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INTIFADA/007: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 31/Sommer 2010


Intifada Nummer 31 - Sommer 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial - Die Welt nach Mavi Marmara
ARABISCHER RAUM
Wachsender Widerstand
Die Ablehnung des Zionismus hat weltweit zugenommen
Trends im irakischen Chaos
Versuch einer Interpretation der jüngsten Wahlen zum Parlament
Archäologie im Nahost-Konflikt
Identitätsfindung und -erfindung zwischen Wissenschaft und Politik
Einigung auf Nichteinigung
Im Sudan bestätigen die Wahlen die Spaltung des Landes
INTERNATIONAL
Bei den Genossen im Wald
Was hinter dem Krieg Indiens gegen seine Ureinwohner steckt
Anspruch und Realität
Impressionen vom Wiederaufbau Afghanistans
EUROPA
Der Euro am Ende?
Staatsschuldenkrise hat Europa erfasst
Einschränkung der Meinungsfreiheit
Bestehende Organisationsdelikte und das Terrorismuspräventionsgesetz 2010
Wohin Linkspartei?
Zwischen Antagonismus und Opposition ihrer Majestät
THEORIE
Neue Wege zum Sozialismus
Überlegungen anhand des venezolanischen Beispiels
Die Wette
Zu Wilhelm Langthalers "Befreiung weltweit"
AKTIVISMUS
Ein-Staaten-Lösung gewinnt an Boden
Die internationale Konferenz in Haifa inmitten des Zerfalls des Linkszionismus
SUMUD kehrt zurück
Solidarität ist kreativ, konstruktiv und politisch
KULTUR
Shamir, Yoav (Regie): Defamation
Autor/innenverzeichnis

Raute

EDITORIAL

Die Welt nach Mavi Marmara

Wie kaum ein Ereignis zuvor hat der Angriff der israelischen Armee auf die Gaza-Freiheitsflottille am 31. Mai den Charakter des israelischen Regimes entblößt. Während weltweit Israels Herrenmenschen-Gehabe verurteilt wurde, schafften es Medien und Regierungen in den deutschsprachigen Ländern, den Spieß umzudrehen: Die ermordeten Menschenrechtsaktivisten auf dem türkischen Schiff Mavi Marmara seien terrorverdächtig, Israel habe in Notwehr gehandelt. Die Organisatoren der Proteste seien antisemitische Aufhetzer.

Im deutschsprachigen Raum scheinen die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten nach Mavi Marmara unverändert. Der Schein trügt. Allein, dass die Auflösung des strategischen Bündnisses zwischen der Türkei und Israel in der Luft lag, hat die Fragilität der Herrschaftsarchitektur im Nahen Osten sichtbar gemacht.

Jonas Feller analysiert die wachsende Kraft des Widerstands im Nahen Osten und die zunehmende Ablehnung des Zionismus weltweit. In Palästina gewinnt indes eine tot geglaubte historische Forderung wieder an Leben: die Schaffung eines demokratischen säkularen Staates für alle dort lebenden Menschen, wie Wilhelm Langthaler aus Haifa berichtet. Dieter Reinisch zeigt an der Archäologie den kolonialen Charakter Israels auf. Im Irak und in Afghanistan kommt der US-Imperialismus nicht weiter. Mundher Al-Adhami und Masud Ulfat berichten. Was der Wahlausgang im Sudan für die Zukunft bedeutet, analysiert Mohammad Aburous. Und Arundhati Roy beschreibt die Kämpfe der indischen Adivasi.

In Europa dominiert die Krise, die Stefan Hirsch analysiert und Gernot Bodner als Ausgangspunkt für Überlegungen zu einem neuen Sozialismus nimmt. Farah Abu Shawki mahnt vor der Terrorismusgesetzgebung in Österreich und Costanzo Preve reflektiert über Wilhelm Langthalers Buch zu Möglichkeiten einer weltweiten Befreiungsbewegung.

Margarethe Berger

Raute

ARABISCHER RAUM

Wachsender Widerstand

Die Ablehnung des Zionismus hat weltweit zugenommen

Von Jonas Feller

Die Lage im Nahen Osten spitzt sich zu. Die zionistische Führung verhält sich immer rücksichtsloser - zugleich wächst in der arabischen Welt der Widerstand, international die Wut.


Ein kleiner Rückblick: Israel weigert sich Ende 2009, den gründlich recherchierten Goldstone-Bericht anzuerkennen, der Kriegsverbrechen während der "Operation Gegossenes Blei", der Angriff der israelischen Armee gegen Gaza im Dezember 2008, dokumentiert. Beweise für israelische Kriegsverbrechen bleiben folgenlos. Dann wird bekannt, dass u. a. britische und australische Pässe vom Mossad gefälscht wurden, um in Dubai einen Hamas-Kommandeur zu ermorden. Die schamlos benutzten Staaten weisen Diplomaten aus und vergessen den Vorfall. Im März 2010 erklärt Israel die Ausweitung seiner illegalen Siedlungen, bezeichnet Jerusalem als "Hauptstadt des jüdischen Staates" und versucht, die verbleibenden arabischen Familien daraus zu vertreiben. Gleichzeitig sagt Obama zu, das neueste "Raketenabwehrsystem" für Israel mitzufinanzieren. Ende April "legalisiert" ein Militärerlass für das Westjordanland die Ausweisung von bis zu 80.000 dort lebenden Palästinenser/innen. Im Mai wird Israel von 189 Staaten aufgefordert, seine Nukleareinrichtungen unter UN-Aufsicht zu stellen und den Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen zu unterzeichnen - der zionistische Staat ist die einzige Nuklearmacht des Nahen Osten. Israel ist über den ohnehin verwässerten Vorstoß empört.

Am 31. Mai ist der vorläufige Höhepunkt der Verbrechen erreicht: Zionistische Elitesoldaten kapern die Freiheitsflotte für Gaza in internationalen Gewässern und erschießen internationale Friedensaktivisten. Es ist üblich, dass Israel seine Gegner ermordet, gerade friedliche Apartheidgegner; aber in dem Maß, wie die Regierungen der "freien Welt" mit den Schultern zucken oder ihr grundsätzliches Verständnis für die Schandtaten bekunden, in dem Maß wächst das Bewusstsein in der Zivilgesellschaft dafür, was Israel und der Zionismus wirklich sind.(1)

Die gebetsmühlenartig wiederholten Antisemitismus-Vorwürfe haben sich abgenutzt, die pro-israelischen Massenmedien haben gegen das Internet keine Chance. Umfragen zeigen, dass in vielen europäischen Ländern breite Mehrheiten Israel als aggressive und brutale Macht erkennen. Doch erst wenn es in den westlichen Ländern gelingt, die Israel-Lobby unmöglich zu machen und den Israel-Boykott gesellschaftlich zu verankern, wenn Politiker unter dem Druck der Öffentlichkeit auf Distanz zu Israel gehen - dann ist eine erste Schlacht für die Befreiung Palästinas gewonnen. Aktionen wie die Hilfsflotte für Gaza sind ein guter Schritt in diese Richtung: Entscheidend dürfte die Breite des Spektrums sein, dass Menschenrechtsaktivist/innen, arabische und islamische Organisationen gemeinsam mit linken Gruppen auf der Grundlage gegenseitiger Achtung mit dem klaren Ziel, die zionistischen Verbrechen zu beenden, eine Front bilden.


Der nächste Krieg

Ende Februar 2010 trafen sich Ahmadinejad, Nasrallah und Assad in Damaskus zu vertraulichen Gesprächen.(2) Iran, Libanon und Syrien werden seit geraumer Zeit offen mit Krieg bedroht, der wohl nur dank des irakischen und afghanischen Widerstandes ohne direkte US-Beteiligung geführt werden dürfte. Kurz darauf gab es einen zweiten Gipfel im Iran, bei dem Khamenei Abgesandte von Hamas, Jihad und PFLP-GC empfing und die Situation in Palästina diskutierte.

Berücksichtigt man, dass die US-Abenteuer in Afghanistan und Irak gescheitert sind, während der Iran eine militärisch und wirtschaftlich bedeutende Nation darstellt, so zeigt sich für die Zukunft eine neue Chance für den arabischen Widerstand. Das Kräfteverhältnis im arabischen Raum wird nicht länger von proamerikanischen Positionen dominiert. Im Wesentlichen baut Israel auf die Komplizenschaft der "internationalen Gemeinschaft", lokaler Regime wie Ägypten und sein hochmodernes Waffenarsenal. Anders als früher gilt es aber nicht mehr, reguläre Armeen zu bekämpfen - das Desaster für Israel im Libanonkrieg 2006 bewies, wie schwer es ist, gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen. Das Internet tut sein Übriges, in Sekundenschnelle Bild- und Videodokumente über zionistische Verbrechen weltweit zu verbreiten und Proteste dagegen effizient zu organisieren.

Berücksichtigt man, dass die USA im Irak und Afghanistan gescheitert sind, so zeigt sich für die Zukunft eine neue Chance für den arabischen Widerstand.

Als am 25. Mai im Libanon der 10. Jahrestag der Befreiung(3) von der israelischen Besatzung gefeiert wurde, erklärte der Generalsekretär der Hisbollah, Sayyed Nasrallah, die Zeit der zionistischen Dominanz für beendet. Der Weltöffentlichkeit versprach er für den nächsten Krieg, dass alle Schiffe "vor der Küste des besetzten Palästinas" in der Reichweite der Raketen des Widerstandes lägen und beschossen würden, mit Ausnahme solcher, die Israelis in ihre Heimatländer zurückbringen(4). Anders als bin Laden oder Saddam Hussein ist Hassan Nasrallah ein Führer, der bei Freund und Feind für den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen geachtet wird. Israel, aber auch die deutschsprachige Presse schwiegen zu den überraschenden Ankündigungen in seiner Rede; sollte er allerdings Recht behalten, stünde das traditionelle Gleichgewicht in der Region tatsächlich vor einem Wandel.


Widerstand oder Verhandlungen?

Unterdessen ist die palästinensische Bewegung nicht in der Lage gewesen, durch einen inneren Dialog die Spaltungen zu überwinden. In der Westbank erklärt der vom PNA-Präsident Abbas eingesetzte Premierminister, 2011 einen Palästinenserstaat ausrufen zu wollen, den die USA anerkennen sollen. Er präsentiert das Projekt als "erfolgreiches Gegenmodell" zum von der demokratisch gewählten Hamas regierten Gazastreifen. In diesem Zusammenhang stimmte Abbas "Friedensgesprächen" zu - ein Schritt, für den es keine glaubwürdige Begründung geben kann und erst recht keine demokratische Legitimation. In erster Linie dienen diese Verhandlungen als Schutz für Israel, das gleichzeitig Landraub, Siedlungsbau und Terror fortführt.

Ohne ein Gegenprojekt zum Apartheidsgebilde bleibt der Widerstand in seiner Rolle passiv und kann keinen Kollaps des Zionismus herbeiführen

Im Gazastreifen wird die Hamas-Regierung zunehmend für ihren Spagat aus Politik und Widerstand kritisiert. PFLP und Jihad-Kämpfer wurden vorübergehend festgenommen, als sie Raketen auf die Besatzer feuern wollten. Aber auch soziale Probleme machen der Hamas-Regierung zu schaffen: Zehntausende Angestellte bekamen nur noch den halben Lohn ausgezahlt, während Hamas versucht, die finanzielle Notlage durch Steuererhöhungen und polizeiliche Repression in den Griff zu bekommen. Die PFLP droht bei einer Verschärfung der Lage gar mit einem Volksaufstand und verweist auf die verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Auch wenn es in absehbarer Zeit nicht dazu kommen wird, setzt sich durch die Frustration ein stiller Trend hin zum militanten Salafismus fort: Desillusionierte Teile der islamischen Widerstandsbewegung beginnen, ein geheimes Gegennetzwerk zur Hamas aufzubauen und wollen dabei von Politik nichts mehr wissen. In der nihilistischen alQaida-Ideologie glauben sie, eine vermeintliche Lösung gefunden zu haben. Die Hoffnung der Hamas, Widerstandsbewegung und Regierung zugleich sein zu können, wird damit stark in Frage gestellt.


Widerstandsprojekt Palästinensische Einheit

Angesichts dieser Entwicklungen ist klar, dass erfolgreiche Versöhnungsgespräche zwischen den palästinensischen Parteien viel dringender sind als irgendwelche "Friedensgespräche" mit Israel. Eine gewählte Einheitsregierung, die Schlussfolgerungen aus den erfolglosen Gesprächen mit den Zionisten zieht und die Rechte auf Selbstbestimmung, Widerstand und Rückkehr verteidigt, könnte die Sache der Palästinenser erheblich bestärken und letztendlich eine Widerstandsstrategie entwickeln, die von der Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse profitiert.

Friedensverhandlungen verhalfen der zionistischen Unterdrückungspolitik gegen die rechtmäßigen Einwohner Palästinas immer nur zur Legitimität und liefen auf endlose, einseitige Zugeständnisse hinaus. Ohne ein Gegenprojekt zum Apartheidsgebilde hingegen, das alle Teile der palästinensischen Gesellschaft im Befreiungskampf vereint, bleibt der Widerstand in seiner Rolle passiv und kann daher auch keinen Kollaps des Zionismus herbeiführen.


Anmerkungen

1.) Eine BBC-Studie zeigt, dass nur noch neun Prozent der Deutschen ein positives Israel-Bild haben. Jede Bundesregierung hingegen bekräftigt ihre tiefe Solidarität mit Israel und macht sich zum Komplizen seiner Verbrechen.

2.) http://www.almanar.com.lb/NewsSite/NewsDetails.aspx?id=126416&language=en, aufgerufen am 10. Juli 2010.

3.) http://www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=8643, aufgerufen am 10. Juli 2010.

4.) http://arab-resistance.info/?p=638, aufgerufen am 10. Juli 2010.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

- Eine Demonstration in Wien gegen den israelischen Angriff auf die Gaza-Flotte

Raute

ARABISCHER RAUM

Trends im irakischen Chaos

Versuch einer Interpretation der jüngsten Wahlen zum Parlament

Von Mundher Al-Adhami

Wie sind die Ergebnisse der letzten Wahlen im Irak von einer Anti-Besatzungs-Perspektive aus zu interpretieren? Für die Antwort müssen mehrere Trends berücksichtigt werden.


Offensichtlich und allgegenwärtig ist die Vertiefung der politischen Fragmentierung und des Chaos'. Es hat keinen Sinn etwas anderes zu behaupten, obwohl die Hoffnung bleibt, dass wir nicht wieder in einer Periode konfessionell motivierter Gräueltaten wie in den Jahren 2006/7 versinken.

Die zu analysierenden Fronten sind die US-Pläne, die irakische Kollaborateurklasse, die regionale Politik, irakische bewaffnete Widerstandskräfte und schließlich der Großteil der irakischen Bevölkerung, der innerhalb dieses wachsenden Chaos einen Weg finden muss, um zu überleben. An jeder dieser Fronten finden Konflikte mit komplexen Dynamiken statt. Und alle Fronten sind in Wirklichkeit Bereiche, die sich überschneiden und die einander rasch beeinflussen, sobald Veränderungen auftreten.

Daher ist es nur möglich, vage Trends von relativer Dauer zu erkennen. Ich werde diese aus der Perspektive der irakischen Öffentlichkeit schildern und darstellen, wie jede Front die andere sieht.


Gleichbleibende Machtaufteilung?

Die Trends sind widersprüchlich. Auf der einen Seite zeigen sich konfessionell-ethnische Verfestigungen, d. h. ein guter Teil der Menschen wählt entsprechend ihrer konfessionellen und ethnischen Angehörigkeit, was auch von der Besatzungsmacht gefördert wird. Ein widersprüchlicher Aspekt ist jedoch, dass viele Sunniten, welche die Wahl im Jahr 2005 boykottiert hatten, diesmal an den Wahlen teilnahmen und hauptsächlich die säkulare interkonfessionelle Iraqia-Liste wählten, die vom bekennenden CIA-Agenten Ayad Allawi angeführt wird.

Dieses unerwartete Ergebnis entstand trotz der starken Spaltungen zwischen den irakischen Politikern und innerhalb der irakischen Öffentlichkeit. Aber der Trend zu konfessionell-ethnischen Verfestigungen wird innerhalb der verschiedenen Gruppen in jedem Lager fortgesetzt, wo die Koalitionen ähnlich wie bei den Wahlen von 2005 gebildet werden. Dies ist weitgehend durch die Iraqia-Liste erreicht worden, die als Deckmantel für den Seitenwechsel der USA interpretiert wird. Demnach wurden die Baathisten zurückgeholt, um dem iranischen Einfluss entgegenzuwirken, der durch die einstigen US-Verbündeten, die schiitischen religiösen Parteien, immer stärker zur Geltung kam.

Auf der einen Seite zeigen sich konfessionell-ethnische Verfestigungen, doch viele Sunniten hatten diesmal die interkonfessionelle Iraqia-Liste gewählt.

Die USA unterstützen seit einigen Jahren offen eine Reintegration der Baathisten und die lokalen sunnitischen Widerstandsgruppen, die Al Qaida bekämpfen und den bewaffneten nationalen Widerstand verraten haben. Die Logik des Umdenkens der USA zielt offensichtlich darauf ab, die heute dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien zum Gehorsam zu zwingen. Oder aber sie ist als Eingeständnis der Unmöglichkeit zu interpretieren, den Widerstand militärisch zu besiegen und ein neokoloniales Regime ohne eine Koalition konfessioneller Gruppen, welche die demografische Struktur annähernd widerspiegeln würde, zu etablieren. Jedoch wurde dieser Kurswechsel den USA, vor allem von Ahmad Jalabi und anderen, geschickt als drohende Rückkehr zur vermeintlichen Dominanz der Sunniten über die Schiiten dargestellt.

Die echte Bedrohung stellt die Verprassung vieler Milliarden Dollar des irakischen Nationalvermögens dar, das von den schiitischen Gruppen in den Jahren seit der Besatzung veruntreut wurde. Einiges davon ist zu lokalen Gruppen durchgesickert, die sich heute dazu bekennen, Komplizen oder inkompetente Profiteure von Posten im riesigen Staatsapparat zu sein, auf Kosten von qualifizierteren Personen, die einfach als Baathisten, Saddamisten oder Terroristen bezeichnet und entfernt wurden.

Das gleiche politische bzw. soziologische, auf kurzfristigen materiellen Interessen basierende Verhalten kann in den kurdischen Teilen der Bevölkerung beobachtet werden. Und auch auf der sunnitischen Seite sind ähnliche Einstellungen sichtbar. Einige fanden, dass sie durch die Weigerung, mit der Besatzung zu kollaborieren, viel verloren hätten. Die Besatzung sei vorübergehend und vorübergehende Abkommen brächten einige Vorteile mit sich, sei es um das Überleben zu sichern, um Menschen zu schützen oder auch als politische Taktik, einschließlich der Akzeptanz des US-Mannes Allawi, wenn es darum ginge, ein Gegengewicht zu den schiitischen Parteien zu bilden. Ähnliche Einstellungen herrschen unter großen Teilen der irakischen Flüchtlinge und der Inlandsvertriebenen.

Für viele der prinzipientreuen Besatzungsgegner und Unterstützer des Widerstands scheinen diese Positionen unter den Sunniten, Schiiten und Kurden verständliche menschliche Überlebensstaktiken zu sein, welche die Einschätzung der Wahlen nicht beeinträchtigen, insbesondere weil sie einige Mythen entlarven und die gewohnte Strukturierung der politischen Szene, einschließlich der Sicherheitsapparate und Dienstleistungen, durchbrechen.

Es erscheint derzeit unwahrscheinlich, dass der Irak von diesem gesellschaftlichen Verfall geheilt werden kann, der sich im verbreiteten Niedergang der Moral widerspiegelt und ohne viel Aufhebens von ethnischen und religiösen Argumenten gedeckt wird. Regionale und internationale Visionen für den Aufbau des Irak gibt es nicht.


Ein anderes Parlament?

Ein Gegentrend zur ethnisch-konfessionellen Verfestigung ist die große Veränderung in den Persönlichkeiten, die durch das System der offenen Listen ins neue Parlament gewählt wurden. Über 80 Prozent der früheren Parlamentsabgeordneten haben ihre Sitze verloren - die Ausgeschiedenen gehen quer durch die von der Besatzung geförderte politische Klasse. Zu ihnen zählen Minister, etwa der Verteidigungsminister Ubaidi und der Innenminister Bolani (führende Figuren im wichtigsten Schiitischen Islamischen Rat und den zugehörigen Badr-Milizen) Alsaghir in der Sunniten Islamischen Partei, alle kommunistische Kandidaten und diejenigen von säkularen Gruppen, die sich für Offenheit gegenüber Israel oder den USA generell eingesetzt haben.

Die Ergebnisse der Wahlen, ungeachtet der vermutlichen Manipulierung durch verschiedene Gruppen, spiegeln die allgemeine Verachtung und das Misstrauen gegenüber der gesamten politischen Klasse wider. Das ist mehr als der im Westen bekannte Zynismus. Ganz offen werden Wut und Verachtung von Einheimischen im Fernshen geäußert.

Die Wahlergebnisse waren für beide der wichtigsten schiitischen Listen (Irakische Nationalallianz von Muqtada as Sadr und Liste der Rechtsstaatlichkeit des bisherigen Ministerpräsidenten Nuri al Maliki) viel schlechter als erwartet. Sie wurden vor allem in den südlichen Provinzen gewählt. Innerhalb der Nationalallianz verlor der früher dominierende Islamische Rat am stärksten, während die Sadristen, die ihre Bewerber durch die Innovation von lokalen Vorwahlen bestimmt hatten, zur stärksten Kraft aufstiegen. Ministerpräsident Malikis Liste der Rechtsstaatlichkeit hatte ganz offensichtlich darunter zu leiden, dass eine Minderheit zur säkularen Iraqia-Partei wechselte und zwar nicht nur in Bagdad, sondern auch im Süden. Maliki akzeptiert dies noch immer nicht und diese Ablehnung drei Monate nach den Wahlen ist die Ursache für eine tiefe Krise und viel öffentliche Verachtung.

Alles, was man hoffen kann, ist, dass der Widerstand sich erfolgreich durch die Gewässer der widerstreitenden Strömungen navigieren wird.

Beide kurdische nationalistische Parteien hatten unter dem Anstieg der desillusionierten Wähler zu leiden. Talabanis Hälfte verlor in ihrer Hochburg in Suleymania massiv an Taghyeer ("Die Veränderung") und Barzanis Hälfte an die islamischen Allianzen, die scheinbar vom Handel mit der Türkei profitierten. Wie die politischen Parteien der Schiiten, so blieben die kurdischen Parteien weit hinter dem zurück, was sie erwartet hatten. Die allgemeine Zusammensetzung des neuen Parlaments scheint im Großen und Ganzen weniger verzerrt als die vorhergehende und alle Spieler scheinen diese Korrektur der Wahrnehmung zu ertragen. In ihren Interviews klingen sie alle weniger schrill, sondern vielmehr von der öffentlichen Meinung abgestraft.

Offizielle Zahlen zur Teilnahme, die übrigens nur wenige Menschen als wahrheitsgemäß betrachten, zeigen, dass 38 Prozent der Wahlberechtigten die Teilnahme boykottierten. Zur Stimmenthaltung braucht es indes konsequentes Handeln in einer Situation, wo rund eine Milliarde Dollar ausgegeben und alle Ressourcen eingesetzt wurden, um eine hohe Beteiligung in einem Land zu gewährleisten, das heutzutage fast völlig abhängig von den staatlichen Einnahmen und der Beschäftigung im öffentlichen Sektor ist. Unter den mehr als zwei Millionen Irakern im Ausland enthielten sich über 80 Prozent der Stimme. Das zeigt, wie sie über diese Politik denken, einschließlich Allawis Iraqia-Partei, die ihre Rückkehr zur Priorität gemacht hat.


Die Menschen passen sich an

Die Iraker wissen, dass sie eine Phase der Veränderung traditioneller Identitäten durchmachen. So erkennen etwa die Sunniten ihr Sunnitentum plötzlich als identitätsstiftend.

Die verhasste konfessionelle Praxis und Rhetorik der herrschenden schiitischen Kollaborateure ruft eine langsame und tiefgreifende Reaktion gegen die Schiiten hervor, die zeigt, dass erhebliche Schwierigkeiten bei der Herstellung von sozialem Frieden zu erwarten sind. Ein Beispiel dafür sind die massiven Bombenangriffe auf öffentlichen Plätzen und die gewaltsame Sprache der entsprechenden Erklärungen, die Al-Qaida zugeschrieben werden und die mit der Aufdeckung von Folter und Vergewaltigung in geheimen Gefängnissen der Regierung in Zusammenhang stehen. Dies ist verbunden mit rassistischer Sprache über arabische und persische Identitäten, die nicht nur vom Kampf gegen die Besatzung ablenkt, sondern auch ein Bündnis der Nationen des Nahen Ostens gegen den Imperialismus und Zionismus behindert.


Widerstand bleibt aktiv

Alles, was die Iraker erhoffen können, ist, dass die Kräfte des irakischen Widerstands sich erfolgreich durch die Gewässer der widerstreitenden regionalen Strömungen navigieren und ihren eigenen Frieden schließen. Der bewaffnete Widerstand bleibt aktiv und richtet sich ausschließlich gegen die US-Stützpunkte, in denen die Truppen sich jetzt hauptsächlich aufhalten und ihre Geschäfte abwickeln, abgesehen von einigen Patrouillengängen. Die durchschnittliche Anzahl von getöteten US-Soldaten im Monat beträgt etwa die Hälfte der Anzahl vor einem Jahr, was selbst nur einen Bruchteil der Anzahl früherer Jahre ausmacht. Dies ist eine erstaunliche, jedoch von den Medien ignorierte Widerstandsfähigkeit der Kräfte, die absolut keine Unterstützung von der Außenwelt haben. In der Zwischenzeit ermöglicht die Widerstandskraft als Nation den Irakern, sich durch ihre tägliche Routine zu kämpfen. Es ist ein langer Weg, bis alle imperialistischen Pläne durchkreuzt und eine vollständigen Befreiung, Gerechtigkeit und gleichberechtigte Staatsbürgerschaft möglich sein werden.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- Ein irakischer Wähler sucht nach seinem Namen im Wahlregister in Nadschaf.
- Wahlen im Kriegszustand: Die Armee bewacht die Wahllokale.

Raute

ARABISCHER RAUM

Archäologie im Nahost-Konflikt

Identitätsfindung und -erfindung zwischen Wissenschaft und Politik

Von Dieter Reinisch

In kaum einem anderen Land ist die wissenschaftliche Altertumsforschung den politisch-militärischen Expansionsbestrebungen derart untergeordnet wie in Israel.


Die Ausformung des Fachs der wissenschaftlichen Archäologie ging in Europa Hand in Hand mit ihrer Verwendung durch die Politik im 19. Jahrhundert. Wir können zwischen einer nationalen und einer nationalistischen Archäologie unterscheiden. Die nationale Archäologie erforscht ein bestimmtes Land, eine bestimmte Region. Die nationalistische Archäologie hat zusätzlich die politische Intention, die Ergebnisse zum Zwecke des nation-buildings zu verwenden. Im Gegensatz zur nationalen Archäologie geht ihre Arbeit und Intention über die eigentlichen (Staats-)Grenzen hinaus. Bei unserem Beispiel ist dies etwa durch die enge wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Einflussnahme von westlichen Staaten auf die israelische Archäologie zu erkennen.

Bruce Trigger(1) prägte als Überkategorie für politische Urgeschichtsforschung den Begriff alternative Archäologien. Neben der besprochenen nationalistischen Archäologie zählt er noch die koloniale und die imperialistische Archäologie dazu.

Koloniale Archäologie ist in Ländern anzutreffen, wo Archäologie selbst keine historische Verbindung mit der Bevölkerung und/oder der Kultur, die sie erforscht, hat. Ihr Ziel ist es, Primitivität und Unmöglichkeit einer Entwicklung darzustellen. Dadurch dient sie als Rechtfertigung für den Kolonialismus. Jede Kolonialmacht versucht in mehr oder weniger intensiver Form einen derartigen Wissenschaftszweig aufzubauen.

Das Fach der biblischen Archäologie kann nach dieser Definition zumindest bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als koloniale Archäologie angesehen werden. Masalha schreibt über den Charakter der Archäologie in Palästina jener Zeit, sie "war gesponsert von der britischen Kolonialmacht (1920-48) [und] leidenschaftlich jüdisch nationalistisch"(2).

Im Unterschied dazu können nur wenige Staaten die von Trigger sogenannte imperialistische Archäologie betreiben. Dazu ist als Vorbedingung notwendig, die kulturelle, politische und ökonomische Hegemonie über andere Länder auszuüben. Sie zielt auf die Beeinflussung des wissenschaftlichen Fachs der Archäologie in anderen Ländern durch Vorgabe von Methodik, Publikationen und/oder Ausbildung ab. Dabei verfolgt sie eine internationale, missionarische Agenda.


Koloniale und nationalistische Archäologie

Die Archäologie in Israel weist sowohl koloniale als auch nationalistische Aspekte auf. Es soll eine historische Verbindung der einwandernden Bevölkerung mit dem Land belegt werden. Somit soll klargestellt werden, es handle sich nicht um Einwanderung, sondern um Rückkehr, womit das Recht der israelischen Bevölkerung auf das Land konstruiert wird.

Der israelische Archäologe Israel Finkelstein schreibt, archäologische Befunde seien "die einzige Informationsquelle über die biblische Zeit, die nicht von vielen Generationen biblischer Schreiber umfassend korrigiert, redigiert oder zensiert wurde"(3). Die Archäologie erweckt nach außen hin den Eindruck, eine politisch reine, nahezu unschuldige Disziplin zu sein. Diese "Unschuld der Disziplin wird errichtet durch eine Fassade von empirischer Objektivität"(4). Im Nahen Osten gehört eine politisch einseitige Methodik und Interpretation zur Regel. Zu groß ist die Anziehungskraft, Archäologie als Rechtfertigung israelischer Kolonialpolitik herhalten zu lassen.

Die herausragende Stellung der Archäologie in der israelischen Geschichtswissenschaft liegt in der kurzen Existenz des Staats Israel begründet. Traditionen werden erfunden, um Institutionen, Status oder Machtverhältnisse zu erzeugen oder zu legitimieren. Traditionen, Mythen oder Legenden entstehen erst nach einem bestimmten Abstand zu ihrem Ereignis. So muss eine gesellschaftliche Handlung über mindestens zwei bis drei Generationen regelmäßig gepflegt werden, um von der Gesellschaft als Tradition angesehen zu werden. Aufgrund der Staatsgründung von 1948 ist die notwendige Zeitspanne nicht vorhanden.

Die Archäologie weist koloniale und nationalistische Aspekte auf, womit das Recht der israelischen Bevölkerung auf das Land konstuiert wird.

Noch viel stärker als heute war die Archäologie in den Jahren nach 1948 ein zionistisches Projekt. Es wurde versucht, die Naqba, die Vertreibung der palästinensischen Einwohner/innen, zu rechtfertigen, indem der Staat im Namen der Bibel errichtet wurde. Zu diesem Zweck wurde in jenem Jahr das Israel Department of Antiquities gegründet. Führende Archäolog/innen, wie Yigael Yadin, belegten in dieser Zeit zugleich hohe Ämter in Politik und Militär.

Der Krieg 1967 wurde genutzt, um die archäologische Forschung voran zu treiben. Nachdem die Altstadt von Jerusalem im Sechs-Tage-Krieg von Israel besetzt wurde, war die archäologische Forschung eine der wichtigsten Machtdemonstrationen gegen die arabische Bevölkerung. Tausende Freiwillige, Soldat/innen und Student/innen wurden angeworben, um bei großflächigen Ausgrabungen in den neu besetzten Gebieten zu helfen. Ein derartiger Menschenauflauf sollte ein "Nun-sind-wir-da"-Gefühl bei der arabischen Bevölkerung bewirken und die zu erwartenden archäologischen Ergebnisse den Anspruch auf das Land bekräftigen.

Mittlerweile ist daneben eine neue Schicht israelischer Archäolog/innen entstanden, als deren bekannteste Vertreter Zeev Herzog, David Ussishkin und Israel Finkelstein zu nennen sind. Diese New Archaeology verfolgt einen anderen, weniger pro- bis nicht-zionistischen Zugang bei der Quelleninterpretation. Dies wird unter anderem damit erklärt, dass der Staat Israel heute derart gefestigt sei, dass begonnen werden könne, seine Mythen zu de-konstruieren, da dies seine Existenz nicht mehr gefährden könne.


Politik versus Wissenschaft

Die Arbeitsweise der staatlichen israelischen Archäologie unterscheidet sich erheblich von modernen wissenschaftlichen Standards. So sind die Ausgrabungen und Veröffentlichungen stark selektiv und folgen politischen Vorgaben. Die Praxis und Interpretation sind explizit religiös und nicht säkular.

Es werden schwere Bulldozer eingesetzt, um rasch zu jenen Schichten zu gelangen, die "nationale Bedeutung" haben. So wird nicht nur verhindert, dass jüngere Schichten untersucht werden können, sondern zudem wird das darin erhaltene Material - welches überwiegend arabisch ist - zerstört und somit eine arabische Vergangenheit auf dem Boden des heutigen Israel ausgelöscht. Dies hilft, sie zu verschweigen oder gar zu leugnen. So leitet nationalistische Politik die wissenschaftliche Forschung.

Für israelisch-nationalistische Archäologie sind, aufgrund nationaler Mythen, bestimmte Epochen von höherer Relevanz. Die allgemeine Zeitspanne der biblischen Archäologie wird in der Literatur etwa mit der Spätbronzezeit (1550-1200 v. Chr.) bis zur Alleinherrschaft Konstantins des Großen 324 n. Chr. umrissen. In Israel liegt der Schwerpunkt bei der Eisenzeit I und der Zeit um und nach der Geburt Christi. Der Aufstieg der städtischen Zivilisation beginnt in der Bronzezeit, in der Eisenzeit (1200-586 v. Chr.) folgt eine Umwandlung dieser in ein System von Territorialstaaten.

Ausgrabungen und Veröffentlichungen der staatlichen israelischen Archäologie sind stark selektiv und folgen politischen Vorgaben.

In diese Zeit fallen laut Bibel die Einwanderung der Israeliten nach Kanaan und ihre Ethnogenese. Dadurch können aus fassbaren Kulturen glaubhaft Ethnien konstruiert werden, die als Urahnen dienen sollen. Und tatsächlich ist die neue Kultur der Eisenzeit "getragen von einer neuen Bevölkerungsgruppe". Die Landnahme ist ein längerer Prozess. Die Etablierung des israelitischen Volkes im Heiligen Land wird mit dem Sieg des Juden David über den Philister - als die Vorfahren der heutigen Palästinenser/innen angesehen - Goliath besiegelt: Das monotheistische Judentum habe über die heidnischen Philister gesiegt. Finkelstein spricht von einer "Quasi-Vergöttlichung des Davids nach Gründung des Staates Israel 1948". Der Zionismus habe "den so genannten Schtetl-Juden angekreidet (...), sie seien im Holocaust viel zu leicht in den Tod gegangen, ohne zu kämpfen". David, der nach der Bibel kleine, schutzlose junge Mann, besiegt den übermächtigen Riesen Goliath. Nach 1948 kam es zu einer starken Anbindung an die heroischen Sagen der israelitischen Vergangenheit "und deshalb darf man bis heute nichts gegen David sagen, das hat starke Kritik vor allem aus Kreisen des linken Zionismus zur Folge", so Finkelstein.(5)

Die zweite wichtige Epoche der Forschung ist der letzte jüdische Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht im 1. Jahrhundert n. Chr. Hier konzentrieren sich die Ausgrabungen um Masada, die Stätte der Revolte der Zeloten gegen Rom im Jahr 73 n. Chr. Der Ort, nahe des Toten Meeres gelegen, ist eine der größten Ausgrabungsstätten im Nahen Osten. Denn der - nach Überlieferung - heroische Widerstand der Bevölkerung soll das Judentum als starkes Volk darstellen.


Militant-zionistische Wissenschaft

Die israelische Archäologie konnte über lange Jahre nicht an die Fortschritte der vorderasiatischen Archäologie, vor allem in Mesopotamien und in jüngerer Vergangenheit in Süd-Ost-Anatolien, anschließen. Ihre große Schwäche war, immer ein Werkzeug der Politik gewesen zu sein. Villeneuve betont, die Grabungsstellen seien "Pflanzstätten der zukünftigen nationalen archäologischen Elite sowie wichtige Schaufenster der israelischen Gesellschaft" gewesen. Die Archäologie sei oft "militant zionistisch" und solle das "'historische Recht' des jungen hebräischen Staates auf dieses Land" bekräftigen.(6)

Ziel war niemals die Erforschung der Frühgeschichte mittels archäologisch gewonnener Quellen, sondern einer Konstruktion von Tradition und Vergangenheit. Dazu beschränkte man sich auf die biblischen Überlieferungen. So sollte die expansive und zionistische Politik des israelischen Staates gerechtfertigt werden.

Dies hat nicht nur indigen israelische Gründe. Einerseits ist die israelische Wissenschaft ein Importprodukt der Einwanderungswellen nach 1948, andererseits liegt eine Wurzel im kolonialen Charakter der rein westlichen biblischen Altertumskunde, die Glock als "einen Bereich der rekonstruierten Vergangenheit, zur Untermauerung jüdischer Ansprüche über Palästina" charakterisiert.(7)

Nur dieses ausschließliche Beschränken auf die biblischen Überlieferungen ermöglichte eine Interpretation, welche die Legitimität der Politik des israelischen Staates nicht in Frage stellt. Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Ansätze und Quellengattungen war nicht erwünscht. Vor diesem Hintergrund musste die biblische Archäologie eine konservative Altertumskunde bleiben. Der sich in den letzten Jahrzehnten etablierende Kreis der New Archaelogists kann diesem Mangel auch nur bedingt Abhilfe schaffen. Denn bevor entscheidende theoretische Fortschritte erzielt werden können, bedarf es der Loslösung der Archäologie von der zionistischen Identitätskonstruktion.


Anmerkungen

1.) Bruce Trigger, Alternative Archaeologies: Nationalist, Colonialist, Imperialist; in: Man. New Series, Vol. 19/3, 1984.

2.) Nur Masalha, The Bible & Zionism. Invented Traditions, Archaeology and Post-Colonialism in Israel-Palestine, New York 2007, 240f.

3.) Israel Finkelstein/Neil Asher Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2007, 35.

4.) Philip Kohl, Nationalism and Archaeology: On the Constructions of Nations and the Reconstructions of the Remote Past; in: Annual Rieview of Anthropology, Vol. 27, 1998, 224.

5.) Volkmar Fritz, Einführung in die Biblische Archäologie, Darmstadt 1985, 137-185; Kohl a.a.o., 238; Finkelstein/Silberman a.a.o., 15-38; Christian Schüle, Der den Riesen bezwang, Die Mythen der Bibel-Teil VI: David gegen Goliath, National Geographic, Oktober 2008, 128-146.

6.) Estelle Villeneuve, Sechzig Jahre Archäologie in Israel; in: Welt und Umwelt der Bibel. 3/2008, 70-73.

7.) Albert Glock, Archaeology as Cultural Survival: The Future of the Palestinian Past; in: Journal of Palestine Studies, Vol. 23/3, 1994, 83.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- In Israel dient die Archäologie wie kaum anderswo politischen Interessen
- Für die Konstruktion von Gründungsmythen muss die Wissenschaft herhalten.

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ARABISCHER RAUM

Einigung auf Nichteinigung

Im Sudan bestätigen die Wahlen die Spaltung des Landes

Von Mohammad Aburous

Der Sudan zählt zur "Achse des Bösen". In westlichen Medien wird die Regierung verteufelt, es gibt kaum Analysen der tatsächlichen politischen Entwicklungen.


Während dieser Artikel geschrieben wird, dauert die vor Wochen begonnene Stimmenauszählung der sudanesischen Parlamentswahlen von Mitte April 2010 noch an. Die Ergebnisse der gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen überraschen kaum: In Abwesenheit eines ernstzunehmenden Gegenkandidaten wurde Präsident Omar Baschir mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt. Sein Partner Salvakiir im Süden des Landes gewann ebenfalls mit einer Mehrheit von 93 Prozent gegen das Bündnis der südlichen Opposition und wurde zum ersten Präsidenten des Südsudans gewählt. Wenn auch das offizielle Ergebnis der Parlamentswahlen noch ausbleibt, ist ein überwältigender Sieg von Baschirs Nationaler Partei im nördlichen und der Volksbewegung (SPLM) im südlichen Teil des Sudans sicher. Somit wurden in beiden Teilen des Landes die tatsächlichen Machthaber im Amt bestätigt.


Zu gut: Ein Wahlsieg wird zum Verhängnis

Die Opposition in beiden Teilen beklagt "Irregularitäten". Die Parteien des sogenannten Juba-Abkommens, die wichtigen Oppositionsparteien des Landes, hatten zuvor die Verschiebung der Wahlen gefordert. Als dies von Baschirs Regierung abgelehnt wurde, warfen sie der Regierung im Voraus Wahlfälschung vor. Bis auf die "Volksbewegung", die den Süden praktisch regiert, boykottierten folglich alle wesentliche Oppositionskräfte den Urnengang bzw. beschränkten sich darauf, "unabhängige" Kandidaten ins Rennen zu schicken. Die SLPM selbst boykottierte die Wahlen im Norden und kandidierte nur in den Südgebieten.

Die Zählungen zeigten dennoch hohe Wahlbeteiligung und überwältigende Mehrheiten beider Großparteien in den jeweiligen Teilen des Landes.

Letztlich haben die Wahlen die problematische Situation für das Regime nicht gelöst. Eine Weiterführung dieser Politik kann die zentrifugalen Kräfte zuspitzen.

Die hohe Wahlbeteiligung deutet auf Stabilität des Regimes von Baschir (zumindest in bestimmten Gebieten) hin. Diese ist wiederum dem neuen Wohlstand zu verdanken, der mit dem Erdölexport zusammenhängt. Die Machthaber des Nordens und des Südens teilen sich den Gewinn und sichern somit ihre Stellung in ihren jeweiligen Gebieten. Der Vorwurf der Fälschung reicht demnach nicht, um den flächendeckenden Sieg beider Parteien zu erklären. Vielmehr ist es der Opposition tatsächlich nicht gelungen, die Massen zu überzeugen. Die Forderung nach der Verschiebung der Wahlen beruhte auf dem Wunsch einer bisher untätigen Opposition, Zeit für ihre Wahlkampagne zu gewinnen. Gegen das Beharren Baschirs auf der Einhaltung des Datums konnte die Opposition keine für die Wähler überzeugenden Argumente liefern, die nicht auf die eigene Unfähigkeit hindeuten.

Jedoch darf das nicht als das politische Ende der klassischen Oppositionsparteien betrachtet werden. Diese haben nach wie vor Rückhalt in der Bevölkerung: Der Sieg Baschirs und Salvakiirs ist zu groß, um ihn glaubwürdig zu präsentieren. Übertrieben hohe Wahlergebnisse sind immer angreifbar, nicht nur in westlichen Medien mit selektiver Wahrnehmung in Bezug auf Demokratie.

Andererseits schwächt das Wahlergebnis die Hoffnung auf nationale Versöhnung innerhalb und zwischen beiden Teilen des Landes. Beide Machthaber sehen das Ergebnis als einen Freibrief seitens der Bevölkerung. Die Opposition wird in beiden Teilen des Landes lauter und entsprechend härter unterdrückt. Die Pressezensur ist nach den Wahlen verschärft worden. Journalisten werden täglich bedroht. Das Ausbleiben einer echten politischen Beteiligung behindert die Integration beider Landesteile, sie beschleunigt im Gegenteil den Separationsprozess.


Militärische Auseinandersetzungen

Im Süden, wo die SPLM etwa 93 Prozent der Stimmen erhielt, brachen Mitte Mai im Bezirk Jonglei militärische Auseinandersetzungen mit den Truppen des Wahlverlierers, General George Ator, aus, der seinem Gegner Salvakiir Wahlbetrug vorwirft. Ator ist einer der historischen Anführer der SPLM, der sich nach dem Tod des Gründers John Garang abspaltete. Er kandidierte als Unabhängiger und verlor in seinem Gebiet gegen den Kandidaten der SPLM. Nun droht Salvakiir, die Rebellion durch Einsätze seiner neugegründeten Luftwaffe zu beenden. Laut dem US-Sondergesandten Scott Gration, Berater der südsudanesischen Regierung für die Phase nach dem Referendum, ist eine Ausbreitung der militärischen Auseinandersetzungen im Südsudan zu erwarten.

In Khartum wurde Hasan Turabi, Anführer der größten Oppositionspartei "Volkskongress", gemeinsam mit dem Chefredakteur einer ihm nahe stehenden Zeitung verhaftet. Als Grund gab die Regierung die "Veröffentlichung von Informationen, welche die nationale Sicherheit gefährden" an. In einem Interview soll Turabi festgestellt haben: "iranische Revolutionsgarden sind in Khartum anwesend und arbeiten an der Entwicklung neuer Waffen, die an Hamas in Gaza geliefert werden". Handelt es sich hier um eine reine Behauptung der Regierung, dann zeigt dies ihre Nervosität. Stimmt sie jedoch, so ist das ein Indiz dafür, wie weit Turabi gehen würde, um außenpolitischen Druck auf Baschirs Regime herbeizuführen. Turabi war zwischen 1989 und 1999 Verbündeter Omar Baschirs und der Theoretiker der "Rettungsrevolution", wie Baschirs Militärputsch von 1999 offiziell hieß. Damals predigte Turabi einen modernen islamischen Staat und eskalierte durch seinen Aufruf für den Jihad den Krieg im Süden. Turabis "zivilisatorisches Projekt" wurde durch den internen Putsch Baschirs aufgehalten. Turabi schloss sich 2001 den Oppositionskräften im Süden an und unterschrieb ein Abkommen mit John Garang. Neben der traditionellen Umma-Partei von Al-Mahdi, der Demokratischen Unionspartei der Familie Merghani und der Kommunistischen Partei Sudans zählt Turabis Volkskongresspartei zu den wichtigsten Oppositionsparteien des Landes. Traditionell haben diese Parteien ihre regionalen Hochburgen, die auf Stammes- und Klanstrukturen beruhen.


Gescheiterte Verhandlungen

Gleichzeitig kollabierten die Verhandlungen in Doha zwischen der Regierung und den Darfur-Rebellen und damit auch der Waffenstillstand. Die wichtigste Rebellentruppe, die Turabi-nahe "Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit" zog sich aus den Verhandlungen zurück. Auf seinem Rückweg nach Darfur wurde ihr Anführer Khalil Ibrahim von den tschadischen Behörden verhaftet. Er musste das Land in Richtung Tripolis (Libyen) verlassen. Im Mai kam es erneut zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Truppen der Bewegung und der Regierungsarmee.

Auch im Süddarfur brachen Ende April in Bahr-El-Ghasal militärische Auseinandersetzungen zwischen arabischen Stämmen und der südsudanesischen "Volksarmee" aus.

Letztlich haben die Wahlen die problematische Situation für das Regime nicht gelöst oder auch nur gemildert. Die Nachhaltigkeit des Wahlsieges der Regierung hängt von ihrer Lesart der Wahlergebnisse ab. Eine Weiterführung der bisherigen Politik kann die zentrifugalen Kräfte zuspitzen und so der Regierung zum Verhängnis werden.


Historische de-facto-Teilung des Landes

Parallel zu den Wahlen begann das offizielle Komitee zur Grenzziehung im ethnisch gemischten (und erdölreichen) Abye-Gebiet seine Arbeiten. Das ist der letzte formale Schritt zur Offizialisierung einer de-facto Trennung des Landes, die es seit der britischen Kolonialherrschaft gab und welche durch das Friedensabkommen von Nifascha im Jahr 2003 tragend wurde. Schon zu den Zeiten der britischen Herrschaft (1877-1956) wurde der Süden vom Rest des Landes strukturell getrennt und unter dem Vorwand, die Naturvölker zu beschützen, für die Bevölkerung des Nordens abgeriegelt. Die Kolonialbehörde bemühte sich, jeden Kontakt beider Landesteile zu verhindern. Die Ausbreitung des Islam wurde bekämpft, während die christlichen Missionen freie Hand hatten. Die politische Elite des Südens wurde in Uganda ausgebildet, im Gegensatz zur Elite aus dem Norden, die damals entweder in London oder in Kairo studierte. England hatte sich das Ziel gesetzt, den Sudan von Ägypten zu trennen und den Südsudan vom Norden abzuspalten. Dadurch musste sich der Süden relativ auf Zentralafrika (vor allem Uganda) orientieren, um die britische Herrschaft im Zentralafrika im Rahmen des Commonwealth zu sichern. Wenn auch England dabei erfolgreich war, den Sudan von Ägypten abzutrennen, so scheiterte damals der Versuch, einen unabhängigen Staat im Südsudan zu kreieren, am Widerstand der politischen Kräfte in beiden Teilen des Landes.

England hatte sich während seiner Herrschaft das Ziel gesetzt, den Sudan von Ägypten zu trennen und den Südsudan vom Norden abzuspalten.

Nach der Unabhängigkeit änderte sich nur wenig an der strukturellen Trennung und der Marginalisierung des Südens (wie auch anderer Teile des Landes). Den unterschiedlichen Regierungen in Khartum war eine zentralistische Tendenz gemein, wo es keinen Platz für die Beteiligungen der Regionen an der Macht gab. Im christlich geprägten und ethnisch unterschiedlich zusammengesetzten Süden war es daher nur eine Frage der Zeit, bis sich lokale Kräfte dazu entschließen würden, das Problem mit Waffengewalt lösen zu wollen. Es kam nach der Unabhängigkeit häufig zu Auseinandersetzungen, wobei die Regierung glaubte, diese militärisch beendet zu haben. Die Bewegung des ehemaligen Armeeoffiziers John Garang entstand auf dem Höhepunkt der Konflikte. Mit einer militärisch erfahrenen Bewegung mit ausreichender Unterstützung aus dem Ausland konnte die Regierung nicht militärisch abrechnen. Über zwanzig Jahre dauerte der Bürgerkrieg. Die wesentlichen Kräfte der sudanesischen Opposition schlossen sich John Garang und seiner SPLM an.


Friedensabkommen von Nifascha

Der Krieg endete im Jahr 2003 mit dem Friedensabkommen von Nifascha zwischen Omar Baschir und John Garang, in dem die Forderungen der rebellischen Volksbewegung nach Autonomie, Machtbeteiligung und Volksabstimmung im Süden erfüllt wurden. Das Regime Baschirs wurde zudem gezwungen, freie Wahlen in Aussicht zu stellen. Auch wenn das Abkommen die Einheit des Landes als die erste Option vorsieht, so blieb die de-facto Trennung dennoch aufrecht. Trotz einer gemeinsamen Regierung wurden die Streitkräfte nicht vereinigt. John Garang, selbst sekulär und Befürworter eines föderalen Systems im Rahmen einer Nationaleinheit, starb vier Monate nach Unterzeichnung des Abkommens. Sein Nachfolger Salvakiir, ein fanatischer Christ und Befürworter der Separation, hält sich nur mit Mühe zurück, die Bevölkerung dazu aufzurufen, bei der Volksabstimmung im Januar 2011 für die Separation zu stimmen.


Boykott der Wahlen

Wie erwähnt kandidierte die SPLM nur in den südlichen Gebieten, Baschirs Nationale Partei nur im Norden. Die SPLM teilte zwar die Kritik der Opposition und boykottierte schließlich die Wahlen im Norden, erkannte jedoch den Ausgang der Präsidentschaftswahlen an. Die Separation des Südens als Resultat der Volksabstimmung Anfang 2011 ist heute mehr als wahrscheinlich, ebenso die Tatsache, dass die Regierung in Khartum dieses Ergebnis akzeptieren würde. Dies erklärt die "Einigkeit" der beiden Machthaber: Jeder sichert seine Macht in seinem Landesteil. Sowohl im Norden als auch im Süden werfen die anderen politischen Kräfte beiden Machthabern vor, ähnliche Methoden bei der Unterdrückung der Opposition anzuwenden.

Letztendlich haben die Wahlen im April 2010 die strukturelle Trennung auf Ebene von Verwaltung, Armee und Auslandsverbindungen vertieft. Beim feierlichen Antritt der Regierung des Südens beteuerte Selvakiir zwar seine Zustimmung zur Einheit des Sudan. Er bedauerte jedoch, dass der Versuch, diese aufrechtzuerhalten, zu spät gekommen sei. Der nördliche Partner sei für eine mögliche Separation verantwortlich.

Auch wenn sich beide Seiten gegenseitig vorwerfen, die Opposition im anderen Teil zu unterstützen, tendiert das Verhalten beider Machthaber angesichts der derzeitigen Lage zur Deeskalation.


Weitere Teilungen des Sudan?

Dem Wunsch des Westens zum Trotz bestätigten die Wahlen Omar Baschir in seinem Präsidentenamt. Sein darauffolgender Besuch in der Türkei stellt eine Herausforderung gegenüber dem internationalen Haftbefehl dar. Baschir, dessen Amtszeit die längste eines sudanesischen Präsidenten ist, scheint gefestigt an der Macht zu sein. Bis zum Referendum vom Januar 2011 kann er mit außenpolitischer Entspannung rechnen.

Aus Sicht des Westens hängt das weitere Vorgehen im Sudan von der Stabilität ab, die potenzielle neue Staatsgebilde und deren Regierungen garantieren könnten. Die Option, den Sudan in kleinere Einheiten zu zerlegen, wird derzeit an den Erfolgschancen eines neuen Staates im Südsudan geprüft - dies wäre die erste Veränderung von Kolonialgrenzen in Afrika. Kein Interesse hat der Westen an der Entstehung mehrerer kleiner "failed states", die nicht nur die reibungslose Ausbeutung der Ressourcen erschweren, sondern auch potenzielle Unruheherde, Fluchtorte für "Terrorgruppen" und Zonen illegalen Handels darstellen würden.

Für den Westen wird die Option, den Sudan in kleinere Einheiten zu zerlegen, derzeit an den Erfolgschancen eines neuen Staates geprüft.

Für die Zentralregierung in Khartum stellt sich die Sache anders dar. Wenn die bevorstehende Trennung des Südens eine Folge ihrer Schwäche ist, die große Ausdehnung und ausgeprägte Vielfältigkeit des Landes unter Kontrolle zu halten, dann wiederholt sich heute das Trennungs-Szenario in Darfur und ist auch im Osten des Landes nicht auszuschließen. Ohne Beteiligung der Regionen und deren politische Kräften an der Macht und am neuen Wohlstand wird die Zentralregierung das Problem des latenten Separatismus nicht lösen. Gelingt es der Regierung nicht, glaubwürdige Reformen einzuleiten, so suchen die Oppositionskräfte den Schutz der regionalen Bewegungen. Somit werden regionale zu separatistischen Protestbewegungen, mit denen Omar Baschir zu Kompromissen in Bezug auf die Souveränität gezwungen wird, um die Macht in Khartum zu behalten. Nicht zu Unrecht schrieb der sudanesische Schriftsteller Abdelwahab Aafandi: "Im Sudan ist es leichter, die Regierung auszuwechseln als die Führer der Oppositionsparteien".


INFO

Kurzer Geschichte des Sudan

Pheraonenzeit: Nubien (im Norden des heutigen Sudan) ist Lieferant von Gold und Sklaven.
1900 v. Chr.: Nubien wird dem ägyptischen Kernland einverleibt.
9. Jh. v. Chr. - 4.Jh n. Chr.: In Nubien entsteht der Staat Kusch.
6. Jh.: Christliche Missionare aus Ägypten erreichen Nubien.
710 - 1317: Christliches Dankala-Reich in Nubien.
7. Jh.: Die islamische Expansion erreicht Nubien und wird dort aufgehalten.
651: Ein Friedensvertrag mit den Moslems dauert sechs Jahrhunderte an und ermöglicht friedliche Handelsbeziehungen und freien Zugang muslemischer Missionare. Im Zentralsudan entstehen die muslemischen Sultanate Sannar (1504 - 1821) und Darfur (1596 - 1875).
1821: Eroberung des Sudan durch Mohammad Ali, Gründer des modernen ägyptischen Staates.
1870: Einmarsch der britischen Armee in Ägypten.
1877: Britische Herrschaft im Sudan.
1881: Beginn des Mahdi-Aufstandes.
1883: Der Mahdi besiegt die Briten in Schikan. Gründung des Mahdi-Staates.
1885: Der Mahdi erobert Khartum. Im selben Jahr stirbt er, ihm folgt Khalifa Abdullah nach.
1898: Zerstörung des Mahdi-Staates durch britische und ägyptische Armeen. Beginn des angloägyptischen Kondominiums mit Lord Kitchener als erstem Generalgouverneur. De facto ist der Sudan eine britische Kolonie. Ägypten beansprucht den Sudan zwar weiterhin für sich, ist aber in dem Kondominium lediglich Juniorpartner. Britische Beamte kontrollieren die Verwaltung des Sudan, ägyptische Beamte sind höchstens in der mittleren Führungsebene zu finden.
1924: Aufstand des "Weißen Banners". Die Sudanesen fordern politische Autonomie. Die Unterdrückung des Aufstands trägt zu einer weiteren Schwächung der ägyptischen Rolle im Sudan bei.
1938: Kongress der Absolventen: Die Bildungselite des Landes gründet den Club der Absolventen. Der Club wählt Ismail El-Azhari zum Sprecher. Formal ein Wohltätigkeitsverein, entwickelt sich der Club zu einer politischen Körperschaft, aus der mehrere sudanesische politische Parteien entstehen.
1953: Aufstand der Freien Offiziere in Ägypten.
1956: Im Zuge des britischen Abzugs aus Ägypten erhält der Sudan das Selbstbestimmungsrecht. Die vorgesehene Volksabstimmung über Unabhängigkeit oder Einheit mit Ägypten fand nie statt. Der Sudan bleibt unabhängig. Ismail Azhari wird zum ersten Regierungschef gewählt.
1958: Militärputsch van Ibrahim Abud.
1964: Abud wird durch einen Volksaufstand gestürzt. Rückkehr der Demokratie. Ismail Azhari wird wieder Präsident.
1969: Mai-Putsch von Jaafar Numeiri.
1971: Gescheiterter Putschversuch wird den Kommunisten zugeordnet. Hinrichtung der historischen Führung der Sudanesischen Kommunistischen Partei.
1984: Numeiri wird durch einen Volksaufstand gestürzt.
1985: Freie Wahlen und Regierungsbildung von Sadek Mahdi. Mahdi unterzeichnet einen Friedensvertrag mit den Rebellen im Süden.
1989: Militärputsch von Omar Baschir.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

- Soldaten der Sudan People's Liberation Army (SPLA) im Süden des Landes.
- Landkarte Südsudan

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INTERNATIONAL

Bei den Genossen im Wald

Was hinter dem Krieg Indiens gegen seine Ureinwohner steckt

Von Arundhati Roy

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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INTERNATIONAL

Anspruch und Realität

Impressionen vom Wiederaufbau Afghanistans

Von Masud Ulfat

Nach neun Jahren Besatzung scheint sich das Land rückwärts zu bewegen. Beschworen von der westlichen Koalition halten die Geister der Vergangenheit Afghanistan im Griff.


Afghanistan: Friedhof der Großmächte, Schauplatz eines erbitterten 30-jährigen Krieges und nunmehr zentraler Schauplatz des US-geführten "Kreuzzugs gegen den Terror". Viel hört man aus dem Land am Hindukusch. Da wissen die westlichen Medien vom heroischen Abwehrkampf der "internationalen Gemeinschaft" gegen einen unfassbaren, unsichtbaren Feind, der die Abschaffung jeglicher Freiheit begehrt, zu berichten. Von der rührseligen Anteilnahme eben jener Gemeinschaft am Schicksal der Afghanen. Da wird von den afghanischen Schulkindern erzählt, die dank der militärischen Besatzung des Landes wieder zur Schule gehen können. Von der Befreiung der Frauen und dem großzügigen Wiederaufbau des Landes.

Dabei verfolgt die NATO scheinbar ein Konzept, das sich bereits in vielen amerikanischen Filmen bewährt hat: Guter Cop, böser Cop. Während Staaten wie die USA und Großbritannien notgedrungen den "bösen Cop" spielen und vor allem mit militärischen Operationen auf sich aufmerksam machen, versuchen andere Staaten, allen voran die BRD, den "guten Cop" zu spielen, indem sie vorgeben, sich auf den Wiederaufbau zu beschränken. Auch wenn man immer davon spricht, der Wiederaufbau müsse ins Zentrum der Bemühungen der "internationalen Gemeinschaft" gerückt werden, man müsse weg von einer militärischen und hin zu einer zivilen Lösung kommen, so ist man doch stets bereit, die eigenen Truppenaufgebote aufzustocken und weiter an der Besatzung des Landes mitzuwirken.


Die raue Realität

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit Afghanistan aus der Nähe zu betrachten, herauszufinden, was dran ist an der Mär von Wiederaufbau und Befreiung. Knapp zweieinhalb Wochen reiste ich durch das Land und es zeigte sich ein gewaltiger Unterschied zwischen dem in den Medien propagierten Bild vom Afghanistankrieg und der tatsächlichen Lage vor Ort. Ganz gleich, ob wir durch die Straßen von Kabul fuhren oder uns im umkämpften Südosten des Landes aufhielten, nirgends war auch nur eine Spur von Wiederaufbau zu entdecken. Ruinen, Armut und Arbeitslosigkeit dominieren das Bild. Die einzigen Neubauten, die es in Kabul gibt, sind die der herrschenden Warlords und der politischen Klasse. Diese Neureichen sind eifrig dabei ihren neugewonnen Reichtum mit prachtvollen Villen und Hotels zur Schau zu stellen.

Ob in den Straßen von Kabul oder im umkämpften Südosten des Landes: Überall dominieren Ruinen, Armut und Arbeitslosigkeit das Bild.

Demgegenüber versinkt der Rest der Stadt in Müll und Chaos. Vom Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur des Landes kann keine Rede sein. Die noch aus Sowjetzeiten stammenden Staudämme verschlammen zusehends, die Straßen zerfallen und die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Wasser und Strom lässt stark zu wünschen übrig. Ebenso der vielgerühmte Aufbau des Schulwesens. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass es eine ganze Reihe von neuen Bildungseinrichtungen gibt, diese befinden sich jedoch ebenso in privater Hand und sind nur einigen wenigen Auserwählten zugänglich. Der Durchschnittsafghane ist in der Regel viel zu sehr damit beschäftigt, sich und seine Familie irgendwie über die Runden zu bringen, als dass er es sich leisten könnte, die horrenden Gebühren zu zahlen.

Was die staatlichen Schulen angeht, so sind diese völlig überfüllt und mangelhaft ausgestattet. Tatsächlicher Unterricht findet in der Regel nicht statt. Einzig die Errichtung von Brunnen im ganzen Land lässt sich positiv vermerken. Diese sind jedoch von internationalen NGOs gesponsert und unabhängig von der staatlichen Aufbauhilfe entstanden. Insofern lässt sich der positive Beitrag, den die "internationale Staatengemeinschaft" zum Wiederaufbau geleistet haben will, nicht ausfindig machen.


Besatzung kontra Wiederaufbau?

Ganz im Gegenteil: Die Besatzung scheint dem Wiederaufbau des Landes eher hinderlich. So bedarf jegliches Projekt, das der Entwicklung von Infrastruktur dient, der vorherigen Genehmigung der Regierung, welche sich ausschließlich an amerikanischen Interessen orientiert. Um dies zu verdeutlichen: Direkt durch ein Dorf in der Provinz Laghman, in welchem wir uns für eine Woche aufhielten, führt der Highway nach Jalalabad. Es gibt weder Ampeln noch sonstige verkehrsregelnde Einrichtungen, so dass aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der die Autos und Militärkonvois durch das Dorf rauschen, zahlreiche Verkehrstote zu beklagen sind. Um Abhilfe zu schaffen, beschlossen die Dorfbewohner eine Überführung für Fußgänger zu bauen, doch die Regierung untersagte ihnen jegliche Baumaßnahmen mit der Begründung, diese würden die Sicherheit der internationalen Schutztruppen gefährden.

Mit der gleichen Begründung wurden die Einrichtung von Geschwindigkeitshügeln oder sonstige geschwindigkeitshemmende Maßnahmen untersagt. Dies diene nur als Beispiel, um zu illustrieren, wessen Interessen in Afghanistan heute maßgeblich sind.

Dieser Umstand schlägt sich letztlich auch in der Stimmung des Volkes nieder. Vorbei sind die Tage, an denen die NATO als Befreier begrüßt wurde. Viel zu schnell wurden die Afghanen aus dem kurzen Traum von der Befreiung und dem Aufbruch ins 21. Jahrhundert zurück in die raue Realität geholt. Eine Realität, in der Warlords und ausländische Soldaten über die Geschicke des Landes bestimmen. Warlords errichten Straßenbarrikaden vor ihren Villen und blockieren damit die Straßen, ohne dass irgendeiner der Anwohner etwas dagegen tun könnte. Ausländische Truppen brausen in gepanzerten Kolonnen durch die Straßen und schießen auf jeden Afghanen, der es wagt, sich ihnen zu nähern. Von den Afghanen wird erwartet, in respektvollem Abstand zu warten, bis die Soldaten passiert haben. Erst dann können sie wieder ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen.


Schutz vor den Taleban?

In solchen Momenten, wenn amerikanische Patrouillen mal wieder Stau auf den Straßen auslösen, lässt sich in den Gesichtern der Menschen lesen, was sie von der Besatzung halten. Die zahlreichen Massaker an der Zivilbevölkerung durch NATO-Truppen, die brutale Willkürherrschaft der Warlords und Drogenbarone, die missliche wirtschaftliche Lage, all dies führt dazu, dass mehr und mehr Afghanen den Taleban zuneigen. Das hört man denn auch immer wieder aus Gesprächen heraus: Die Taleban seien das kleinere Übel, viel schlimmer seien die ausländische Besatzung und die diversen Warlords. Bei den Taleban wisse man wenigstens, woran man ist, sie würden sich zumindest an die eigenen Regeln halten. (Das Treiben eben jener Warlords, die heute im afghanischen Parlament sitzen, war schließlich der Grund für den rasanten Aufstieg der Taleban Mitte der Neunziger: Sie galten als Befreier von der Willkürherrschaft der Warlords.)

Eines lässt sich festhalten: Der Widerstand gegen die Besatzung wächst, sowohl in Afghanistan als auch in den Ländern, welche die Besatzungstruppen stellen.

So gewinnen die Taleban immer mehr Unterstützung in der Bevölkerung. Letztlich ist es diese Unterstützung, die überhaupt ihre Existenz ermöglicht. Eine Guerillabewegung wie die der Taleban kann ohne die Unterstützung des Volkes schlicht nicht existieren. Da mögen die Herren aus der NATO argumentieren wie sie wollen, die Tatsache, dass der Widerstand weiter wächst und sich auf die nördlichen Regionen Afghanistans ausweitet, widerlegt die Mär vom Schutz der Bevölkerung vor den Taleban eindrucksvoll.


Kein Ende in Sicht

Fraglich ist, wie lange sich die Regierungen der westlichen Welt weiter gegen die eigenen Völker durchsetzen können und welche Opfer sie bereit sind in Kauf zu nehmen, um den Widerstand des afghanischen Volkes zu brechen. Schließlich steht einiges auf dem Spiel. Eine Niederlage in Afghanistan würde zwar wohl kaum zu den gleichen verheerenden Folgen wie im Falle der Sowjetunion führen. Dennoch ist mit weitreichenden Konsequenzen zu rechnen. Abgesehen davon, dass eine Niederlage in Afghanistan ein herber Rückschlag für die amerikanische Agenda der globalen Vorherrschaft wäre, könnte ein Rückzug dem Zusammenhalt der NATO einen empfindlichen Stoß versetzen, insbesondere wenn der Abzug nicht in gegenseitigem Einvernehmen abläuft und Staaten wie beispielsweise die Niederlande und Kanada "auf eigene Faust" vorzeitig abziehen. Dementsprechend lassen die NATO-Spitzen auch noch keine Anzeichen von Kampfmüdigkeit erkennen. Im Gegenteil: Wikileaks berichtete erst kürzlich über eine geplante Propagandakampagne der CIA, um die Bevölkerung der Bündnispartner fest in Gleichschritt zu bringen. Dabei haben die Taleban inzwischen Verhandlungsbereitschaft signalisiert. In einem Interview mit der Sunday Times erklärten hochrangige Vertreter, dass sie, unter der Bedingung, dass die ausländischen Truppen abziehen und die Verfassung des Landes geändert wird, auf die Regierung verzichten würden. Letztlich sei es nie ihr Wunsch gewesen das Land zu regieren, vielmehr hätten sie sich durch die widrigen Bürgerkriegsumstände dazu gezwungen gesehen, die Macht zu ergreifen, um für Frieden und Ordnung zu sorgen. Die Talebanführung sei sich bewusst, dass unter ihrer Regierung zahlreiche Fehler begangen wurden, welche letztlich auf ihre mangelnde politische Kapazität zurückzuführen seien. Deswegen sei es nur konsequent auf die Macht zu verzichten, solange ihre Bedingungen erfüllt werden. Interessanterweise hat dieses Angebot der Taleban keinerlei Medienecho ausgelöst. Abgesehen von der Sunday Times berichtete bislang kein einziges der etablierten Medien über den Vorschlag, vermutlich weil er der Besatzung des Landes den letzten Rest an Scheinlegitimation nimmt.


Veränderungen sind notwendig

Stattdessen wird weiter das alte Lied vom heldenhaften Abwehrkampf am Hindukusch gesungen, mittlerweile kann man selbst in deutschen Regierungskreisen, wenngleich auch nur zaghaft, das Wort Krieg hören. Es bleibt demnach abzuwarten, ob die NATO-Spitzen diese Möglichkeit, sich in Würde aus Afghanistan zurückzuziehen, wahrnehmen oder nicht. So viel scheint sicher: Afghanistan stehen tiefgreifende Veränderungen bevor. Ob das Friedensangebot der Taleban, die Ankündigung Obamas mit dem Abzug der Truppen im Jahr 2011 zu beginnen, Karzeis rhetorische Abwendung vom Westen oder die intensiven Verhandlungen der Kabuler Regierung mit der Hezb-e-Islami, alles deutet darauf hin, dass dem Land am Hindukusch ein großer Umbruch bevorsteht. Ob zum Guten oder zum Schlechten wird sich zeigen. Nur eines lässt sich mit Gewissheit festhalten: Der Widerstand gegen die Besatzung wächst, sowohl in Afghanistan als auch in den Ländern, welche die Besatzungstruppen stellen.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- Zwei US-Soldaten auf der Suche nach Waffenlagern: In Afghanistan tobt weiter Krieg.
- Kinder spielen auf einem zerstörten Panzerfahrzeug in der der Nähe von Kabul

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EUROPA

Der Euro am Ende?

Staatsschuldenkrise hat Europa erfasst

Von Stefan Hirsch

Anfang Mai 2010 ist die Finanzkrise endgültig in eine neue Runde gegangen. Die Krise der griechischen Staatsfinanzen hat sich zu einer Krise der Euro-Zone ausgeweitet.


Eine Finanzmarktpanik, die drohte, nicht nur Griechenland, sondern auch Portugal, Spanien und das südeuropäische Bankensystem zu versenken, konnte nur mehr durch die Übernahme der südeuropäischen Staatsschulden durch die restliche Euro-Zone aufgehalten werden. Eine halbe Lösung und eine Lösung, die von den großen Kreditgebern keinen Cent Beitrag verlangt.

Das "Rettungspaket" von EU und IWF rettet nicht Griechenland und Portugal, sondern Europas Banken. Der griechische Ministerpräsident Papandreu spricht von der Notwendigkeit, die Katastrophe der Staatspleite zu verhindern. Er mag Recht haben, dass Staatspleiten unangenehm sind. Die Frage stellt sich jedoch, ob sie schlimmer wären als das, was jetzt in Griechenland passiert? Gehaltseinbußen von 25 Prozent im öffentlichen Dienst? Mehrwertsteuererhöhung auf 23 Prozent in einer Wirtschaft, die ohnehin mit steigenden Preisen zu kämpfen hat? Schlimmer als ein Liter Benzin für 2 Euro? Das verordnete Sparpaket ist derartig brutal, dass die griechische Wirtschaft nach Schätzung des IWF in diesem Jahr um vier Prozent schrumpfen wird. Damit wird zwar das aktuelle Defizit verringert, die Gesamtschulden in Prozent der Wirtschaftsleistung wiegen aber dank schrumpfender Wirtschaft immer schwerer. Das "Rettungspaket" bringt eine wirtschaftliche Depression.

Solche Zustände könnte Griechenland wirklich billiger haben - da braucht es keine Antikapitalisten als Berater, um so etwas zu erkennen: Zahlungsunfähigkeit erklären und mit den Schuldnern einen Abschlag von etwa 50 Prozent vereinbaren. Kurzfristig gibt es dann Schwierigkeiten, das laufende Defizit auf Kapitalmärkten zu finanzieren. Das ist bitter und führt zu einer schweren Krise der Wirtschaft - aber schlimmer als jetzt geht eigentlich nicht und wenigstens wäre man die Schulden los. Nach einem Jahr könnte man sich wieder Geld ausborgen. Wer weniger Schulden hat, dem glauben die Kapitalmärkte, dass er neue Außenstände auch bedienen kann.

Das bedeutet nichts Anderes, als dass das Hilfspaket von EU und IWF nicht Griechenland hilft, sondern den Gläubigern. Den Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und den Stiftungen der Superreichen. Die Staatsschulden werden praktisch von der restlichen Euro-Zone übernommen. Eine Rückzahlung des Geldes ist dabei übrigens kaum möglich. Die ruinierte griechische Wirtschaft kann einen staatlichen Schuldenstand von etwa 140 Prozent des BIP in zwei Jahren genausowenig bedienen wie heute.


Eurozone: Kurzfristig stabil...

Man braucht nicht Freund des Euro zu sein, um die Gerüchte über sein unmittelbar bevorstehendes Ableben als verwegen einzuschätzen. Längerfristig stellt sich die Sache aber anders dar. Aktuell kann in den europäischen Eliten niemand Interesse an einem Ende der Euro-Zone haben - und das beschlossene 750 Milliarden-Paket macht klar, dass Deutschland und Frankreich durchaus noch bereit sind, Geld in die Hand zu nehmen, um die Währungsunion zu verteidigen. Der Euro ist dann am Ende, wenn einzelne Staaten beginnen auszutreten. Nur: Wer soll das sein? Sollte Südeuropa austreten, bricht in Spanien, Italien und Portugal sofort das Finanzsystem zusammen. Neben einem Staatsbankrott gibt es in der aktuellen Krisensituation eine katastrophale Abwertung jeder neuen Währung. Ein bisschen Abwertung würde für Südeuropa wohl Sinn machen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft wieder herzustellen - aber ein totaler Verfall der Währung verunmöglicht Importe, lässt das Kreditsystem völlig auseinanderfallen und bringt ob der explodierenden Importpreise einen gewaltigen Inflationsschub. Eine Schockstarre der Wirtschaft folgt, dazu die Verarmung auch der Mittelschichten, die die importierten Konsumgüter nicht mehr bezahlen können und deren Sparguthaben entwertet werden. Um einen solchen Schock durchzustehen, müssten sich die Eliten vom Wirtschaftsliberalismus völlig losmachen, den Kapitalverkehr kontrollieren und zusätzlich eine gewaltige innenpolitische Krise durchstehen. Es mag sein, dass in Spanien oder Griechenland viele über den Ausstieg aus dem Euro nachdenken, sobald sich die Situation beruhigt hat, denn dann könnte man eine kontrollierte Abwertung versuchen. Aktuell scheint das aber undenkbar.

Aktuell kann in den europäischen Eliten niemand Interesse an einem Ende der Euro-Zone haben. Deutschland und Frankreich sind bereit, sie zu verteidigen.

Und Deutschland? Könnte sich Deutschland verabschieden? Auch das ist eher unwahrscheinlich. Dann wäre der letzte Traum vom deutsch geführten Europa vorbei - wozu die deutschen Eliten trotz ihrer Schwäche wohl noch nicht bereit sind. Obendrein wäre der wirtschaftliche Sinn der Aktion eher zweifelhaft. Heraus kämen durch den Zustrom von Fluchtkapital eine krankhaft überbewertete neue DM und der Zusammenbruch der Exportindustrie. Die hält die deutsche Konjunktur als einzige am Leben und kontrolliert obendrein die Politik. Es scheint unwahrscheinlich, dass die deutsche Regierung dieses Risiko eingehen würde. Das Bankkapital kann einen solchen Schritt ebensowenig wollen, denn dann müsste es das Geld abschreiben, das es nach Südeuropa verborgt hat.

Fazit: Wenn niemand austritt, dann bricht der Euro auch nicht auseinander. Zumindest für die nächste Zeit nicht. Eine totale Eskalation der Staatsschuldenkrise scheint auch unwahrscheinlich. Warum auch? Deutschland haftet und die EZB hat klargemacht, dass sie das Geld für die Staatsschulden drucken wird, sollten sich Spanien oder Portugal nicht mehr über die Kapitalmärkte refinanzieren können. Die Frankfurter Allgemeine mag darob die Hyperinflation kommen sehen, aber die EZB weiß es dieses Mal tatsächlich besser. Wenn sich die Gelddruckerei nicht oder nur zum Teil in echte Nachfrage umsetzen lässt, dann gibt es auch keine Inflation. Was es geben könnte, ist eine neue Vermögenspreisblase (etwa von Immobilien), während der Rest der Wirtschaft weiter mit eher sinkenden Preisen zu kämpfen haben wird.


... langfristig am Ende?

Kurzfristig wird der Euro also nicht auseinander fallen. Die lange Frist ist eine andere Sache. Tatsächlich sind die Lohnstückkosten in unterschiedlichen Ländern der Euro-Zone in den letzten Jahren so weit auseinandergedriftet, dass ein Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr leicht möglich ist. Soll es nicht in Deutschland und Holland eine Phase höherer Inflation geben, dann müssten in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und Italien die Preise über einen längeren Zeitraum sinken. Irland hat damit schon begonnen - zu entsetzlichen sozialen Kosten. Spanien wird möglicherweise bald folgen. Das Problem dabei ist nicht nur die steigende Arbeitslosigkeit (der Grund sinkender Preise ist die fehlende Nachfrage und sinkende Einkommen), sondern auch, dass die Schulden immer schwerer wiegen, je weniger man verdient.

Die aktuell von der Euro-Zone eingeschlagene Politik wird an diesem Problem nichts ändern. Im Großen und Ganzen wird einfach der gesamten Euro-Zone ein gigantisches Sparpaket verordnet, um die Staatsverschuldung zu senken. Dieses Sparpaket ist nicht nur ein Angriff auf das Lebensniveau der großen Mehrheit, es wird auch den ohnehin schwachen Aufschwung abwürgen. Wenn man ein Budgetdefizit von 10 Prozent des BIP auf vielleicht vier Prozent verringert, dann gibt das einen gesamten Nachfrageschock von sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Wenn die Investitionen, der private Konsum oder die Exporte nicht um diesen Wert steigen können, dann schrumpft die Wirtschaftsleistung. Im Augenblick ist es völlig schleierhaft, welches Unternehmen investieren sollte, welche Haushalte sich in den Konsumrausch begeben wollen oder wer die Exporte kaufen soll. Dazu kommt ein wirkliches soziales Massaker - die Kontrolle der Staatsschulden soll einzig auf die Unterschichten abgeschoben werden. In Spanien werden die Gehälter der Staatsbediensteten gekürzt, in Holland die Sozialausgaben. In Deutschland wird ein Aderlass für Arbeitslose und Familien angekündigt. Das Sparen bei den Ärmsten wird die konsumdämpfende Wirkung der Maßnahmen noch verstärken.

Um die Euro-Zone "auszubalancieren" müsste eigentlich Deutschland sein Budgetdefizit erhöhen und obendrein kräftige Lohnerhöhungen unterstützen, damit die anderen nach Deutschland verkaufen können. Am 20. Mai hat Finanzminister Schäuble gegenüber der Financial Times das Problem auch erkannt: "Wir müssten Wachstumslokomotive sein", gesteht er ein. Nur neue Schulden will er nicht machen. Stattdessen wird über Investitionen in Bildung und bessere Integration von Einwanderern schwadroniert - als ob das irgendetwas mit der Konjunktur 2011 zu tun hätte.

Anfang Juni wurde er dann von Timothy Geithner, dem amerikanischen Finanzminister, darauf hingewiesen, dass Deutschland, anstatt zu sparen, eigentlich seine Binnenkonjunktur stärken müsste. Der Mann macht sich Sorgen, dass allgemeine Sparerei und die recht wahrscheinliche europaweite Deflation (falls die Sparmaßnahmen durchgesetzt werden können) den Wechselkurs des Euro weiter drücken werden, was dann auch für die USA oder Ostasien ein Problem darstellt.

Die ersten Opfer der deutschen Sparwut (abgesehen von den Arbeitslosen) sitzen allerdings in Südeuropa. Die dortigen Volkswirtschaften können unter solchen Voraussetzungen ohne Währungsabwertung ihre Konkurrenzfähigkeit kaum wiedererlangen. Währungsabwertung bedeutet Austritt aus der Euro-Zone. Mit anderen Worten: Ein längerfristiges Überleben der Euro-Zone hängt an einer Änderung der deutschen Politik.


Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit

Aber vielleicht hat Schäuble auch ein bisschen Recht: Eine echte Lösung kann es nicht sein, die zu geringe Nachfrage mit immer neuen Staatsschulden auszugleichen. Irgendwann müsste man sich tatsächlich den Wurzeln des Problems widmen - die an Schäuble allerdings vorbeigegangen sind. Etwa, dass es insgesamt zu viele Schulden gibt; dass die Einkommen zu ungleich verteilt sind, um für ausreichende Nachfrage zu sorgen; dass die Industriestruktur zahlreicher Länder (gerade in Südeuropa) durch Jahrzehnte des Finanzmarktkapitalismus völlig ausgehöhlt ist. Das sind die Probleme, die die Wurzel der Krise darstellen. Man kann damit fortfahren, das Bankensystem immer wieder von neuem aufzufangen und damit die Oligarchen (aber auch die Privatpensionen, die man den Leichtgläubigen angedreht hat) retten. Man kann die durch die ungleiche Einkommensverteilung und die Deindustrialisierung fehlende Nachfrage durch Staatsschulden ersetzen. Mit dem Nachteil, dass bei jeder Rettung und jedem Konjunkturpaket die Schulden größer werden. Und man könnte den ganzen Mist eindampfen.

Die Schulden müssen gestrichen werden und die Griechen sollten damit anfangen, denn die haben nichts zu verlieren.

Die Schulden müssen gestrichen werden und die Griechen sollten damit anfangen, denn die haben nichts zu verlieren. Die Inhaber der Schuldentitel und Halter größerer Barvermögen werden dann durchdrehen, das gibt eine Finanzmarktpanik von gigantischen Ausmaßen. Um diese unter Kontrolle zu halten, braucht man Kapitalverkehrskontrollen und eine öffentliche Verwaltung der Banken. Schließlich benötigt es eine öffentliche Investitionslenkung, um die Industriestruktur zu erneuern. Und eine gerechte Einkommensverteilung, um Entwicklung zu ermöglichen, die nicht von der Schöpfung immer größerer Kreditmassen abhängig ist und nur einer Minderheit zugute kommt.

Ein solches Programm durchzusetzen, ist nicht leicht. Länder wie Griechenland werden damit mehr Schwierigkeiten haben als Österreich oder Deutschland. Von dem in der Linken so beliebten Versprechen vom "Endloskonsum für alle" ist nichts zu halten. Solche Eingriffe bringen gewaltige Turbulenzen und sind auch mit Opfern verbunden. Aber in Wahrheit fehlen die attraktiven Alternativen. Den Griechen helfen wir gerne. Und für nachhaltige Entwicklung sind wir auch bereit, fürs Erste Opfer zu bringen. Bluten für die Banken werden wir nicht. Mit Wolfgang Schäuble ist ein solches Projekt nicht zu haben. Das wird man gegen die Oligarchie durchsetzen müssen.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main: die Nervosität ist gestiegen.
- Die Gewerkschaften mobilisieren gegen das Sparpaket der Regierung.

Raute

EUROPA

Einschränkung der Meinungsfreiheit

Bestehende Organisationsdelikte und das Terrorismuspräventionsgesetz 2010

Von Farah Abu Shawki

Das österreichische Innenministerium plant eine Verschärfung der Terrorismusgesetze. Mit der Novelle werden bisher legale Verhaltensweisen unter strenge Strafen gestellt.


Kritiker befürchten, dass mit dieser Gesetzesnovelle die Möglichkeit eröffnet wird, politischen Aktivismus durch extensive Auslegung des Gesetzes unter Strafe zu stellen.

Nicht zuletzt der sogenannte "Tierschützerprozess", der derzeit im Landesgericht Wiener Neustadt verhandelt wird, gibt dieser Angst ihre Begründung. In diesem Verfahren werden 13 Aktivisten von verschiedenen Tierrechtsorganisationen wegen ihrer Mitgliedschaft in einer "kriminellen Organisation" angeklagt. Mit Terrorismus hat dieser Tatbestand zwar auf den ersten Blick nichts zu tun, doch liegt die Befürchtung eines Missbrauchs trotzdem nahe, da die derzeit bestehende Anti-Terror-Bestimmung in ihrer Funktionsweise der in diesem Fall angewendeten "Anti-Mafia-Bestimmung" sehr ähnlich ist. Beide sind sogenannte Organisationsdelikte und stellen bereits die bloße Mitgliedschaft in einer solchen Organisation (ohne Begehung von konkreten strafbaren Handlungen) unter Strafe.


Zweck und Tatbestand des § 278a StGB

Die Bestimmung des § 278a wurde mit der StGNov 1993 in das österreichische Strafgesetzbuch eingeführt. Zweck dieser Bestimmung war es, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität die Möglichkeit zu verschaffen, Mitglieder dieser Organisationen schon aufgrund dieser Mitgliedschaft anzuklagen.(1) Oft ist es so, dass Mitglieder die Ziele der Organisation bewusst fördern, allerdings ohne selbst eine strafbare Handlung zu setzen. Mit § 278a StGB wird deren Verfolgung erst ermöglicht.

Kritiker des geplanten Terrorismuspräventionsgesetzes fürchten, dass mit der Novelle politischer Aktivismus unter Strafe gestellt werden könnte.

Zwei Merkmale sind für die Erfüllung des Tatbestandes ausschlaggebend. Der objektive Tatbestand wird durch äußere Merkmale erfüllt: Organisationsstruktur, kriminelle Zielsetzung und Setzen einer Tathandlung durch Beteiligung als Mitglied. Weiters muss der sogenannte subjektive Tatbestand (die innere Tatseite) erfüllt werden. § 278a StGB ist ein Vorsatzdelikt: Der Täter muss wissen, dass er durch sein Handeln eine kriminelle Organisation fördert.(2)

Für das Tatbestandsmerkmal der Beteiligung verweist § 278a StGB auf § 278 Abs. 3 StGB. Dieser qualifiziert jede Art der Förderung der Vereinigung als Mitgliedschaft in dieser.


Der "Tierschützerprozess"

Im "Tierschützerprozess" wurde die eben geschilderte Bestimmung verwendet, um 13 Aktivisten von verschiedenen Tierrechtsorganisationen anzuklagen (unter anderm den VGT).

Zur Klarstellung: Eine kriminelle Organisation im Sinne des § 278a StGB wird durch eine Willenseinigung im Hinblick auf den Zusammenschluss und die kriminelle Zielsetzung gegründet. Dies kann auch dadurch geschehen, dass das Verhalten der Beteiligten darauf schließen lässt. Es ist auch nicht notwendig, dass die Vereinbarung zwischen allen Mitgliedern zustande kommt.(3) Im Tierschützerprozess stehen die Angeklagten wegen ihrer angeblichen Mitgliedschaft in einer - nicht notwendigerweise bewusst von all ihren "Mitgliedern" gegründeten - Organisation vor Gericht. Handlungen der Tierschützer können mittels einer weiten Auslegung von § 278a StGB so interpretiert werden, dass sie die Ziele der Organisation oder deren strafbare Handlungen fördern. So wurde einem der Angeklagten beispielsweise vorgehalten, dass er vor einigen Jahren Tierfabriken aufgesucht und gefilmt hat. Da die kriminelle Organisation gegen solche Tierfabriken schon mehrmals kriminelle Handlungen wie Sachbeschädigung und Brandstiftung gesetzt hat, könnten, so die Anklage, diese Aufnahmen der Organisation zugespielt werden und für weitere kriminelle Handlungen verwendet werden (man könnte beispielsweise am Video Sicherheitseinrichtungen, Ein- und Ausgänge etc. erkennen).


Der "Terrorprozess"

Diese Art von Konstruktion kann auch im Zusammenhang mit Terrorismus veranschaulicht werden. Im sogenannten "Wiener Terrorprozess"(4) wurde der Zweitangeklagten vorgeworfen, Texte von Terroristen aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt zu haben, eine journalistische Tätigkeit, um die Gesellschaft über Ziele und Methoden einer Organisation zu informieren. Dafür wurde die Angeklagte für ihre Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt. Streng genommen könnte jede Übersetzung, jede Veröffentlichung eines Textes mit "terroristischem Inhalt" zu einer Bestrafung des Veröffentlichers führen, wenn diese die Ziele der terroristischen Vereinigung fördern könnten. Der Unterschied zwischen der für den Terrorprozess relevanten Tat und der Tätigkeit von anderen Journalisten ist die oben genannte "innere Tatseite", also die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes. Wie auch § 278a StGB kann § 278b StGB dadurch erfüllt sein, dass der Täter die Ziele der Organisation durch sein Handeln fördert und dies auch beabsichtigt. Er muss es "für gewiss halten, dass er durch die Bereitstellung von Informationen oder Vermögenswerten die terroristische Vereinigung oder deren strafbare Handlungen fördert".(5)


Bedenkliche Anwendung

An diesem Punkt entsteht die Problematik dieser beiden Bestimmungen bzw. ihrer Anwendung. Um die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes zu beweisen ist es notwendig, die Einstellung der Angeklagten zu Zielen und Tätigkeiten der kriminellen Organisation oder terroristischen Vereinigung festzustellen. Aus diesem Grund wird in der Urteilsbegründung des Wiener Terrorprozesses auch auf die Geisteshaltung der Angeklagten und ihre Eigenschaft als Überzeugungstäterin eingegangen.(6) Ohne diese Einstellung der Angeklagten zu Themen wie dem Irakkrieg oder dem politischen Islam wäre ihre Tat identisch mit dem täglichen Handeln eines Journalisten, der über diese Themen berichtet.

Ähnlich ist es im Tierschützerprozess: Die Fragen an die Angeklagten nach ihrer Einstellung zu Tierbefreiungsaktionen oder Jagdstörungen sollen ein Indiz für die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes sein. Ohne diesen könnte man wohl kaum behaupten, dass das Filmen von Tierfabriken oder das Drucken von Flyern als Förderung einer kriminellen Organisation zu qualifizieren ist. Der subjektive Tatbestand wird aufgrund einer politischen Einstellung angenommen. Man muss sich vor Augen führen, dass die Untersuchungshaft im Tierschützerfall so gesehen aufgrund dieser politischen Einstellung verhängt worden ist: Ohne die subjektive Tatseite - die aufgrund der politischen Einstellung der Tierschützer angenommen wird - gibt es kein Delikt, kein Verfahren und keine Untersuchungshaft. Es lag keine konkrete Tat vor, dennoch wurden die Beschuldigten aufgrund der angeblichen Mitgliedschaft in dieser kriminellen Organisation verhaftet, die aufgrund ihrer Weltanschauung angenommen wird.


Das Terrorismuspräventionsgesetz 2010

In diesem Zusammenhang ist das geplante Terrorismuspräventionsgesetz interessant. Deklariertes Ziel dieser Bestimmungen ist es, den internationalen Terrorismus durch strafrechtliche Möglichkeiten für den Staat zu bekämpfen. Verschiedene neue Straftatbestände werden dadurch in das StGB aufgenommen.

Interessant für Menschen, die in Österreich einem politischen Aktivismus nachgehen, ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung des § 282a StGB, insbesondere deren zweiter Absatz: "Ebenso [also wie in Abs. 1 mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe] ist zu bestrafen, wer auf die im Abs. 1 bezeichnete Weise eine terroristische Straftat (§ 278c) in einer Art gutheißt, die geeignet ist, das allgemeine Rechtsempfinden zu empören oder zur Begehung einer solchen Handlung aufzureizen."

Strafbar war das Gutheißen von strafbaren Handlungen schon durch den seit 1975 gültigen § 282 StGB. Die besondere Hervorhebung der terroristischen Straftaten durch den neuen § 282a StGB gibt Anlass zur Sorge: Es wurde in Reaktionen auf das kommende Gesetz bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass damit Protestaktionen der Zivilgesellschaft leicht als terroristische Straftaten definiert werden könnten. Ein Beispiel: Wenn während der Besetzung von Hörsälen schwere Sachbeschädigungen "in großem Ausmaß" (noch ist unklar was ein großes Ausmaß ist) begangen werden und die Besetzungsaktion insgesamt "eine schwere Schädigung des Wirtschaftslebens" (im Sinne des § 278c Abs 1 StGB) zur Folge hat, so könnte diese Aktion bei extensiver Auslegung als terroristische Straftat angesehen werden. Ein solches Szenario ist bereits nach geltendem Recht als terroristische Straftat interpretierbar. Die Neuheit liegt aber darin, dass nun auch das Gutheißen dieser Straftat, beispielsweise durch eine Solidaritätskundgebung oder das Verfassen eines den Protesten positiv gesinnten Artikels, im Sinne des neuen § 282a StGB mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe strafbar sein soll.

Die Frage "Terrorismus oder Freiheitskampf" wird nun nicht nur in politischen Debatten, sondern bald auch im Gerichtssaal beantwortet werden müssen.

Der neue § 282a StGB hat eine weitere beunruhigende Wirkung: Die Frage, ob eine Handlung ein Akt des Terrors oder des Freiheitskampfes ist, wird nun in die Hand der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte gelegt. Unterstützt jemand in Österreich die anhaltenden Proteste gegen die Wahlergebnisse im Iran, wird er wohl kaum wegen Gutheißung terroristischer Straftaten verfolgt werden, obwohl auch diese Proteste (wie immer: bei extensiver Auslegung) als Akte des Terrors angesehen werden könnten (wenn man dies politisch so will). Andererseits: Der bewaffnete Kampf gegen die Besatzungstruppen im Irak kann - oder eben nicht - ebenfalls als Terror angesehen werden. Es ist eine politische Frage. Die Diskussion über Terrorismus und Freiheitskampf wird nun nicht mehr nur in politischen Auseinandersetzungen, sondern bald auch im Gerichtssaal beantwortet werden müssen. Ein Staatsanwalt könnte nach dem neuen § 282a StGB sowohl die Befürworter der Proteste im Iran als auch die Befürworter des irakischen Widerstands wegen "Gutheißung terroristischer Straftaten" verfolgen. Die Entscheidung, welche er letztendlich verfolgen wird, ist in Wirklichkeit eine politische.

Wer es für unrealistisch hält, dass solche Aussagen strafrechtlich verfolgt werden, hat wahrscheinlich Recht. Jedenfalls fürs Erste. So wie die heutigen Anti-Terror-Bestimmungen dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus gewidmet sind, war auch § 278a StGB bei seiner Einführung im Jahr 1993 dem Kampf gegen die Mafia gewidmet. Wie die Bestimmung heute angewandt wird, sieht man im "Tierschützerprozess".


Anmerkungen

1.) Plöchl in Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch § 278a StGB [Rz 1].

2.) Plöchl in Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch § 278 StGB [Rz 29].

3.) Plöchl in Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch § 278a StGB [Rz 4].

4.) Im März 2008 wurden am Landesgericht für Strafsachen in Wien zwei Personen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt.

5.) Plöchl in Höpfel/Ratz, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch § 278b [Rz 13].

6.) Urteil des LG für Strafsachen Wien, GZ 443 Hv 1/08h.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

- Martin Balluch auf einer Kundgebung: Er gehörte zu den Hauptangeklagten.
- Infotische wie etwa auf der Mariahilfer Straße gehören zu den Hauptaktivitäten des VGT.

Raute

EUROPA

Wohin Linkspartei?

Zwischen Antagonismus und Opposition Ihrer Majestät

Von Thomas Zmrzly

Der Wahlerfolg der Linkspartei bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen stärkt die innerparteiliche linke Strömung.


Aus den Bundestagswahlen 2009 ging die Partei "Die Linke" mit ihrem besten Ergebnis seit ihrer offiziellen Gründung im Jahr 2005 hervor. Sie erreichte 25 Prozent mehr Stimmen als 2005 und insgesamt einen Stimmenanteil von 11,9 Prozent. Damit wurde sie vierte Kraft noch vor den linksliberalen von 11,9 Prozent. Damit wurde sie vierte Kraft noch vor den linksliberalen Grünen. Doch es kam aufgrund der Niederlage der SPD zu einer rechtsliberalen bürgerlichen Koalition aus CDU und FDP. Letztere erreichte ihr historisch bestes Ergebnis von 14,6 Prozent. Sie konnte hauptsächlich bei Wähler/innen von den Konservativen, aber auch von der SPD und aus dem Nichtwählerreservoir punkten.

Noch nicht einmal acht Monate später, am 9. erlebt das rechtsliberale Bündnis im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) eine verheerende Niederlage. Die CDU stürzt um mehr als 10 Prozent ab, und auch das Ergebnis der FDP im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 bedeutet einen herben Verlust an Stimmen. Damit endet auch eine Mehrheit im Bundesrat, der sogenannten Länderkammer. Alle Gesetze, die auch die Bundesländer betreffen, müssen nun mit der SPD ausgehandelt werden.

Dabei waren politische Gründe ausschlaggebend, die ohne die Bundespolitik nicht zu denken sind. Neben einer Affäre um bezahlte Auftritte für Firmen des CDU-Ministerpräsidenten Rüttgers bzw. Stände von Unternehmen auf CDU-Parteitagen sorgten vor allem die FDP und das "Krisenmanagement" für die herbe Niederlage des rechtliberalen Blocks. Die FDP sank in der Wählergunst, nachdem publik wurde, dass sie sich vor den Bundestagswahlen von Mövenpick (Hotel) hatte sponsern lassen, um ihnen nach der Wahl Steuergeschenke zu machen. War sie noch vor der Bundestagswahl mit dem Motto "Mehr Netto vom Brutto" als Steuersenkungspartei angetreten, so wurde sie nach der Wahl immer mehr bzw. wieder als Partei der Großunternehmen und der Besserverdienenden wahrgenommen. Nicht umsonst wurde und wird das politische Parteiensystem seit langen Jahren mit seinen Polen FDP auf der eine äußeren Flanke und der Partei "Die Linke" auf der anderen gesehen.

In der Landtagswahl in NRW wurden nun das Profil und die Orientierung der Partei bestätigt. Sie schaffte es auf Anhieb - "Die Grünen" brauchten in den 80er Jahren drei Anläufe - mit 5,6 Prozent in den Landtag einzuziehen. Flächendeckend wurde u.a. mit folgenden Parolen geworben: Raus aus Afghanistan, Weg mit Hartz IV, EON/RWE (Verstaatlichte Energiemonopole) entmachten usw. Auch wenn die Ergebnisse von über 8 Prozent bei den Bundestagswahlen nicht erreicht werden konnten, war es innerparteilich enorm wichtig, dass der Landesverband NRW, in dem der linke Flügel dominiert, überhaupt in den Landtag einzieht. Neben der üblichen Propaganda aus dem rechts wie linksliberalen Lager machten sich die bürgerlichen Medien vor allem die Kritik der Parteirechten zunutze, um die Partei in NRW in Gänze zu diskreditieren. Das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin und die Mehrheit der östlichen Landesverbände werden von der Parteirechten geführt und diese hatte auch insgeheim auf eine Wahlschlappe in NRW gehofft, um das linke Zentrum im Westen zu schwächen. Die Parteirechte, die im "Forum demokratischer Sozialismus" (FDS) organisiert ist, arbeitet daran, spätestens 2013 mit Rot-Rot-Grün in die Bundesregierung einsteigen zu können. Im Zusammenhang mit der begonnenen Debatte zum Parteiprogramm wollen sie vor allem die Forderung nach Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan schleifen bzw. UN-mandatierte Kampfeinsätze durchsetzen. Außerdem soll die Frage nach einer Umkehr in der Wirtschaftspolitik, also die Ablehnung von Privatisierungen und Sozialabbau, ebenso als rote Linie gekippt werden.

Es fehlt den linken und anti-neoliberalistischen Kräften an einer konsistenten Strategie in Zusammenhang mit Krise und Organisationsaufbau.

Das eigentliche Problem kommt jedoch nicht nur von außen und den liberalistischen Kräften innerhalb der Linkspartei. Vielmehr fehlt es den linken und anti-neoliberalistischen Kräften an einer konsistenten Strategie in Zusammenhang mit Krise und Organisationsaufbau.

So zeigt sich insbesondere angesichts der Krise, wie wenig mobilisierungsfähig "Die Linke" ist. Die verschiedenen Teile der Partei haben zwar richtig eingeschätzt, dass der Krisenverlauf nicht total sein würde und die politische Antwort der Bundesregierung durch Kurzarbeitsregelungen und Konjunkturpakete eher bedeutet, dass die Mehrheit der abhängig Beschäftigten bisher von den Krisenerscheinungen verschont geblieben ist. Andererseits sind weder die Parteibasis oder Mandatsträger noch die führenden Personen in der Partei auf die verschiedenen Mittel und Wege im Kampf gegen die Krisenabwälzung auf die Mehrheit der Bevölkerung vorbereitet. Das zeigt sich unter anderem darin, dass es in einigen Teilen der Partei tatsächlich Hoffnungen gab, in NRW eine rot-rot-grüne Koalition zu bilden, ohne auf die eigenen Inhalte zu verzichten. Dazu kommt, dass es auch bei den antagonistischen Kräften innerhalb der Linken kein strategisches Konzept gibt, das den Kampf gegen Krise und Krieg mit der Arbeit gegen die Verbürgerlichung und Institutionalisierung der Partei von unten verbindet. Solange dies so bleibt, können die liberalistischen Kräfte in der Partei abwarten und wissen, dass die Zeit für sie arbeitet. Ob es dazu kommt, dass eine weitere Periode die antagonistischen Kräfte innerhalb der Partei "Die Linke" deren Politik entscheidend prägen, wird sich alsbald in der Parteidebatte und vor allem in der Auseinandersetzung mit den nun angekündigten Kürzungen bzw. Steuererhöhungen zeigen.


Raute

THEORIE

Neue Wege zum Sozialismus

Überlegungen anhand des venezolanischen Beispiels

Von Gernot Bodner

Den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung auf den revolutionären Umsturz zu reduzieren, wäre nach den Erfahrungen im 20. Jahrhundert verfehlt.


Eine Umwälzung, die das kapitalistische Modell grundsätzlich in Frage stellt, setzt einen tiefen sozialen und ideologischen Bruch im herrschenden (hegemonialen) Block voraus. Unter sozialem Bruch verstehen wir die soziokulturelle Distanz im Alltagsleben der sozialen Klassen (in moderner Terminologie "Parallelgesellschaften"). Ideologischer Bruch bedeutet, dass politisch-soziale Krisen im System dazu führen, dass die herrschende Ordnung nicht mehr als naturgegebener Zustand, sondern als willkürliches politisches Projekt einer Elite wahrgenommen wird. In den imperialistischen Zentren wurde in der Nachkriegszeit sowohl der soziale als auch der ideologische Bruch im System in einer Mittelschicht- und Konsumgesellschaft aufgehoben. Die Revolution wurde ein Phänomen der Dritten Welt.

Zwei Jahrzehnte des Neoliberalismus beginnen den sozialen Konsens in den westlichen Zentren zu untergraben ("700-Euro Generation" in Griechenland, Banlieus in Frankreich). Trotz der offenkundigen Willkür zugunsten des Kapitals (Rettungspakete) hat die gegenwärtige Wirtschaftskrise die ideologische Dominanz der Eliten im Westen jedoch bislang kaum geschwächt.

In der Dritten Welt ist die soziale Krise eine Konstante. Der trotzdem offenkundige Rückgang der revolutionären Bewegungen seit den 1980er Jahren hängt mit strukturellen Umwälzungen der Sozialstruktur durch den Neoliberalismus sowie Niederlagen der linken Befreiungsbewegungen und der daraus folgende Krise alternativer Perspektiven zusammen. Die islamische Erlösungsidee als Antwort auf die Krise ist ein neues Widerstandsphänomen, das für ein kommunistisches Projekt eine neue Herausforderung darstellt.

Die Radikalität des Umbruches in Venezuela entsprang einem abrupten sozialen Angriff (IWF-Austeritätsprogramm 1989, Caracazo)(1) innerhalb einer verlängerten Wirtschaftskrise des Landes. Dies unterminierte das traditionelle Zwei-Parteien-Modell und führte zu einer politischen Regimekrise. Das Vakuum wurde durch eine neue Führungsgruppe um Hugo Chávez gefüllt. Die objektive Tiefe des gesellschaftlichen Bruchs, die Mobilisierung der Hoffnungen der armen Klassen und die Polarisierung durch die alten Eliten (Putsch, Ölsabotage) brachten - trotz formal-demokratischer Grundlage - eine relativ radikale Umwälzung hervor.


Möglichkeiten einer anderen Welt

Es drängt sich auf, angesichts der vielfältigen Krisenphänomene (wirtschaftliche und soziale Krise, ökologische Krise, kulturelle Krise und Krise der Perspektiven) von einer Niedergangsepoche des Kapitalismus zu sprechen. Dies darf jedoch nicht mit aktuellen revolutionären Möglichkeiten gleichgesetzt werden. Die zentrale Frage für eine politisch-soziale Bewegung ist immer jene nach der subjektiven (aktiven) Seite der Gesellschaftsveränderung. Gesellschaftsveränderung von einem revolutionären Standpunkt ging traditionell von zwei getrennten Phasen aus: dem Sturz des bestehenden und nachfolgend dem Aufbau eines neuen Systems. Die Verbindung beider Phasen im politischen Programm eines revolutionären Projekts ist kompliziert. Es gilt zu berücksichtigen, dass

- die massenhafte Ablehnung des Systems nicht über rational-humanistische Aufklärung durch kritische Intellektuelle passiert, sondern ein spontanes Moment hat. Um die Menschen aus ihrer (angepassten, resignierten oder eingeschüchterten) alltäglichen Passivität zu reißen, braucht es unweigerlich den schwer vorhersehbaren Katalysator der Erschütterungen im herrschenden Block selbst.

- das politische Programm einer Revolution im Bewusstsein der Massen immer messianische Züge hatte. Dies gilt nicht nur für religiöse Bewegungen, sondern auch für säkulare Ideologien wie den Marxismus. Nur so wurden Mobilisierung und Opferbereitschaft erreicht.

Jedoch ist ebenso wahr, dass

- ein revolutionäres Programm auch für Zeiten der Nicht-Aktualität eines Umsturzes erforderlich ist. Die Konkretisierung der leninistischen Losung der "Aufhebung einer Trennung zwischen Minimal- und Maximalprogramm" in eigenständigen Politikansätzen ist für diese langen unspektakulären Zeiten der Geschichte unzureichend entwickelt (im Vergleich zur Sozialdemokratie).

- es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts unverantwortlich wäre, würde sich ein seriöses Projekt der Gesellschaftsveränderung keine konkreten Gedanken zum Funktionieren und zum Übergang zu einer nach-kapitalistischen sozioökonomischen und politischen Ordnung machen.

Es drängt sich die Annahme auf, dass man angesichts der vielfältigen Krisenphänomene von einer Niedergangsepoche des Kapitalismus sprechen muss.

"Die Pflicht des Revolutionärs ist es, Revolution zu machen." (Che Guevara). Die Pflicht des Kommunisten wird es sein, den Kommunismus umzusetzen.

In Venezuela hat die Wahl von Hugo Chávez 1998 zu einer Aktivierung der Massen unter dem Programm des "Bolivarianismus" und "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" geführt. Dies gab der Bewegung einen mobilisierenden Mythos, ideologische Kohäsion und eine ethische Grundlage. Der Druck nach spürbaren sozialen und politischen Veränderungen drängt zu einem Übergang von einer rhetorischen Abgrenzung vom "Sozialismus des 20. Jahrhunderts" zu einer konsistenten neuen Programmatik. Diese erfordert eine Synthese aus der Bilanz des Scheiterns bisheriger Versuche der Analyse der veränderten sozioökonomischen Grundlagen in der modernen Gesellschaft und der neuen praktischen Erfahrungen der Volksorganisation.


Staat, Demokratie und Doppelmacht

Die Überwindung des traditionellen, hierarchischen Staates durch eine direkte Basisdemokratie erfordert einerseits strukturelle Brüche in den Institutionen und andererseits die Entwicklung der Selbstbestimmungsfähigkeit der Massen über kulturelle Veränderungen im Bewusstsein.

Der Umbau der Gesellschaft muss die "Dialektik" von Möglichkeit und Fähigkeit zur Selbstbestimmung berücksichtigen. Ihre Elemente sind:

- Ausreichende Sicherheit im geopolitischen Kontext
- Routine institutionalisierter Entscheidungsfindung von unten nach oben
- Fertigkeiten zur Lenkung der Gesellschaft und eine gesellschaftliche Ethik des solidarisch-verantwortlichen Handelns.

Kultureller Wandel und Strukturwandel sind untrennbar verbunden, um die Bedeutung eines letztentscheidenden staatlichen Schiedsrichters und die Hierarchien der "vertikalen" Arbeitsteilung des politischen Staates zu überwinden.

Das demokratiepolitische Problem der Bürokratie scheint ein strukturelles Phänomen des Übergangs zu einer nachkapitalistischen Ordnung zu sein. Nur in kurzen, polarisierten Momenten der Geschichte waren Massenaktivismus und -demokratie Realität. Die Niederungen der nachrevolutionären Normalität des Alltagslebens drängten dann aber das engagierte demokratische Leben rasch zurück.

Bürokratie drückt eine zentralistische Form der Herstellung von Konsens zwischen den verschiedenen Interessen in der Gesellschaft aus, ohne dass diese auf direkt-demokratische Weise zu einer Übereinkunft gelangen. Bürokratie ist also ein Phänomen der vertikalen Arbeitsteilung (Trennung von Staat und Gesellschaft), wodurch politische Entscheidung von einer "öffentlichen Sache" zu einem professionellen Berufszweig wird.

Angesichts der Anforderung der Synthese natürlich vorhandener Interessenskonflikte in der Gesellschaft gilt: Je demokratischer die Gesellschaft strukturiert ist, desto harmonischer werden die Möglichkeiten zur Konfliktlösung und Konsensfindung zwischen ihren differenzierten Teilen. Politische Parteien als kondensierte Ausdrucksformen antagonistischer Konflikte werden wesentlich vielfältigeren und dynamischeren Konstellationen demokratischer Interessensartikulation und -koordination weichen.

Die längerfristige Koexistenz von traditioneller Herrschaft von oben (Bürokratie) und Ansätzen demokratischer Herrschaft von unten (Volksmacht) in einer nachrevolutionären Gesellschaft ist unvermeidlich. Sie kann als eine Form verlängerter Doppelmacht begriffen und organisiert sein. Diese Doppelmacht ermöglicht gleichzeitig das Erlernen der Selbstherrschaft des Volkes und der Kontrolle der zentralen staatlichen Machtinstitutionen. Die Revolution wird den Konflikt zwischen alten und neuen Machtstrukturen nicht beenden, jedoch ein qualitativ neues, tendenziell harmonischeres Doppelmachtverhältnis etablieren. In diesem Verhältnis gilt es, die Macht zu den entstehenden Instanzen der Basisdemokratie zu verschieben, die die staatliche Bürokratie von einer politischen zu einer dienenden Macht transformieren. Diese Machtverschiebung wird auch nach dem Ende der kapitalistischen Herrschaft wechselweise evolutionäre und revolutionäre Formen annehmen.

Die Ausnahmesituationen des bolivarianischen Venezuela (2002-2003) fielen mit den Momenten höchsten Massenaktivismus zusammen. Der Volksprotagonismus ging mit der Konsolidierung der bolivarianischen Macht ab Ende 2004 zurück. Trotz Initiativen von der politischen Führung zur Stärkung der Volksmacht gegen die institutionelle Bürokratie konnte die junge bolivarianische Massenbewegung nur punktuell die traditionellen Institutionen ersetzen. Der Konflikt zwischen entstehender Volksmacht und gleichzeitig wachsender bürokratischer Elite ("Boli-Bourgeoisie") ist nicht gelöst. Die heterogenen sozialen Bewegungen als Motor der Volksmacht stehen dabei vor der Herausforderung, ihre verschiedenen Interessen und politischen Agenden zu koordinieren.


Arbeitsteilung und Produktivkräfte

Revolutionen haben zwar immer alte Strukturen zerbrochen. Doch jenseits der (entscheidenden) Veränderung der politischen Macht und der juridischen Eigentumsverhältnisse erwies sich die Etablierung einer neuen ökonomischen Ordnung ("Sozialisierung") als schwierig. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung blieb auch in den bisherigen sozialistischen Versuchen wesentlich hierarchisch und spezialisiert (z.B. Trennung von Hand- und Kopfarbeit, von Regierenden und Regierten). Der Übergang von ökonomischen Sachzwängen, die der Gesellschaft ihre soziale und politische Struktur aufprägen, zu einer Wirtschaft unter bewusster Kontrolle und Steuerung der Menschen blieb in Ansätzen stecken.

Angesichts des bürgerlichen Staates meinte Marx: Eine Revolution kann den alten Staatsapparat nicht einfach übernehmen. Für die Schaffung einer neuen sozioökonomischen Ordnung gilt Gleiches weitgehend auch für die vom Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte. Die großindustriellen Produktivkräfte sind schwer trennbar von einer kapitalistischen Arbeitsteilung - vom globalisierten Weltmarkt über die regionale Entwicklung (z.B. Urbanisierung) bis zu den innerbetrieblichen Hierarchien.

Marx sah die Grundlage für die sozialistische Befreiung in der Produktivkraftentwicklung, im Wachstum der Produktivität und des gesellschaftlichen Reichtums: Nur eine reiche Gesellschaft könne sich von der entfremdeten Arbeit und den Zwängen der Arbeitsteilung emanzipieren. Zwar liegt darin eine elementare Wahrheit: Wer um sein Überleben kämpft, hat wenig Zeit für demokratische Selbstverwaltung, Bildung und Kultur. Sind die Grundbedürfnisse einer Gesellschaft nicht befriedigt, sind Experimente jenseits des quantitativen Wachstums problematisch. Dennoch, die "Befreiung" der großindustriellen Produktivkräfte von ihren privatkapitalistischen Fesseln im Sozialismus des 20. Jahrhunderts brachte keine sichtbare Änderung zu einer emanzipierten Gesellschaft jenseits der Arbeit.

Weder der Traum einer fernen Zukunft völliger Befreiung von der Arbeit noch jener von einer fernen Vergangenheit völliger Autarkie ist brauchbar.

Das Ausmaß möglicher Selbstbestimmung hängt ursächlich mit der Unabhängigkeit des Einzelnen und der Gesellschaft von ökonomischen Zwängen zusammen. Weder der Traum einer fernen Zukunft völliger Befreiung von der Arbeit ("Überflussgesellschaft") noch jener von einer fernen Vergangenheit völliger Autarkie kleinster Einheiten sind dafür brauchbare Lösungsansätze. Ersterer endet in der unkritischen Übernahme der etablierten Arbeitsteilung. Letzterer läuft, neben eingeschränktem Realismus, Gefahr, die Bedeutung des technologischen Fortschritts für die notwendige Bedürfnissicherung in der Gesellschaft zu unterschätzen, ohne die Selbstbestimmung rasch zu neuem Egoismus und Partikularismus umschlagen kann.

Grundversorgung für alle Mitglieder der Gesellschaft ist eine soziale Verantwortung, die über den demokratischen Entscheidungsrechten einzelner steht. Auch jenseits des Kapitalismus kann diese quantitatives Wachstum und hohe Produktivität (Reduktion der notwendigen Arbeitszeit) als Ziele des Wirtschaftens mit den entsprechenden Leistungsindikatoren (Rentabilität) erfordern.

Folgende Einschränkungen sich jedoch nötig:

1. Die kapitalistischen Produktivkräfte sind nicht geprägt durch das Ziel der optimalen Bedürfnisbefriedigung, sondern der privaten Profitmaximierung. Zwar hat der Kapitalismus den Reichtum der Gesellschaft wie keine andere Formation vor ihm gesteigert, da Profitmaximierung, Arbeitsproduktivität und Güterausstoß in einem widersprüchlichen Zusammenhang zueinander stehen.

Das Profitkriterium führte jedoch zu

- einem ungleichmäßigen und unharmonischen Wachstum der Produktivkräfte.
- brachliegendem produktivem und intellektuellem Potenzial bis hin zur massiven Vernichtung von wirtschaftlichen Kapazitäten.
- künstlicher Schaffung von Konsumbedürfnissen und Entwicklung nicht nachhaltiger Produktivkräfte (Kriegsindustrie, Autoindustrie etc.).

2. Die Form eines neuen produktiven Apparats und wirtschaftspolitischer Indikatoren für den Sozialismus hängen ursächlich mit veränderten gesellschaftlichen Zielen zusammen. Der (industrielle) Produktivismus ist für solche alternativen Zielsetzungen und Erfolgskriterien vielfach ungeeignet (ökologische Nachhaltigkeit, Produktqualität, gesunde Arbeitsbedingungen, Kreativität, Innovation, Bildung, demokratische Partizipation). Während das Produktionsziel quantitatives Wachstum die Steigerung der Produktivität (Reduktion der notwendigen Arbeitszeit) erfordert (jedoch auch die Mobilisierung im Kapitalismus brachliegender Kapazitäten), bedarf es für andere Produktionsziele mehr einer Veränderung der Arbeit selbst (Arbeitsorganisation, Arbeitsteilung, Arbeit als soziale, kreativ-produktive Handlung) als deren perspektivische Aufhebung in "Freizeit".

"Ursprüngliche sozialistische Akkumulation" soll ein Übergangsstadium andeuten, in dem sich ein neuer produktiver Apparat entwickelt.

"Ursprüngliche sozialistische Akkumulation" soll ein Übergangsstadium andeuten, in dem sich ein neuer produktiver Apparat entwickelt, der den gesellschaftlichen Zielsetzungen einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft entgegenkommt. Jedes neue Experiment braucht "Anschubfinanzierung", Subventionen gegenüber routinierten Abläufen, um erfolgreich zu werden. Die Umleitung des Mehrwertes aus den kapitalistischen Sektoren der Wirtschaft in alternative Produktions- und Austauschstrukturen (Innovation und neue Technologien, Infrastruktur und neue ökonomische Reproduktionsräume) und deren Schutz vor dem Weltmarkt sind entscheidende Herausforderungen des Übergangs zu einer neuen sozioökonomischen Ordnung.

Venezuela ist ein extremes Beispiel kapitalistischer Ölökonomie. Neben Umweltzerstörung hat diese hochmoderne Produktivkraft eine übermäßig urbanisierte Gesellschaft geschaffen, deren nationale Produktion vom Import zerstört wurde. Es wird nicht die Erdölindustrie sein, die Venezuela zum Sozialismus führt, sondern ihre Überwindung. Punktuelle Ansätze eines alternativen Akkumulationsmodells finden sich im Konzept der "Sozialen Produktionsbetriebe" (EPS), die als produktiver Motor Anteile ihres Gewinns in die umliegende Region im Rahmen eines Plans integraler Entwicklung investieren. Gesellschaftlich wird die Entstehung solcher Wertschöpfungsketten über staatlich subventionierte Kreditvergabe, letztlich die Umleitung der Erdölprofite, gefördert. Dass im venezolanischen Prozess "ästhetische" Fragen der ökologischen Produktion, der Bildung während der Arbeitszeit, der kreativen Freizeit oder der alternativen Regionalentwicklung neben Fragen der diversifizierten Produktion und gesteigerten Wertschöpfung diskutiert werden, zeigt, dass diese neuen Bedürfnisse der Gesellschaft selbst in einem Land der Dritten Welt nicht mehr aus einem revolutionären Projekt weggedacht werden können.


Die Kommune-Assoziation

Zusammengefasst ergeben sich folgende zentrale Herausforderungen für eine Übergangsgesellschaft:

- Realisierung einer möglichst direkten politischen Basisdemokratie
- Überwindung traditioneller Arbeitsteilung in der Produktion
- Entwicklung von Produktivkräften für ein nach-kapitalistisches Akkumulations- und Reproduktionsmodell
- Kulturelle Veränderung der Bedürfnisstruktur und Hegemonie auf Basis einer sozialistischen Ethik.

Das vergangene Modell des Sozialismus konkretisierte sich über die staatliche Planwirtschaft, durch die die Gesellschaft jenseits der "blinden Gesetze des Marktes" ihre Macht über die Wirtschaft wiedergewinnen und die produktiven Möglichkeiten ihren kollektiven Zielen unterordnen könne. Diese Form nachkapitalistischer Organisation stellte sich jedoch nicht nur als ungeeignet heraus, Produktion und Konsum- sowie Investitionsbedürfnisse abzustimmen und die "krisenhafte Anarchie des Marktes" zu überwinden. Sie führte auch zu einer wuchernden Planungsbürokratie, die zu einer neuen Form der Entfremdung führte, anstatt der erhofften demokratischen Kontrolle der Gesellschaft über ihre eigene Geschichte.

Die nachkapitalistische Organisation stellte sich als ungeeignet heraus, Produktion und Konsum- sowie Investitionsbedürfnisse abzustimmen.

Marx' Idee der "Assoziation von Kommunen" bietet dagegen mehrfach Ansätze, eine selbstbestimmte Gesellschaft zu denken:

- Direkt-demokratische (Versammlungs-)Demokratie braucht kleine Einheiten und ist am ehesten in territorialen Kommunen denkbar.

- Kommunale Versammlungsdemokratie ermöglicht eine organisierte Zivilgesellschaft als Keimzelle der gesamtgesellschaftlichen Souveränität. Ihre konstituierende Initiativmacht kann die Abtrennung eines bürokratischen Staates vom sozialen Leben aufheben.

- Die Förderung kommunaler ökonomischer Reproduktion kann die gesamtgesellschaftliche Nutzung produktiver Potenziale verbessern, während ein sinnvolles Ausmaß an kommunaler Autonomie den Abbau ungleicher Hierarchien regionaler und internationaler Arbeitsteilung fördert und so produktive Kooperationsverhältnisse zwischen gleichberechtigten Einheiten entwickelt. Jenseits wirtschaftlicher Abhängigkeiten wird die Konstituierung von Gesellschaft durch freiwillige Assoziation beginnen.

- Die Kommune-Assoziation wird die gesamtgesellschaftliche Abstimmung von Entwicklungsplänen erleichtern und demokratisieren, während sie für die regionale und lokale Reproduktion flexibel Markt- und Planungsmechanismen anwenden kann.

Ansätze einer Kommuneidee finden sich in der im Verfassungsentwurf von 2007 geplanten Reorganisation Venezuelas um die Figur der direktdemokratischen Kommunalräte und deren Zusammenfassung in föderalen Städten als dezentrale Entwicklungspole. Die Idee scheint eine Demokratisierung der Gesellschaft über eine neue territoriale Organisation gewesen zu sein. Da die Verfassungsreform jedoch keine Mehrheit fand, ist die Umsetzung dieser Idee bisher nur lokal in Angriff genommen worden. Die Demokratisierung der gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsfindung in den (zentral)staatlichen und politischen Institutionen bleibt auch im venezolanischen Versuch bisher der schwierigste Aspekt, mit einem tendenziell konfliktbehafteten Verhältnis zwischen Volksmacht und politisch-ökonomischen Entscheidungsträgern (Bürokratie).


Anmerkung

1.) Angesichts der sicher vertiefenden Wirtschaftkrise Venezuelas seit Beginn der 1980er Jahre, setzte Präsident Carlos Andrés Pérez in seiner zweiten Amtszeit eine Reihe von neoliberalen Vorschlägen des internationalen Währungsfonds um, wie die Privatisierung von Staatsbetrieben, das Aufheben von Subventionen oder des staatlichen Schutzes von privaten Betrieben. Als Reaktion darauf kam es im Februar 1989 zu einer Volkserhebung, die Pérez durch das Militär niederschlagen ließ. Schätzungen gehen von bis zu 3.000 Toten aus. Diese Ereignisse läuteten das Ende des Nachkriegsregimes in Venezuela ein.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- Entfremdung im Realsozialismus: Zwei Arbeiterinnen in einer bulgarischen Fabrik.
- Steigerung der Produktivität war im Realsozialismus eine der Hauptdevisen.

Raute

THEORIE

Die Wette

Zu Wilhelm Langthalers "Befreiung weltweit"

Von Costanzo Preve

Wilhelm Langthalers Text stellt den Versuch dar, das Marxsche Denken einer radikalen Neuinterpretation zu unterziehen.


Es handelt sich bei Langthalers Text(1) um eine Pascal'sche Wette über die Aktualität des Marxschen Denkens.(2)

Marx ist heute ein radikal "inaktueller" Denker (vgl. C. Preve, Marx inattuale, Bollati Boringhieri, Torino 2004), eben weil er extrem "aktuell" ist. Wie auch in anderen Fällen erlaubt es die gute alte Dialektik zu verstehen, dass die Realität gegenüber dem Denken immer "umgekehrt" ist, wie ein Negativ zu einer Fotografie.

Es gibt heute einen akademischen Marxismus, der durchaus ein gewisses Niveau erreicht (siehe etwa die Zeitschriften "Actuel Marx", "Historical Materialism"). Doch der akademische Marxismus muss sich der universitären disziplinären Spaltung der intellektuellen Arbeit fügen, weshalb die Totalität des Marx'schen Denkens notwendigerweise in unterschiedliche Spezialisierungen wie Geschichte, Wirtschaft, Jus, Philosophie, Psychologie oder Soziologie unterteilt ist.

Es gibt heute auch einen sektiererischen Marxismus aktivistischer Organisationen, in dem die unterschiedlichen Interpretationen des Marxismus (z.B. die humanistische, ökonomische, stalinistische, eurokommunistische, trotzkistische, maoistische oder bordighistische) wie in einem Glashaus kultiviert werden, um die ideelle Geschlossenheit der Organisation zu erhalten. Doch dieser identitäre ideologische Marxismus kann sich dem zuvor angesprochenen akademischen nicht wirkungsvoll entgegenstellen. Der akademische und der sektiererische Marxismus sind nur zwei Gegenstücke, die miteinander essentiell verbunden sind, ja sie stehen zueinander gar in antithetischer-polarer Solidarität (Lukacs).


Interpretation nach klassischer Art

Langthalers Arbeit gehört weder dem akademischen noch dem sektiererischen Marxismus an. Sie ist hingegen nach klassischer Art aufgebaut, wie eine allgemeine Interpretation sowohl der ideellen Totalität wie auch der historisch-gesellschaftlichen sozialen Gesamtheit.

Langthalers grundlegende Thesen sind folgende:

1.) Marx ist kein toter Hund. Ihn für tot zu halten, ist Teil einer vorübergehenden historischen Konjunktur, die einerseits von der schmachvollen Auflösung des historischen Kommunismus des 20. Jahrhunderts (1917-1991) herrührt, andererseits vom provisorischen Sieg nicht so sehr eines undifferenzierten allgemeinen "Kapitalismus", als vielmehr eines absoluten neoliberalen Kapitalismus der von einem den Gesetzen entbundenen US-Imperium garantiert wird. Wir befinden uns in einem Zwischenstadium, in dem das Simulakrum(3) (Baudrillard, Debord) die Realität weitgehend ersetzt hat, im Inneren einer "flüssigen" (Baumann) und narzisstischen (Lasch) Gesellschaft, in dem der Medienzirkus die gesamte ideologische Kontrolle über die Gesellschaft inne hat (Chomsky).

2.) Doch um zu zeigen, dass Marx kein toter Hund ist, reicht es nicht, dies festzustellen. Es gilt, die Notwendigkeit einer radikalen theoretischen Neugründung seines theoretischen Paradigmas glaubhaft zu machen. Wir befinden uns in der vom großen amerikanischen Epistemologen Thomas Kuhn beschriebenen Situation einer Krise der Wissenschaft, der Unmöglichkeit, diese mit geringfügigen Korrekturen des alten Modells aufzuhalten sowie der Notwendigkeit, ein neues Modell durchgängig zu entwerfen und dieses zunehmend durchzusetzen.

Langthalers Buch ist ein Beispiel des Kuhnschen Modells der wissenschaftlichen Revolution. Die Notwendigkeit einer Kuhnschen Revolution war bereits vom großen amerikanischen Marxisten Paul Sweezy aufgezeigt worden.


Marxsches Früh- und Spätwerk

Im ersten Teil seines Werks rekonstruiert Langthaler den Weg des Marxschen Denkens und beweist, dass er den Unterschied zwischen dessen ursprünglichem Denken und dem späteren Marxismus - die genau zu unterscheiden sind - sehr gut kennt (vgl. C. Preve, Storia Critica del Marxismo. La città del Sole, Napoli 2006). Es handelt sich nicht um eine lehrbuchartige Zusammenfassung, sondern um eine kritische Interpretation, die den historischen Kontext diskutiert, den Übergang von der Kritik der Religion zur Kritik der Politik, die Theorie der Entfremdung, die Einschätzung der bürgerlichen Gesellschaft als nicht entwickelter Ausdruck der Allgemeininteressen, den Fehler die Gesellschaft durch das Prisma einer Art "allgemeines ökonomisches Gesetz" zu betrachten und schließlich die Akzeptanz der (bürgerlichen) Theorie des Fortschritts als hypostasiertes Konzept.

Wir finden in Marx' Werk zwei Komponenten: die Gründung einer historischen Konzeption genauso wie die Interpolation ahistorischer Konzeptionen.

Kurz, wir finden in Marx den Zusammenfluss von zwei dialektischen Komponenten: auf der einen Seite die Gründung einer historischen Konzeption der Geschichte; auf der anderen Seite die Interpolation einer parallelen ahistorischen Geschichtskonzeption und folglich ihrer Dehistorisierung. Langthalers Rekonstruktion des Marxschen Modells ist eine der besten und dialektischsten, die ich je gelesen habe.

Langthaler untersucht anschließend die Geschichte des Marxismus nach Marx, kurz des Jahrhunderts 1889 - 1989. Er bespricht v.a. die koloniale Frage, die Privilegierung des Fabriksproletariats als einzige revolutionäre Klasse, den chauvinistischen Nationalismus und den Faschismus als gesellschaftliche Klassenreaktion, die Natur des sogenannten "Realsozialismus" und schließlich die zunehmende historische Auflösung des Proletariats, nicht als ökonomisch-soziale Klasse (die natürlich nicht nur weiter fortbesteht, sondern auf Weltebene numerisch ihre Größe vor einem Jahrhundert bei weitem übertrifft), sondern als politisches antikapitalistisches und revolutionäres Subjekt.

Wir sehen uns so einer mutigen "materialistischen" Selbstinterpretation des Marxismus gegenüber, indirekt inspiriert von Althussers Diktum: "Wir müssen aufhören uns Geschichten zu erzählen".


Rolle der Religion

Langthalers Text entzieht sich so allen Kritiken am Marxismus, verstanden als Ideologie des Totalitarismus (Popper, Hannah Arendt), als laizistische Säkularisierung des religiösen Messianismus (Weber, Löwith), als großes Narrativ (Lyotard) und so weiter. Das ideologische Spektakel der aktuellen "Dekonstruktion von Marx" wird so radikal auf ein rationaleres kritisches Terrain verschoben.

Langthaler setzt sich schließlich mit der Religion auseinander. Er macht das auf eine völlig andere Weise als die höflichen und politisch korrekten Konversationen zwischen Habermas und Ratzinger über die Religion als "Sinnressource", die auch den Laien nützlich sei. In der heutigen Gesellschaft existiert Religion zweifellos, aber sie darf nicht nur dort gesucht werden, wo sie vermutet wird. Auf der einen Seite ist die kapitalistische Religion des wirtschaftlichen Fortschritts zu einer echten Zivilreligion geworden, die sich anmaßt, in letzter Instanz über die Rationalität auf der Welt urteilen zu können. Auf der anderen Seite findet sie sich in einer wirklich fundamentalistischen und intoleranten Interpretation der aufklärerischen Tradition, in einem Aufklärungsfundamentalismus. Und es ist heute nicht der so genannte westliche Rationalismus griechischen Ursprungs, sondern vielmehr dieser (Pseudo)Aufklärungsfundamentalismus, der das Verstehen von Phänomenen wie dem religiösen und politischen Islam verhindert.

Langthaler schwimmt auch hier gegen den Strom. Gleichzeitig nimmt er aber Themen bekannter und auch in akademischen Kreisen "anerkannter" politisch korrekter Autoren wie Adorno und Benjamin auf.

Langthaler kritisiert maßvoll, jedoch deutlich den sogenannten "prozeduralen Universalismus" von Habermas, ebenso Rortys "relativistischen Neopragmatismus". Er zeigt, dass diese "moderaten" Ansätze nicht in der Lage sind, sich neuen rassistischen und gefährlichen Weltanschauungen wie etwa Huntingtons Krieg der Kulturen überzeugend entgegen zu stellen. Und da heute der Krieg der Kulturen gegen den Islam in der westlichen Legitimationsideologie den "Krieg der Freiheit gegen den Kommunismus" weitgehend ersetzt hat, ist es leicht zu verstehen, dass, wenn wir uns tatsächlich der Huntington-Linie entgegenstellen wollen, weder Habermas' prozeduraler Universalismus ausreichend ist (doch mit Hegel und Marx kann der Universalismus kraft seiner Natur kein Prozeduralismus sein), noch Rortys liberaler und relativistischer Skeptizismus.


Universalismus auf neuer Grundlage

Schließlich zeigt Langthaler einen möglichen Weg hin zu einem Universalismus auf neuer Grundlage. An Bedeutung verloren hat die Idee, ihn nach prozeduralem Modell zu gründen (Kant, Weber, Habermas), ebenso wie jene auf Basis einer soziologischen Mystifizierung der Klasse der Arbeiter und Lohnabhängigen als einzigem revolutionären und emanzipatorischem Subjekt (Marx, aber v. a. der orthodoxe und auch häretische Marxismus, ohne dass hier substanzielle Unterschiede zwischen Stalin und Trotzki, Rosa Luxemburg und Gramsci etc. auszumachen wären). Langthaler ist der Ansicht, dass es derzeit außerhalb der Konnotation des aktuellen globalen Machtsystems keinen anderen Weg als den einer "negativen Universalie" gibt. Es handelt sich hierbei nicht einfach um eine Variante von Adornos bekannter "negativer Dialektik". Von der Kritik an dieser negativen Universalie (die an die idealistische Kritik Fichtes am so genannten "Nicht-Ich" und die Kritik von Marx an der globalen negativen Universalie des Warenfetischismus erinnert) ausgehend, arbeitet Langthaler dialektisch einige positive Bestimmungen heraus: die Selbstbestimmung der Völker, der Nationen und der unterdrückten Klassen; die gemeinschaftliche Gesellschaftlichkeit der Solidarität, der Hoffnung und des Willens.

Langthaler zeigt einen Weg hin zu einem Universalismus auf neuer Grundlage: die Selbstbestimmung der Völker und unterdrückten Klassen.

Tatsächlich handelt es sich bei Langthalers Arbeit um einen komplexen philosophischen Vorschlag, der folgendermaßen zusammengefasst werden kann:

1) eine globale philosophische Interpretation, laut der zunächst, anstatt a priori von einigen "westlichen" und/oder traditionellen marxistischen Universalismen (Habermas' Prozeduralismus, Rortys skeptischer Relativismus, Huntingtons und Fallacis arroganter und aggressiver "Ozidentalismus", die soziologisch-messianische Heiligsprechung der Arbeiterklasse etc.) auszugehen, eine negative Universalie festgelegt wird (das globale System des Kapitals mit seiner Theologie des humanitären Interventionismus und seiner ungleichen Verwaltung der natürlichen und ökonomischen Ressourcen) und schließlich mithilfe einer emanzipatorischen Praxis ein Ensemble positiver gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Bestimmungen (siehe oben) herausgearbeitet wird;

2) eine Interpretation von Marx als widersprüchlichem Denker, in dessen Werk emanzipatorische Elemente mit ideologischen Elementen eng miteinander verwoben sind. Das emanzipatorische Element überwiegt jedoch gegenüber dem ideologischen, weshalb wir sagen können, dass Marx nicht tot ist, sondern auch heute ein wesentlicher Bezugspunkt bleibt.

3) ein antiimperialistisches Element, weshalb der Rückgriff auf das Denken von Marx nicht den Weg des Metropolen-Ökonomismus einschlagen darf (dessen letzte Version die technologische Utopie von Negri/Hardt von inexistenten Multituden im Kampf gegen ein inexistentes deterritorialisiertes und von seinen imperialistischen Merkmalen befreites Imperium ist), sondern zunächst die Verteidigung der Völker, der Nationen, der Staaten und der unterdrückten Klassen ins Zentrum der Überlegungen stellen muss.

Übersetzt aus dem Italienischen von Margarethe Berger


Anmerkungen

1.) Wilhelm Langthaler: Befreiung weltweit. Revolutionäre Subjekte jenseits der Arbeiterklasse. Wege aus dem "Krieg der Kulturen". Wien: Promedia Verlag, 2010.

2.) Blaise Pascal hatte mit seiner Wette über die Existenz Gottes nicht einen weiteren Gottesbeweis geliefert, sondern den Glauben zweckrational argumentiert. ( Anm. d. Red.)

3.) Als Simulakrum wird in der Philosophie ein wirkliches oder vorgestelltes Bild verstanden, das mit etwas oder jemand anderem verwandt ist oder ähnlich sein kann. (Anm. d. Red.)


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

- Karl Marx - toter Hund oder schlafender Löwe, diese Frage bleibt weiter aktuell.

Raute

AKTIVISMUS

Ein-Staaten-Lösung gewinnt an Boden

Die internationale Konferenz in Haifa inmitten des Zerfalls des Linkszionismus

Von Wilhelm Langthaler

Vom 28. bis 30. Mai 2010 fand in Haifa die "Zweite Konferenz für einen säkularen demokratischen Staat im historischen Palästina und das Recht auf Rückkehr" statt.


Sowohl hinsichtlich der Zahl als auch der politischen Breite der Teilnehmer/innen kann von einem großen Schritt nach vorne gesprochen werden. Das offensichtliche Scheitern der Zwei-Staaten-Formel, sichtbar durch die ungeschminkte Fortsetzung der zionistischen Landnahme, nimmt dem links angestrichenen Zionismus jede Glaubwürdigkeit. Immer mehr fortschrittliche Jüdinnen und Juden in Israel und in aller Welt freunden sich mit der Perspektive eines demokratischen Staates nicht nur für Juden, sondern auch für die Kolonisierten an.

Insgesamt, über den dreitägigen Verlauf der Tagung verteilt, beteiligten sich mehr als Tausend Menschen an der Konferenz. Von der arabischen Linken war alles vertreten, was Rang und Namen hat. Dabei muss man berücksichtigen, dass sich die arabische politische Landschaft in den 1948 (heute Israel) und 1967 (Westjordanland und Gazastreifen) besetzten Gebieten erheblich voneinander unterscheidet. Zudem kann eine Zuordnung zu den palästinensischen Organisationen der 1967 besetzten Gebiete, die allesamt als Terroristen gelten, zu langjährigen Gefängnisstrafen führen.

Auf der Konferenz sprachen Omar Barghuti, Koordinator der internationalen Kampagne für "Investitionsstopp, Boykott und Sanktionen" (BDS) sowie Jamal Jumaa von Stop the Wall. Heidar Eid, eine von allen Fraktionen anerkannte Persönlichkeit und Koordinator der Bewegung gegen die Blockade des Gazastreifens, und Abd el Latif Gheith, Chef der Gefangenenhilfsorganisation "Adameer" aus Jerusalem, wurden per Videoübertragung zugeschalten - um nur einige wenige zu nennen. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Vorsitzende der PFLP, Ahmed Saadat, schickte eine Grußadresse. Angestoßen hatte die Initiative die Organisation "Abnaa el Balad", auf Deutsch "Kinder des Landes" oder auch "Einheimische", die nach wie vor den Motor des Komitees "Für einen säkularen demokratischen Staat im historischen Palästina und das Recht auf Rückkehr" darstellt. An dem Komitee beteiligen sich auch zahlreiche jüdische Exponenten, wie die Professoren Ilan Pappe und Yehuda Kupfermann oder der langjährige linke Aktivist Eli Aminov. Die internationale Beteiligung war ebenfalls beachtlich - es waren alle fünf Kontinente vertreten.

Zunächst drängt sich die Frage auf, wie denn in Israel überhaupt eine solche Konferenz stattfinden kann? Neben der genannten allgemeinen Tatsache, dass sich der Linkszionismus in Auflösung befindet, kommt das Spezifikum Haifa hinzu. Haifa ist die einzige Metropole Israels mit einer artikulierten arabischen Minderheit. Die Segregation ist dort viel weniger radikal als anderswo in Israel. Es gibt sogar gemischte Cafés, wenn auch nur wenige. Haifa wurde so in den letzten Jahren zum politischen Zentrum der Palästinenser/innen innerhalb Israels. Es war daher kein Zufall, dass die Konferenz ebendort ausgetragen wurde.


Krise des Linkszionismus

Im Gegensatz zu den klassischen Kolonialismen stützte sich der Zionismus immer auf einen breiten linken Flügel, der über Jahrzehnte sogar dominierte. Das hat Gründe in der Geschichte, mit denen wir uns an dieser Stelle nicht weiter auseinandersetzen wollen. Mittels des systematischen Missbrauchs des Holocaust gab sich der Zionismus einen antifaschistischen Anstrich, der ihm im Westen weitgehend auch abgenommen wurde.

Im Gegensatz zum klassischen Kolonialismen stützte sich der Zionismus immer auf einen breiten linken Flügel, der über Jahrzehnte dominierte.

Der Lackmus-Test kam mit der Wende 1989/91 und der darauf folgenden neuen Weltordnung von Amerikas Gnaden. Fast überall auf der Welt wurden teils langjährige und gewalttätige Konflikte zwischen den prowestlichen Eliten und linken Befreiungsbewegungen durch formale Integration bei gleichzeitiger inhaltlicher Kapitulation gelöst, sei das nun in Mittelamerika oder auch in Südafrika. Das Abkommen von Oslo entsprach genau diesem Modell. Die Palästinenserführung war angesichts ihrer Schwäche zu jeder Schandtat bereit.

Doch Israel wollte nicht. Nicht nur legte sich die Rechte quer, veranschaulicht durch das Attentat auf Jitzchak Rabin 1995; sondern letztlich auch die Linke, die den Palästinenser/innen maximal einen Bantustan-Status zugestehen wollte. Einen Palästinenser-Staat, der diesen Namen auch verdienen würde, wollte niemand. Das Abkommen von Oslo war aber das Baby des Linkszionismus. In dem Maße, in dem er sein eigenes Projekt untergrub, entzog er sich selbst seine Existenzberechtigung. So ist jene Partei, die mindestens ein halbes Jahrhundert die Geschicke Israels lenkte, die Arbeitspartei, heute zu einer Randerscheinung degradiert. Die Peace-Now-Bewegung, die im Zuge des Libanon-Krieges entstand und als Fahnenträger von Oslo fungierte, ist heute nur mehr ein Schatten ihrer selbst.


Postzionismus

Die Auflösungsbewegung erfolgt in zwei entgegengesetzte Richtungen: Einerseits hin zur nun völlig dominanten Rechten, die in der Substanz den Palästinensern als kollektive Entität das Existenzrecht abspricht. Andererseits gibt es Anzeichen eines Postzionismus, der die zentrale Idee eines exklusiven jüdischen Staates in Frage stellt und seinen organisch rassistischen Charakter zunehmend wahrnimmt. Diese Bewegung steht noch ganz an ihren Anfängen. Erste Vorboten waren die "neuen Historiker", die den Gründungsmythos Israels zerpflügten und historisch nachwiesen, dass der Staat auf Vertreibung, Massaker und Mord an den Palästinenser/innen aufgebaut ist. Für die meisten ihrer Vertreter führte das nicht zum Bruch mit dem Zionismus, sondern direkt zum Zynismus. Benny Morris beispielsweise fordert die nukleare Vernichtung des Iran. Ilan Pappe, einer der Exponenten der Haifa-Konferenz, zog hingegen die logischen Schlussfolgerungen und spricht sich heute offen für einen gemeinsamen demokratischen Staat mit den Palästinenser/innen aus.

Noch vor nicht allzu langer Zeit sah sich Pappe angesichts der Aggression gegen seine Person und seine Familie gezwungen, Israel zu verlassen. Heute hat sich die Situation gewandelt. An den Universitäten finden Diskussionen zum Thema statt und auch Lehrpersonal wagt zunehmend, Position zu beziehen, berichtet der Sozialwissenschaftler und Aktivist Ronnen Ben-Arie. Die radikalzionistische Webseite isracampus.org.il führt eine lange Liste all jener Akademiker/innen, die sich schuldig gemacht haben, die zionistischen Dogmen anzutasten.

Emblematisch ist die Geschichte von Tali Fahima, einer jungen jüdischen Frau mit algerischen Wurzeln, die als Likud-Unterstützerin begann. Ihre Abwendung vom Zionismus führte sie schließlich in das Flüchtlingslager Jenin, wo sie sich als menschlicher Schutzschild für den palästinensischen Kommandanten der Al-Aqsa-Brigaden, Zakaria Zubeidi, betätigte und ihm so das Leben rettete. Sie wurde wegen Unterstützung des Terrorismus zu drei Jahren Haft verurteilt. Heute versteht sie sich als Palästinenserin und lebt in einem arabischen Dorf.

Fahima bleibt natürlich eine Ausnahme, oder besser die Spitze des Eisbergs. Die Tendenz lässt sich anhand der neuen Bewegungen feststellen. "Zochrot" bedeutet auf Hebräisch "Erinnerung" und bezieht sich auf die Naqba, die Vertreibung der Palästinenser im Zuge der Gründung Israels. Diese Initiative ist eine direkte Antwort auf das offizielle Holocaust-Gedenken, das zur Legitimation Israels gedeutet wird. Der Gründer von Zochrot, Eitan Bronstein, sowie einige andere Aktivist/innen der Gruppe nahmen an der Haifa-Konferenz teil. Zahlenmäßig noch bedeutender sind die "Anarchisten gegen die Mauer", die Israel Apartheid vorwerfen. Einer ihrer Aktivisten, der Mathematiker Kobi Snitz, war ebenfalls Teilnehmer der Konferenz.

Tatsächlich waren die Möglichkeiten, den Postzionismus in einen bewussten Antizionismus für einen gemeinsamen antikolonialen Staat zu organisieren, noch nie so groß.

Gabriel Ash vom "Internationalen Jüdischen Antizionistischen Netzwerk" (IJAN) aus der Schweiz argumentierte, dass er dem Zionismus zwar jede Legitimität abspräche, er aber die Entscheidung über die Lösung des Problems den Betroffenen vor Ort nicht vorschreiben wolle. Ähnlich hatte Michel Warschawski vom "Alternative Information Center" über Jahre argumentiert. Er meinte, nachdem Arafat der legitime Vertreter der unterdrückten Palästinenser/innen sei, könne man nicht über dessen Position hinausgehen. Umso bedeutungsvoller ist seine Teilnahme an der Konferenz zu bewerten.

Diese signifikante Beteiligung von jüdischen Organisationen, Persönlichkeiten und Aktivist/innen nicht nur an der Konferenz, sondern auch am permanenten Vorbereitungskomitee, ist ein tatsächlicher Durchbruch. Dennoch meinte Warschawski im Gespräch am Rande, dass das Potenzial noch viel größer sei. Tatsächlich waren die Möglichkeiten gerade im jüdischen Milieu, den sich entwickelnden Postzionismus in einen bewussten Antizionismus für einen gemeinsamen antikolonialen Staat zu organisieren, noch nie so groß wie heute.


Säkularismus als Bedingung?

Die Konferenz selbst diente angesichts der Zahl und Qualität der Teilnehmer/innen zuerst einmal dazu, die Fahne für den gemeinsamen demokratischen Staat aufzupflanzen. Wichtig war jedoch die Spezifizierung, dass Demokratie immer auch das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen beinhalten muss, was sich auch im Titel niederschlug. Die Debatte über die möglichen Ausgestaltungen der allgemeinen Formel nach einem demokratischen Staat wurde kaum geführt, man wollte vor allem Einheit zeigen. Ilan Pappe meinte dazu, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen der politischen Gärung notwendig sei, alle Varianten einzubeziehen, und die Diskussion erst ganz am Anfang stehe. Eli Aminov, ebenfalls ein Mitglied des Komitees für einen säkularen demokratischen Staat, attackierte als Einziger die Idee eines binationalen Staates. Dieser berge die Gefahr in sich, dass die jüdische kollektive Entität Territorium und Besitz weiterhin allein beanspruche. Er verwies in diesem Zusammenhang auf das südafrikanische Beispiel. Wenn unter binationalem Staat eine solche Lösung gemeint ist, mag er Recht haben, doch zwingend scheint das aus dem Begriff selbst nicht hervorzugehen. Wir lesen es indes als Hinweis, dass sich solche beschönigenden Verkleidungen der Zwei-Staaten-Lösung im Umlauf befinden.

Die eigentliche Diskussion begann - wie so oft auf politischen Konferenzen - am Treffen der beteiligten Organisationen und Aktivist/innen am Schluss. Unter anderen vom "Antiimperialistischen Lager" wurde der Vorschlag gemacht, den Titel der Konferenz zu vereinfachen und sich auf einen demokratischen Staat zu beschränken. Erklärtes politisches Ziel dieser Intervention war es, durch die Streichung des Zusatzes "säkular" die Plattform auf eine breitere Basis zu stellen und die Beteiligung der bis dato abwesenden islamischen Organisationen zu ermöglichen.

Der Begriff Demokratie enthält in gewisser Weise das Konzept des Säkularismus, insofern als Demokratie auch wechselseitige Toleranz gegenüber den anderen bedeutet - das heißt sowohl der Säkularen gegenüber den Religiösen als auch umgekehrt. Die Einschränkung auf säkular verengt, denn die meisten politischen Muslime würden zwar einem demokratischen Staat zustimmen, doch fühlen sie sich vom Laizismus bedroht. Das Beispiel der Türkei gibt ihnen Recht. Hinzu kommt der Bedeutungswandel des Begriffs in Europa, wo er zur Herrschaftsideologie wurde und wo unter seiner Flagge heute die islamophobe Mobilisierung läuft.

Auf der anderen Seite gibt es im linken arabischen Umfeld innerhalb des israelischen Staates, das den hauptsächliche Träger der Konferenz und der Bewegung für einen demokratischen Staat darstellt, die starke Angst, angesichts der Übermacht der islamischen Bewegung unterzugehen. Daher der verständliche Versuch, die eigene, säkulare Identität auf Biegen und Brechen zu verteidigen. Vergessen wird dabei allerdings nicht nur, dass es darum geht, ein möglichst breites und damit schlagkräftiges Bündnis zu entwickeln und nicht sich zu verkleiden, sondern dass die Forderung nach Demokratie linkes Urgestein ist und sich Muslime damit in gewissem Sinn bereits auf unser Terrain begeben.


Nächste Schritte

Allen Beteiligten sind sich dessen bewusst, dass die Losung nach einem demokratischen Staat große Möglichkeiten eröffnet. Das gilt auf allen Ebenen, sowohl was die arabische Welt und das jüdische Milieu als auch die internationale Bewegung betrifft. Die imperialistischen Mächte, die gerade eben noch Demokratie in den Irak exportieren wollten, tun sich schwer, die Forderung abzuweisen. Sie haben alle Mühe die Tatsache zu verschleiern, dass für sie Araber Menschen zweiter Klasse mit weniger Rechten sind.

Die imperialistischen Mächte haben alle Mühe, die Tatsache zu verschleiern, dass für sie Araber Menschen zweiter Klasse sind.

Man kam überein, im kommenden Jahr eine weitere Konferenz (diesmal nicht in Israel, um die Beteiligung aus anderen arabischen und islamischen Ländern zu ermöglichen) zu organisieren und bis dahin die Plattform sowohl politisch als auch hinsichtlich der Partizipation zu erweitern. Das "Antiimperialistische Lager" schlug fünf inhaltliche Schwerpunkte vor:

1) eine tiefere Betrachtung der globalen Krise des Zionismus
2) mögliche Varianten der Ausgestaltung eines demokratischen Staates
3) Fortsetzung der Debatte um den Säkularismus
4) Dialog mit den möglichen islamischen Partnern
5) Beispiel Südafrika: kein Ende der Apartheid ohne soziale Gerechtigkeit

Das Organisationskomitee wurde um internationale Aktivist/innen erweitert, wie beispielsweise die Grüne Partei aus den USA, die südafrikanische jüdische Aktivistin Linda Brayer und auch das Antiimperialistische Lager. Als Exekutive wurde Abnaa el Balad bestätigt.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

- Eine Tanz-Performance während der Konferenz in Haifa im Mai.

Raute

AKTIVISMUS

SUMUD kehrt zurück

Solidarität ist kreativ, konstruktiv und politisch

Von Mohammad Aburous

Im August 2009 besuchte eine internationale Jugendbrigade das palästinensische Flüchtlingslager Ein El-Hilweh. Im Sommer 2010 wird die Solidaritätsarbeit fortgesetzt.


Der Einsatz vor einem Jahr war Teil des gemeinsamen Projektes der europäischen Freiwilligenorganisation SUMUD (arabisch für "Standhaftigkeit") mit der palästinensisch-libanesischen Organisation Nashet. Junge Palästinenser/innen und Europäer/innen renovierten gemeinsam ein Gebäude, das im Zuge der aufeinanderfolgenden Belagerungen und Bombardierungen des Lagers zerstört worden war. Das wiederhergestellte Gebäude wurde ein vielseitig nutzbares soziales Zentrum, ein Ort des Austauschs, des Erinnerns und des zivilen Engagements, ein Treffpunkt für die Jugend im palästinensischen Flüchtlingslager: Das Kulturzentrum trägt nun den Namen SUMUD.

In diesem Jahr beginnt die zweite Phase: Eine neue Gruppe Freiwilliger wird das Lager besuchen. Mit Hilfe von Spenden sollen weitere Restaurationsarbeiten und die Möblierung des Hauses in Angriff genommen werden. Das Ziel ist aber noch höher gesteckt: Neben der Freiwilligenarbeit im Gebäude wird es einen Film-Workshop für palästinensische und libanesische Jugendliche sowie die internationalen Freiwilligen geben, die eine Videodokumentation über das Lager und das Projekt drehen werden.

Mit Hilfe von gesammelten Spenden sollen weitere Restaurationsarbeiten und die Möblierung des Hauses im Lager in Angriff genommen werden.

Das Zentrum wird mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet, um ein kleines, effizientes Medienzentrum zu werden, das es der palästinensischen Jugend im Lager erlaubt, einen Weg zur Kommunikation mit der Außenwelt zu finden. Die Jugendlichen wollen über ihr alltägliches Leid, ihre sozialen und politischen Forderungen wie auch ihre Verbundenheit mit dem Recht auf Rückkehr nach Palästina und dem Führen eines würdevollen Lebens zu berichten.

Eine Delegation von internationalen Freiwilligen wird die gesammelten Spenden nutzen, um im zweiten Schritt die Einrichtung und Ausstattung des SUMUD-Kulturzentrums in Ein El-Hilweh zu vervollständigen. Zusätzlich werden Videokameras und Computer für das Zentrum gekauft: Sie dienen als Trainingsmittel während der zweiwöchigen Anwesenheit der Freiwilligen und werden anschließend dem Zentrum für die weitere redaktionelle Tätigkeit überlassen.


Video-Workshop "Wir wollen leben!"

In den beiden Wochen werden zwei Gruppen von jungen Libanes/innen und Palästinenser/innen die Möglichkeit haben, das Erstellen von kurzen Filmen über ihren Alltag in und um das Lager herum zu erlernen. Die Getthoisierung des Lagers soll durchbrochen werden. Gleichzeitig haben die Jugendlichen die Chance, ihren Horizont zu erweitern - und die libanesische Jugend in der Stadt Sidon über das Leben im wenige Kilometer entfernten Lager zu informieren.

Außerdem wird es ein Training für die internationalen Teilnehmer/innen geben. Ihr Ziel wird es sein, eine Dokumentation über das Projekt zu produzieren. Die Trainerin ist Arab Lotfi, eine bekannte libanesische Filmregisseurin und politische Aktivistin. Sie hat mehrere politische und kulturelle Videodokumentationen über den Widerstand und das kulturelle Leben in Palästina, im Libanon und anderen arabischen Ländern gedreht. Ihr Film "A Short Visit" (1999) ist eine Dokumentation über den Lebensalltag in Ein el-Hilweh und das Naji Ali Jugendzentrum.

Die Video Workshops:

- Der Workshop dauert mindestens eine Woche, die Teilnehmeranzahl sollte nicht über 15 Personen liegen: Bei mehr Teilnehmern wird es zwei Workshops geben. Der Workshop wird im SUMUD-Zentrum in Ein El-Hilweh und im Zentrum für Kultur und Literatur in Sidon mit Teilnehmern von beiden Zentren statt finden.

- Für die arabische Jugend wird der Workshop auf Arabisch gehalten, für die internationalen Teilnehmer gibt es eine Arabisch-Englische Übersetzung, während der Workshop für die internationalen Teilnehmer auf Englisch sein wird. In wenigen Tagen werden die Teilnehmer Wege zur Ideenfindung für Kurzfilme finden, wie die Ideen in kurze Sequenzen umgewandelt werden und mit welchen Techniken die Kamera eingesetzt werden kann. Die Kurzvideos werden in der Workshopzeit fertig gestellt werden.

- Am letzten Tag werden die Ein-Minuten-Filme im Zentrum in Ein El-Hilweh während der Abschlussveranstaltung 2010 gezeigt. Die Dokumentation der internationalen Teilnehmer sollte die Schlusszeremonie enthalten und wird anschließend im Zentrum produziert und gezeigt. In Europa wird der Film im Rahmen von Solidaritätsveranstaltungen zu sehen sein.


Einrichtung des SUMUD-Zentrums

Dieser Teil des Projekts setzt das Projekt 2009 fort und hat die Ausstattung des Gebäudes, in dem das kulturelle Zentrum im letzten Jahr von der Brigade eingerichtet wurde, zum Ziel. Internationale Freiwillige und Nashet-Aktivisten werden die Aufgabe haben, die gekauften und gespendeten Möbel in Stand zu setzen. Dabei werden Fachleute vor Ort helfen, das Projekt zu entwickeln und unter technischen Aspekten anzuleiten, um zu klären: Welche Möbel sind am nötigsten, welche werden selbst hergestellt und wo werden sie im Zentrum eingesetzt; welche Aspekte der Handarbeit können von den Freiwilligen während ihres Aufenthalts bewältigt werden, auch unter dem Aspekt, dass sie vermutlich keine Erfahrung haben, und mit besonderer Beachtung der Sicherheit der Arbeiter. An den Vormittagen während des Aufenthaltes soll gearbeitet werden, einige für Exkursionen reservierte Tage ausgenommen.

Neben dem Videoworkshop und der Freiwilligenarbeit im Gebäude sind politische Solidaritätsarbeit und soziale Aktivitäten wesentliche Bestandteile der Sumud-Brigade.

Wir wollen auch ein Computernetzwerk einrichten und einen Multimedia-Raum ermöglichen: Eines der Ziele des Jugendzentrums ist die Verbindung mit der Welt, um die Wahrheit über das Leid von Millionen palästinensischer Flüchtlinge zu zeigen und zu erklären, was ihnen das unantastbare Recht auf Rückkehr nach Palästina gibt. Um das Netzwerk einzurichten sollten zusätzlich zu einem guten Arbeitsplatz Computer, von unseren Spenden gekauft, einige ungebrauchte Computer (mindestens drei oder vier) von Personen oder Institutionen gesammelt werden um als Terminal genutzt zu werden.

Alternativ können kaputte Rechner und funktionierende Einzelteile von einigen Freiwilligen mitgebracht und eingesetzt werden. Aufgrund der hohen Transportkosten sollten der Kauf und das Sammeln im Libanon stattfinden.


Soziales und politisches Programm

Neben dem Videoworkshop und der Freiwilligenarbeit im Gebäude sind politische Solidaritätsarbeit und soziale Aktivitäten wesentliche Bestandteile des Sumud-Einsatzes 2010.

Die Teilnehmer werden die libanesische und palästinensische politische Realität vor Ort kennenlernen. Der Besuch symbolischer Orte und Treffen mit prominenten Repräsentanten von politischen Parteien sind vorgesehen:

- Sabra-Shatila-Lager: Shatila ist das größte palästinensische Flüchtlingslager nahe Beirut und ein wichtiger Ort des palästinensischen Widerstands. Das Lager ist durch die Massaker nach der israelischen Invasion in den Libanon 1982 bekannt geworden, als über 3000 Menschen von faschistischen christlichen Milizen und der israelischen Armee ermordet wurden.

- Das Lager umfasst auch den Friedhof der palästinensischen Märtyrer, der einzige nicht-konfessionelle Friedhof in der arabischen Welt, auf dem politisch aktive muslimische, christliche und jüdische Märtyrer begraben sind.

- Sidon, Tyrus und Südlibanon: Die zwei größeren Städte im Südlibanon, Sidon und Tyrus, werden besucht. Neben Stadttouren wird eine Exkursion in die südliche Grenzzone organisiert, in der die wichtigsten Kampfplätze des Krieges von 2006 liegen.

- Flüchtlingslager Nahr El-Bared, das vollständig von der libanesischen Armee zerstört wurde.

Während ihrer Anwesenheit werden die internationalen Freiwilligen folgende Aktivisten treffen: Repräsentanten von politischen Fraktionen im Lager; Repräsentanten von palästinensischen und libanesischen Widerstandsorganisationen und der Zivilgesellschaft im Südlibanon; lokale libanesische Autoritäten; Repräsentanten der libanesischen Presse während einer Pressekonferenz.


Wir brauchen ein paar Euros mehr

Der Wiederaufbau des Gebäudes, das als politisches und kulturelles Zentrum genutzt wird und offen für alle jungen Menschen im Lager sein soll, kostet (zusätzlich zu den fast drei Wochen Arbeit von rund zwanzig Freiwilligen, die ihre Reise, Unterbringung und Ausgaben selbst tragen) 10.000 EUR, auch das Mobiliar und die Ausstattung des renovierten Gebäudes sind teuer.

SUMUD ist keine NGO und wird von keiner Regierung subventioniert, auch nicht von der Europäischen Union oder der UNO. Das Geld, das wir für dieses Projekt nutzen, ist sauber, es soll nicht von denselben Institutionen kommen, welche die Aggression gegen das palästinensische Volk unterstützen oder mittragen.

Wir haben bereits viel erreicht, aber wir können die benötigte Summe, um das Zentrum einsatzfähig zu machen, nur durch die Unterstützung vieler Menschen erreichen.

Wer spenden will und für weitere Informationen: www.sumud.org


INFO

Das Lager Ein El-Hilweh

Das Lager ist Symbol für den Widerstand des palästinensischen Volkes, da es an vordersten Front gegen die Besatzung Israels kämpfte. Während des ersten Libanon-Krieges 1982 leistete es Widerstand gegen die israelischen Streitkräfte, das Lager wurde Opfer schwerer Bombardierungen. Mit geschätzten 70.000 Einwohnern gehört es zu den größten Flüchtlingslagern im Libanon. Auch der palästinensische Cartoonist Naji al-Ali lebte 1948 in Ein El-Hilweh.


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

- Sumud baut ein Jugendzentrum im palästinensischen Flüchtlingslager wieder auf.
- Neben Aufbauarbeiten wird dieses Jahr auch eine Videodokumentation erarbeitet.

Raute

KULTUR

Filmkritik: Shamir, Yoav (Regie): Defamation (Hashmatsa), Dokumentation, Dänemark/Israel/USA/Österreich 2009.

Defamation" ist für den besten europäischen Dokumentarfilm nominiert, wurde in den österreichischen TV-Nachrichten ZiB 2 kurz vorgestellt und auch von Österreich mitfinanziert (Film Institut und ORF).

Kinostart war der 22. Jänner 2010 in nur einem Kino in Wien, dem Künstlerhauskino. Wenn man sich den Film erst in der zweiten Woche anschauen wollte, war die Auswahl noch eingeschränkter - ein Nachmittagstermin (Beginnzeit 16.15) in einem Kino! Hatte man keine Zeitung zur Verfügung sondern nur das Falter-Kinoprogramm im Internet, konnte man glauben, dass der Film gar nicht mehr gezeigt würde - nach nur einer Woche Spielzeit! Nichts stand auf der Seite "Empfehlungen", wo doch hier sonst jeder Film abseits des Mainstreams empfohlen wird. Auf der Seite "alle Filme" unter D - nichts. Aber der Filmtitel ist doch "Defamation", so stand es zumindest in der Tageszeitung Der Standard und im Wochenmagazin Profil. Vorgestellt wurde der Film (steckt ja auch österreichisches Geld drin) und dann wird er nur eine Woche gezeigt? Im Falter-Kinoprogramm findet man ihn dann doch, wenn man unter Hashmatsa nachschaut.

Was hat es mit einem Film auf sich, der von Österreich mitfinanziert wurde und sogar preisverdächtig ist, und dann so versteckt wird? Hat man nicht gewusst, was man da fördert? Wahrscheinlich nicht. Es wurde nämlich ein notwendiger und guter Film produziert, dessen Inhalt in Österreich jedoch politisch gar nicht willkommen ist - und so erklären sich auch die Schwierigkeiten, den Film überhaupt sehen zu können.

Der israelische Regisseur Yoav Shamir sagt über seinen Film: "Antisemitismus ist ein mächtiges Wort und die ultimative heilige Kuh der Juden. Auch wenn ich diese Kuh nicht zur Schlachtbank geführt habe, selbst die heiligste Kuh braucht hier und da ein Aufrütteln."

Um den Antisemitismus heute zu analysieren, begibt sich Yoav Shamir in seinem Dokumentarfilm zu verschiedenen Schauplätzen. In Israel erfährt er, dass der Antisemitismus heute die größte Bedrohung ist - überall in der Welt. Für dieses Bild sorgen die Medien, die wiederum von der Anti-Defamation League mit Sitz in den USA versorgt werden. Für deren führende Persönlichkeit, Abraham Foxman, ist es wie ein Naturgesetz, dass der Antisemitismus heute wie schon immer die größte Bedrohung für alle Juden und nun auch für Israel ist, dass er deshalb immer und überall als solcher aufgezeigt werden muss und dass Antizionismus per se Antisemitismus ist. Foxman macht weltweit PR, um dieses Bedrohungsszenario am Leben zu erhalten. Shamir gelingt es kaum, aus der Fülle der gesammelten Daten der ADL über antisemitische Übergriffe in den USA einen wirklich brauchbaren Fall für den Film aufzutreiben.

Die wohl stärkste Seite des Films, der sonst stellenweise - etwas anklingend an Michael Moores Stil - der beklemmenden Thematik eine gewisse Leichtigkeit durch Humor gibt (was durchaus nicht negativ ist), ist die Begleitung einer Gruppe israelischer Jugendlicher nach Auschwitz, die wie zehntausende andere dieses Programm absolvieren. Hier geht es nicht primär um das Gedenken des Holocaust, es geht um Gehirnwäsche. Mit der schon vorher erfolgten Indoktrination, dass die ganze Welt die Juden und damit Israel hasst, dass Antisemitismus ihr Schicksal ist, fahren diese Jugendlichen ins Ausland, begleitet von Sicherheitspersonal, damit es nicht zu antisemitischen Übergriffen kommt. Der Film zeigt hier eindrücklich, wie eine Phobie - alle hassen uns erzeugt wird, die katastrophale Folgen hat: ein Israel, das den Palästinensern das Menschenrecht abspricht, das dabei internationale Duldung und Unterstützung bekommt und seine Kinder so indoktriniert, dass die glauben müssen, das sei gut so, damit sie überleben können.

Yoav Shamir begegnet seinen Protagonisten mit Respekt, seien es die israelischen Jugendlichen oder Abraham Foxman, lässt sie alle für sich sprechen und den Zuseher selbst urteilen. Dass ihm das bei Norman Finkelstein nicht gelungen ist, ist schade, denn auch er hätte ein Gespräch auf Augenhöhe verdient.

Insgesamt hat Shamir mit diesem Film an der "ultimativ heiligen Kuh der Juden" (Zitat; siehe oben) ordentlich gerüttelt und passt deshalb so gar nicht in die offizielle oder auch alternative Kinolandschaft Österreichs.

Elisabeth Lindner-Riegler

Raute

AUTOR/INNEN

Mohammad Aburous geboren 1976 in Palästina, lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU-Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Aktivist des Arabischen Palästina-Clubs (APC) und des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) in Wien.

Farah Abu Shawki geboren 1983. Studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Vorsitzender des Arabischen Palästina-Clubs in Wien.

Mundher Al-Adhami geboren 1942 in Bagdad. Studierte Geophysik in Moskau und England, wo er seit 35 Jahren im Feld der Pädagogik und Didaktik tätig ist. Bis 1969 Mitglied der Irakischen Kommunistischen Partei (IKP). Bis 1980 Mitglied des Irakischen Revolutionären Block und der Redaktion der Zeitschrift An-Nassier (Der Partisan). 1990 begründete er das Komitee Demokratischer Iraker gegen die Blockade mit. Seit 2003 Mitorganisator von mehreren politischen Initiativen zur Unterstützung des irakischen Widerstands und zum Aufbau einer politischen Front gegen die US-Besatzung.

Margarethe Berger geboren 1968 in Wien, studierte Slawistik an der Universität Wien, wiederholte Reisen in den arabischen Raum und Südamerika.

Gernot Bodner geboren 1974 in Bruck an der Mur, studierte an der Universität für Bodenkultur in Wien, umfassende Reisetätigkeit vor allem nach Südamerika. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Jonas Feller geboren 1990 in Berlin, verbringt derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr an der Ostsee.

Stefan Hirsch geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Wilhelm Langthaler geboren 1969, technischer Angestellter in Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent, Koautor des Buches Ami go home, erschienen im Verlag ProMedia.

Elisabeth Lindner-Riegler geboren 1952 in Kärnten, arbeitet als Professorin an einem Gymnasium in Wien.

Costanzo Preve geboren 1943 in Turin (Italien), Philosoph und politischer Aktivist.

Dieter Reinisch geboren 1986, arbeitet als Archäologe bei Ausgrabungen in Frankreich und Österreich und lebt in Wien.

Arundhati Roy geboren 1961 in Shillong (Indien), Schriftstellerin und politische Aktivistin.

Masud Ulfat Student der Rechts- und Politikwissenschaften an der Universität Marburg.

Thomas Zmrzly geboren 1969, Krankenpfleger, Sprecher von Initiativ e.V. Duisburg.


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Die Zeitschrift Intifada ist ein Forum für Information und Diskussion und will damit einen Beitrag zur Zusammenarbeit der mit der palästinensischen Bewegung solidarischen Kräfte im deutschsprachigen Raum leisten.


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Impressum

AIK
www.antiimperialista.org

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien; Druck: Printfactory, Wien
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
Mohammad Aburous, Margarete Berger, Gernot Bodner, Stefan Hirsch,
Wilhelm Langthaler

Kontakt
www.intifada.at

Antiimperialistische Koordination
Postfach 23, 1040 Wien, Österreich

Konto lautert auf Verein Vorstadtzentrum
Bank: BAWAG (BLZ 14000)
Konto-Nr.: 02510080702
BIC: BAWAATWW
IBAN: AT 38 14000 02510080702

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Quelle:
Intifada Nummer 31 - Sommer 2010
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2010