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LICHTBLICK/196: Sucht, Infektionen und Hygiene in deutschen Gefängnissen


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 352 - 3/2012

Sucht, Infektionen und Hygiene in deutschen Gefängnissen

von Murat Gercek



»Gesundheit spiegelt die Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit sich, seinem Körper, seiner Umwelt, seiner Kultur und seinen Mitmenschen wieder.« Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Unsere Gefängnisse sind wahrscheinlich die ungesündesten Plätze in unserer Gesellschaft. Hier wird dem Menschen nicht nur die Freiheit entzogen, er wird auch erheblichen Gefahren ausgesetzt wie Gewalt, Sucht, Abhängigkeit und Infektionskrankheiten.


Einleitung

Dieser erste Satz klingt recht ernüchternd, spiegelt jedoch mit Sicherheit die Realität des Vollzugsalltags wieder. Gesundheit ist mehr als das Fehlen einer Krankheit oder eines Gebrechens, sondern auch körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. In diesem Sinne gehört Gesundheit zu den Grundrechten des menschlichen Lebens.

Die Gesundheit der Gefangenen betrifft die Gesundheit aller, denn Gefangene kommen aus der Gesellschaft und kehren in den allermeisten Fällen in ihre Lebensverhältnisse zurück.

Die Gesundheit der Gefangenen ist daher ein Thema der öffentlichen Gesundheit, dass uns alle betrifft: die Bediensteten im Gefängnis, die Partner/innen, die Familien, die Kinder und natürlich die Gefangenen selbst.

In den Gefängnissen leben Menschen vieler verschiedener Nationen und verschiedenster sozio-ökonomischer und kultureller Herkunft zusammen. Menschen, die oftmals schon vor Haftantritt erheblichen sozialen und gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren. Infektionskrankheiten wie HIV/ Aids, Hepatitis, Tuberkulose, vor allem aber auch Substanzmissbrauch und Suchterkrankungen sowie weitere psychische Störungen belasten die Gefangenen überproportional.

Die Haftzeit sollte für die Resozialisation, berufliche oder schulische Qualifikation, Wiedereingliederung und als Vorbereitung für die Entlassung genutzt werden, aber auch zur gesundheitlichen Versorgung und Stabilisierung der Gefangenen.

Die Gesundheit der Gefangenen ist bedroht durch besondere Belastungen, die erst durch die Rahmenbedingungen der Haft entstehen: Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis, psychische Störungen / Depressionen, Einschränkungen der Intimsphäre, Hygieneprobleme, Überbelegung, Bewegungseinschränkungen, Übergewicht und Formen von jeglicher Gewalt


Drogenproblematik als Dauerthema

Die Gefahren durch Drogen sind ein Thema, dass nichts von seiner Aktualität verloren hat, im Gegenteil: Geprägt von Trends und Szenen, hat sich das Drogenspektrum erweitert. Man denke etwa an die öffentliche Diskussion um die Gefährdung von Jugendlichen durch synthetische Drogen, Cannabis und Alcopops in jüngerer Zeit.

Solche gesellschaftlichen Trends gehen selbstverständlich am Justizvollzug nicht vorbei. Es existiert eine Vielzahl an Gründen für den Drogengebrauch im Gefängnis: Einige Konsumenten beschreiben die konstanten Bemühungen, Drogen zu beschaffen, als Strategie, um Langeweile zu bekämpfen und die Inhaftierung zu ertragen, also um mit den Härten des Gefängnislebens fertig zu werden oder Krisen zu überwinden (schlechte Nachrichten, Verurteilung und Bestrafung, Gewalt usw.).

Intravenöser Drogenkonsum in Haft trägt zur Verbreitung übertragbarer Krankheiten wie HIV/Aids, Hepatitis, Geschlechtskrankheiten oder Tuberkulose auch in der "Allgemeinbevölkerung" bei. Mit der Entlassung kehren Drogengebraucher/innen "in die Gesellschaft zurück", und mit ihnen alle Infektionen, die sie sich während der Haftzeit zugezogen haben - Gefängnisse sind eben nicht vom Rest der Gesellschaft isoliert.

Die im Gefängnis am häufigsten konsumierte Droge ist (neben Tabak) das hauptsächlich zur Entspannung eingesetzte Cannabis: Studien haben gezeigt, dass 45 bis 78 Prozent der Gefangenen, die in Haft Drogen nahmen, Cannabis konsumierten. Intravenösen Drogengebrauch gaben 18 Prozent an; hier spielt offenbar Heroin eine wesentliche Rolle. Alkohol scheint nach Cannabis und abgesehen von Nikotin die am zweithäufigsten konsumierte Droge zu sein, und zwar sowohl bei gerade inhaftierten als auch bei länger einsitzenden Gefangenen. In einer Umfrage gaben 33 Prozent der neu aufgenommenen Inhaftierten exzessiven Gebrauch von Alkohol an.

Der Konsum von Drogen ist mit Gesundheitsrisiken verbunden. Drogen verfügen über ein unterschiedlich hohes körperliches und psychisches Abhängigkeitspotenzial. Dauerhafter Drogenkonsum schädigt den Körper, z. B. die Haut, die Leber und andere innere Organe und das Gehirn. Beim gemeinsamen Gebrauch von Utensilien zum Konsum wie Röhrchen zum Sniefen, Löffel zum Aufkochen, Filtern oder Spritzbestecken besteht die Gefahr der Übertragung von Krankheitserregern wie HIV oder Hepatitis-C-Virus. Drogenkonsum findet in Haft zwangsläufig unter hohem Infektionsrisiko statt. Die Infektionsgefahr für Drogengebraucher und alle übrigen Gefangenen sowie das Vollzugspersonal ist deutlich größer als außerhalb des Vollzuges.

Das Drogenhilfesystem im Vollzug ist durch die massiven Probleme der Drogengebraucher stark belastet, es konzentriert sich auf Therapie statt Strafe, aber was ist mit denjenigen, die noch keinen Therapieplatz haben, keine Therapie wollen, keine Berechtigung haben oder in Untersuchungshaft sind?!

In Deutschland gibt es keine verlässlichen Daten zur Infektionsepidemiologie im Vollzug; Datenerhebung, Aufbereitung und Dokumentation sind uneinheitlich und mangelhaft. Landes- und Bundesbehörden wägen sich in falscher Sicherheit bzgl. des Risikopotentials und der tatsächlichen Transmissionsraten im Justizvollzug.


Infektionskrankheiten

HIV und AIDS

Das Humane Immundefizienz-Virus, zumeist abgekürzt als HIV oder auch bezeichnet als Menschliches Immunschwäche-Virus. Eine Ansteckung führt nach einer unterschiedlich langen, meist mehrjährigen Inkubationszeit zu AIDS, einer derzeit noch unheilbaren Immunschwächekrankheit. Das HI-Virus wird übertragen durch Kontakt mit den Körperflüssigkeiten Blut, Sperma, Vaginalsekret sowie Muttermilch. Potenzielle Eintrittspforten sind frische, noch blutende Wunden und Schleimhäute bzw. nicht ausreichend verhornte, leicht verletzliche Stellen der Außenhaut. Als häufigste Infektionswege sind zu nennen der Vaginal- oder Analverkehr ohne Verwendung von Kondomen und die Benutzung unsteriler Spritzen beim intravenösen Drogenkonsum. Bluttransfusionen sind ebenfalls eine mögliche Infektionsquelle.



Hepatitis C

Die Hepatitis C ist eine durch das Hepatitis-C-Virus verursachte Infektionskrankheit beim Menschen, die im Verlauf zu schweren Leberschädigungen führen kann. Die Übertragung erfolgt über Blut; eine Therapie ist je nach Genotyp des Hepatitis-C-Virus in eingeschränkter Form möglich. Eine Impfung steht derzeit nicht zur Verfügung. Übertragung: Erhöhte Infektionsgefahr besteht für Konsumenten von Drogen wie Heroin, die intravenös konsumieren und dasselbe Spritzbesteck mit anderen Konsumenten teilen. Tätowierungen und Piercings sind bei Verwendung verunreinigter Instrumente ein Risikofaktor. Vorbeugung: Trotz intensiver Bemühungen wurde bis heute kein wirksamer Impfstoff zur aktiven Immunisierung gegen Hepatitis C gefunden. Schutzmaßnahmen bestehen vor allem darin, Blut-zu-Blut-Kontakte mit Infizierten zu vermeiden und bei intravenösem Drogenkonsum immer ein neues Spritzbesteck zu verwenden.


Tätowierungen und Piercings

Eine weitere und häufig unterschätzte Infektionsquelle sind Tätowierungen im Vollzug. In fast allen EU-Mitgliedsländern sind Tätowierungen in den Gefängnissen verboten. Tätowierungen gehören jedoch zur Gefängniskultur und sind vor allem unter Drogengebrauchern weit verbreitet. In den Untersuchungen des Europäischen Netzwerkes gaben 44 der intravenös Drogenabhängigen und 20 der übrigen Gefangenen an, sich während des aktuellen Gefängnisaufenthalts tätowiert zu haben. Tätowierungen finden meist unter hygienisch katastrophalen Umständen statt und bilden ein hohes, weit unterschätztes Risikopotential.


Hygiene und Gesundheitsaufsicht

Justizvollzugsanstalten legen in Hygieneplänen innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Infektionshygiene fest und unterliegen der infektionshygienischen Überwachung durch das Gesundheitsamt.

Die mit der Überwachung beauftragten Personen sind befugt, zu Betriebs- und Geschäftszeiten Betriebsgrundstücke, Geschäfts- und Betriebsräume, zum Betrieb gehörende Anlagen und Einrichtungen sowie Verkehrsmittel zu betreten, zu besichtigen sowie in die Bücher oder sonstigen Unterlagen Einsicht zu nehmen und hieraus Abschriften, Ablichtungen oder Auszüge anzufertigen sowie sonstige Gegenstände zu untersuchen oder Proben zur Untersuchung zu fordern oder zu entnehmen, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist.

Der lichtblick wollte wissen, wie es in der JVA Tegel, Deutschlands größter Haftanstalt, mit Hygienevorschriften und Infektionen aussieht und machte deshalb eine schriftliche Anfrage beim zuständigen Gesundheitsamt in Berlin. Leider ging man nicht auf alle unsere Fragen ein und vertröstete uns mit einer kurzen und pauschalen Antwort; hier das Schreiben: "Sehr geehrter Herr Gercek, vielen Dank für Ihr Schreiben. Bezüglich des umfangreichen Fragenkatalogs möchte ich Ihnen folgendes mitteilen. Die amtsärztliche Überwachung der JVA Tegel geschieht gemäß § 36 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) durch das zuständige Gesundheitsamt Berlin-Reinickendorf. Dabei wird mit wechselnden Schwerpunkten die Anstalt jährlich grundsätzlich begangen und insbesondere die hygienischen Zustände der Arztgeschäftsstellen, der Gemeinschaftsräume, der Dusch- und Sanitäreinrichtungen sowie sonstiger hygienisch-relevanter Bereiche betrachtet. Sollten aus der Sicht des Gesundheitsamtes hygienische Beanstandungen festgestellt werden, wird dies unmittelbar im Rahmen der Begehung mit den zuständigen Mitarbeitern der JVA erörtert, als auch schriftlich in einem Abschlussbericht, der sowohl der Anstaltsleitung als auch der zuständigen Senatsverwaltung übermittelt wird, entsprechend kommuniziert. Dabei erfolgt eine Aufforderung zur Behebung der Mängel mit Fristsetzung. Die Umsetzung ist dem Gesundheitsamt zu melden und wird durch uns kontrolliert. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die hygienische Kontrolle der Kantine/Küche sowie Aspekte der Lebensmittelzubereitung in der Zuständigkeit des Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamt liegen. Aus der Sicht des Gesundheitsamtes stellt sich die Zusammenarbeit mit der JVA als gut und kooperativ dar. Massive hygienische Mängel, die eine unmittelbare Gesundheitsgefährdung beinhalten würden, wurden im Rahmen der Begehung in den vergangenen Jahren nicht festgestellt. Bezüglich der zu meldenden Infektionskrankheiten wird entsprechend der §§ 6-10 IfSG verfahren. Bis auf eine überdurchschnittliche Häufung an Hepatitis-C-Erkrankungen, die meist im Rahmen von Eingangsuntersuchungen in der JVA festgestellt werden und daher als "mitgebracht" zu werten sind, stellen wir keine signifikante Häufung anderer meldepflichtiger Infektionskrankheiten fest."

Bei einer erneuten Anfrage baten wir das Gesundheitsamt uns doch bitte die Mängelberichte der vergangenen Jahre auszuhändigen, leider blieb das ohne Erfolg. Gerne hätten wir hier über die Beseitigung evtl. Mängel berichtet und der JVA Tegel eine hygienisch saubere Weste bestätigt, aber so bleibt, auch aufgrund der stark reduzierten Antwort, sehr viel Raum für Spekulationen und wir nehmen daher stark an, dass die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes sich vor ihren Kontrollbesuchen in der JVA Tegel ankündigen oder sich anmelden müssen. Die Anstalt hat somit viel Zeit im Vorfeld, Mängel zu beseitigen, intensiv Reinigungsarbeiten durchzuführen und die zu präsentierenden Bereiche abnahmefertig vorzubereiten. Hier bekommt die JVA Tegel einen Bonus, den jeder selbständige Gewerbetreibende draußen in der freien Wirtschaft nie bekommen würde. Es ist bedauerlich, dass man eine öffentlich-staatliche Einrichtung wie ein Gefängnis so verschonen muss und keine Überraschungskontrollen durchführt. Fakt ist, dass jeder Hausarbeiter, Diät- und Duschkalfaktor-, Zentralreiniger und auch jeder andere Arbeiter einer Teilanstalt genauestens Bescheid weiß, wann und wo eine Kontrolle stattfindet. Mängel aufzudecken wird so nicht möglich sein. Schade, denn den Risiken sind letztendlich die Gefangenen ausgeliefert.


Fazit

Die Inhaftierung eines Menschen bedeutet nicht, dass er seine Grundrechte verliert, er ist und bleibt Bürger dieses Staates mit all seinen Rechten und Pflichten und muss demnach auch so behandelt werden. Die Erhaltung und Erreichung von Gesundheit stellt einen zentralen Faktor für die Resozialisierung der Gefangenen dar. Werden Behandlungen nicht oder zu spät durchgeführt oder infizieren sich Gefangene mit HI- oder Hepatitis-Viren, dann sinken ihre Chancen nicht nur auf eine gesundheitliche Stabilisierung beziehungsweise Heilung, sondern auch auf eine soziale Integration nach der Entlassung.

Um den gesundheitlichen Problemen der Gefangenen in Haft angemessen und nachhaltig begegnen zu können, bedarf es einer intensiven Diskussion aller dafür Zuständigen. Vor allem eine intensive Kooperation der Bereiche Gesundheit und Justiz ist hier nötig.

Im 3 des StVollzG heißt es deutlich: (1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.

Wir möchten in diesem Zusammenhang nochmals einen Aufruf an alle Verantwortlichen starten: Wendet diese Gesetze auch an und zwar in allen Haftanstalten.

Immer wieder werden Gesundheitsbedingungen in den Gefängnissen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen und uns beschäftigen. In diesem Artikel haben wir das Thema Hygiene lediglich kurz angeschnitten und nur die Tätigkeit der Aufsichtsbehörde für die JVA Tegel durchleuchtet, in einer der nächsten Ausgaben riskieren wir dann einen genaueren Blick auf die wirklichen Zustände verschiedener Haftanstalten und deren Bereiche.

Der lichtblick bleibt an dieser Sache dran und berichtet mit Eurer Hilfe kritisch weiter.

*

Interview mit Bärbel Knorr von der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. (DAH),
Abteilung strukturelle Prävention im Bereich Drogen und Strafvollzug


lichtblick: Frau Knorr, wie würden Sie, ganz grob erst mal, das Tätigkeitsfeld der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. beschreiben und was genau ist Ihre Aufgabe in diesem Verein? Wo und wie sind sie vertreten?

Bärbel Knorr: Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. ist der Dachverband aller Aidshilfen im gesamten Bundesgebiet. Vor Ort sind jeweils die verschiedenen AIDS-Hilfen der Region zuständig, z. B. hier in der JVA Tegel ist es die Berliner AIDS-Hilfe. Ich bin bei der DAH die Ansprechpartnerin für den Bereich Strafvollzug. Wir sind seit 30 Jahren in der HIV-Prävention tätig und kämpfen u. a. für eine bessere medizinische Versorgung der Betroffenen in der Haft als auch draußen. Zu unseren Hauptaufgaben gehören die Information, Beratung und Schulung, aber auch die Herstellung von Printmedien, d.h. Infobroschüren, Flyer etc. für Gefangene, aber auch für Berater in diesem Tätigkeitsgebiet. Wir bieten Seminare für Gefangene, Bedienstete und Beraterinnen und Berater an. Wir hoffen, dass diese als Multiplikatoren wirken und darüber auch mehr Informationen in die Haftanstalten kommen.

lichtblick: Welchen Stellenwert und welche Aufgaben hat die DAH in den Deutschen Haftanstalten?

Bärbel Knorr: Die Themen HIV, Hepatitis und Drogen wollen wir erneut in die JVA's transportieren und damit das Gesundheitsbewusstsein aller Inhaftierten stärken und fördern. Unser Ziel ist es, die in Haft lebenden und arbeitenden Menschen zu stärken und Infektionsrisiken zu minimieren, indem wir den Erwerb entsprechender Kenntnisse und Fähigkeiten ermöglichen. Die DAH bietet jede Menge Materialien für die Fortbildungsarbeit mit Gefangenen und mit Strafvollzugsbediensteten und geht zugleich auf organisatorische und methodische Fragen ein, die sich bei der Planung und Durchführung von Schulungen stellen. Wir von der DAH verstehen uns auch als politische Vermittler in den Haftanstalten, wir wollen, dass die Versorgung tatsächlich der Situation draußen entspricht. In Bayern klagen derzeit mehrere Gefangene auf Substitution, hier bieten wir auch unsere Unterstützung an.

lichtblick: Haben Sie aktuelle Zahlen zu AIDS- bzw. anderen Infektionskrankheiten in Gefängnissen, wie gut oder schlecht steht es um die Knackis in Deutschland? Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr?

Bärbel Knorr: Etwa 1 % der Gefangenen insgesamt wird als HIV-positiv geschätzt. Die inhaftierten Frauen sind stärker betroffen als die Männer, dies entspricht einer 20-mal höheren Verbreitung als in der Allgemeinbevölkerung. Etwa 20 % aller Häftlinge und bis zu 80 % der drogenabhängigen Gefangenen sind HCV-positiv (Hepatitis C Virus), das entspricht einer mindestens 40-mal stärkeren Verbreitung als in der Allgemeinbevölkerung. Die Ansteckungsgefahr ist aber dennoch als niedrig anzusehen, denn die Ansteckungsmöglichkeiten sind klar definiert. Hohes Risiko besteht bei ungeschütztem Sex, Drogenkonsum mit gemeinsamem Gebrauch der Utensilien, bei Tätowierungen und Piercings. Weniger riskant aber dennoch zu vermeiden wäre der gemeinsame Gebrauch von Zahnbürsten, Nagelscheren und Rasierern.

lichtblick: Wie ist die Gesundheitsversorgung der Gefangenen in deutschen Gefängnissen, insbesondere natürlich in Berlin, im Vergleich zu den Europäischen Nachbarn, wie gut sind wir hier versorgt? Wo könnte man sich eine Scheibe abschneiden?

Bärbel Knorr: Insgesamt steht Deutschland gar nicht so schlecht da, d. h. die medizinische Versorgung ist gut und stets gegeben. Im europäischen Vergleich gibt es nicht viele Länder die besser oder schlechter sind, positiv aufgefallen und somit erwähnenswert sind die Schweizer und Spanier. In Spanien z. B. wird bei Drogenabhängigkeit besser substituiert und jeder Gefangene der möchte hat auch Zugang zu sterilem Spritzenbesteck. Man geht offener mit der Problematik Sucht und HIV um, das ist den Umständen dort geschuldet, bis vor ein paar Jahren waren in den spanischen Gefängnissen 20 % HIV positiv. In der Schweiz gibt es auch eine Heroinvergabe in Haft.

lichtblick: Drogen spielen nach wie vor eine große Rolle in den Gefängnissen, wie ist die aktuelle Tendenz und wie schätzen Sie diese Gefahr ein? Wie kann man aktiv die Suchtprobleme behandeln, was wird konkret angeboten?

Bärbel Knorr: Der Anteil an Drogengebraucher schwankt zwischen 25-30 der Inhaftierten, wobei diese Zahl sich auf den Konsum der harten Drogen bezieht. Wenn man Cannabis, also die Kiffer mit dazu rechnet, so ist die Zahl erheblich höher. Inhaftierte Frauen konsumieren mehr Drogen als Männer. Allein die Inhaftierung liefert Gründe Drogen zu konsumieren oder den Konsum fortzusetzen. Haftanstalten eignen sich nicht für eine Therapie, hier sollte man versuchen mehr zu substituieren. Übrigens Therapie statt Strafe ist ein wichtiges Stichwort, Süchtige gehören eigentlich nicht in den Knast.

lichtblick: Haben Sie Zahlen darüber wie viel Prozent der Straftaten unter Einfluss von Drogen und Alkohol verübt werden, d. h. verleiten Drogen und auch Alkohol zu delinquentem Verhalten, kann man das so stehen lassen?

Bärbel Knorr: Genaue Zahlen kenne ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass das Bundesamt für Statistik Ihnen da Konkretes nennen kann. Aber eines ist sicher, Alkohol- und Drogengebrauch führen dazu, dass die Hemmschwelle gesenkt wird, durch den Konsum verschieben sich die persönlichen Grenzen, das kann, muss aber nicht unbedingt zu strafbarem Handeln führen.

lichtblick: Haben Inhaftierte den gleichen Anspruch auf Leistungen und Behandlungsmaßnahmen wie die Menschen außerhalb der Gefängnismauern, d. h. unterscheidet sich die gesundheitliche Versorgung im Gefängnis zu den öffentlichen Krankenkassen?

Bärbel Knorr: Natürlich haben Gefangene einen Anspruch auf Leistungen und zwar nach den Richtlinien des SGB V, wobei die Möglichkeiten für den Einzelnen natürlich im Vergleich nach draußen beschränkt und somit auch nicht gleich sind. Im Gefängnis hat man keine freie Arztwahl, entweder man versteht sich mit dem Anstaltsarzt oder nicht, draußen wendet man sich an den Arzt seines Vertrauens und würde, wenn es notwendig ist, auch den Arzt wechseln. Im Gefängnis können nicht unterschiedliche Angebote wahrgenommen werden und die Versorgung ist notdürftig, d.h. das Angebot ist beschränkt und somit auch die Auswahl.

lichtblick: Gibt es bestimmte Krankheiten, die man besser nicht im Gefängnis behandeln lassen sollte oder anders gefragt, können die Haftanstalten alle Krankheitsbilder gut versorgen? Sollten Menschen mit Behinderungen z.B. nicht lieber separat und behindertengerecht untergebracht werden?

Bärbel Knorr: Also vieles hängt von der Haftdauer ab, wenn man nur kurze Zeit inhaftiert ist, sollte man abwägen, ob man sich nicht lieber draußen behandeln lässt, hierfür ist eine Beratung seitens der Anstaltsärzte aber unbedingt erforderlich. Eine Zahl ist derzeit alarmierend, über 80 % der Gefangenen leiden unter psychischen Erkrankungen, häufig Depressionen, hier muss unbedingt etwas getan werden, diese müssen viel mehr psychologisch betreut und behandelt werden. Viele Behandlungen sind sehr teuer, wie z.B. die HIV- oder Hepatitis C-Behandlung (ca. 100.000,- EUR im Jahr für einen Patienten mit beiden Krankheitsbildern). Die Haftanstalten sollten meiner Meinung nach überlegen, was grundsätzlich gegen eine Verlegung in den offenen Vollzug spricht, Menschen mit Behinderungen sollten entweder im offenen Vollzug oder in speziellen Einrichtungen untergebracht werden.

lichtblick: Unsere Leitfrage in diesem Artikel heißt: "Macht Haft krank?" Frau Knorr, wie ist Ihre Meinung dazu, wird man nicht erst durch die Haftbedingungen krank?

Bärbel Knorr: Ja, auch ich bin der Meinung, Inhaftierung macht krank. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren trägt dazu bei: zu kleine Zellen, Mehrfachbelegungen, die Einschränkungen der sozialen Bindungen, dauerhafter Stress, ständige Bereitschaft, physische und psychische Belastungen sind Punkte, um nur mal einige der Gründe hier zu nennen. Jeder sollte dennoch das Beste aus dieser Zeit mitnehmen, Männer sollten sich um Ihre Gesundheit genauso kümmern wie die Frauen, das Interesse muss geweckt werden und man muss Gefangene für das Thema Gesundheit sensibilisieren.

lichtblick: Frau Knorr, wir bedanken uns sehr herzlich für Ihren Besuch und die Beantwortung unserer Fragen zu dem interessantem Thema.

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Quelle:
der lichtblick, 45. Jahrgang, Heft Nr. 352, 3/2012, Seite 10-14
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2012