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LICHTBLICK/173: Geschichte des Strafens - Teil 6


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 344 - 3/2010

VollzugsVisionen
Geschichte des Strafens
Teil 6: Strafvollzug heute

von der Redaktion



In Heft 2/2010 haben wir die Geschichte des Strafens in der Neuzeit dargestellt. Die Berliner Beispiele zeigten den Wandel der Vollzugsgestaltung von strenger Einzelhaft hin zum Wohngruppen- und Behandlungsvollzug mit der Ausrichtung, den Täter zu bessern. In dieser Ausgabe geht es um den gegenwärtigen Stand des Strafvollzuges in Deutschland.

Statistisches

Etwa 81.000 Menschen waren nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zum 31.03.2009 in Deutschland inhaftiert.

Davon waren 35 % in Gemeinschaftszellen untergebracht. Dies widerspricht dem Strafvollzugsgesetz. In § 18 StVollzG heißt es: "Gefangene werden während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen untergebracht." Von Gemeinschaftsbelegung waren besonders Inhaftierte in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Thüringen mit Anteilen von über 50 % betroffen; in Bayern betrug die Quote 42 %. In Hamburg, Berlin und dem Saarland machte der Anteil der Gefangenen, die gemeinschaftlich untergebracht waren, hingegen nur 10-15 % aus.

Im Detail schlüsseln sich diese 81.000 Gefangenen, die der Einwohnerzahl einer deutschen Kreisstadt entsprechen, wie folgt auf:

5 % aller Inhaftierten waren Frauen.
Etwa 90 % der Gefangenen befanden sich im geschlossenen Vollzug.
Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund lag höher als der Bevölkerungsdurchschnitt von 27 %; in der JVA Tegel betrug er etwa 33 %, in der Untersuchungshaftanstalt Moabit weit über 40 %.
Die Gesamtzahl der Untersuchungsgefangenen lag bei etwa 11.400.
Die meisten Gefangenen waren wegen Diebstählen oder Unterschlagungen inhaftiert (20,5 %).
Wegen Betruges und Raubes waren jeweils rund 13 % in Haft.
Der Anteil an Eigentumsdelikten ist in den letzten Jahrzehnten stark gesunken. 1970 lag er noch bei fast 50 %.
Körperverletzungsdelikte sind kontinuierlich gestiegen: von 2,8 % im Jahr 1970 auf 11,9 % im Jahr 2008.
Die Zahl der wegen Drogendelikten Inhaftierten explodierte in diesem Zeitraum von 0,2 % auf 15 %.
Sexualverbrechen blieben ziemlich konstant bei etwa 7,5 %.
In der Statistik waren 8.900 Menschen nicht erfasst. Sie befanden sich im Maßregelvollzug oder in psychiatrischen Anstalten. In den letzen Jahren hat sich die Zahl der dort Untergebrachten verdreifacht.
Die Gefangenenraten in den Bundesländern schwanken. Stadtstaaten haben die höchsten Gefangenenraten (Berlin "führt" mit 154 Gefangenen pro 100.000 Einwohnern, gefolgt von Hamburg mit 110).
Bayern mit 97 lag noch über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 89, Hessen und Rheinland-Pfalz mit 86 Gefangenen pro 100.000 Einwohnern lagen knapp darunter; Schleswig-Holstein, das eine innovative Kriminalpolitik betreibt und u.a. auf Haftvermeidung setzt, hatte nur eine Rate von 52.

Die Gefangenenraten sind abhängig von kriminalpolitischer Orientierung und justizieller Entscheidungspraxis, einer spezifischen Strafverfolgungs- und Sanktionspraxis, sagen Fachleute.

Es gibt in Deutschland rund 200 Gefängnisse mit etwa 37.000 Beschäftigten. Davon arbeiten 27.200 im allgemeinen Vollzugsdienst (AVD) - von Inhaftierten als "Schließer", "Schlüsselknechte" oder "Bullen" bezeichnet, die weiblichen Vollzugsbediensteten werden "Wachteln" genannt.

Zur Behandlung stehen knapp 600 Psychologen und circa 1.250 Sozialarbeiter zur Verfügung. Das entspricht etwa einem Behandlungsschlüssel von 1:39 - ein "Behandler" für knapp 40 Inhaftierte.

Sparen - und die Folgen

Es muss überall gespart werden. Die Wirtschaft schwächelt, Steuereinnahmen sinken, die Staatsverschuldung steigt. Vom Sparzwang betroffen sind alle - und die Schwachen im Besonderen: Kinder, Schüler, Behinderte, Kranke, Alte und Gefangene.

Sparen im Knast bedeutet: weniger Psychologen und Sozialarbeiter, weniger Resozialisierung. Aus Regierungskreisen wurde dem lichtblick bekannt, dass aus Rationalisierungsgründen in den letzten Jahren in Berliner Knästen knapp 600 Stellen abgebaut wurden. Es gibt weiterhin politische und haushaltsbedingte Überlegungen, ob nicht noch mehr ginge.

Vollzugsalltag: Prisionisierung und Subkultur

In Gefängnissen läuft das Leben "anders" - die Verriegelungen, Einschränkungen und Behandlungen führen zu ganz spezifischen Lebensweisen und Charakterprägungen. In der Praxis sind dies nicht die von der Resozialisierungsinstanz Gefängnis gewollten, sondern vielmehr gibt es ein "Unterleben" im Knast, eine Subkultur. In dieser gelten bestimmte Normen- und Wertvorstellungen. Die Gefangenen passen sich sukzessive an die Haftkultur an, d.h. leben sich in das Gefängnis ein.

Die soziale Ausgrenzung unter den Bedingungen des Haftalltags bedeutet in vielerlei Hinsicht Entbehrungen (Deprivationen): sensorisch, emotional, kognitiv und sozial. Die Folgen sind psychische Störungen und soziale Auffälligkeiten vielfältiger Art. In diesem Entwicklungsgang, der sich Prisonisierung nennt, werden Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert, die das Rückfallrisiko erhöhen.

Dazu führt auch der Umstand, dass den Gefangenen unablässig die Selbstbestimmung versagt bleibt. Die Menschen geben schließlich die Selbstverantwortung auf. Sie organisieren ihre Angelegenheiten nicht mehr und überlassen sich der Institution. Es entsteht eine erlernte Hilflosigkeit. An der Tatsache des Autonomieverlusts ändert auch beispielsweise die Gefangenenmitverantwortung nichts. Sie hat keine Gestaltungsmöglichkeiten struktureller Art, sondern kann nur einzelne Angelegenheiten des Zusammenlebens in der Anstalt zur Sprache bringen.

Zur Beschäftigung und Freizeit

Viele Arbeitsmöglichkeiten für die Häftlinge in Deutschland sind von beschäftigungstherapeutischer Provenienz: Es werden künstlich Jobs geschaffen, die allenfalls Sekundärtugenden (Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit) einüben. Über 10 % der Jobs haben lediglich einfachste Hilfstätigkeiten wie Essensausgabe und Reinigungsarbeiten zum Inhalt. Nur für die Hälfte der Gefangenen steht ein Arbeitsplatz zur Verfügung - die andere Hälfte sitzt auch tagsüber unbeschäftigt in ihren Hafträumen herum. Arbeit gibt es vor allem in handwerklichen Berufen. Zur Bildung in der Haft wird auf den gleichnamigen Artikel in dieser Ausgabe des lichtblicks verwiesen. Die Entlohnung der Gefangenen ist nicht vollwertig: Sie erhalten durchschnittlich 10 EUR pro Arbeitstag bei eingeschränkter sozialer Absicherung. Arbeitslose Gefangene können monatlich rund 30 EUR Taschengeld erhalten.

Die Freizeit kann ausschließlich in der verriegelten und eingeschränkten Welt des Gefängnisses verbracht werden, so beschränkt sie sich oft auf konsumptives TV-Gucken. Neben wenigen Sportangeboten werden allenfalls Gesprächsgruppen offeriert.

Altern im Knast

Die Lebenserwartung der Menschen steigt. Dieser Umstand bildet sich auch in der Gefängnispopulation ab. Immer mehr Gefangene sind über 60 und älter. Ihre Zahl hat sich seit 1994 verdreifacht. Es betrifft zwar nur etwa 5 % der Inhaftierten, doch es mutet schon absurd an, wenn man alte, kranke, handicapierte Menschen weiterhin einsperrt, wo sie doch kaum aufrecht stehen, alleine essen und zur Toilette gehen können, geschweige denn eine Gefahr darstellen.

Der Offene Vollzug

Die wichtigste Aufgabe des Strafvollzuges ist die Besserung und Zurückführung der Gefangenen in die Gesellschaft. Dort sollen sie ein Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung führen. Deshalb sind nach dem Gesetz die Haftverhältnisse den Gegebenheiten der in Freiheit Lebenden anzupassen und die schädlichen Folgen der Inhaftierung zu vermeiden. Am ehesten geschieht dies im Offenen Vollzug - dort können soziale Kontakte mittels großzügiger Besuchsregelungen und freier Kommunikationsmöglichkeiten gepflegt werden, Lockerungen ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben, im Rahmen des Berufsfreigangs ist eine sinnvolle Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt möglich, etc.

Geeignete Gefangene sollen nach dem Strafvollzugsgesetz in den Offenen Vollzug als Regelvollzug verlegt werden, da der Offene Vollzug die besten Resozialisierungschancen bietet. Die Ausgestaltung des Offenen Vollzugs in den Bundesländern ist verschieden und tendenziell rückläufig. Siehe dazu den Artikel plus & minus zum Offenen Vollzug auf Seite 36 in dieser Ausgabe des lichtblicks.

Der Irrtum der späten Integration

Die Gefangenen bleiben oft - entgegen der Vorgaben - zu lange im geschlossenen Vollzug. Die Vollzugsbehörde glaubt nicht selten, dann erfolgreich resozialisiert zu haben, wenn die Gefangenen zum Entlassungszeitpunkt:

ein paar Lockerungen (Ausgänge und Urlaube) hatten und innerhalb weniger Monate den offenen Vollzug durchliefen und
zusätzlich über Arbeit und Wohnung verfügen.

Aber dass die Gefangenen in der Zeit ihrer erzwungenen Unterbringung hospitalisiert und prisonisiert wurden, d.h. Bezugspersonen entbehren mussten oder verloren haben, sich sozial zurück entwickelten und verrohten, seelisch, geistig und physisch lädiert wurden, wird billigend in Kauf genommen. Wider besseren Wissens!

Die Umstände, die zu diesen Regressionen und Schädigungen führen, erschließen sich nur im Praxisbezug. Was für ein Mensch kommt ob dieser Behandlung aus dem Knast?

Untersuchungen zeigen, dass je härter die Sanktion ist, desto häufiger der Rückfall ist. Etwa 57 % der Strafgefangenen werden nach Vollverbüßung rückfällig. Nur 45 % derjenigen, die eine Bewährungsstrafe bekamen, werden rückfällig. Nach einer Erhebung aus dem Jahre 2004 zählten von 63.533 Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten 63 % als vorbestraft.

Ein kranker und asozialer, weiter ge- und beschädigter Mensch wird in die Freiheit entlassen. Seine Fähigkeiten, Fertigkeiten und Chancen haben sich vermindert, sein Charakter verschlechtert. Ein älterer, aber nicht reiferer Mensch wird entlassen. Sein Scheitern ist vorbestimmt. Und erfüllt sich fast immer!

Ein Ende mit Schrecken

Die in der Praxis vorzufindenden Haftverhältnisse im 21. Jahrhundert zeigen noch immer die erschreckenden Charakteristika einer "totalen Institution". Sie soll dem Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dienen. Die Restriktionen sind organisatorisch bedingt, aber auch absichtsvoll konstruiert, um üble Strafreize zu setzen. Diese sind schädlich: Knast macht krank, ist sinnlos und schädigt als Folge die Bevölkerung!

Inhaftierung sollte vermieden werden, beziehungsweise human und wissensbasiert erfolgen. Ein gutes Beispiel dafür gibt der dänische Strafvollzug: Angeglichene Lebensverhältnisse und sinnvolle Resozialisierungsmaßnahmen sorgen für gebesserte Straftäter und eine niedrige Kriminalität.

Aus diesen Gründen ist der deutsche Strafvollzug nicht führend in Europa. Vielmehr ist er rückschrittlich. Das mag zum einen an der bundesdeutschen Haushaltslage liegen (obschon der ineffiziente Verwahrvollzug langfristig am teuersten ist!), zum andern daran, dass sich restaurative Kräfte durchsetzen. Der hier gezeigte Ausblick ist nicht gerade rosig: Das Sollen des Strafvollzugsgesetzes entspricht nicht dem Sein. Geschlossener Verwahrvollzug widerspricht dem Strafvollzugsgesetz, führt zu Prisonisierungsschäden und in der Folge zu Nachteilen für die gesamte Bevölkerung.


Die Wirklichkeit der Haftverhältnisse:

Ein Gefangener muss das Leben auf einem zugewiesenen ca. 6-10 qm großen Haftraum, oft in Gemeinschaft, verbringen.
Ein Gefangener muss in einer standardisierten Zelle leben, in der Art und Umfang persönlicher Dinge - auch hinsichtlich exakter Anordnung - eingeschränkt ist.
Ein Gefangener muss ein Leben zusammen mit anderen Straftätern führen und ist dabei den unerwünschten Wechselwirkungen ausgeliefert.
Ein Gefangener muss sich einer Zwangsverköstigung - reduziert auf die Lebenserhaltung - aussetzen.
Ein Gefangener muss in vielen Knästen Anstaltskleidung tragen; in anderen darf er nur eine kleine Menge an privater Kleidung haben.
Ein Gefangener muss Fremdbestimmung dulden und ihr getreulich nachkommen: Er muss essen, scheißen, gehen, liegen, kommunizieren, wenn es ihm durch die Organisation Gefängnis vorgegeben wird.
Ein Gefangener muss einen zeitlich begrenzten Hofgang zu genau festgelegten Zeiten hinnehmen.
Ein Gefangener muss die einfachen und allein von der Anstalt angebotenen Sport-, Spiel- und Freizeitangebote hinnehmen - annehmen oder ablehnen.
Ein Gefangener unterliegt der Arbeitspflicht; für diese Zwangsarbeit wird er nicht ausreichend entlohnt.
Ein Gefangener muss die jederzeitigen und unvorhersehbar durchgeführten Durchsuchungen des Haftraumes und seines Körpers dulden.
Ein Gefangener muss in sexueller Deprivation leben.
Ein Gefangener muss Ein- und Beschränkungen der vielfältigsten Art und Weise sang- und klanglos dulden, gar als gut - weil ihn angeblich resozialisierend - annehmen.
Ein Gefangener muss bürokratische Vorgaben und Handlungen ertragen. Ausdruck sind Antrags- und Genehmigungsverfahren mit einengenden Gestaltungsprinzipien.
Ein Gefangener muss Besuche in eigens dafür geschaffenen Räumen, in denen die Menschen observiert, bespiegelt und mit Kameras beobachtet werden, absolvieren. Die Treffen sind zeitlich begrenzt, meist monatlich ca. 2 Stunden, ohne die Möglichkeit des intensiven Körperkontakts.

Die vorangehenden Teile dieser Serie sind zu finden unter:
www.schattenblick.de - Infopool - Medien - Alternativ-Presse:
LICHTBLICK/158: Eine Geschichte des Strafens - Teil 1
LICHTBLICK/159: Eine Geschichte des Strafens - Teil 2
LICHTBLICK/161: Eine Geschichte des Strafens - Teil 3
LICHTBLICK/165: Eine Geschichte des Strafens - Teil 4
LICHTBLICK/168: Geschichte des Strafens - Teil 5

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Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, Heft Nr. 344, 3/2010, Seite 13-15
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2010