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LICHTBLICK/233: Warum ermöglicht der Vollzug langstrafigen Menschen keine Selbstversorgung?


der lichtblick - Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 375 - 2/2018

Warum ermöglicht der Vollzug langstrafigen Menschen keine Selbstversorgung?


Wir sind in der Verbannung der versagten Möglichkeiten. Den meisten Gefangenen ist der Glaube abhanden gekommen, dass Optimierungen in Haft noch umsetzbar sind. Es besteht im Justizvollzug oftmals die Neigung, an althergebrachten Denkmodellen und möglichen Verfahrensweisen festzuhalten.


"Vier Wände braucht das Leid und einen Menschen in der Mitte" so hat ein Inhaftierter einmal seinen Haftalltag beschrieben. Gefängnis ist, was einengt. Schlimmer, alles, was uns lieb und teuer ist, kann irgendwann die Seele einschnüren. Die ständigen Reglementierungen verändern das Denk- und Handlungsschema.

Ein echter "Knackpunkt" ist für die Inhaftierten (speziell die Langstrafer) die Selbstversorgung in der Haft. Die Selbstversorgung würde dem Angleichungsgrundsatz gem. Paragraph 3 (1) StVollzG entsprechen, aber traditionell ist ja im Strafvollzug alles ganz anders. Durch den Angleichungsgrundsatz sollen "Besonderheiten des Anstaltsleben, die den Gefangenen lebenstüchtig machen können" zurückgedrängt werden. Der Grundsatz ist im gesamten System des Vollzuges bei allen Maßnahmen gebührend zu berücksichtigen. Zwischen dem Vollzugsziel und dem Angleichungsgrundsatz besteht eine "Ziel-Mittel-Kombination". Das Vollzugsziel wird am besten dadurch erreicht, dass eine möglichst geringe Diskrepanz zwischen den allgemeinen Lebensverhältnissen und der Vollzugswirklichkeit besteht. Man sollte annehmen, dass die Justizverwaltung in der Lage ist, die Selbstversorgung in der Haft bündig herauszuarbeiten. Der Angleichungsgrundsatz ist ein Optimierungsgebot. Das heißt, eine Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse scheide aus, wo diese Verhältnisse gerade die Ursache für das Scheitern des Gefangenen gesetzt haben.

Letztlich beruht der Angleichungsgedanke darauf, dass die Strafe im Freiheitsentzug selbst besteht, nicht in Art und Weise des Vollzuges.

Jede darüber hinausgehende Einschränkung oder sonstige Übelzuführung ist daher nur legitim, wenn sie als tatsächlich unvermeidbare Folge des Freiheitsentzuges begründet werden kann. Die Geschichte des Strafvollzugs bietet zahllose Beispiele, dass für notwendig gehaltene Besonderheiten des Gefängnissystems sich als überflüssig erwiesen haben. Auch im StVollzG ist der Angleichungsgrundsatz nicht mit der nötigen Konsequenz umgesetzt worden. Z. B. wurde die soziale Absicherung der Gefangenen (Rente!) immer wieder aufgeschoben (Siehe hierzu auch die kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an die Bundesregierung 19/1021 - Es liegt keine Versicherungspflicht für die Gefangenen in der gesetzlichen Rentenversicherung vor. Die Justizministerkonferenz (JuMiKo) in Thüringen beschließt Einbeziehung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Rentenversicherung. Nun bleibt abzuwarten mit wieviel Enthusiasmus die Bundesregierung der Empfehlung folgt. Wir hoffen es wird bei der Umsetzung nicht die gleiche Zeitschiene aufgelegt wie bei der seit über 40 Jahre dauernden Verweigerung.

Angleichung bedeutet natürlich auch, dass die "totale Institution" abgebaut wird und eine grundlegende Einschränkung erfährt, und die Vollzugsverwaltung die Selbstverpflegung für langstrafige Inhaftierte erlaubt. Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen werden. Unabhängig von allen pädagogischen und therapeutischen Erwägungen sind die Standards der Gesellschaft außerhalb des Vollzuges zugrunde zu legen. Es ist von menschenwürdigen Lebensverhältnissen auszugehen.

Der Unterschied zwischen dem Leben in der Anstalt und dem Leben draußen soll nicht stärker als unvermeidbar sein. Durch eine eingeführte Selbstversorgung schafft man eine Korrektur für ein gemeinsames Kochen als Lernfeld und führt gleichzeitig die Insassen an eine Verpflichtung heran. Es ist somit eine geeignete Form einer individuellen Mitgestaltung. Ansonsten bliebe auch dem Gefangenen nur wenig Raum für eigene Entfaltungsmöglichkeiten.

Wir meinen, dass es heute zu einem modernen Strafvollzug gehört und das es noch viele Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Justiz gibt. Was würde dagegen sprechen den Inhaftierten dieses Upgrade zu genehmigen? Mit wenig Gestaltungswillen ließe sich so einiges bewegen. Schauen wir zu den Sicherungsverwahrten, die mit üppigen Apanagen von täglich 5 Euro Verpflegungsgeld (in Berlin) ausgestattet sind, dann halten wir eine Angleichung für mehr als angemessen. In anderen Bundesländern wird den Teilnehmern der Selbstverpflegung ein reduzierter Pauschalsatz offeriert (SV'er Leserbrief aus NRW). Trotzdem würden viele Gefangene bestimmt ein entsprechendes Angebot annehmen und auf die Anstaltskost verzichten.

Die baulichen Voraussetzungen mit den Stationsküchen in den Teilanstalten V und VI wären vorhanden, oder mit wenig Veränderungen zu modifizieren. Wenn sich dadurch etwas im Budget einsparen ließe, dann hätte die Verwaltung bestimmt ein offenes Ohr und es wäre ein erfreulicher Nebeneffekt. Die Umsetzung wäre mehr als ein Erfolg, denn daraus ergeben sich auch verbesserte Planungen (Einkauf und Kochen) für ein künftiges Leben eines Inhaftierten. Denn: Wer das Dunkle nicht kennt, kann auch das Licht nicht schätzen. Das heißt, das ewig selbstgenügsame Haftleben und andere mäßig spannende Dinge müssen nicht als eine endlose Kette bis zur Entlassung fortgeführt werden.

Straffälligkeit hat fast immer mit Defiziten im Umgang mit Anderen zu tun. Der Straffällige überschreitet soziale Grenzen, nimmt häufig Bedürfnisse anderer nicht oder verzerrt wahr, hat oft Schwierigkeiten angemessen zu kommunizieren und auf Konflikte zu reagieren. Deshalb sieht der Justizvollzug meistens auch eine Behandlungsform vor. Eine Gruppentherapie, eine soziale Gruppenarbeit oder ein soziales Training. Gemeinsames Kochen kann im erweiterndem Sinn auch als soziale Gruppenarbeit betrachtet werden. Jetzt könnten einige Menschen einwenden, dass das bereits praktiziert wird. Das ist aber nur teilweise richtig, weil bei vielen Insassen die finanziellen Mittel doch sehr beschränkt sind, so dass sich eine dauerhafte Kochgemeinschaft kaum aufrecht erhalten lässt.

Der Vollzug begegnet Herausforderungen entweder mit Ratlosigkeit oder mit situativem Krisenmanagement (siehe den letzten 9 Punkte-Plan der Justizverwaltung).

Was beinhaltet denn die Formulierung "soziale Verantwortung"? Die meisten Inhaftierten ringen um einen Platz an der Sonne und möchten die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Die Sehnsucht der Gefangenen nach strategischen Zukunftsperspektiven bleibt unbeantwortet, dabei scheinen einige Vollzugsformeln durchaus überarbeitungsbedürftig. Die Gefangenen würden den Anflug eines Reifesignals beim Thema "Selbstversorgung" sehr begrüßen und die Verantwortlichen müssen sich nicht immer in das vermeintlich Unabänderliche fügen. Dinge verändern sich. Es kann hier ein Anfang gemacht werden. Es wäre verwegen, zu behaupten, dass mit der Selbstversorgung im Vollzug alles besser wird. Die sparsame Dialogregie der entsprechenden Senatsverwaltung ist hinlänglich bekannt, und doch dürfte es dem "alten Onkel Justizvollzug" nicht schaden, sich für neue Erfahrungen offen zu zeigen.

Die Insassen rechnen mit deutlich weniger entsagungsvollen Varianten und ohne Ausweichmanöver der Verantwortlichen.

Um es noch einmal ganz unmissverständlich zu sagen: Viele Inhaftierte wünschen sich eine Selbstversorgung, die ihnen ein Stück mehr Freiheit und damit auch mehr Eingliederung zurück gibt.

N. K.

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Quelle:
der lichtblick, 50. Jahrgang, Heft Nr. 375 - 2/2018, Seite 27-28
Unzensierte Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2018

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