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MARXISTISCHE BLÄTTER/438: Die Krise als Fortsetzung der Akkumulation mit anderen Mitteln


Marxistische Blätter Heft 2-10

Die Krise als Fortsetzung der Akkumulation mit anderen Mitteln

Von Klaus Wagener


So einfach ist es nicht, an die Marken aus dem SNAP-Programm zu kommen. SNAP (Supplemental Nutrition Assistance Programm) ist ein Lebensmittelhilfsprogramm des US-Landwirtschaftsministeriums. Als bedürftig gilt, wessen Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt (weniger als 903 Dollar pro Person, 1 215 Dollar bei zwei Personen) und wer (im Alter zwischen 16 und 60) dazu den Nachweis erbracht hat arbeitssuchend und -bereit zu sein. Für einen Erwachsenen ohne Kind gilt die Bedürftigkeit ganze drei Monate.

Diese nicht ganz einfachen Hürden nahmen im Dezember 2009 immerhin 38,978 Mio. US-Bürger. Über 7 Mio. mehr als im Vorjahresmonat. Tendenz weiter rapide steigend. Ende der 1960er waren es keine 3 Mio. Und damals erschien das schon als viel. Nun ist auch in "Gods own Country" der Hunger, das Elend, die Arbeits- und Perspektivlosigkeit zurück. Seit Dezember 2007 verlor die US-Wirtschaft (ohne Landwirtschaft) mehr als 8,4 Mio. Jobs. In 2009 wurden 3,957 Mio. Anträge auf Zwangsversteigerung von Privatimmobilien gestellt. Mehr als 10 Mio. Immobilienkredite gelten als "unter Wasser", also über dem Zeitwert verschuldet. Präsident Obama hat die Verschuldungsobergrenze auf 14,3 Bio. Dollar heraufsetzen lassen. Ziemlich exakt 100 Prozent des BIP. Die Krise, die mit dem Einbrechen der Immobilienpreise im Juli 2006 in den USA ihren Ausgang nahm und sich über die ganze Welt verbreitete, ist nun, nach nahezu vier Jahren, in ihrem Ursprungsland keineswegs überwunden. Und nicht nur hier nicht. Sieht man einmal ab von den Größen des Zockergewerbes, die, gerettet mit Hunderten Milliarden Steuergeldern und neu aufmunitioniert mit grenzen- wie zinslosen Zentralbankgeldern, in dem sicheren Gefühl, dass ihnen im Zweifel kein Finanzminister den Geldhahn zudrehen wird, ungerührt und unbehelligt weiter ihren "heißen Reifen" fahren, so laboriert der Rest der Welt weiterhin an den Folgen des brachialen Absturzes. Nullzinspolitik und Konjunkturprogramme haben zwar den Sturz in die Depression aufgehalten, ihre Wirkung ist allerdings begrenzt. An den Strukturproblemen ändern sie nichts. Auch 1936 hielt man in den USA die Krise für überwunden, bis 1937 die "Roosevelt-Depression" den Blütenträumen ein Ende setzte.


Immer wieder blind

Es hat lange gedauert bis die Realität der Krise durch die ideologischen Feldverhaue der neoliberalen Glaubenskrieger zumindest partiell in das Bewusstsein vorgedrungen ist. 2009 gewann die FDP im Bund noch 14,6 Prozent. Dabei hatte sich deren Credo, "Der Staat ist das Problem", ja nicht erst 2007 blamiert. Seit im Herbst 1825 der von einer wüsten südamerikanischen Minenspekulation aufgeblasene Aktienmarkt in London kollabierte, 75 Banken umkippten und eine schwere internationale Wirtschaftskrise folgte, die erste zyklische kapitalistische Krise, wie Marx bemerkte, hätte man es eigentlich wissen können. Aber was ist schon Erkenntnis gegen das Interesse der Finanzindustrie?

Die Krise des Bretton-Woods-Systems, Anfang der 1970er Jahre, beförderte Marktfundamentalisten wie Milton Friedman ins Rampenlicht. Dabei standen ihm mit Pinochet, Reagan und Thatcher Politiker zur Seite, die über die nötigen Machtmittel und die Entschlossenheit verfügten, den Chicagoer Hardlinern den Weg auch im Wortsinn notfalls freizuschießen. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis der alte Wein in neuen, mathematisch aufgebrezelten Schläuchen als der ökonomischen Weisheit letzter Schluss die Fakultäten erobern konnte. Mit einer missionarischen Konsequenz wie bei der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter. Die flächendeckende Dominanz der neoliberalen Frontkämpfer ist zwar nicht die Ursache für die offenkundige Unfähigkeit der kapitalistischen Hauptstaaten zu einer strukturellen Neufundierung des auf Grund gelaufenen Verwertungsmodus zu kommen, sie macht die Problemlösung aber auch nicht einfacher.


Der Zug der Spekulationslemmige

Der Blick auf die Krisenzyklen des 19. Jahrhunderts ist ernüchternd. In schönster Regelmäßigkeit immer der gleiche Crash. Der Kapitalüberschuss sucht nach Anlagemöglichkeit. Es beginnen Investitionen in neue Produkte oder neue Märkte. Preise, Löhne, Profite, Aktien und die Geldmenge steigen. Die Arbeitslosigkeit nimmt ab. Allgemeine Nachfragesteigerung. Konsum. Aus der langsamen Erholung wird der Traum vom schnellen Geld. Irgendeine windige Story wird geboren. Irgendwann reichen die realen Finanzmittel nicht mehr. Der Kredit wird ausgeweitet. Der Zinssatz steigt. Die Produktion hat die Nachfragekapazität längst überschritten. Kredite werden mit Krediten finanziert. Irgendwann langt auch das nicht mehr. Die Waren sind beim besten Willen nicht mehr an den Mann zu bringen. Die ersten Wechsel plätzen. Nun dreht sich das Rad in gleicher Weise zurück, bis Bankrott, Arbeitslosigkeit und Massenelend die aufgebauten Ungleichgewichte wieder ausgeglichen haben.

1825/26 war es die Unabhängigkeit Südamerikas (1823), die England neue Märkte eröffnete und die Londoner Spekulation in völlig irrationale Höhen trieb. 1836/38 dann der Eisenbahnbau in den USA und die damit verbundene Grundstücksspekulation, 1845/48 die Eisenbahnmanie in England und Preußen, die Lebensmittelspekulation und der Ostindienhandel nach dem Opiumkrieg (1843). Jetzt waren schon alle großen Handelsplätze Europas betroffen - und Schauplatz revolutionärer Erhebungen. Der Crash von 1857 war nun die erste wirklich internationale Krise der gesamten kapitalistischen Welt. Eisenbahnprojekte in ganz Europa und den USA und der Ausbau der dazu erforderlichen Schwerindustrie hatten erneut eine nicht gekannte Spekulationswelle losgetreten. Alles Dagewesene in den Schatten stellte aber die "Große Depression" 1873/96.

Das Ende der deutschen Kleinstaaterei, die von Frankreich erpressten 5 Mrd. Goldfranc Kriegskontribution, heizten in Deutschland ein Gründungsfieber ohnegleichen an. Die Investitionen flossen zum ganz überwiegenden Teil in den Bereich Produktionsmittel: Bergwerke, Stahl, Maschinenbau, Eisenbahn, Bau. Die Preise für Eisen schossen durch die Decke. Die Eisen- und Stahlproduktion hatte sich verdoppelt in Deutschland, verdreifacht in den USA. In vier Jahren. Es folgte die entsprechende Spekulationsblase, in der auf alles und jedes spekuliert wurde. Dann der Crash und die Rückwärtsbewegung. Die Preise gingen in den Keller. Die Produktionszahlen ebenso. Auch der Zwischenaufschwung 1878/79 war denkbar schwach und mündete schnell wieder in die Depression ein. Die Krise von 1873/96 beendete den Krisenzyklus des Konkurrenzkapitalismus. Die zum Teil weit fortgeschrittene Kapitalakkumulation war in dieser Struktur an ihre Grenzen geraten. Ihre Überwindung gelang erst durch einen Ausbruch.

Hier liegt "das verlorene Paradies der Neoliberalen". Der Krisenzyklus in "Reinform". Zu erwähnen wären zahlreiche kleinere oder nationale Börsenschwindel (Panama-Crash o. ä.). Selbst Regierungskreise beteiligten sich aktiv an der Wechselreiterei. Die Zentralbanken, aufgrund des Gold- oder Silberstandards um ihre Metallreserven fürchtend, grenzten die Liquidität gerade dann ein, wenn sie am nötigsten gebraucht wurde. Das mit den enormen Schwankungen verbundene Massenelend führte nicht zufällig zu einem historischen Aufschwung der Arbeiterbewegung, letztlich zur Gründung kommunistischer Parteien und der Errichtung einer militärisch gesicherten Systemalternative. Zum ersten Mal in der Geschichte. So etwas soll es nicht mehr geben, Dank "Glotze und Bild", Korruption und Totalüberwachung, und notfalls der Bundeswehr im Inneren. Nicht von ungefähr war Chile 1973 der erste neoliberale Probelauf. Es muss aber nicht immer klappen.

Für jene, die stärker technologisch-basierten Erklärungsmustern vertrauen: hier liegt die Niedergangsphase des zweiten Kondratjew-Zyklus. Die erste hohe Zeit des Eisenbahnbaus, der Stahlhütten und des Großstadtbaus geht zu Ende. Es gibt massenhaft Überkapazitäten. Es braucht fast zwei Jahrzehnte und die Modifizierung des Verwertungsmodus, um die ökonomischen Ungleichgewichte, die sich aufgrund der Überakkumulation entwickelt haben wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Das Zeitalter des Imperialismus stand vor der Tür.


Imperialismus

Wie bei Lenin (LW 22/191 ff.) nachzulesen ist, liegen die Lösungsstrategien für die in der freien Konkurrenz ins Stocken geratene Kapitalakkumulation vor allem in zwei Richtungen: Veränderung der inneren Struktur des Kapitalismus. Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Trusts und Monopole. Der Aufstieg des Finanzkapitals zur führenden Macht. Zweitens Veränderung der Außenbeziehungen. Kapitalexport. Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände, bzw. unter die imperialistischen Großmächte. Gesellschaftspolitisch: Herstellung der materiellen Basis für die Korrumpierung und ideologische Vereinnahmung des Reformismus in der Arbeiterbewegung.

Der ökonomische Gehalt besteht in einer Gegenbewegung zum tendenziellen Fall der Profitrate. Erhöhung der Mehrwertmasse wie der Mehrwertrate zum einen durch die Realisierung von Monopolpreisen, zum anderen durch die Erweiterung des Absatz- und Kapitalmarktes, Erhöhung der Produktion sowie der Sicherung bzw. Verbilligung der Rohstoffversorgung. Im Kern also eine Vergrößerung der Verwertungsbasis und eine weitgehende Auslagerung der Widerspruchsfolgen ins Ausland. Arbeitslosigkeit, Hunger, Verschuldung, Bankrott, Raubbau, etc.

Mit den (vom deutschen Imperialismus nicht akzeptierten) Ergebnissen des Ersten Weltkrieges kommt diese Strategie an ihre Grenzen. Die Aufteilung und Neuaufteilung war (zunächst) abgeschlossen. Der Krieg hatte aber zu einer erheblichen Vernichtung von fixem und variablem Kapital (Desakkumulation) geführt und so zu einem gewissen Ausgleich des Überakkumulationsproblems geführt. Nach einer langwierigen Konsolidierungsphase mündete der Boom des wirtschaftlichen Wiederaufbaus vor allem in den USA schließlich in eine der üblichen Spekulationsblasen. "The outlook of the world today is for the greatest era of commercial expansion in history", hatte Herbert Hoover noch am 27. Juli 1928 verkündet. "Prosperity forever" war die immer wieder gern gedroschene Parole. Wenig später, am 24. Oktober 1929, wurde aus der "greatest era of commercial expansion in history" die größte Wirtschaftskrise der Geschichte. Die Party der "Goldenen Zwanziger Jahre" war zu Ende.

Interessanterweise war es, wie auch 2009, vor allem die US-Automobilindustrie (75 Prozent in 6 Monaten) und die US-Bauindustrie (54 Prozent im gleichen Zeitraum), die am stärksten einbrachen. Wieder hatte die Spekulation den Anpassungsprozess der Produktivkräfte an die Konsumfähigkeit herausgezögert, die Fallhöhe künstlich vergrößert, um nun, durch den Crash, den gewaltsamen Anpassungsprozess zusätzlich zu verstärken. Nach einigen Jahren erfolglosen, zum Teil prozyklischen Herumlaborierens (Brüning) wurde klar, dass es ohne eine aktive antizyklische und expansive staatliche Wirtschaftspolitik nicht geht. Roosevelts New Deal und die Aufrüstungspolitik des deutschen Faschismus verbanden ökonomisch ähnliche Zielstellungen mit sehr unterschiedlichen strategischen Konzepten. 1936/37 lieferte John Maynard Keynes die theoretische Fundierung nach. Sein im Kern nationalstaatlicher Ansatz beruhte auf einem Klassenkompromiss. Doch die innere Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise war mit nationalstaatlichen Alleingängen natürlich nicht aus der Welt zu schaffen. Unter den Bedingungen der Weltwirtschafskrise tendierte dieser Weg zu Protektionismus und dort, wo genügend demagogisches Potential im Einsatz war, auch zur Verstärkung der mit Herausbildung des Imperialismus ohnehin ausgeprägten sozialchauvinistischen Tendenzen. Exemplarisch im deutschen Faschismus. Die krisenhafte Zuspitzung, die sich aus dieser einengenden Struktur zwangsläufig ergeben musste, wurde von der Umstellung auf Kriegswirtschaft und dann durch die Kriegszerstörungen "verhindert".


Bretton Woods

Als im Winter 1941/42 vor Moskau das deutsche Blitzkriegskonzept scheiterte und mit dem Scheitern der "Operation Blau" in Stalingrad 1942/43 auch der Zugang zum Donez und den kaukasischen Ölfeldern versperrt blieb, ein langwieriger Eroberungskrieg für Deutschland nicht führbar wurde, konnte von einer Niederlage oder strategischen Schwächung der Sowjetunion nicht länger ausgegangen werden. Die Systemherausforderung würde auch nach dem Krieg bestehen bleiben. Dazu mit dem Renommee und Nimbus des Siegers über den Faschismus.

Diese Perspektive veränderte die Lage radikal. Der Einstieg in den Kalten Krieg wurde noch während des II. Weltkriegs eingeleitet. Militärisch durch den Abwurf der Atombomben. Ökonomisch durch das Abkommen von Bretton Woods, 1944. Voraussetzung für eine erfolgreiche Abwehr der Systemherausforderung war zum einen Repression, eine massive Aufrüstung, die Unterdrückung aller vom Imperialismus nicht kontrollierten Bewegungen, und zum anderen ein Wohlstandsangebot an den Reformismus. Anders als nach dem 1. Weltkrieg war der in eine Hegemonieposition aufgerückte US-Imperialismus nun in der Lage, gegenüber seinen vom II. Weltkrieg stark geschwächten Konkurrenten den dazu erforderlichen innerimperialistischen Kompromiss durchzusetzen. Die Leitwährung Dollar repräsentierte diese Position ebenso wie die dominierende Stellung der USA in den internationalen Organisationen des imperialistischen Blocks.

In der Wideraufbauphase (bis Mitte der 1960er Jahre) ermöglichte diese Form des staatsmonopolistischen Kapitalismus enorme Akkumulationsraten. Anders als nach der Krise 1929 ff. konnte der Einstieg in den offenen Zoll-Protektionismus gegeneinander weitgehend vermieden werden. Statt Herbert Hoovers "Smoot-Hawley-Tariff-Act" von 1930 gab es seit 1947 das GAlT (General Agreement on Tariffs and Trade) mit einer Zollsenkung gleich zu Beginn von 35 Prozent. Die geringe Zahl der 23 "Vertragsstaaten" und die Tatsache, dass es gegen die Blockade der USA nicht gelungen war, eine entsprechende Bretton-Woods-Organisation (ITO) zu gründen, zeigt allerdings, dass sich die ökonomischen Widersprüche keineswegs so vollständig beilegen ließen. In der "Uruguay-Runde" (1986-94) traten sie in der Agrarfrage schließlich offen zutage. Die folgende "Doha-Runde" (ab 2001), aus dem GATT war nun die WTO (World Trade Organisation) geworden, sollte daran bis heute scheitern. Der politische Druck der imperialistischen Hauptstaaten reichte nicht mehr aus, um ein Wohlverhalten der "Schwellenländer" erzwingen zu können. Wichtig für die Dämpfung des Krisenzyklus nach 1945 waren feste Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen und ein an die Leine gelegter Bankensektor. Aber auch so drängten die kulminierenden Ungleichgewichte und das Stocken des kapitalistischen Akkumulationsprozesses auf eine Modifikation des Verwertungsmodus. 1974 war es soweit.

Zur Deckung der Kosten des Vietnamkriegs, etwa 500 Mrd. Dollar, und zur Finanzierung des beginnenden US-Außenhandelsdefizits hatte die US-Zentralbank Greenbacks gedruckt, die nun als Eurodollar von der Finanzindustrie genutzt wurden, um die Finanzmarkt-Regulierungen zu umgehen. Die wirtschaftlichen Paritäten hatten sich mit dem Aufstieg der Exportnationen BRD und Japan erheblich verändert. Am 15. August 1971 musste Nixon den Offenbarungseid ablegen, die Golddeckung des Dollar aufkündigen und die Abwertung des Dollar einleiten. Damit war der Ausstieg aus Bretton Woods programmiert. Noch einige Zeit hatte die Schillersche "Globalsteuerung" mit zwei erheblichen Investitionsprogrammen (2,5 und 5,3 Mrd. D-Mark, 10 Prozent des Haushaltes) die Konjunktur nach der Vorläuferkrise 1967/68 retten können. Dann begann auch in der BRD die Rezession, stiegen Staatsverschuldung und Arbeitslosenzahlen.


Die neoliberale Gegenreform

Der allmähliche Ausstieg aus dem Bretton-Woods-System vollzog sich noch bis in die 1980er Jahre. Die letzten Regulierungen, Aufhebung des Glass-Steagall-Act (Trennung in Geschäfts- und Investmentbanken) fielen 1999 unter Bill Clinton. Doch die Weltwirtschaftskrise 1974/75 markiert eine Begrenzung des Nachkriegs-Verwertungsmodus insbesondere für die Finanzindustrie und die transnationalen Großkonzerne. Die verschobenen innerimperialistischen Paritäten einerseits sowie die in den 1980er Jahren erkennbare Schwäche der Sowjetunion und die mit dem Nixon-Besuch 1972 erkennbare Kooperationsbereitschaft Pekings andererseits machten einen Ausbruch der USA, Englands und der Bundesrepublik aus den Zwängen der Nachkriegsregulierung notwendig und möglich.

Der Fall der chinesischen und später auch der Berliner Mauer vergrößerte die Verwertungsbasis um fast 2 Mrd. Menschen. Die kapitalistische Durchdringung des gewaltigen eurasischen Raumes setzte die Spekulation auf neue Ressourcen und Absatzgebiete frei. Gleichzeitig vollzog sich eine Revolution der Mikroelektronik, der Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnologie (Fünfter Kondratjew-Zyklus). Damit bekam die neoliberale Gegenreform ihre phantastische Vision, die das Geld bzw. den Kredit locker machte: Die berühmte "immerwährende Prosperität", gezeugt diesmal von "rationalen Finanzmärkten", und das allseitig vernetzte, grenzenlose, globale "Weltdorf".


"Globalisierung"

Die Entgrenzung des Kapitalismus hat die Welt drastisch verändert. Kapital, wie immer auf der Suche nach der profitabelsten Anlage, findet diese beispielsweise nicht mehr in der US-Autoindustrie. Oder der britischen. Die Autos der Zukunft dürften in Asien gebaut werden. Einige auch in Europa. Der Akkumulations- und Zentralisationsprozess hat zahllose Kapitalisten "totgeschlagen". Er wird weitere "totschlagen". Insbesondere in der Krise. Es dürften nicht sehr viele übrigbleiben, welche die enormen Markthürden für die Dislozierung profitträchtiger Produkte (Forschung, Entwicklung, Fertigung, Vertrieb, Marketing) in einem überbesetzten, globalen Markt stemmen können. Und sie sitzen nicht notwendig im "Westen". Jenseits der Autobranche sieht es zum Teil noch drastischer aus. Wer in Zukunft nicht zu den wenigen, häufig gerade eine Handvoll, der Branchengrößten gehört, könnte ernste Probleme bekommen.

Diese strukturelle Verschiebung hat den Deindustrialisierungsprozess in den alten imperialistischen "westlichen" Hochburgen beschleunigt. Zwar ist "westliches" Kapital durch Direktinvestitionen, Joint-Venture etc. an diesem Prozess beteiligt. Nur stehen die Fertigungsstätten nun in Shanghai, Shenzen oder Shantou und nicht in Detroit oder Longbridge. Der Mehrwert, der dort erarbeitet wird, kann nur zum Teil rücktransferiert werden. Die Devisenreserven in Asien sprechen eine deutliche Sprache. Die VR China ist so zum größten Auto-, Maschinenbau-, und Schiffsproduzenten weltweit aufgestiegen. Die Krise und insbesondere das gegenwärtige Konjunktur- und Kreditprogramm wird diesen Prozess massiv beschleunigen. Während der "Westen" seine Spekulanten mit Billionen Dollar Steuergeldern raushaut, investiert die Volksrepublik rund eine Bio. Dollar in den Aufbau ihrer Produktionskapazitäten und ihrer Infrastruktur. Aufrüstung für die nächste Runde des Akkumulationswettlaufs. Die Fata Morgana vom nivellierten Wohlstand im "Weltdorf" hat sich vor dem Gesetz der kapitalistischen Ungleichentwicklung verflüchtigt. In der entgrenzten Welt hat es seine Wirksamkeit eindruckvoll unter Beweis gestellt. Allerdings sind die Ergebnisse andere, als von den Strategen der neoliberalen Gegenreform erwartet.

Konnte der "Westen" seine realökonomische Dominanz in der Bretton-Woods-Ära eher ausbauen, blieb in den folgenden Reagan/Bush-Jahren davon vor allem die militärisch-finanzkapitalistische Vorherrschaft. Sie wird von den USA mit einem extremen volkswirtschaftlichen Aufwand erkauft. Eine gewisse Ausnahme stellt der deutsche Imperialismus dar, dessen aggressives Lohndumping seine Position in den Bereichen Autoindustrie, Maschinenbau, Chemie sichern konnte. Wobei die Auto-, Flugzeug- und Rüstungsindustrie ohnehin eine weithin akzeptierte Sonderrolle spielen, die milliardenschwere Subventionspolitik akzeptabel macht. Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Trotz flammender Bekenntnisse zum freien Welthandel ist der Protektionismus auf dem Vormarsch. Er wird in dem Maße an Kraft gewinnen, wie sich die sozialen Folgen der Krise nicht mehr mit Konjunkturprogrammen und Kurzarbeitergeld abschwächen lassen. Selbst der eher linksliberale Nobelpreisträger Paul Krugman (und er steht nicht allein) fordert Strafzölle gegen China, sollte die Volksrepublik den Renminbi nicht aufwerten, also ihre Wettbewerbssituation verschlechtern. Bei Autoreifen existieren sie bereits. Dieses Zeichen ökonomischer Schwäche macht deutlich, wessen Artillerie mit den "wohlfeilen Preisen ihrer Waren" gerade wessen "Mauern in den Grund schießt".


Verschuldung

Alle kapitalistischen Hauptstaaten haben seit der Reagan-Phase, mehr oder weniger stark der neoliberalen Ideologie folgend, ihre sozial- und konjunkturausgleichende Sozial- und Steuergesetzgebung abgebaut. Da hierdurch der Reichtum der Reichen zwar größer, die für den Funktionserhalt der Gesellschaft notwendigen Aufgaben aber keineswegs geringer werden, sie im Gegenteil trotz vorsätzlicher Unterversorgung strukturell zunehmen, entsteht eine Lücke, die nur durch immer stärkere Verschuldung auszugleichen ist. Diese Verschuldung war in der Durchsetzungslogik neoliberaler Strategie als Druckmittel zur Durchsetzung staatlicher und sozialer Kürzungen durchaus erwünscht und wurde bspw. von der rosa-olivgrünen Koalition bewusst schockartig eingesetzt. Allerdings ohne in der Lage zu sein, die Defizite zurückzuführen. Selbst in der Boomphase 2005 f. nicht. Die immer weitergehende Ausgliederung des Reichtums und der Mehrwertproduktion aus der Finanzierung der Sozialsysteme und der gesamtstaatlichen Aufgaben haben die Defizite staatlich wie gesamtgesellschaftlich immens anwachsen lassen. Die Versuche der Privatisierung öffentlicher Aufgaben haben zwar die Löhne der dort Beschäftigten gedrückt, die Kosten aber eher nach oben getrieben. Japan hat mittlerweile ein Staatsdefizit von fast 200 Prozent/BIP aufgehäuft, die USA einen gesamtgesellschaftlichen Schuldenberg von über 50 Bio. Dollar oder 350 Prozent/BIP. Bankenrettung sowie Konjunkturprogramme haben die Verschuldung 2009 massiv in die Höhe getrieben. Die USA sind vom weltgrößten Gläubiger nach dem II. Weltkrieg zum weltgrößten Schuldner geworden. Dabei macht es zunächst kaum einen Unterschied, ob die Unterfinanzierung des unabdingbar notwendigen staatlichen und sozialen Sektors aus Dumpinglöhnen zur Stützung der Exportüberschüsse oder Krediten zur Finanzierung von Handelsbilanzdefiziten herrührt. Der Einbruch des deutschen Exports hat die gegenseitige Abhängigkeit deutlich werden lassen. Was natürlich nicht bedeutet, dass daraus eine Veränderungsabsicht resultiert.


Eurozone

Die durch die "Globalisierung" verstärkte Ungleichentwicklung entwickelt, neben einer Zentralisierung der hochakkumulierten Kapitale, auf der staatlichen Ebene erhebliche zentrifugale Kräfte. Dies schon im innerstaatlichen, aber umso mehr im zwischenstaatlichen Bereich. Kaum ein Staat des "Westens" ohne einen "Mezzogiorno". Mehr als die Hälfte der US-Bundesstaaten sind nicht mehr in der Lage einen geordneten Haushalt aufzustellen. Kalifornien ist mit einem 25-Mrd.-Dollar-Defizit nur die Spitze des Eisbergs. Destabilisierend wirken die in einer rapide zunehmenden Verschuldung zum Ausdruck kommenden Ungleichgewichte aber auch auf den weltweit größten Wirtschaftsraum: Die EU und insbesondere deren Kernbereich, die Eurozone. Anders als bei Kalifornien ist bei Griechenland eine letztinstanzliche Hilfe durch die Zentralinstitutionen nicht vorgesehen. Davor war der Fundamentalismus der Bundesbank. Nun zeigt sich, dass die Realität eine andere ist als die mathematischen Modelle der neoliberalen Hardliner. Entweder Beidrehen oder die Eurozone fliegt auseinander, heißt die Alternative. An Letzterem kann der chronisch exportabhängige deutsche Imperialismus kein Interesse haben. Fast zwei Drittel seiner Ausfuhren gehen in diesen währungspolitisch gut abgesicherten Markt. Der dazu den großen Vorteil bietet, dass für die sozialen Folgen des Niederkonkurrierens der dortigen Industrien andere zuständig sind. An einem Rettungsversuch gibt es also kaum einen Zweifel. Offen bleibt allerdings, ob er gelingt. Denn es wird mit 30 Mrd. o. ä. für Griechenland nicht sein Bewenden haben. Noch scheint die Zahlungsfähigkeit der größeren gefährdeten Staaten gegeben, aber die strukturellen Probleme der "PIIGS"-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) werden ja durch die neoliberalen Heilsrezepte bekanntlich nicht besser. Zumal sie jetzt geradezu klassisch prozyklisch angelegt sind. Mehr kann man kaum falsch machen. So oder so wird sich die Bundesrepublik auf eine erhebliche Einschränkung ihrer Exporte einstellen dürfen.

Die Deregulierung der Banken, das kreditgetriebene Wachstum der neoliberalen Ära hat zu enormen Profiten und einem weit überproportionalen Wachstum des Finanzsektors geführt. Erhebliche Instabilität und ein ganzer Krisenbogen waren die Folge. In der Saving & Loan-Krise 1980-1994 fielen 1600 Sparkassen um. Die Kosten stiegen auf 160 Mrd. Dollar. Am 19. Oktober 1987 rauschte der Dow Jones um 22,6 Prozent in den Keller. Der größte Tagesverlust aller Zeiten. 1989 platzte die japanische Immobilienblase. Der Nikkei hatte bei knapp 39 000 notiert. In Tokios Ginza wurde der Quadratmeter mit 1 Mio. Dollar gehandelt. 1994 ging Mexiko in die Knie. Der Peso musste um 50 Prozent abgewertet werden, IWF und Weltbank kratzten 47,8 Mrd. Dollar zusammen. 1997 platzte die Spekulation auf die südasiatischen "Tigerstaaten". Die südasiatischen Indizes brachen bis zu 85 Prozent ein. Ein Jahr später 1998 knallte der russische Aktienmarkt um fast 80 Prozent nach unten. 1999 siegte die Spekulation gegen den brasilianischen Real. 2001 musste Argentinien den Staatsbankrott verkünden. Das BIP sank um 21 Prozent. Das weltweit operierende Spekulationskapital war nun durchaus in der Lage, auch große Staaten erfolgreich anzugreifen oder durch Abzug des Kapitals in die Rezession zu stürzen. George Soros hatte ersteres am 16. September 1992 gegen die Bank of England eindrucksvoll demonstriert. Seither hat keine Zentralbank die Kraftprobe mehr gewagt. Wenn dann noch wie im Falle Argentiniens und Mexikos Kapitalflucht dazu kam, war der Crash perfekt. Das Platzen der Dotcom-Blase im März 2000 war in gewisser Weise das Zeichen an der Wand. Sie basierte auf der Vorstellung, dass IT-Werte nur eine Richtung kennen würden. Nach oben. Dieser Schwindel hatte geholfen, das Volumen des Finanzsektors enorm aufzublasen. Nur wenige Jahre später wurde das Gleiche von US-Immobilienwerten vermutet. Ein noch größeres Spekulationsobjekt ist schwer vorstellbar.

Dieser natürlich unvollständige kleine Abriss lässt wenig Raum für die Hoffnung auf Lerneffekte. Und man hätte nicht Billionen für die Rettung des Casino ausgeben müssen, wenn man es danach zu schließen beabsichtigte. Bislang ist eine Gegenbewegung zum Neoliberalismus, eine "Reform von Oben", nicht erkennbar. Außer einer wohlfeilen Demutsrhetorik lässt sich substantiell wenig greifen. Ein "Weiter-so" erscheint andererseits auch im Sinne des Verwertungsinteresses wenig zielführend. Aus zahllosen kleinen Werkstätten sind nach 200 Jahren Akkumulation und Zentralisation wenige weltumspannende Großkonzerne geworden. Die Märkte sind aufgeteilt und (entsprechend ihrer Kaufkraft) gesättigt. 20 Jahre nach der Rückeroberung des "Ostens", sind keine größeren Geländegewinne mehr zu machen. Neueroberungen sind nur gegen die Interessen anderer und damit zu hohen Kosten möglich. Die staatlichen und privaten Bilanzen sind miserabel. Die Kapazitäten weit unterausgelastet. Insbesondere bei dem nach der Eisenbahn zweiten großen Akkumulationsthema des Kapitalismus, dem Auto. Auch die IT-Branche scheint ihren Zenit gesehen zu haben. Ein sechster Kondratjew-Zyklus ist noch nicht auszumachen. Eine realwirtschaftliche Expansion scheint, soweit erkennbar, kaum plausibel. Damit spricht wenig für eine Ablösung der alten Blase durch eine neue. Da sieht es mehr nach Ratlosigkeit denn nach Perspektive aus, sich wieder auf das Casino zu verlassen. Aber auch in den großen Umbrüchen 1873 ff. und 1929 ff. hat es geraume Zeit gedauert, bis eine (systemimmanente) Lösung herangereift war. Allerdings unter dem erheblichen Druck, dass eine systemüberwindende als möglich erschien.


Klaus Wagener, Dortmund, MB-Redaktion


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 27-34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2010