteilt werden, von denen Deutschland einen übernehmen könne. Benötigt würde die ganze Bandbreite militärischer Fähigkeiten - auch Kampftruppen. Insgesamt seien dafür anderen militärnahen Quellen zufolge etwa 40.000 Soldat*innen zur Umsetzung der Pläne nötig.[23] Ein Ex-NATO-General nennt "drei Brigaden", die für die Einrichtung einer Schutzzone nötig wären.[24] Dies entspräche 15.000 bis 20.000 Soldat*innen. Die genaue Zahl der benötigten Soldat*innen würde von der konkreten Ausgestaltung der Sicherheitszone abhängen.

Als Ziele der Intervention wurden die Bekämpfung des Daesh und die "Überwachung der Gebiete sowie Maßnahmen bei Verstößen gegen die dort geltenden Regeln" genannt.[25] Offen bleibt dabei wiederum, welche Regeln denn durchgesetzt werden sollen.

Dass die Initiative für einen Kampfeinsatz aus der Bundesrepublik Deutschland kommt - das ist ein Paradigmenwechsel. Erst in den 1990er-Jahren hatte Deutschland begonnen, sich an solchen Einsätzen überhaupt erst zu beteiligen. Nun kommt die Initiative dafür aus Deutschland - obwohl die konkrete Ausgestaltung und die Ziele des Auslandseinsatzes alles andere als durchdacht wirkten. Die Süddeutsche Zeitung schreibt dazu: "Sollte sich der Vorstoß konkretisieren, wäre es das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass Deutschland eine Initiative zu einer internationalen Militärmission ergreift. Damit wäre auch eine Beteiligung der Bundeswehr faktisch unumgänglich, sofern der Bundestag einem entsprechenden Mandat zustimmte."[26]

Mehrfach betonte die Ministerin, ihr gehe es darum, dass Deutschland und Europa nicht mehr "Zaungast" seien. Diese Aussage ist entlarvend. Vorrangiges Ziel der Initiative scheint nicht der Schutz der syrischen Bevölkerung zu sein, sondern eine Profilierung Deutschlands auf internationaler Bühne. Positiver Nebeneffekt: Durch Vorstöße wie diesen könnte die Akzeptanz der deutschen Bevölkerung für Militäreinsätze und Krieg als Mittel der Politik erhöht werden - selbst wenn aus der Idee letztendlich nichts wird. Zugute kommt Kramp-Karrenbauer hierbei, dass die Gemengelage sehr kompliziert ist und die Selbstverwaltung in Nordostsyrien tatsächlich einen UN-Einsatz forderte.


Spaltung der Antikriegsbewegung?

Dadurch droht nun ein Keil in die Antikriegsbewegung in Deutschland getrieben zu werden, die bislang - Kurd*innen, klassische Friedensbewegung und radikale Linke Seite an Seite - gegen den türkischen Einmarsch protestiert hatte, Rüstungsbetriebe blockiert hatte und die Haltung der Bundesregierung verurteilt hatte. Entlang der Frage um eine deutsch-europäische Intervention in Nordsyrien droht nun eine Spaltung dieser Kräfte. Dass weite Teile der Friedensbewegung solidarisch mit der Konföderation Nordsyrien sind, könnte auch erklären, weshalb der Aufschrei gegen den geplanten Auslandseinsatz unter deutscher Führung verhältnismäßig gering war.

Eine konkrete Kritik am Vorschlag der Verteidigungsministerin ist kaum möglich, da der Vorschlag selbst bislang sehr vage bleibt. Klar ist aber, dass eine Intervention unter Miteinbeziehung der Türkei für die Bevölkerung in Nordkurdistan wenig Gutes verheißen würde. Sollte es bei der Intervention tatsächlich um den Schutz der Zivilbevölkerung gehen, so ist es mehr als fragwürdig, weshalb dafür dann nicht zunächst zivile Mittel wie ein echter Exportstopp oder ein Waffenembargo gegen die Türkei ausgeschöpft wurden.

Dass die geplante Intervention tatsächlich kommt, ist allerdings ohnehin unwahrscheinlich. Die SPD zeigte sich überrascht und irritiert über den nicht abgesprochenen Vorschlag Kramp-Karrenbauers. Insbesondere das Außenministerium, das für Verhandlungen über ein UN-Mandat zuständig wäre, zeigte sich wenig begeistert. Der Außenminister Heiko Maas beklagte sich, über die Pläne der Verteidigungsministerin erst kurz zuvor in einer SMS - ohne Details - informiert worden zu sein.[27] Nicht nur deshalb ist es fraglich, ob die Schutzzone von Kramp-Karrenbauer überhaupt kommen wird.


Türkisch-Russischer Deal

Am 22 Oktober 2019 - einen Tag nach dem Vorschlag aus Deutschland - traf sich der türkische Präsident Erdogan mit dem russischen Präsident Putin, der mit dem syrischen Regime verbündet ist, in Sotschi. Dabei wurde ein sechstägiger Waffenstillstand ausgehandelt - dieser hat für die SDF jedoch einen sehr hohen Preis. Über die Köpfe der Menschen in Rojava wurde in imperialistischer Manier ein Deal ausgehandelt, der vorsieht, dass sich die kurdischen Milizen wie von Erdogan vorgesehen aus einem 32 km breiten Streifen entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze zurückziehen sollen. Die Türkei darf die bereits eroberten Gebiete zwischen Serekaniye und Tall Abyad vorerst besetzt halten. Dies ist eine Fläche von etwa 120 km von Osten nach Westen und 30 km von Norden nach Süden. Gleichzeitig verpflichtet sich Erdogan jedoch der territorialen Integrität Syriens, was bedeuten könnte, dass diese Gebiete später zurückgegeben werden müssen. Im restlichen Grenzgebiet werden in einem 10 km breiten Streifen gemeinsame russisch-türkische Patrouillen durchgeführt. Nur die Großstadt Qamishlo an der türkisch-syrischen Grenze ist von den gemeinsamen Patrouillen ausgenommen. Auf einem Gebiet bis zu 15 km auf syrischem Staatsgebiet darf die Türkei gegen die SDF vorgehen. Die Stadt Manbij, die zuvor Teil der Selbstverwaltung war, soll vom syrischen Regime übernommen werden.[28] Eine Karte, die die Vereinbarung illustriert, findet sich unter:
https://pbs.twimg.com/media/EHgMKl7XUAAqudX.jpg

Mit dieser Vereinbarung verliert die demokratische Konföderation einen Großteil der Kerngebiete, von denen die Revolution ursprünglich ausgegangen war, darunter z.B. die Stadt Kobani, wo dem Daesh die erste Niederlage beigebracht werden konnte, für die die Kurd*innen einen hohen Preis gezahlt hatten. Allerdings scheint der demokratischen Konföderation kaum eine andere Möglichkeit zu bleiben, als dies zähneknirschend hinzunehmen, da ein Krieg gegen Russland, Assad, die Türkei und Daesh gleichzeitig wohl Selbstmord wäre. Momentan beginnen die SDF auch tatsächlich mit dem Rückzug aus dem Grenzstreifen.


Fazit

Die Gewinner der aktuellsten Entwicklungen sind Assad, Erdogan und Putin. Erdogan erreicht die Akzeptanz seiner Offensive und das Zurückdrängen der SDF aus dem von ihm geforderten Grenzstreifen. Assad erlangt die militärische Kontrolle über weite Teile des syrischen Staatsgebiets wieder, was seine Verhandlungsposition gegenüber der demokratischen Konföderation bezüglich einer Wiedereingliederung in den syrischen Staat deutlich stärken dürfte, und Putin festigt sich als bedeutender Player im Nahen Osten.

Die Verlierer sind die Kurd*innen bzw. die demokratische Konföderation. Sie wurden einmal mehr wie eine Figur auf einem Schachbrett verschoben und müssen um den Fortbestand der Selbstverwaltung bangen.

Die NATO und die EU agierten zerstritten, planlos und unglaubwürdig. Deutschland bleibt - wie praktisch alle NATO-Staaten - dem "NATO-Partner" Türkei trotz der völkerrechtswidrigen Invasion treu und belässt es bei Lippenbekenntnissen und Ermahnungen. Denkt man an die russische "Annexion" der Krim und die heftige westliche Reaktion darauf zurück, dann wirkt das Agieren gegenüber der Türkei in diesem Zusammenhang doppelt scheinheilig.

Der Vorschlag Kramp-Karrenbauers zur Einrichtung einer Schutzzone in Nordsyrien durch europäisches Militär kann insgesamt als gescheiterten Versuch gewertet werden, Deutschland militärisch noch mehr Gewicht zu verschaffen. Kommen wird die geforderte Schutzzone aus mehreren Gründen voraussichtlich nicht: 1.) Ist nicht davon auszugehen, dass die Türkei ihr zustimmen wird, was zwar militärisch, nicht aber rechtlich ein Problem wäre; 2.) da aber auch nicht von einer russischen Befürwortung auszugehen ist, läge hier kein Mandat der Vereinten Nationen vor; 3.) da sicher auch Syrien nicht mit der Stationierung europäischer Truppen in Syrien einverstanden wäre, wäre die Einrichtung einer "Schutzzone" ohne UN-Mandat und gegen den erklärten Willen eines souveränen Staates ebenfalls als Völkerrechtsbruch zu werten - schwierig, nachdem man sich eben durchgerungen hatte, das türkische Vorgehen zu verurteilen.

Was also bewegte die Verteidigungsministerin wohl zu ihrem Vorschlag? Sicherlich jedenfalls nicht die Solidarität mit der demokratischen Selbstverwaltung. Es ging wohl eher darum, Deutschland auf eine Ebene mit den anderen Imperialmächten in der Welt zu heben, die das Projekt Rojava im Übrigen allesamt für ihre Zwecke benutzt und dann verraten haben. Eine Spaltung der Antikriegsbewegung wegen dieses unausgegorenen Vorschlags wäre sehr bedauerlich, doch dazu wird es voraussichtlich auch nicht kommen.


Anmerkungen

[1] ANF Deutsch: UN: Kriegsverbrechen und Folter in Efrîn. 12.9.2019;
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/un-kriegsverbrechen-und-folter-in-efrin-13864
ANF Deutsch: 13 weitere Zivilisten in Efrîn entführt. 25.9.2019;
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/efrin-13-weitere-zivilisten-entfuehrt-14134
ANF Deutsch: Zivilist in Efrîn von Besatzern erschossen. 4.10.2019.
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/zivilist-in-efrin-von-besatzern-erschossen-14330

[2] Deutsche Welle: Türkei meldet Eroberung in Nordsyrien. 12.10.2019.
https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-meldet-eroberung-in-nordsyrien/a-50806988

[3] Tagesspiegel: Erste Tote bei Luftangriff auf Kurdengebiet. Türkei marschiert in Syrien ein. 9.10.2019.
https://www.tagesspiegel.de/politik/erste-tote-bei-luftangriff-auf-kurdengebiet-tuerkei-marschiert-in-syrien-ein/25100916.html

[4] ZDF: Politikerin und Frauenrechtlerin Havrin Khalaf in Syrien getötet. 13.10.2019.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/politikerin-und-frauenrechtlerin-havrin-khalaf-in-syrien-getoetet-100.html

[5] BR24: Merkel und Macron fordern Ende der türkischen Offensive. 14.10.2019;
https://www.br.de/nachrichten/meldung/merkel-und-macron-fordern-ende-der-tuerkischen-offensive,300255553
ANF Deutsch: Zivilisten in Zusammenarbeit mit Koalition getötet. 13.10.2019.
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/zivilisten-in-zusammenarbeit-mit-koalition-getoetet-14586

[6] Amnesty International: Syrien: Amnesty wirft türkischen Streitkräften und verbündeten Milizen Kriegsverbrechen vor. 18.10.2019.
https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/syrien-syrien-amnesty-wirft-tuerkischen-streitkraeften-und-verbuendeten

[7] ANF Deutsch: Experten: Türkei setzt Phosphorbomben ein. 18.10.2019.
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/experten-sind-sich-sicher-tuerkei-setzt-phosphorbomben-ein-14745

[8] Tagesschau: Erdogans Beziehungen zum IS. 20.10.2019.
https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-is-107.html

[9] T-Online: Newsblog Syrien-Konflikt. 11.10.2019.
https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_86588612/syrien-krieg-ende-der-waffenruhe-erdogan-droht-offensive-zu-verschaerfen.html

[10] Junge Welt: Bürgermeister in Türkei festgenommen. 16.10.2019.
https://www.jungewelt.de/artikel/364815.b%C3%BCrgermeister-in-t%C3%BCrkei-festgenommen.html

[11] ANF Deutsch: Staatsterror in der Türkei. 15.10.2019.
https://anfdeutsch.com/kurdistan/staatsterror-in-der-tuerkei-14642

[12] New York Times: Mark Esperanto? Trump Misnames His Defense Secretary in Tweet. 20.10.2019.
https://www.nytimes.com/2019/10/20/us/politics/mark-esperanto-trump-tweet.html

[13] Tagesschau: Nach Abzug aus Syrien. US-Truppen müssen Irak verlassen. 22.10.2019.
https://www.tagesschau.de/ausland/us-truppen-irak-101.html

[14] New York Times: Mark Esperanto? Trump Misnames His Defense Secretary in Tweet. 20.10.2019.
https://www.nytimes.com/2019/10/20/us/politics/mark-esperanto-trump-tweet.html

[15] NDR: Türkei-Offensive: Europa muss endlich handeln! 21.10.2019.
https://www.ndr.de/nachrichten/Tuerkei-Offensive-Europa-muss-endlich-handeln,syrien930.html

[16] Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag: Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation "Friedensquelle" in Nordsyrien. 17.10.2019.
https://www.bundestag.de/resource/blob/663322/fd65511209aad5c6a6eae95eb779fcba/WD-2-116-19-pdf-data.pdf

[17] Süddeutsche Zeitung: Kein kompletter Stopp deutscher Rüstungsexporte für die Türkei. 19.10.2019.
https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-waffen-merkel-1.4647599

[18] Ebd.

[19] Tagesschau: Trotz Exportstopp. Waffenexporte in Türkei boomen. 17.10.2019.
https://www.tagesschau.de/inland/waffenexporte-tuerkei-105.html

[20] Ebd.

[21] ZDF-Politbarometer Oktober 2019.
https://www.zdf.de/politik/politbarometer/191018-mehrheit-fuer-sanktionen-gegen-die-tuerkei-100.html

[22] Märkische Allgemeine: Bundeswehr bildet weiter Soldaten der türkischen Armee aus. 24.10.2019.
https://www.maz-online.de/Nachrichten/Politik/Bundeswehr-bildet-weiter-Soldaten-der-tuerkischen-Armee-aus

[23] Tagesschau: Syrien. Was will die Verteidigungsministerin? 22.10.2019;
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/syrien-schutzzone-sicherheitszone-101.html
Spiegel Online: Streit über Syrien-Vorstoß. Kramp-Karrenbauer drängt auf Uno-Sicherheitsmandat. 23.10.2019.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/syrien-annegret-kramp-karrenbauer-draengt-auf-uno-sicherheitsmandat-a-1292914.html

[24] Handelsblatt: Ex-Nato-General zu syrischer Sicherheitszone: "Die Bundeswehr kann das". 22.10.2019.
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/hans-lothar-domroese-ex-nato-general-zu-syrischer-sicherheitszone-die-bundeswehr-kann-das/25141708.html?ticket=ST-53668669-dYr5adRC1SbSd5JoGTWA-ap1

[25] Spiegel Online: Streit über Syrien-Vorstoß. Kramp-Karrenbauer drängt auf Uno-Sicherheitsmandat. 23.10.2019.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/syrien-annegret-kramp-karrenbauer-draengt-auf-uno-sicherheitsmandat-a-1292914.html

[26] Süddeutsche Zeitung: Kramp-Karrenbauer fordert internationale Sicherheitszone in Syrien. 21.10.2019.
https://www.sueddeutsche.de/politik/syrien-krieg-tuerkei-kurden-kramp-karrenbauer-1.4649462

[27] Tagesschau: Nordsyrien-Plan. Massive Kritik an Kramp-Karrenbauer. 23.10.2019.
https://www.tagesschau.de/inland/akk-nordsyrien-kritik-101.html

[28] BR24: 10-Punkte-Plan: Ende der türkischen Millitäroffensive? 22.10.2019;
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/10-punkte-plan-ende-der-tuerkischen-millitaeroffensive,Rff0wkd
Süddeutsche Zeitung: Nichts geht mehr ohne Russland. 23.10.2019;
https://www.sueddeutsche.de/politik/syrien-russland-kommentar-1.4652579
Tagesschau: Plan von Erdogan und Putin. Russisch-türkische Patrouillen für Nordsyrien. 23.10.2019.
https://www.tagesschau.de/ausland/putin-erdogan-treffen-105.html


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Quelle:
IMI-Analyse 2019/34 vom 24. Oktober 2019
Türkischer Angriffskrieg in Nordsyrien
https://www.imi-online.de/2019/10/24/tuerkischer-angriffskrieg-in-nordsyrien/
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2019

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