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MARXISTISCHE BLÄTTER/448: Anmerkungen zu dem Konzept der "pathischen Gesellschaft"


Marxistische Blätter Heft 3-10

Von Käfern und Lemuren, Schalke 04 und Nadja Comaneci
Anmerkungen zu dem Konzept der "pathischen Gesellschaft"

Von Rolf Jüngermann


In einer Reihe von Beiträgen zur Frage der Stellung von Kunst und Kultur im Zeitalter des Imperialismus wurden in den vergangenen Jahren wichtige Analysen und Denkanstöße vorgelegt.(1)) An dieser Stelle soll ausschließlich auf nur einen - allerdings zentralen - Teil dieses Konzepts eingegangen werden, auf die Analyse der Gegenwartsgesellschaft (Metscher 2009, S. 24-77), die für den Autor den Ausgangspunkt seines Versuchs bildet, "die Hauptlinien moderner Kunst theoretisch [zu] erfassen" und "eine kritische Theorie der ästhetischen Moderne" zu entwickeln.

Der Autor geht aus von der Leninschen Analyse des Imperialismus als höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus, als parasitärer, faulender, sterbender Kapitalismus, der unvermeidlich Stagnation und Fäulnis hervorbringt, und macht deutlich, dass der Fäulniszustand des Imperialismus als Formation sich nicht nur in den von ihm selbst produzierten Widersprüchen im Kern seiner eigenen Produktivkraftentwicklung zeigt, nicht nur die politischen und die sozialen Verhältnisse ergreift, sondern dass Hand in Hand damit eine Vernichtung kultureller Vermögen einhergeht, die in der Geschichte ohne Beispiel ist.


Die "pathische Gesellschaft"

Insofern beschreibt Metschers Analyse (die mit den folgenden knappen Zitaten noch etwas genauer vorgestellt wird) diese Gesellschaft als eine "pathische" d. h. abnorme, faulende, kranke, perverse: "Die Deformation der Psyche, die Zurichtung der Körper, der Zerfall des Bewusstseins sind unhintergehbare Tatbestände der kulturellen Verhältnisse des späten Imperialismus. Der Imperialismus schafft anthropologische Fakten: die Reduktion der Menschen auf ihre Elementarbedürfnisse - "Shoppen und Ficken" als Götzen der schönen neuen Welt des zu sich selbst gekommenen Kapitals. Sie beherrschen. Psyche, Bewusstsein und Leiblichkeit der Menschen, die ihnen ausgeliefert sind. Neben die Welt des Markts mit ihren vielfältigen Erscheinungen - die Basisreligion des emanzipierten Kapitalismus - tritt der gewaltige Bereich der Medien, der Unterhaltungs- und Bewusstseinsindustrie als zweiter Kernbereich in der kulturellen Topographie des Imperialismus, an seiner Spitze Fernsehen, Video und Internet, ... der Zurichtung der Menschen als Ganzes: physisch, psychisch, geistig, ein Vorgang der Desubjektivierung, an dessen Ende der Mensch mit zerstörter Leiblichkeit, der Mensch ohne Erinnerung, Seele und Vernunft steht (die Literatur hat ihn in ihren Angstträumen vorausgesehen) ... Anonymität und Subjektlosigkeit sind das implizite Ideal des Imperialismus als Herrschaftssystem: die Figur des immergleichen Käufers, williges Objekt einer scheinhaften, in der Substanz immergleichen Warenwelt, Konsument eines immergleichen Sex, Migrant immergleicher Reiseziele, der ewige Trollyfahrer, von der Wiege bis zum Grabe versorgt vom omnipräsenten Markt. ... Hinzu tritt 'König Fußball', das stärkste Opium des Volks im Zeitalter des globalen Kapitals, zu Hochzeiten nationaler und internationaler Meisterschaften der erste Fetisch des Bewusstseins, in seiner freundlichsten Erscheinung eine Ersatzreligion mit eigenen Ritualen, Gemeinden und Sekten, in seiner abstoßendsten Form eine Massenhysterie mit Todesfolge." Und schließlich: "Der Zurichtung der Bedürfnisse, Desubjektivierung und Deformation entspricht die Pathologisierung der Massenpsyche, als Quellgrund von Kriminalität, Aggression, Gewalt, Rassismus, Sexismus und faschistoiden Dipositionen jeder Spielart. Pornographie und Drogen (in allen Varianten) sind Nebeneffekte eines Zustands, in dem der einzelne als Person nichts zählt. In allen diesen Formen vollzieht der Imperialismus die Zerstörung des Menschen: seine Verwandlung in die Käfergestalt des Konsumenten, die Lemurengestalt des Untertanen ..."


Nicht die ganze Wahrheit

Eine wahrhaft bedrückende und insoweit durchaus treffende Analyse der herrschenden Verhältnisse, die hier vorgelegt wird - und doch nicht die ganze Wahrheit, wie ich meine.

Denn ich finde sie nicht in meiner Umgebung, die "Lemuren" und "Käfer". Bin ich vielleicht selbst einer? Meine Nachbarn? Oder sind es vielleicht doch nur "die anderen", "nur" die "Penner" in der Fußgängerzone, die gemeint sind? Oder die Trollyfahrer (und die Kassiererin?) bei ALDI, LIDL, Penny Markt, Schlecker, KIK etc.? Die "Kunden" der Tafel vielleicht? Die Fans in der Schalker Nordkurve? Mannsgroße Käfer sind mir aber selbst dort in all den Jahren noch nie begegnet. Menschengroßes Ungeziefer findet sich m. W. bisher überhaupt nur bei Kafka - und dort sollten wir es auch belassen. Und Lemurenaffen habe ich bisher noch immer ausschließlich im Zoo angetroffen.

"Migrant immergleicher Reiseziele"? Oh weh - da könnte wirklich ich gemeint sein. "Konsument eines immergleichen Sex"? Ausflüge in die xxx-Zone des Internet scheinen mir eher das Gegenteil zu zeigen. Und muss ich jetzt als Schalker - oder auch als Fan des SV Lüdenscheid-Nord(2)) - ein schlechtes Gewissen haben?


Spaß beiseite!

Mir scheint diese Analyse einseitig und resignativ verengt. Sie trifft ohne Zweifel schonungslos und präzise einen ganz wesentlichen Aspekt der Realität, aber eben doch nur diesen einen, geht von einem traurigen, fatalistischen, pessimistischen, also einem falschen Menschenbild aus. Sie verabsolutiert den Aspekt des Niedergangs, erfasst nicht die Ambivalenz, die Dialektik der Vorgänge. Sie sieht die Menschen (beinahe) ausschließlich in der Objekt-Rolle des passiven, des leidenden, des wehrlosen Opfers, übergeht ihre listige und zähe Widerständigkeit, übersieht auch, dass es sich bei vielen der zu Recht kritisierten Verhaltensweisen keineswegs nur um durch die Medien den menschlichen Objekten aufgezwungene/aufgeprägte sondern auch um durchaus verständliche psychologische, planvolle (damit noch nicht unbedingt bewusste) Verhaltensweisen handelt, die man in den Sozialwissenschaften als "cocooning" bezeichnet hat, "sich in einen Kokon einspinnen": nichts zu sehen, zu verstehen und zu wissen versuchen. Verpuppung als Schutzreflex gegen eine zunehmend als feindselig, betrügerisch und unbeeinflussbar empfundene Umwelt. Ist solches Vorgehen nicht bis zu einem gewissen Grade sogar überlebenswichtig für uns alle? Schließlich kann sich niemand der ganzen von den "räuberischen Eliten" (B. Moore) des Kapitalismus geschaffenen Realität ständig in all ihrer Härte und Unerbittlichkeit stellen, auch die Besten nicht: "Ich kann mich grämen, wenn mir die Mimi krank wird, oder wenn dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt aus den Fugen geht, da suche ich nur, zu begreifen, was und weshalb es passiert ist, und hab ich meine Pflicht getan, dann bin ich weiter ruhig und guter Dinge." (Aus einem Brief Rosa Luxemburgs an Luise Kautsky)

Das gilt in besonderem Maße für Menschen, die von einem Gemeinwesen, dem nicht einmal mehr das Schicksal ihrer Kinder mehr etwas bedeutet, planmäßig verarmt, isoliert, verletzt, lächerlich gemacht, ausgestoßen werden, die für oft geringfügiges Fehlverhalten mit vernichtenden Sanktionen überzogen werden(3), denen Bürgerrechte, Menschenrechte, Berufung auf Recht und Gesetz höchstens noch als Gnadenakt gewährt werden und denen - auch angesichts der Niederlagen und des epochalen Versagens der Linken - kaum etwas anderes bleibt als die Flucht aus der Realität. Zu diesem Zweck gehen sie dann die unterschiedlichsten Wege, zum Beispiel "So ein Schalke-Fan, der sonst nix hat." Das gilt ein gutes Stück weit auch schon für die ständig wachsende Zahl jener, die noch nicht wirklich auf der Ebene der Prekarität angekommen sind, deren Lebensgefühl aber zunehmend geprägt ist von "sozialer Verwundbarkeit und prekärem Wohlstand"(4).

Hilflosigkeit gegenüber den herrschenden brutalen und niederträchtigen Gewaltverhältnissen und das Fehlen eines gemeinsamen, realisierbaren Ziels machen es attraktiv, im Kokon der eigenen Gefühlswelt der "wutgetränkten Apathie" (Heitmeyer 2010) zu verharren. Man fügt sich notgedrungen (vorläufig) in die Verhältnisse, leidet darunter und erkrankt darüber, und gehasst werden nicht die, die das Unglück zu verantworten haben, sondern die, die dagegen aufbegehren sowie jene, die die aufgezwungenen Regularien mit der gebotenen Portion Schlitzohrigkeit zu handhaben wissen.


Vorsicht - Falle!

Wir MarxistInnen sollten nicht den Eindruck erwecken, dass ausgerechnet wir den Menschen das, was sie noch haben und schätzen - darunter auch das Fernsehen, Internet, Trollyfahren bei LIDL oder IKEA oder in einem der neuen Konsumtempel, Fußball, Sex (wie abwechslungsreich auch immer), vielleicht sogar eine heiß und lang ersehnte Urlaubsfahrt (an das heiß geliebte immergleiche Reiseziel) - madig machen wollen, dass ausgerechnet wir den kulturkritischen Zeigefinger heben nach dem Motto: "Igitt - das Pöbelfernsehen; igitt - der Pöbelsex; igitt - die Pöbelshops, igitt - schon wieder Mallorca ...". Und natürlich wissen sie mindestens genauso gut wie wir, dass Fußballbundesliga und -weltmeisterschaften längst die Sache reicher Konzerne und des großen Geldes geworden sind, und werden trotzdem durch dick und dünn bei ihrer Fußballbegeisterung bleiben. Und die von uns gerne verächtlich belächelten Tele-Traumwelten haben ja, ähnlich wie der Kitsch, die Idylle, die Romantik, die Religion auch eine Dimension von positiver Utopie, sind für viele so etwas wie der Vorschein der Harmonie einer versöhnten, gerechten Gesellschaft, auf den sie nicht verzichten wollen.

Sich aufdrängende Fragen danach, welche "Verwandlung", welch überraschende Entwicklung in einem Kokon eingesponnene Lebewesen gelegentlich nehmen und was alles passieren kann, wenn sie eines Tages diesen Kokon sprengen sollten, seien hier nur angedeutet. Mögen vielleicht Schmetterlinge in ihrem zur Nahrungsaufnahme unfähigen, unbeweglichen Puppenstadium die Kenntnisnahme von Vorgängen in ihrer Umgebung mehr oder weniger vollständig gekappt haben, so können Menschen das in aller Regel nicht. Auch der dichteste Kokon schützt den menschlichen Bewohner in seinem zur bewussten Verarbeitung von realitätsnahen Lernprozessen weitgehend unwilligen, politisch weitgehend unbeweglichen Puppenstadium nicht hinreichend und schon gar nicht auf Dauer vor der Konfrontation mit seinem gesellschaftlichen Umfeld. Selbst die inzwischen massenhaft verbreiteten Beta-Blocker und anderen Psychopharmaka werden da am Ende nicht helfen. Wo wurzeln denn die "bekannten und neuen Gestalten der Gewalt, der Aggression und des Hasses" "in den urbanen Elendszonen", wenn nicht in der Tatsache, dass die Menschen eben nicht in der Lage sind, sich durch einen hermetischen Kokon auf Dauer erfolgreich gegenüber der realen Welt abzuschotten.


Zur "Allmacht" der Medien

Anders als der Autor, der die Rolle der Medien reduziert auf die "... Zurichtung der Menschen als Ganzes: physisch, psychisch, geistig, ein Vorgang der Desubjektivierung, an dessen Ende der Mensch mit zerstörter Leiblichkeit, der Mensch ohne Erinnerung, Seele und Vernunft steht ..." (a.a.O., S. 40), gehen andere an die Rolle der Medien deutlich differenzierter heran: "Durch die von der Medien-Industrie übermittelten Interpretationsschablonen entstehen zwar verzerrte Sichtweisen und wirklichkeitsfremde Weltbilder, doch können diese niemals die primäre Erfahrungswelt vollständig verdrängen. Die Realität macht sich gegenüber den Illusionen und Nebenwelten immer wieder geltend." "Und die Erfahrungen der Menschen im Betrieb oder in der Hochschule, im Büro oder der Ausbildungswerkstatt sind in ihrer Wirkung nachhaltiger als alle Bilder von Scheinwelten, die ihnen vorgesetzt werden." (Seppmann, MB 1-93, S. 26)

Nach allem, was aus der Welt der Arbeit berichtet wird, geht den Menschen heutzutage mehr denn je der Erhalt des Arbeitsplatzes allem anderen vor. Das Recht auf Arbeit - und damit eine nur von Sozialisten vertretene und zu realisierende Forderung - ist damit heute DIE zentrale gesellschaftspolitische Vorstellung der "A-Klasse" (der Arbeiter, Angestellten, Arbeitslosen) (Sohn). Diese Klasse, die den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung umfasst, ist damit in der Wolle sozialistisch gefärbt, ob ihren Mitgliedern das nun bewusst ist oder nicht, ob sie den Begriff "Sozialismus" mögen - ja ob sie ihn überhaupt kennen - oder nicht. Sie sind sozusagen "von Natur aus" Sozialisten. Es sind allein schon "die Lebensbedingungen der Menschen, die unvermeidlich eine demokratische und soziale Ideologie erzeugen" (Lenin). Daran kommen auch die Medien nicht vorbei.

Sie lügen, dass sich die Balken biegen, wenn es gegen den Sozialismus geht. Und dennoch: So zynisch und unverfroren sie oft die politische und geschichtliche Wahrheit bis zur Groteske manipulieren und verdrehen mögen, so platt, schmierig und geistlos so manches Unterhaltungsformat, so schmuddelig-zotig die Glotze am Abend und bei Nacht daherkommt, die Tätigkeit der Medien lässt sich nicht auf Lüge und Manipulation reduzieren. Sie können die Menschen nicht ungestraft nach Belieben manipulieren und die Realität beliebig verfälschen. Täten sie es, so würden sie ihr Kostbarstes - ihre Attraktivität und relative Glaubwürdigkeit - verlieren und damit ihre für die Herrschenden wichtigste Kompetenz: ihre Kampagnenfähigkeit. Auch die offen gleichgeschalteten Medien unserer Tage müssen an die in der Bevölkerung vorhandenen Stimmungen, Themen und Interessenlagen anknüpfen, können von daher auf demokratische Grundzüge nicht verzichten. Insofern sind die Medien nur zu einem Teil Agent der sie beherrschenden Gruppen. Zum anderen Teil sind sie Ausdrucksform von - teils eingeredeten, teils realen - Bedürfnissen der Empfänger. Ihre Macht ist alles andere als grenzenlos, ihre Hegemonie hat Grenzen und Brüche, wo wir ansetzen können, wie auch so manches Beispiel aus jüngster Zeit zeigt - von den gescheiterten Impfkampagnen ("Schweinegrippe" + "präventive Schutzimpfung" für junge Mädchen) bis zu Afghanistankrieg, Hartz IV und Rente 67.

Der Medienkonsum hat also keineswegs nur die bekannten - vom Autor zu Recht kritisierten - negativen Effekte. Er entfaltet Wirkungen weit über die beabsichtigte herrschaftskonforme Deformierung der Hirne und Herzen hinaus, eine Erkenntnis, die für den Bruch mit der "Konsensfassade" (Knobloch 2009(5)), dem "Großen Konsens", also der massenhaften Zustimmung zu den Unterdrückungsverhältnissen, genutzt werden kann. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die - manchmal leichtfertig als selbstverständlich unterschätzte - Tatsache, dass die Mainstream-Medien im Kampf gegen den Neofaschismus bis heute eine relativ "feste Burg" geblieben sind, dass sie auch zu dem Bemühen um ein wissenschaftlich fundiertes Weltbild kontinuierlich wertvolle Beiträge liefern, dass sie rückwärts gewandte Ideologien (z. B. den gegen die Darwinsche Evolutionstheorie gewandten sogenannten Kreationismus) geschickt und ausdauernd bekämpfen helfen, dass sie eine Vielzahl von wertvollen kulturellen Beiträgen anbieten, dass sie ganz generell die Menschen dazu bringen, den Blick zu heben über den bornierten, miefigen Dunstkreis ihrer privaten, lokalen, nationalen, kulturellen, religiösen, konfessionellen, ideologischen ... Beschränktheiten und Beharrlichkeiten hinweg zum offenen Horizont.


Zur Rolle des Internet

Wer heute das Internet glaubt anschwärzen, vernachlässigen oder auch nur geringschätzen zu sollen, es auf seine manipulative Funktion, auf sein "... schier unbegrenztes Angebot für die normalen wie die ausgepichtesten Bedürfnisse und Gelüste zwischen den Extremen von Matthäuspassion und pädophilem Porn, Gewalt in allen denkbaren und undenkbaren Varianten ..." (a. a. 0. S. 39) reduziert, ist einer der beiden "traditionellen Todsünden der sozialistischen Parteien" (Branstner) verfallen, dem Verschlafen wichtiger neuer Entwicklungen.

Eine rapide und umfassende Demokratisierung der Kommunikation, mehr oder weniger aller Zweige der Kultur, der Kunst, des Lernens, des Wissens, der Wissenschaft, ein Stück weit auch der Politik - darin besteht das wahrhaft revolutionäre Wesen des Internet. In diese neue junge Welt, erst wenige Jahre alt, erst am Beginn ihrer atemberaubenden Möglichkeiten, gehören wir mitten hinein und zu ihrem Gebrauch sollten wir alle ermutigen - ohne darüber ihre Schattenseiten aus den Augen zu verlieren. So herum wird ein Schuh daraus, der uns weiter trägt!


Den "positiven Überschuss" des Kapitalismus berücksichtigen

Die meisten gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus haben in diesem Sinne - vor allem in den Kernländern des Kapitals - neben den sattsam bekannten anti-humanen Auswirkungen und den Hegemonieeffekten zugunsten der Herrschenden - eben auch ihren "positiven Überschuss". Die große Mehrheit der Menschen (inklusive eines großen Teils von uns Marxistinnen) "hat hierzulande mehr zu verlieren als ihre Ketten" (Steigerwald, UZ v. 24.12.09), weiß die "guten Seiten des Kapitalismus" zu schätzen - jedenfalls zu nutzen - und will sie sich - zu Recht - nicht ohne qualifizierten Ersatz nehmen oder auch nur verächtlich machen lassen. Das gilt u. a. für weite Bereiche des Lebensstandards und des Konsums, für Reisemöglichkeiten, freie Meinungsäußerung und bürgerliche Demokratie - und gebe es zunehmend auch nur noch Restbestände davon. Das gilt ebenso für die bunte, lebendige Welt der Kultur, der Medien, des Internet und des Sports.

Und insoweit Teile der Linken, der Marxistinnen, den Eindruck erwecken, als würden wir diese "guten Seiten des Kapitalismus" gering schätzen, gar verunglimpfen, und auf diese Weise signalisieren, wir wären "notfalls" bereit, diese leichten Herzens um (natürlich selbst definierter) "höherer Ziele" willen fallen zu lassen, werden wir zu einer inakzeptablen politischen Formation, so richtig unsere Forderungen und unsere politische Arbeit ansonsten auch erscheinen mögen.


Sport, das neue "Opium" für das Volk?

Bleiben wir bei "König Fußball, dem stärksten Opium des Volks im Zeitalter des globalen Kapitals" (a.a.O. S. 39). Natürlich ist die ins Haus stehende Fußballweltmeisterschaft zu einer Sache des big business und zu einer Art Geldmaschine verkommen, wird zudem zur tumben Deutschtümelei, zur weiteren Popularisierung deutsch-nationalistischer (Miss)Töne herhalten müssen, wirkt als gigantisches Dauerberieselungsprogramm zur Einschläferung, Beta-Blockierung, Ablenkung, Infantilisierung, Ruhigstellung von Millionen mehr oder weniger süchtigen Zuschauern. (Pro Wochentag werden in der Gruppenphase drei Spiele stattfinden. ARD und ZDF werden mindestens 46 der 64 Spiele des Turniers live übertragen, RTL zeigt einen Teil der übrigen Spiele.) Aber sie ist eben nicht nur das. Sie ist angesichts der Anteilnahme von Milliarden Menschen nicht nur offen für nationalistischen Missbrauch, sondern auch eine Chance der Völkerverständigung, des Internationalismus, des Abbaus von Vorurteilen zwischen den Völkern, des friedlichen und sozialen Miteinander. (Bischoff) "Der Sport hat die Fähigkeit, die Welt zu verändern. Er hat die Fähigkeit, Brücken zwischen den Völkern zu schlagen." (Mandela) Ob/inwieweit demokratische Kräfte diese Chancen aufgreifen, ist allerdings eine andere Frage.

Auch Bundesligavereine - zum Beispiel der FC Schalke 04 - sind big business. Keine Frage. Aber sie sind - z. B. mit der Arbeit in ihren Fanclubs - eben auch aktive und erfolgreiche Zentren des Kampfes gegen Neofaschismus, Sexismus und Rassismus, deren Vertreter sich vor Ort in Bündnissen gegen rechts Seite an Seite z. B. auch mit der VVN und der DKP finden. Vorbildlich in dieser Hinsicht erscheint - neben Schalke 04 - auch gerade jener Verein, der in der Saison 2008-2009 den schönsten und erfolgreichsten Fußball in Europa gespielt hat, der FC Barcelona. Der Verein (dessen damaliger Clubpräsident Josep Sunyol 1936 von Francos Fascho-Truppen standrechtlich erschossen wurde) ist auch heute noch als gemeinnütziger Verein organisiert, verzichtet traditionell auf einen Trikotsponsor, hat stattdessen ein Kooperationsabkommen mit dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF geschlossen. Statt ca. 50 Millionen Euro von einem Sponsor einzunehmen, unterstützt der Verein damit die Arbeit von UNICEF mit jährlich 1,5 Mio. Euro, um an Aids erkrankte Kinder in den Ländern der Dritten Welt zu unterstützen. Getreu seinem Motto: "Més que un club" (Mehr als nur ein Verein) symbolisiert der FC Barcelona für viele Katalanen Heimat und Freiheit, für viele Spanier steht er für Demokratie, Solidarität und soziales Engagement.

Auch in diesem - positiven - Sinne kann also Fußball politisch sein, wie sich auch an dem italienischen Erstligaverein As Livorno zeigt, der traditionell sehr eng mit der italienischen Arbeiterbewegung verbunden ist und dessen Fanclub Ultràs Livornos (Brigate Autonome Livornesi) dafür bekannt ist, aus bekennenden Kommunisten und Antifaschisten zu bestehen.(6) (Das passt übrigens gut in einem Land, in dem die stärkste Partei bis vor kurzem ihren Namen einem der bekanntesten Schlachtrufe aus den Fußballstadien verdankte: "Forza Italia", den u. a. auch schon die italienischen Christdemokraten im Wahlkampf von 1987 zu ihrem Haupt-Slogan gemacht hatten.)

Und so spielen viele Fußballclubs eine aktive Rolle in dem internationalen Netzwerk FARE (Football Against Racism in Europe - Fußball gegen Rassismus in Europa), das sich seit nunmehr einem Jahrzehnt dafür einsetzt, das Engagement im Kampf gegen den Rassismus auf allen Ebenen des Profi- und Amateurfußballs in ganz Europa zu fördern - in den Stadien, auf dem Platz, in Verwaltung, Training und Sportunterricht. Sie bemühen sich, über die Medien das Bewusstsein der Fußballgemeinschaft für das integrative Potenzial des Fußballs zu schärfen und Spieler, Vereine, Verbände, Fans, Trainer, Funktionäre, Schiedsrichter, Journalisten und Politiker zu ermutigen, aktiv gegen Diskriminierung vorzugehen.


Fazit

Die Menschen kennen den Kapitalismus und seine Gebrechen zur Genüge, heutzutage mehr denn je. Aber solange seine Überwindung - aus welchen Gründen auch immer - im Augenblick zumindest in Europa offenbar nicht möglich scheint, richten sie sich ganz pragmatisch auf eine längere Durststrecke ein, ducken sich weg und versuchen zugleich, seinen "positiven Überschuss" zu nutzen, sind jedenfalls keineswegs geneigt, darauf zu verzichten. Und was den Sport angeht, so werden dessen politische und ökonomische Rahmenbedingungen der Verehrung der großen Sportler auch weiterhin keinen Abbruch tun. Die Menschen werden sich ihre Begeisterung für die Muhammad Ali, Nadja Comaneci, Täve Schur, Sergej Bubka, Michael Jordan, Zinedine Zidane, den FC Barcelona 2008/2009 ... nicht nehmen lassen. Warum auch?


Ausblick

Wenn wir MarxistInnen mithelfen wollen, Bewegung in die von Trägheit, aber zugleich auch von zunehmender Nervösität ("das Beben tief im Innern", F. J. Degenhardt) geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bringen, dann werden wir uns dazu "herablassen" müssen, mehr noch als bisher an dem gerade aktuellen Bewußsstseinsstand der Menschen anzuknüpfen, statt diesen zu bedauern oder gar abzuwerten, werden nicht nur die Theorie des Sozialismus, sondern vor allem auch seine Didaktik - die Kunst seiner Vermittlung - weiter zu entwickeln haben. In dieser Hinsicht haben wir m. E. einigen Nachholbedarf, den es aufzuarbeiten gilt. (Das gilt übrigens gleichermaßen auch für die didaktischen Aspekte der Bildungsarbeit innerhalb der DKP.)

Wer in der politischen und ideologischen Arbeit ernsthaft an dem - in steter Veränderung befindlichen - aktuellen Bewusstseinsstand der Menschen anknüpfen will, ist gut beraten, diesen kontinuierlich zu studieren und sich nicht vorwiegend auf "gute Erfahrungen", "bewährte Methoden" und auf seinen Alltagsverstand zu verlassen. Dazu wird man vor allem die oft eher intuitive Kunst der Menschenführung von erfolgreichen Gewerkschaftern/Streikführern studieren und auf zugreifen suchen (siehe H. J. Krug in MB 1-10). Dazu leisten auch gewerkschaftliche Aktivitäten wie die "Initiative Mut"(7) von ver.di Bayern einen wertvollen Beitrag.

Was den Beitrag der Wissenschaften angeht, so hat inzwischen die Einsicht um sich gegriffen, dass über die Erkenntnisse der Sozialpsychologie hinaus auch die "mit der wirtschaftlichen Deregulierung einhergehende psychische Deregulierung"(8) der Individuen einer genaueren Betrachtung bedarf und es hat sich so etwas wie eine professionelle "krisenbezogene Lohnabhängigenbewusstseinsforschung" entwickelt. Es wird geforscht "über die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstrukturen von Menschen, die Hoffnungen und Ängste, Leidenschaft und Resignation, ... ihre Vorstellungen davon, wie die Welt 'funktioniert', ... also über ihren Alltagsverstand ..." (Goes, Z81).

Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang das Bemühen, die traumatisierenden Folgen sozialer Vorgänge individualpsychologisch und psychoanalytisch zu erfassen; dies natürlich nicht im Sinne eines einseitigen Freudismus mit seinem Tunnelblick auf die frühkindlichen Erfahrungen oder im Sinne einer psychoanalytischen Triebpsychologie mit ihrer Konzentration auf innerseelische Vorgänge des abgekapselten Individuums, sondern im Sinne einer "relationalen Psychoanalyse"(9). Ihr geht es um das Verständnis der gesellschaftlich bedingten Psychodynamik von Individuen, die meist durchaus nicht deckungsgleich ist mit deren bewusst empfundener Identität und ihrem spontan geäußerten Selbstbild, die daher dem politischen Alltagsverstand nicht direkt zugänglich ist und sich durch Meinungsumfragen mit ihren meist standardisierten Antwortrastern erst recht nicht erfassen lässt.

Es handelt sich um - in hohem Maße politisch relevante - psychische Vorgänge wie z. B.:

Viktimisierung [victim = Opfer], d. h. fundamentale Täter-Opfer-Verkehrung. Ein Individuum in einer Opfer-Situation erhält von übermächtigen Tätern (z. B. über die Medien) Schuld zugewiesen und übernimmt schließlich selbst die Sichtweise der Täter, d. h. beschuldigt sich selbst und rechtfertigt die Täter.

Desorientierungstraumatisierung, [Trauma = psychische Verletzung] d. h. gefühls- und verstandesmäßige Bindung des Opfers an die Deutungsschemata der Täter, verbunden mit depressiven Verstimmungen und Selbstbeschuldigungen bei den Opfern. Die Täter werden gerechtfertigt, dem Opfer wird das Trauma-Geschehen als positiv, notwendig und unausweichlich dargestellt. Damit wird das Opfer in seinem Bemühen um Verständnis der Situation verwirrt, in seiner Bindung an den Täter bestärkt und somit seine Motivation zu Selbstbehauptung und Gegenwehr unterminiert.

Dissoziative Reaktionen [Dissoziation = Trennung], d. h. einzelne Elemente der Erfahrung, des Selbsterlebens werden abgetrennt und außer Kraft gesetzt (oft im Zusammenhang mit der oben erwähnten Strategie des "cocooning"): Themen werden tabuisiert (Dethematisierung), Empfindungen werden blockiert (Abstumpfung), Sinnstrukturen werden negiert (Verleugnung). Bestimmte Dinge kann/will man nicht zur Kenntnis nehmen, nicht glauben, nicht fassen, selbst wenn man sie mit eigenen Augen sieht, gar selbst betroffen ist. Das kann bis hin zum Einverständnis, ja bis zur Identifizierung mit der eigenen - objektiv schmerzvollen - Opferrolle gehen. Aus den KZ wissen wir, dass Menschen durch gnadenlose Methoden sogar gezwungen werden können, sich am Projekt ihrer eigenen Ausrottung zu beteiligen. (10)

Den gezielten politischen Einsatz der Viktimisierungstraumatisierung als scharfe Waffe im Kampf der Klassen bekommen wir in regelmäßigen Abständen in Form der Medienvorstöße der Westerwelle, Sarrazin, Heinsohn, Sloterdijk u. a. vorgeführt. Dabei geht es eben nur vordergründig um die sachlichen Inhalte der Diskurse und um die materiellen Inhalte der vorgebrachten Forderungen. Mindestens ebenso stark geht es - wie insgesamt bei Hartz IV - um die gezielte Manipulation der Psyche der Opfer im Sinne einer ständigen Erniedrigung, um auf diese Weise deren Handlungsfähigkeit dauerhaft zu untergraben.

Umso wichtiger, dass wir den wissenschaftlichen - vor allem psychologischen und medientheoretischen - Hintergrund derartiger Vorstöße studieren und qualifiziert damit umgehen. Medienpolitische Handwerkelei hat heute mehr denn je fatale Konsequenzen - darunter auch die, dass man Letztere gar nicht bemerkt oder falsch zuordnet, sie häufig und gerne mit "Antikommunismus" begründet statt nach den eigenen Fehlern zu suchen.

Hinsichtlich der Didaktik des Sozialismus ist zu berücksichtigen: Die Propagierung unserer Vorstellungen muss stets den "Umweg" über das Individuum nehmen, kann daher heute weniger denn je in der Form des politischen Frontalunterrichts, der Predigt, der Bleiwüste, sondern nur in der Form des lebendigen Dialogs zum Erfolg führen. Dazu werden wir zuerst einmal mit den subjektiven Befindlichkeiten des konkreten Individuums in Resonanz kommen müssen, werden also stets neben seinen okjektiven Interessen auch an seinen "ökonomogenen" [ökonomisch bedingten] psychischen Deformationen anknüpfen und seine subjektiven Bedürfnisse gelten lassen müssen, damit ein Dialog überhaupt in Gang kommen kann. "Vor diesem Hintergrund wird das politische Engagement - ob gewollt oder nicht - immer stärker auch zu 'Sozialarbeit' für die und mit den Menschen. Allein mit (richtigen) politischen Postulaten und Programmen lassen sich vielleicht Debatten in sozialistischen wie kommunistischen Parteien bestreiten, aber keine dauerhaft wirksame, die Menschen aktiv einbeziehende, überzeugende und mobilisierende politische Arbeit aufbauen und entwickeln." (nach Gobrecht in MB 2/10, S. 17)


Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen, MB-Redaktion.


Anmerkungen:

(1) Thomas Metscher: Imperialismus und Moderne, Zu den Bedingungen gegenwärtiger Kunstproduktion, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, 181 S., 14,80 Euro - zu Teilen auch in: junge Welt vom 20. Mai 2009; Topos Heft 29+30; Marxistische Blätter 5-05

(2) Außerhalb der Fan-Gemeinde des FC Schalke 04 wird dieser Fußballverein nicht "SV Lüdenscheid-Nord", sondern bei seinem richtigen Namen genannt: "Borussia Dortmund".

(3) Anne Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, Düsseldorf (edition Hans-Böckler-Stiftung) 2009
http://www.sofeb.de/Kurzfassung%20 Sanktionsprojekt.pdf

(4) Berthold Vogel: Wohlstandskonflikte, Hamburg 2009

(5) Stephan Habscheid, Clemens Knobloch (Hrsg.): Einigkeitsdiskurse, Wiebaden 2009

(6) siehe dazu: http://www.secarts.org/media/index.php?view=audio&id=38&

(7) siehe dazu: http://handel.bayern.verdi.de/initiative_mut

(8) Götz Eisenberg: ... damit mich kein Mensch mehr vergisst! München 2010

(9) Ulrich Duchrow, Reinhold Bianchi, René Krüger, Vincenzo Petracca: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus, Hamburg 2006 (Kurzfassung:
http://www.ev-akademie-meissen.de/uploads/media/Bianchi_Vortrag.pdf)

(10) R. J. Lifton, E. Markusen: Die Psychologie des Völkermordes, Stuttgart 1990, 5. 250


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-10, 48. Jahrgang, S. 86-95
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2010