Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/440: Weltwirtschaftskrise und zwei entgegengesetzte "3-K-Modelle"


Marxistische Blätter Heft 2-10

Weltwirtschaftskrise und zwei entgegengesetzte "3-K-Modelle" als Antworten

Von Winfried Wolf


Die gegenwärtige Krise ist keineswegs beendet. Ein Grund für das Andauern der Krise ist darin zu sehen, dass es unterschiedliche Krisenebenen gibt, die wechselseitig miteinander verflochten sind und die sich verstärken.[1]

Kommt es nicht zu dem - von den herrschenden Kreisen erwarteten Auftauchen aus der Krise und verlängert sich dieselbe, dann werden die maßgeblichen Kreise der herrschenden kapitalistischen Klassen versuchen, immanente Auswege aus der strukturellen Krise zu finden. Eine solche verlängerte Krise mit diversen "Zwischenhochs kann wie folgt beschrieben werden: Die Depression wird in jenen Ländern, die von der allgemeinen Krise des Kapitalismus am stärksten getroffen sind, einen chronischen Charakter annehmen (...) In anderen Ländern wird die Depression in eine Belebung und in eine gute Konjunktur übergehen. Wichtig ist, dass auch nach dem Vorübergehen der akuten Krisenphase keinesfalls eine allgemeine, alle Länder und alle Produktionszweige umfassende Belebung eintreten wird (...) Die folgende neue Krisenphase wird noch tiefer und schwerer sein als die gegenwärtige." Diese Einschätzung der weltweiten Krise wurde im Mai 1931 von Eugen Varga, dem damals prominentesten Ökonomen der Komintern, verfasst.[2]

Aus meiner Sicht gibt es aktuell zwei sich antagonistisch widersprechende Drei-K-Optionen - eine bürgerliche und eine sozialistisch-alternative. Die gegenwärtig betriebene ist die kapitalistische 3-K-Option. Sie lautet: Erstens Keynes à gogo; zweitens Konkurrenz hoch zwei und drittens Krieg und Rüstung wie gehabt.


Keynes à gogo oder: rücksichtslose Wachstumsförderung

Dort wo es zu einer (vulgären) Form keynesianischer Politik kommt, ist diese allein auf Wachstum als solches ausgerichtet. In der Regel werden dabei bestehende (Dinosaurier) Strukturen der kapitalistischen Ökonomie verstärkt: Abwrackprämien, Subventionierung der Auto- und Flugzeugbaukonzerne, Straßenbauprogramme, Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke und Bau neuer Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen usw.

Damit aber wird ein Faktor, der mit zur weltweiten Krise beitrug, die Klima- und Umweltkrise, verstärkt. Gleichzeitig führt diese Art von Keynesianismus zu einer Diskreditierung desselben, eben weil keine wirklichen Perspektiven geboten werden und Summen in Höhe von vielen Hunderten Milliarden US-Dollar oder Euro regelrecht verpulvert werden. Kommt es zu einer neuen Verschärfung der Krise, so wird es objektiv zwar einen Spielraum für einen verstärkten Keynesianismus - auch für einen alternativen verstärkten Keynesianismus - geben. Doch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dürften dann so sein, dass eine solche Option nicht mehr gegeben und das Spar-Diktat ins Zentrum rücken wird.


Konkurrenz hoch zwei Oder: Neuer Hegemon

Eine zweiter aus kapitalistischer Sicht immanenter Ausweg aus der Krise läuft auf eine verschärfte innerimperialistische Konkurrenz und in deren Gefolge auf eine Ablösung der Hegemonialmacht USA hinaus. In der aktuellen Krise wird sich der wirtschaftliche, währungstechnische, politische und kulturelle Niedergang der USA beschleunigen. Dass es parallel einen militärischen Niedergang der USA gibt, ist auf mittlere Frist nicht erkennbar. Zu groß ist der Abstand zwischen den militärischen Potenzen der USA und derjenigen ihrer potentiellen Herausforderer. Das entscheidende Problem bei dieser möglichen immanenten Lösung der Krise besteht darin, dass es keinen überzeugenden Kandidaten für die Position des neuen Hegemon gibt.

China kommt dafür in den nächsten zehn Jahren kaum in Frage. Der materielle Abstand zu den USA und zur EU ist noch zu groß. Zwar konnte sich China dank des weltweit gesehen größten Konjunkturprogramms vom Krisengeschehen weitgehend abkoppeln, doch es bleibt die Tatsache bestehen, dass das Hauptabsatzgebiet chinesischer Exporte, die USA, im Zentrum der Krise steht. Die Regierung in Peking könnte daher in den nächsten Monaten verstärkt von den beträchtlichen wirtschaftlichen und politischen Widersprüchen in Anspruch genommen werden.

Auch die Europäische Union ist kein ernsthafter Kandidat für die Position des neuen Hegemon. Die EU stellt einen gemeinsamen Wirtschaftsraum dar. Ein großer Teil der EU - die Eurozone - repräsentiert ein gemeinsames Währungsgebiet mit einer einheitlichen Euro-Währung und einer einheitlichen, durch die Europäische Zentralbank orchestrierten Währungs- und Zinspolitik. Gleichzeitig gibt es jedoch in der EU weiterhin 27 verschiedene nationale Politiken im Bereich der Wirtschaft und der Steuergesetzgebung.

Die Krise hat die extreme Schwäche der EU und die Labilität des Euro offen gelegt: Einige EU-Mitgliedsländer in Mittel- und Osteuropa befinden sich in einer tiefen Krise. Das trifft in besonderem Maß auf die baltischen Staaten zu, in denen das jeweilige Bruttoinlandsprodukt in den beiden Jahren 2009 und 2010 um mehr als 20 Prozent einbricht. Das trifft seit Anfang 2010 auf Griechenland zu, das sich mit der Gefahr eines Staatsbankrotts konfrontiert sieht. Die Ende März 2010 erfolgte Beruhigung der griechischen Krise durch eine Kompromißlösung auf einem EU-Gipfel unterstreicht eher die tiefe EU-Krise: Ganz offenkundig gibt es in der EU enorme interne Konflikte, in deren Zentrum das Festhalten der deutschen Regierung an dem Modell der Exportförderung und des Handelsbilanzüberschusses - auch auf Kosten der übrigen EU-Länder - steht. Die Einschaltung des IWF als Teil der Krisenlösung in Griechenland ist Ausdruck einer massiven Schwäche der EU. Viel spricht dafür, dass Griechenland nur ein Testlauf für neue spekulative Prozesse ist; vergleichbare Verhältnisse in den Euroländern Portugal, Spanien, Irland und Italien dürften folgen. Auch eine konzertierte spekulative Aktion gegen das britische Pfund ist absehbar.[3]

Die im Verlauf der Krise allgemein verschärfte Konkurrenz entwickelt sich zu einer Krise der Eurozone und der EU; die Einheitswährung Euro erlebt bereits ein Jahrzehnt nach ihrer Einführung eine existenzielle Krise.


Kriege wie gehabt, oder: Die Paarung militärischer Keynesianismus und Rüstung ist eine erfolgreiche

Der dritte immanente Ausweg aus der Krise hängt eng mit dem zweiten, der Verschärfung der innerimperialistischen Konkurrenz, zusammen. Die zwei entscheidenden Schwächen der EU als Herausforderer der USA sind die fehlende politische (und währungstechnische) Einheit und die geringe militärische Bedeutung. Im Fall von China gibt es den noch relativ großen wirtschaftlichen Abstand hinsichtlich der Pro-Kopf-Einkommen mit einem entsprechend gering entwickelten inneren Markt und - erneut - die militärische Schwäche.

Beide potentiellen Herausforderer der USA versuchen, den Abstand zu den USA aufzuholen. In China durch deutlich wachsende Militärausgaben und die Entwicklung neuer Waffensysteme (U-Boote, Flugzeugträger); in der EU durch qualitative Fortschritte in der Militärtechnologie, den Aufbau einer einheitlichen EU-Armee und durch das Sammeln von Erfahrungen bei Auslandseinsätzen der europäischen Armeen. Die US-Regierung hat auf die Steigerung der chinesischen Rüstungsausgaben bereits unzweideutig reagiert. Das US-Verteidigungsministerium präsentierte im März 2009 dem US-Kongress einen Bericht über die chinesischen Rüstungsbestrebungen. Darin heißt es, Chinas Aufrüstung verschiebe das Gleichgewicht der asiatisch-pazifischen Region und bedrohe den Bündnispartner Taiwan. Peking entwickele auf aggressive Art neue Raketen und Angriffs-U-Boote und habe bereits 1000 Kurzstreckenraketen aufgestellt, viele davon Richtung Taiwan. Das Pentagon behauptet, dass die chinesischen Rüstungsausgaben umgerechnet zwischen 105 und 150 Milliarden US-Dollar liegen würden. Die US-amerikanischen allerdings überschreiten 2010/2011 die 600-Milliarden-US-Dollar-Schranke.[4]

Auch auf weltweiter Ebene steigen die Rüstungsausgaben und die Rüstungsexporte deutlich an. Sie wachsen auch antizyklisch in der Krise. Und selbst im Fall des Aufbrechens großer nationaler Krisen werden die Rüstungsausgaben nicht angetastet: Die aktuellen Sparmaßnahmen in Griechenland (Lohnsenkungen, Abbau der Beschäftigten im öffentlichen Sektor und Erhöhung des Renteneintrittsalters) sind gepaart mit Rüstungsausgaben, die prozentual doppelt so hoch wie die deutschen liegen und mit dem Kauf neuer Rüstungsgüter wie Brennstoffzellen-U-Boote, Leopard-Panzer und Eurofighter.[5]

In einer größeren Zahl von Konzernen, die einen Rüstungsbereich und einen zivilen Sektor haben, verbinden sich die Krisentendenzen im letztgenannten mit neuen Profitmöglichkeiten im Segment Verteidigung. Entsprechend reagiert das Management etwa bei Boeing und EADS/Airbus - mit Einschränkungen im zivilen Sektor und einer Ausweitung des militärischen Geschäfts. Solche Tendenzen gibt es auch bei allen Konzernen mit Werften - so bei ThyssenKrupp (mit ThyssenKrupp Marine Systems - TKMS). Es gibt sie beim Konzern Rheinmetall. dessen Segment Autozulieferung in einer tiefen Krise steckt, der jedoch im Bereich Panzerbau und Munitionsgeschäft 2009 einen wachsenden Umsatz und steigende Gewinne erzielt. Von dem deutschen Unternehmen Jenoptik, das in einer die Existenz bedrohenden Krise steckt, hieß es Mitte 2009: Nur ein Bereich bereitet dem Konzern Freude: die Rüstungselektronik.

Dort hat er das große Los gezogen. Für den neuen Schützenpanzer der Bundeswehr Puma soll Jenoptik Systeme für die Stabilisierung und Energieversorgung liefern. Hinsichtlich der geschäftlichen Bilanz des größten europäischen Rüstungskonzerns schlagzeilte die Neue Züricher Zeitung: BAe durch Nahost-Kriege mit mehr Gewinn.[6]

Die USA haben eine entscheidende Erfahrung mit einem zivilen und einem militärischen Keynesianismus hinter sich - diejenige aus der vergangenen Weltwirtschaftskrise. Paul Krugman fasste diese Erfahrung wie folgt zusammen: Wer einmal sehen will, welche Anforderungen erforderlich sind, um die Wirtschaft aus der Schuldenfalle zu befreien, der sollte das massive öffentliche Beschäftigungsprogramm betrachten, das die Große Depression beendete, besser bekannt unter dem Begriff Zweiter Weltkrieg. Dieser Krieg brachte nicht nur Vollbeschäftigung. Er führte auch zu schnell ansteigenden Einkommen. (...) Bis 1945 stiegen zwar die öffentlichen Schulden der USA, doch die Relation der privaten Schulden zum Bruttoinlandsprodukt lag (1945) nur bei der Hälfte des Vorkriegsniveaus von 1940. Dieses niedrige Schuldenniveau bildete dann die Grundlage für den großen Nachkriegsboom.[7]


Wir zahlen nicht für Eure Krise

Als sich Ende 2008 die Krise vertiefte, setzte sich der überzeugende Slogan durch: Wir zahlen nicht für eure Krise. Globalisierungskritische Gruppierungen und Gewerkschaften riefen zu breiten Protesten auf. Wie bereits zuvor im Fall der Aktionen gegen Werkschließungen war die Bewegung in Frankreich die größte. Am 29. Januar 2009 gab es in diesem Land als Resultat eines Aufrufs von acht Gewerkschaften rund 200 Demonstrationen, an denen insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen teilnahmen. In der Folge kam es europaweit zu weiteren größeren Aktivitäten.

Doch seit Mitte 2009 setzte sich die Stimmung durch "Es scheint doch nicht so schlimm zu kommen". Die nur langsam steigenden Arbeitslosenzahlen, das Abfedern der drohenden sozialen Misere unter anderem durch die massive Ausweitung der Kurzarbeit und die vielfachen Meldungen, man habe "die Talsohle der Krise durchschritten" trugen zu dieser Haltung bei. Die großen - dann nicht erfüllten - Erwartungen, die zum gleichen kritischen Zeitpunkt - Ende 2008 und Anfang 2009 - in Barack Obama als neuen US-Präsidenten gesetzt wurden, wirkten ihrerseits demobilisierend - vor allem natürlich in den USA, aber durchaus auch weltweit. Die Behauptungen, nun komme es zu einem umfassenden Green New Deal hatten ja etwas Faszinierendes.

Inzwischen ist ein realistischerer Blick auf das wirtschaftliche Geschehen und das Agieren der bürgerlichen Regierungen angebracht. Der Katzenjammer, den der weitere Anstieg der Massenarbeitslosigkeit im Verlauf des Jahres Jahr 2010 mit sich bringt, und der nach der NRW-Wahl im Mai 2010 zu erwartende verschärfte Angriff von Unternehmen und Regierung auf die Arbeitsplätze, auf die Arbeitsbedingungen und auf die soziale Sicherheit, dürfte zur Ernüchterung beitragen.

Auch wenn die Massenbasis dafür, dass ein alternatives antikapitalistisches Programm aufgegriffen wird, gegenwärtig nicht vorhanden ist, so ist es doch sinnvoll, ein solches Programm zu entwickeln. Bei einem großen Teil der Bevölkerung gibt es die Grundhaltung, dass der Kapitalismus keine Antworten auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen soziale Sicherheit, Hunger und Klimaveränderung bietet.

Erforderlich ist ein Programm, das an den aktuellen Erscheinungen der Krise und am Bewusstsein der Menschen anknüpft und zugleich perspektivisch auf eine andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung orientiert. Dieses könnte die folgenden drei Bestandteile und ein alternatives 3-K-Investitionsprogramm haben.

Erster Programmpunkt: Der Bankensektor muss unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden und in seinen Dimensionen deutlich zurückgeführt und dezentralisiert werden.

Der größte Teil der unabhängigen Wirtschaftsexperten war sich im Zeitraum Herbst 2007 bis Mitte 2009 darin einig, dass der Bankensektor deutlich überdimensioniert und in der bestehenden privatkapitalistischen Form eine ständige Gefahr für die wirtschaftliche Stabilität darstellt. Inzwischen haben allein zehn große Industriestaaten rund 5000 Milliarden Euro oder 20 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zur Rettung der Banken zur Verfügung gestellt. Von diesem unvorstellbar hohen Betrag wurde bisher rund die Hälfte auch real ausgegeben. Das Ergebnis all dieser Programme besteht darin, dass der Bankensektor neu gestärkt wurde und dass die Spekulation - auch aufgrund der fehlenden kaufkräftigen Massennachfrage - sich erneut fast auf einem Niveau wie vor Ausbruch der Krise bewegt.

Nach rein kapitalistischen Kriterien - Wer zahlt, bestimmt die Musik - müsste sich der weltweite Finanzsektor zum größten Teil bereits unter öffentlicher Kontrolle befinden. Formal rechtlich befindet sich auch bereits ein erheblicher Teil des US-amerikanischen, des britischen und des deutschen Finanzkapitals in öffentlichem Eigentum. Allerdings erklären die Regierungen in Washington, London und Berlin, die entsprechenden Anteile an staatlichem Bankenkapital bald wieder an private Eigentümer abgeben und auch zwischenzeitlich nicht in das operative Geschäft eingreifen zu wollen.

Das neue Aufleben der spekulativen Krise - siehe die Krise um die griechischen Schulden - unterstreicht die Richtigkeit der Forderung: der gesamte Finanzsektor muss unter öffentliche Kontrolle gestellt werden.

Programmpunkt zwei: Rückverteilung von oben nach unten.

Ein Ausgangspunkt für die Krise ist der extrem ungleiche Verteilungsprozess - das reicher werden der Reichen und die Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Auf diese Weise wurden seit Beginn des letzten Zyklus vor rund zehn Jahren auf internationaler Ebene mehr als drei Billionen Euro von unten nach oben umverteilt, in Deutschland war es rund eine halbe Billion. Wenn in Deutschland heute die Steuergesetzgebung von Mitte der 1990er Jahre (u.a. mit der alten Körperschaftssteuer, der höheren Einkommenssteuerprogression, der Vermögenssteuer) gelten würde, so würde die öffentliche Hand über knapp 100 Milliarden Euro mehr verfügen - im Jahr. Es gäbe kein Problem einer neuen Verschuldung bzw. es existierte ein erheblicher Spielraum zur Finanzierung einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung und einer alternativen, keynesianischen Politik. Daher muss eine Palette von Forderungen zur Stärkung der öffentlichen Finanzen durch Besteuerung von hohen Einkommen, größeren Vermögen und der Profite der Banken und der großen Unternehmen zusammengestellt werden.

Dritter Programmpunkt: Erforderlich ist eine europaweite Kampagne zur Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich.

Die Forderung nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung ist eine Antwort auf die gewaltige Steigerung der Produktivität, die im Rahmen der Globalisierung erreicht wurde. Um ein Beispiel zu geben: Die weltweite Produktion von Kraftfahrzeugen wurde seit Anfang der 1970er Jahre und bis 2007 um das Zweieinhalbfache gesteigert, doch die Zahl der in der weltweiten Autoindustrie Beschäftigten blieb weitgehend dieselbe. Die 200-jährige Erfahrung allerdings lehrt: Diese Anteilnahme der Produzentinnen und Produzenten an den Früchten der Produktivkraftsteigerung muss erkämpft werden. Im Manchesterkapitalismus des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts herrschte der 12-Stunden-Tag und die 6- oder gar 7-Tageswoche vor; 80 bis 90 Stunden Arbeitszeit in der Woche waren die Regel. Damals wurde in England die 10-Stunden-Bill erkämpft: Die Wochenarbeitszeit sank auf rund 60 Stunden. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte in einigen Ländern Europas und nach der Weltwirtschaftskrise in den USA die Länge des Arbeitstags auf 8 Stunden und die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden reduziert werden. Der Faschismus und der Zweite Weltkrieg brachten einen Rückschlag und eine neuerliche Ausweitung der Arbeitszeiten. Im Zeitraum 1955 bis 1970 wurde in vielen kapitalistischen Ländern die Fünftagewoche erkämpft; die Wochenarbeitszeit sank auf unter 45 Stunden. Schließlich gelang es den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung in einigen Ländern, den den 1980er und 1990er Jahren eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden durchzusetzen. Hier bildete sogar Kerneuropa - Deutschland und Frankreich - die soziale Avantgarde. Dieser Erfolg wurde zu einem größeren Teil durch die neoliberale Gegenoffensive zunichte gemacht. In Deutschland stieg die tatsächlich geleistete durchschnittliche Arbeitszeit der Noch-Beschäftigten wieder auf rund 40 Stunden.

Die bürgerlichen Gegenreaktionen auf Arbeitszeitverkürzungen und die Forderungen nach einer Verlängerung der Arbeitszeiten waren in den vergangenen 150 Jahren immer die Vorboten von sozialen Katastrophen. Gegenwärtig gibt es erneut bürgerliche Stimmen, die fordern, man müsse in der Krise die Arbeitszeiten wieder erhöhen. Die Deutsche Bundesbank plädierte im Juli 2009 für die neuerliche Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre - ausdrücklich unter Verweis auf die ausgehöhlte Finanzierungsbasis der Staatsfinanzen als Folge der Anti-Krisenmaßnahmen. Vergleichbares dürfte Teil des Sparprogramms der Bundesregierung sein, das vor der Sommerpause 2010 verkündet werden wird. Wenn solche Forderungen umgesetzt werden, tragen sie zu einer weiteren Steigerung der Massenarbeitslosigkeit bei.

In dieser Situation sind die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke aufgefordert, eine gemeinsame, breit angelegte Kampagne zur qualitativen Reduktion der Arbeitszeit durchzuführen. Indem diese von vornherein als eine europaweite Kampagne geführt würde, entfiele auch weitgehend das Argument der bedrohten Standortkonkurrenz: Knapp 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Europas verbleiben innerhalb des Kontinents. Eine weitere Reduktion der Weltmarktabhängigkeit und eine Stärkung regionaler, nationaler und europaweiter Wirtschaftskreisläufe wäre auch ein Beitrag, die aktuellen und möglichen zukünftigen Krisenfolgen abzuschwächen und einen Beitrag zum Abbau von unnötigen Transporten mit erheblichen CO-2-Emissionen zu vermeiden.

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung muss, wenn sie massenwirksam sein soll, verbunden werden mit der Forderung nach einem allgemeinen Einkommensausgleich und nach einem Personalausgleich, der entsprechend der Arbeitszeitverkürzung vorzunehmenden Neueinstellung von Personal, um einer Arbeitsintensivierung entgegenzuwirken.


Alternatives 3-K-Investitionsprogramm

Generell befindet sich angesichts einer Krise, in deren Zentrum auch die Umwelt- und Klimakrise steht, eine Linke nur dann auf der Höhe der Aufgaben, wenn sie auch die stoffliche Seite der Produktion ins Zentrum ihrer Politik und Betrachtungen rückt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen lässt sich dies als ein Alternatives 3-K-Programm - ein Investitionsprogramm für die Bereiche Kinder, Kultur und Klima - konkretisieren.

Gemeint sind damit zunächst Investitionen zugunsten von Kindern und Jugendlichen. Allein innerhalb Deutschlands gibt es extreme Unterschiede hinsichtlich der Angebote an Kinderbetreuungseinrichtungen, was heißt, extrem unterschiedlich ausgeprägte Möglichkeiten für Frauen mit Kindern zur Aufnahme von Erwerbsarbeit. Vergleichbare Bandbreiten existieren auf europäischer Ebene. Die Anteile der Bildungsausgaben am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt der EU-Mitgliedsländer variieren innerhalb der EU in einer enormen Spannweite. Dabei belegt Deutschland mit 4,3 Prozent den drittletzten Platz und Dänemark mit 8,3 Prozent Rang eins. In Österreich und in Deutschland ist der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt seit mehreren Jahren rückläufig.

In Dänemark - und auch in Schweden - liegt die Zahl der Schülerinnen und Schüler je Lehrkraft um 50 Prozent niedriger als in Deutschland - es gibt also, unter Berücksichtigung der Größe der Länder, 50 Prozent mehr Lehrkräfte. In deutschen Grund- und Hauptschulen sind Klassengrößen von 25 bis 30 Schülerinnen und Schüler die Regel. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert Klassenstärken von maximal 20 Schulkindern je Lehrkraft. Die Folgen der viel zu großen Klassenstärken sind für die Beschäftigten und für die Kinder und Jugendlichen verheerend: Zwei Drittel der Lehrerinnen und Lehrer sind vom burn-out-Syndrom betroffen; die große Mehrheit geht weit vor dem Erreichen des Rentenalters in den Ruhestand.

Ohne auf die anderen Bereiche des Ausbildungssektors hier eingehen zu können, lässt sich verallgemeinernd sagen: Investitionen in den Bereichen Kinder und Kultur, die sich zumindest am best practice-Prinzip (Stichwort: Dänemark; Schweden) orientieren, würden in Deutschland ebenso viele neue Arbeitsplätze schaffen wie die gesamte Autoindustrie aktuell (noch) Arbeitsplätze zählt. Anders als bei den Keynes à gogo-Konjunkturprogrammen geht es dabei um gesellschaftlich sinnvolle, nachhaltige Investitionen - ohne relevante CO-2-Emissionen und solche zugunsten von fast 16 Millionen jungen Menschen.[8]

Die erforderlichen Investitionen unter dem Stichwort Klima teilen sich in die beiden großen Bereiche Energiewende und Verkehrswende auf. In beiden Bereichen müsste die Priorität auf Investitionen liegen, um Energie respektive Verkehr zu vermeiden. Im Energiebereich meint dies vor allem Wärmedämmung und eine beschleunigte Entwicklung energiesparender Geräte. Im Verkehrsbereich ist damit die Stärkung dezentraler Strukturen und die Förderung kurzer Wege gemeint. Im Güterverkehr ist es gut vorstellbar, dass bis zu zwei Drittel der Transportleistung eingespart werden kann, ohne dass damit wesentliche Verluste an der Qualität der Güter festzustellen sind. Gleichzeitig sind solche Einsparungen mit erheblichen volkswirtschaftlichen Gewinnen und mit gesteigerter Lebensqualität verbunden. Auf Grundlage der auf diese Weise deutlich reduzierten Energieerzeugung und Transportleistung geht es dann um Investitionen in die Verlagerung von bisherigen konventionellen Energie- und Verkehrsformen auf alternative Träger (Solarenergie; andere regenerative Energien bzw. auf die nichtmotorisierten Verkehrsarten und auf öffentliche Verkehrsmittel).

Die alte Bundesregierung der großen Koalition rühmte sich Mitte 2009, dass innerhalb eines guten Jahrzehnts im Umweltbereich bis zu einer Million Arbeitsplätze entstanden seien. Unabhängig von Detailfragen, um welche Art Arbeitsplätze es sich hier handelt, bleibt doch festzuhalten: Wenn bereits diese eher bescheidenden Investitionen in eine verbesserte Umwelt- und Energiepolitik viele Hunderttausend neue Jobs geschaffen haben, dann ist eine konsequente Politik der Energiewende mit der Schaffung einiger Millionen neuer Arbeitsplätze verbunden. Im Mai 2009 wurde ein Programm Schiene Europa 2025 vorgelegt, in dem allein für den Bereich des Schienenverkehrs in Europa die Möglichkeit zur Schaffung von bis zu zwei Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen aufgezeigt wird.[9]

Bei dem alternativen 3-K-Programm gibt es einen entscheidenden Unterschied zu den Keynes à gogo-Investitionen: Die letztgenannten verursachen bereits binnen kurzer Zeit enorme zusätzliche Kosten (für Verkehrstote und -verletzte; für Umwelt- und Klimaschäden); auf längere Frist sind sie nicht zukunftsfähig, also unvereinbar mit einem menschlichen Leben in Würde. Auf der anderen Seite sind Investitionen entsprechend des alternativen 3-K-Programms innerhalb weniger Jahre komplett gegenfinanziert - die Kosteneinsparungen, die mit diesen Investitionen verbunden sind, sind in fünf bis zehn Jahren deutlich größer als die Kosten der Investitionen selbst. Darüberhinaus gibt ein solches alternatives Investitionsprogramm auf längere Frist allein eine Antwort auf die aktuellen unabweisbaren Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht.

Die Feststellung, dass die - marxistische, sozialistische - Linke das Thema Ökologie spät entdeckt habe, dass diese lange auch einem Wachstumsfetischismus anhing, ist zutreffend. Festzustellen ist aber auch, dass es sehr früh eine überzeugende sozialistische Kritik am kapitalistischen Wachstumszwang gab. Das folgende Zitat klingt wie eine grüne Kapitalismuskritik aus den 1980er Jahren, nach Rudolf Bahro plus Petra Kelly plus Bischof Hengsbach:

"Die spanischen Pflanzer in Kuba, die die Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der Asche Dünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäume vorfanden, was lag ihnen daran, dass nachher die tropischen Regengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nur nackten Fels hinterließen? (...) So werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern, dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können."

Das schrieb Friedrich Engels vor 125 Jahren in seiner Schrift Dialektik der Natur [10].


Winfried Wolf, Michendorf, Chefredakteur von Lunapark 21


Anmerkungen:

[1] Ich habe in meinem neuen Buch zur weltweiten Krise sieben solcher Krisenebenen analysiert. Die Krise der Realwirtschaft (1), konkretisiert in einer Krise der zwei Schlüsselindustrien Fahrzeugbau und IT-Branche (2), die klassische Verteilungskrise (3), die sich als Überakkumulations und als Unterkonsumtionskrise konkretisiert; die breit debattierte und beschriebene Finanzkrise (4), bei der allerdings gerne übersehen wird, dass es vor allem auch das produktive - und "gute" - Kapital war und ist, das die Spekulation vorantrieb und vorantreibt (siehe Porsche/VW 2008); die - vielfach als regionales Thema falsch interpretierte - Nord-Süd-Krise, die zugleich eine Hungerkrise ist und strukturell Teil der weltweiten Krise ist (z. B. als Folge des Ölpreisanstiegs und des massenhaften Anbaus von Pflanzen zur Gewinnung von agrarischen Kraftstoffen, was die Lebensmittelpreise und damit den weltweiten Hunger anwachsen ließ(5); die Klima und Umweltkrise (6), die sich wegen des desaströsen Ausgangs der Kopenhagen-Konferenz und im Fall eines neuen Aufschwungs, der mit einem erneut steil ansteigenden Ölpreis verbunden sein muss, bald verschärft stellen dürfte; schließlich die Hegemonie- oder eine Dollarkrise (7), die maßgeblich zum Charakter der aktuellen Krise als Weltwirtschaftskrise beitragen und die Frage aufwerfen wird, ob sich das Zentrum des Kapitalismus nach China verlagern wird. Siehe Winfried Wolf, Sieben Krisen - ein Crash, November 2009, Promedia (Wien), 250 S.

[2] Eugen Varga, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, 1. Vierteljahr 1931, Internationale Pressekorrespondenz, 11. Jg. 1931, Nr. 43, 9. Mai 1931; Reprint Westberlin 1977.

[3] Bill Gross, der Chef der größten US-Fondsgesellschaft, schrieb jüngst in der Financial Times: Die britischen Staatsanleihen beruhen auf einem Fundament aus Nitroglycerin. Siehe ausführlich: Lars Petersen, Ring of fire. Neue Immobilienkrise. Neue Finanzkrise. Neue Wirtschaftskrise, in: Lunapark 21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, Heft 8, Frühjahr 2010, S. 10 f.

[4] Angaben nach: Financial Times Deutschland vom 27.3.2009 und Wall Street Journal vom 2.2.2010.

[5] Siehe Zeitung gegen den Krieg - ZgK, Ostern 2010 und Winfried Wolf, Griechische Krise und griechische Rüstungsausgaben in: junge Welt, 14. April 2010.

[6] Neue Züricher Zeitung vom 20.2.2009; zuvor Zitat zu Jenoptik nach: Financial Times Deutschland vom 14.8. 2009.

[7] In. New York Times vom 16.2.2009.

[8] In Deutschland gibt es rund 1,2 Millionen Vollarbeitsstellen in den Bereichen Kindergärten, Schulen und Hochschulen (darunter allein 680.000 Lehrerinnen und Lehrer). Wenn wir hier als Referenzwerte die skandinavischen nennen, so soll nicht verschwiegen werden, dass in Kuba die Klassenstärken mit 11 und 12 Kindern je Lehrkraft im Primar- bzw. Sekundarbereich des Schulwesens ähnlich niedrig und günstig liegen wie in den skandinavischen Ländern.

[9] Siehe Europäische Verkehrswende - JETZT! - Der Krise begegnen. Programm SchieneEuropa2025; Lunapark21, Extra01, August 2009, gemeinsam herausgegeben von Bahn für Alle, Grüne NRW, Betriebsrat Bombardier Transportation und der National Union of Rail, Maritime & Transport Workers (RMT) (London).

[10] Friedrich Engels, MEW 20, S. 455 und 453.


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 56-63
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: Redaktion@Marxistische-Blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 8,50 Euro, Jahresabonnement 45,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2010