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MARXISTISCHE BLÄTTER/454: Der "Realismus" in der Chinapolitik der USA


Marxistische Blätter Heft 4-10

Der "Realismus" in der Chinapolitik der USA

Von Helmut Peters


Die Bedeutung, die heute den Beziehungen zwischen der VR China und den USA zukommt, geht weit über den bilateralen Rahmen hinaus. Ihre Gestaltung beeinflusst unmittelbar den Fortgang des Weltgeschehens. Hier vollzieht sich nicht einfach ein Wechsel im Kräfteverhältnis zweier Mächte. Es ist zugleich eine Systemauseinandersetzung zwischen Staaten, die im Unterschied zur Vergangenheit friedliche und ökologische Lösungen der anstehenden globalen Probleme im objektiven Interesse der weiteren Existenz der Menschheit und damit aller Länder und Völker zur Bedingung hat. Beide Seiten sind sich des Charakters dieser Systemauseinandersetzung durchaus bewusst. Und wir stoßen in den Beziehungen zwischen den USA und der VR China bei allen Variationen auf zwei grundlegend verschiedene Herangehensweisen - die des Kapitals und seiner Profitinteressen auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Suche nach neuen Mitteln und Wegen, um unter den gegebenen Bedingungen die Existenz und den Fortschritt der Menschheit zu sichern.

Es ist nach Lenin eine besondere Form des Klassenkampfes in der Dialektik von Zusammenarbeit und Auseinandersetzung. Neu daran ist, dass diese besondere Form des Klassenkampfes auch in den bilateralen Beziehungen innerhalb des bestehenden Weltsystems ausgetragen wird. Bisherige Erkenntnisse zeigen, dass in diesem komplizierten und vielschichtigen Prozess die Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen abrupt in Phasen übergehen kann, in denen die führende Kraft des internationalen Kapitals ihre Kräfte darauf konzentriert, unter allen Umständen weitere Veränderungen zu ihren Ungunsten zu verhindern bzw. verlorenes Terrain zurück zu gewinnen.

Mit einer solchen Situation haben wir uns heute auseinander zu setzen. In der Ära des G. W. Bush hatten die USA deutlich an Einfluss und Ansehen vor allem in den Entwicklungsländern, darüber hinaus aber auch bis in bürgerliche Kreise der kapitalistischen Industrieländer eingebüßt. Die Welt begann sich zugunsten neu aufsteigender Kräfte wie den BRIC-Ländern und der politischen Emanzipation von den USA, dem IWF und der Weltbank in einer Reihe von Entwicklungsländern zu entwickeln. Die Lage in Asien und Lateinamerika, aber auch in Afrika begann sich für die USA und das internationale Kapital kritisch zu gestalten. Dazu trugen vor allem das schnelle ökonomische Erstarken der VR China und die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten für die Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen bei. So wurde in bürgerlichen Kreisen des Westens schon laut über die Überlegenheit des chinesischen Modells wirtschaftlichen Wachstums gegenüber dem westlichen Modell nachgedacht. Gescheitert war auch der Versuch der Bush-Administration, den Aufstieg Chinas zu einer globalen Macht durch eine militärisch dominierte Containment-Politik zu verhindern.

Die Obama-Administration hat mit dem Quadrennial Defense Review (Vierjahresbericht zur Verteidigung) des Pentagon vom Februar und ihrer New Security Strategy (NSS) vom Mai dieses Jahres auf diese Weltlage reagiert. Wie sein Vorgänger im Amt betont Obama die Notwendigkeit der "globalen Führung" Amerikas im Interesse von Freiheit und Gerechtigkeit. Die globale Sicherheit hänge von einer starken und verantwortlichen amerikanischen Führung ab. Diese Sicht geht einher mit dem Anspruch, dass die Welt und ihre Veränderung den Interessen und Werten Amerikas zu dienen habe. In dem Dokument findet sich hingegen kein Wort über die Respektierung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich von denen der USA wesentlich unterscheiden.

Im Unterschied zu Bush sieht Obama die Innenpolitik als Teil der NSS. Die rebuilding (renewal) Americas zuhause gilt als Mittel, den Einfluss Amerikas in der Welt auszudehnen. Die Fähigkeit der USA, den globalen Herausforderungen und Möglichkeiten zu entsprechen, sei eine Funktion der nationalen Macht und die Grundlage der nationalen Macht wiederum sei die Gesundheit der Wirtschaft und der eigenen Gesellschaft. Im Unterschied zu Bush sollen nun in der Politik "die Verteidigung, die Diplomatie und die Entwicklung" von der gesamten Administration als ein "integriertes Ganzes" gehandhabt werden. Die US-Außenministerin Hillary Clinton bemerkte dazu in einem Vortrag am 27. Mai des Jahres: "Das ist eine umfassende nationale Sicherheitsstrategie, die unsere Anstrengungen hier zuhause, unsere Verpflichtung zur inneren Sicherheit, und unsere Außenpolitik integriert. Diese Strategie dient der Stärkung und Anwendung der Führung Amerikas, um unsere nationalen Interessen wahrzunehmen und die entsprechenden Probleme zu lösen."

Mit dieser Strategie hat das Obama-Regime, wie Paul Craig Roberts, lange Zeit Herausgeber des Wall Street Journal und heute entschiedener Kritiker der USA-Politik, in einem US-Informationsblatt zusammenfasste, "den Krieg zu Amerikas Geschäft gemacht".(1) Der strategische Hauptstoß ist heute, wie in den letzten Monaten wiederholt vom Chef des Pentagon, Robert Gates, unverhüllt verkündet, gegen die VR China gerichtet. Die USA beobachteten mit Sorge die schnelle militärische Aufrüstung und Modernisierung, obwohl es von keinem (!) bedroht werde.(2) Um seine Interessen in der Welt wieder verstärkt durchsetzen zu können, verfolgt Washington die Absicht, China, wenn es schon nicht "verwestlicht" werden kann, international vor allem von anderen Kräften, die mehr oder weniger auch eine andere Welt anstreben, zu isolieren und seinen weltweiten Einfluss "auszubalancieren" (pingheng, d.h. auf internationales Durchschnittsniveau zu senken).

Wo, wie und mit welchem Ergebnis widerspiegeln sich diese Ziele in der gegenwärtigen Politik der Vereinigten Staaten von Amerika?

Washington hofierte Beijing mit dem ersten China-Besuch Präsident Obamas im November letzten Jahres und versuchte, es zu bewegen, sich den USA anzuschließen und gemeinsam mit ihnen als die "beiden Großmächte" die Probleme der Welt zu lösen. Während Obama vor allem in seinem Auftreten an einer Shanghaier Universität für die USA als "Hort der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte" warb, vermied er es auf die Feststellung des Präsidenten Hu Jintao einzugehen, dass die Zusammenarbeit beider Länder nur auf der Grundlage der Respektierung der gesellschaftlichen Unterschiede und der "Kerninteressen" Chinas möglich sei. Washington setzte diese Linie auch in der zweiten Runde des wirtschaftlichen und strategischen Dialogs beider Länder im Mai in Beijing fort. Zur Eröffnung der Verhandlungen hielt es Präsident Hu Jintao für angebracht, nochmals ausführlich darauf hinzuweisen, dass zwischen beiden Ländern grundlegende Unterschiede in der gesellschaftlichen Ordnung, in der Ideologie und in den Wertauffassungen existieren, deren Beachtung Voraussetzung für eine gedeihliche Zusammenarbeit ist. Mit der Zusage, nach dreißig Jahren nun auch High-Tech-Produkte und Hochtechnologie nach China liefern, China Investitionen in den USA ermöglichen und die chinesische Wirtschaft als Marktwirtschaft anerkennen zu wollen, schien die amerikanische Seite jedoch erstrangigen Interessen Chinas entgegenzukommen. So wurden im Ergebnis dieser Runde zahlreiche Abkommen über die ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit abgeschlossen. Offensichtlich unter dem Eindruck dieser Entwicklung erklärte sich China bereit, in der UNO neuen Sanktionen gegen den Iran zuzustimmen. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass China wie Russland zum einen unverändert für die diplomatische Lösung der Streitfragen eintraten und zum anderen offenbar noch weiter reichenden Sanktionen, die im Nachhinein von den USA und der EU im Alleingang beschlossen wurden, nicht zustimmten. In der gleichen Zeit versuchten die USA vergeblich, China in der Frage des - mysteriösen - Untergangs des südkoreanischen Kriegsschiffes "Cheonan" am 26. März im Rahmen eines amerikanisch-südkoreanischen Manövers in der Nähe der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea für ihre Position zu gewinnen, die KDVR für diesen Zwischenfall verantwortlich zu machen und sie dafür im Sicherheitsrat zu verurteilen. Nach einer Konsultation mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Il sprach sich China deutlich dafür aus, die Überbleibsel des Kalten Krieges zu überwinden, die Angelegenheit unter Teilnahme der nordkoreanischen Seite sachlich zu untersuchen und auf friedlichem Wege zu lösen. Diese Haltung veranlasste Präsident Obama, während des Treffens der G-20-Gruppe am 27. Juni in Toronto seinen chinesischen Partner in einer auf diplomatischem Parkett unüblichen groben Art und Weise aufzufordern, seine "absichtliche Blindheit" in dieser Frage aufzugeben. Die USA setzten diese Linie in Vorbereitung und Durchsetzung des amerikanisch-südkoreanischen Manövers in der letzten Juli-Dekade verstärkt fort. Demonstrativ traten die US-Außenministerin H. Clinton und US-Kriegsminister R. Gates gemeinsam vor der Weltöffentlichkeit in der demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea auf. In Seoul kündigte die Chefdiplomatin der USA neue scharfe Sanktionen gegen Nordkorea an, angeblich, um eine Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln durch Pjöngjang an andere Länder zu verhindern.

Das folgende gemeinsame Militärmanöver, das ungeachtet der Proteste der VR China und der KDVR durchgeführt wurde, war das größte seit 34 Jahren. Daran nahmen auch der Flugzeugträger "George Washington" mit 102.000 BRT und erstmals auch Flugzeuge vom Typ F-22 namens "Raubvogel", modernste Kampfmaschinen, teil. Das Manöver verschärfte die Spannungen in diesem neuralgischen Gebiet. Die USA gaben an, damit Nordkorea von künftigen Provokationen abschrecken zu wollen. Faktisch war es auch eine Demonstration militärischer Überlegenheit gegenüber der VR China.

Wenige Tage zuvor hatte ein Forum der Außenminister der Asean-Staaten über Sicherheitsfragen in Hanoi stattgefunden, auf dem auch China und die USA vertreten waren. Die USA nutzten die Gelegenheit, um sich in die territorialen Streitigkeiten zwischen China und einigen anderen Anrainerländer um die Nansha- und die Xisha-Inselgruppen im Südmeer(3) einzumischen. Außenministerin Clinton drückte in einer gut vorbereiteten Rede die Besorgnis der USA über diesen Konflikt aus und erklärte, dass dessen Lösung die staatlichen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika berühre. Amerika unterstütze alle Länder, die die Frage der Hoheitsrechte über diese Inselgruppen aufgeworfen haben, und wende sich dagegen, dass "irgend ein Staat" in dieser Frage Gewalt einsetze bzw. damit drohe. Zu den Staaten, denen die USA Unterstützung in dieser Frage zusagten, zähle Vietnam und "irgendein Staat", meinte China. Die amerikanische Einmischung in diesen Streit zwischen Vietnam und China war offensichtlich dazu gedacht, die Widersprüche zwischen ihnen, die beide am sozialistischen Weg festhalten, auszunutzen, um die Position Chinas an seiner Südflanke zu schwächen. Hinzu kam, dass H. Clinton vorschlug, den Streit zu internationalisieren. Das hieße wohl, den USA diese Region auch für ihre militärischen Aktivitäten völkerrechtlich ungehindert zu überlassen.

Der chinesische Außenminister Yang Jiechi setzte sich auf dem Forum mit diesem Vorstoß Washingtons prinzipiell auseinander. Er verwies einleitend darauf, dass die Mehrzahl der Teilnehmer am Forum die Lage in der Region friedlich und stabil und die anhängigen Verhandlungen ohne jegliche Bedrohung sehen. Zwischen der Asean als Ganzem und China gebe es keinen Streit um Hoheitsrechte in dieser Region. Vielmehr bestehe Konsens, Streitfragen durch freundschaftliche Konsultationen friedlich zu lösen, um Frieden, Stabilität und freundschaftliche Nachbarschaft zu wahren. Im Geiste der "Deklaration über die Handlungen aller Seiten im Südmeer" (DOC) müsse sich jede Seite zurückhalten und die Problematik nicht internationalisieren und multilateral behandeln wollen. Eine Internationalisierung dieser Problematik würde die Lösung der Streitfragen nur erschweren. Wenn die Bedingungen dazu gegeben sind, könne sie auf hoher Ebene behandelt werden. Die freie und sichere Nutzung des Nanhai durch die internationale Schifffahrt sei in keiner Weise gefährdet. China habe sich inzwischen zum größten Handelspartner in dieser Region entwickelt. Wenn einige Länder ihren Export nach China nicht steigern können, liege das nicht an fehlender Freiheit für die Nutzung dieser Schifffahrtsroute, sondern weil sie für den Export von High-Tech-Produkten nach China hohe Barrieren gesetzt hätten. In der Nanhai-Problematik gäbe es auch keinen Zwang. China habe immer den Standpunkt eingenommen, dass alle Länder, ob groß oder klein, gleichberechtigt sind. In der Meldung heißt es abschließend, dass über zehn Teilnehmer am Forum Außenminister Yang gedankt hätten, weil er "die Ambitionen der Asiaten" gestärkt hätte, worüber sie "Stolz empfinden" würden.

Dennoch vermitteln die verschiedenen Berichte in den Medien von Anrainerländern den Eindruck, dass die Lösung der aufgekommenen Streitfragen nicht zügig genug vonstatten geht. Einige Staaten dieser Region waren aus eigenem Interesse daran interessiert, die USA als Gegengewicht zur VR China in die Auseinandersetzungen einzubeziehen.

Die US-Seite war während des Forums bemüht, ihr Ansehen in den Ländern Indochinas dauerhaft zu verstärken. Eine Möglichkeit dazu bietet ihr der "Aktionsplan für den Unterlauf des Mekong" (Lower Mekong Initiative). Dieser Plan war zwischen Thailand, Kambodscha, Laos, Vietnam und den USA im vergangenen Jahr vereinbart worden. Er orientiert auf eine verstärkte Zusammenarbeit dieser Länder vor allen in den Bereichen Umwelt, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Die USA sagten zu, in diesem Jahr für dieses Projekt 187 Millionen US$ hauptsächlich für den Bereich des Gesundheitswesens bereitzustellen. Das ist zunächst einmal zu begrüßen. Dieser zu bemerkende flexible Einsatz von Diplomatie und Wirtschaft durch die Obama-Administration hat jedoch wiederum einen klaren politischen Hintergrund. US-Außenministerin Clinton nannte die Bewirtschaftung der Ressourcen in diesem Flussabschnitt und ihren Schutz vor der Bedrohung durch die Klimaveränderung und Infektionskrankheiten eine "multinationale Herausforderung", der sich auch die USA stellen wollen. Nun muss man wissen, dass zwischen China und den Ländern Indochinas um die Nutzung des Mekongwassers eine Reihe ungelöster Probleme bestehen. Sie betreffen im Wesentlichen den Bau von Bewässerungsanlagen durch China am Oberlauf des Mekong und die damit verbundenen möglichen negativen Auswirkungen auf die Bewirtschaftung des Flusses am Unterlauf für Fischfang, Bewässerung der Felder und Trinkwasser. Es sind also wieder ungelöste Fragen in den Beziehungen China mit anderen Ländern, vor allem mit Vietnam, die den USA Möglichkeiten eröffnen, den Einfluss der chinesischen Volksrepublik in diesem Raum zu paralysieren.

Die US-Medien wie die Foreign Policy und die Washington Post haben die Ergebnisse der Aktivitäten von Außenministerin Clinton und des Pentagonchefs Gates der letzten Zeit in Asien aus amerikanischer Sicht folgendermaßen zusammengefasst:

Stärkung des Bündnisses zwischen den USA und Südkorea,
Beseitigung japanischer Besorgnisse
Förderung der Menschenrechte durch Vietnam und diplomatische Festigung der Beziehungen mit diesem Land
hinsichtlich Indonesiens, das als "Anker der Asean" angesehen wird, Aufhebung der Einschränkungen für seine Streitkräfte durch die USA und Stärkung der Zusammenarbeit im Bereich der "Verteidigung"
Thailand hat zum ersten Male eine kleine Einheit Militär nach Afghanistan geschickt
Laos, das bisher ein "Vasallenstaat Beijings" gewesen sei, hat erstmals seit 1975 eine hochrangige Vertreterdelegation in die USA entsandt
Obama hat die seit acht Jahren gegenüber Myanmar betriebene Bush-Politik beendet und Verbindungen zu diesem Land aufgenommen
In der Frage des Nanhai (Südliches Meer) haben die USA ihre starke Stimme erhoben.

Die führenden amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften lassen ihre Leser nicht über das letztliche Ziel dieser Aktivitäten im Unklaren. So heißt es in der letzten Ausgabe der Foreign Policy: "Der amerikanische Realismus, den Hillary und Gates derzeit praktizieren, dient der Paralysierung des Einflusses Chinas in dieser Region."

Wie reagiert Beijing auf diese Offensive des Weißen Hauses in Asien, vor allem in Südost-Asien?(4)

Ich möchte einen Beitrag herausgreifen, in dem sich ein offenbar gewichtiger Autor zum derzeitigen Hauptproblem, dem Südmeer, äußert und dabei generelle Gedanken für die Lösung der territorialen Streitfragen durch Beijing darlegt. Es handelt sich um einen militärischen Kommentar, der im Internet der zentralen Parteizeitung Renmin Ribao vom 27. Juli abgedruckt worden ist. Der Autor stellt eingangs fest, dass China Klarheit über die Linie brauche, wie weiter zu verfahren ist. Wenn gewisse südost-asiatische Länder immer mehr dazu neigen, das Problem zu internationalisieren, so hänge das auch damit zusammen, dass China als die stärkste Seite in diesem Streit sehr leicht zum Objekt werde, dem man gemeinsam entgegentreten müsse. China habe im Gebiet des Südmeeres zwei "Kerninteressen": erstens, das Wohlwollen der südostasiatischen Länder gegenüber China zu erhalten, um das äußere Umfeld für die Entwicklung Chinas zu sichern, und zweitens, die territoriale Integrität Chinas im Gebiet des Südmeeres zu schützen. Zugleich mit der Verwirklichung dieser beiden Ziele bedürfe die chinesische Nation, einer "großen Weitherzigkeit", was wohl eine größere Kompromissbereitschaft Chinas in dieser höchst komplizierten Frage andeuten soll. Nicht wenige Menschen in den Anrainerländern würden nämlich befürchten, dass China momentan zwar "den Streit beiseite schiebe", ihn jedoch, nachdem es erstarkt sei, zu seinen Gunsten beenden werde. Das chinesische Volk wiederum sorge sich darum, dass China nach so vielen leidvollen Erfahrungen erneut eine Schwächung seiner Hoheitsrechte hinnehmen müsse. Dieses gegenseitige Misstrauen mache es den USA leicht, die Situation zu nutzen, um zwischen China und den anderen Ländern einen prinzipiellen Gegensatz aufzubauen. Deshalb brauche China dringend Klarheit über sein weiteres Vorgehen. Bisher habe es das Prinzip verfolgt "Legen wir den Streit beiseite und erschließen wir gemeinsam". In der Praxis habe der Streit jedoch die Umsetzung dieses Prinzips sehr behindert. So sei bisher kaum etwas "gemeinsam erschlossen" worden. Deshalb müsse nun in erster Linie die Frage beantwortet werden, wie dieses Prinzip konkret verwirklicht werden kann. Dabei sollte zunächst versucht werden, bei ein-zwei Inseln einen Durchbruch zu erreichen. Dabei würden sich konkrete ökonomische Interessen entwickeln, die eine entscheidende Rolle für die Lösung des Problems spielen könnten. Beachtet werden müsse aber auch, dass sich dieser Streit historisch entwickelt hat und deshalb nicht in kurzer Zeit so einfach überwunden werden kann. Nur ein sich ständig erstarkendes China habe die Kraft, von "einer höheren Warte" aus, diese und andere territoriale Streitfragen im Interesse aller Beteiligten beizulegen. Der Kommentar schließt mit den Worten: "Das Problem des Südmeeres ist eine allseitige Prüfung für den friedlichen Aufstieg Chinas. Nur wenn es den Streit mit den Ländern am Südmeer friedlich löst und dabei seine eigenen Interessen schützt, wird es von Asien und der Welt respektiert und verehrt werden."

Mit anderen Worten: Die eingeschlagene politische Linie zur Lösung der noch verbliebenen historisch überlieferten territorialen Streitfragen ist im Prinzip richtig, sie muss nur konsequent und allseitig im Interesse aller Beteiligten umgesetzt werden. Die Erfahrungen bei der Lösung von Grenzfragen zum Beispiel mit Russland, Kasachstan und bei der Landgrenze mit Vietnam seit den 90er Jahren im Kontext der allgemeinen Entwicklung der bilateralen Beziehungen sind dabei sicherlich recht hilfreich.

Aus der bisherigen Analyse der Strategie und Politik der Obama-Administration ergeben sich zwei Überlegungen, mit denen ich diesen Beitrag abschließen möchte. Diese Strategie und Politik ist aus meiner Sicht im Sinne der Erhaltung des kapitalistischen Weltsystems und der vollen Wiederherstellung der globalen Führungsrolle der USA wesentlich umfassender, realistischer und effektiver angelegt als die seines Vorgängers. In diesem Sinne ist die New Security Strategy dieser Regierung auch gefährlicher für die Kräfte, die eine andere Welt anstreben. Ihr entgegenzutreten, verlangt von ihnen eine wesentlich höhere politische Qualität und Elastizität als in der Vergangenheit. Das betrifft auch und vielleicht sogar in erster Linie die Verwirklichung ihrer Strategie und Taktik zur Schaffung eigener Positionen und Räume sowie die kluge und zügige Lösung der dabei auftretenden Widersprüche.

Die Strategie und Taktik der Obama-Administration sind zweifelsohne das Ergebnis des Einwirkens verschiedener politischer Kräfte in den USA. Obama selbst ist dem Druck verschiedener politischer Seiten ausgesetzt. Er wird immer wieder, wie jüngst in seinen Einschätzungen der Politik des israelischen Ministerpräsident Netanjahu, gezwungen werden, seine eigene Position zugunsten derer, die Druck auf ihn ausüben können, aufzugeben und sich der anderen Meinung anzuschließen. Und auch Obama muss, wenn er wieder gewählt werden will, Forderungen wie denen der jüdischen Lobby oder der Gewerkschaften berücksichtigen. Letztlich jedoch trägt er die volle Verantwortung für die Strategie und Politik seiner Regierung, selbst wenn er manche Aspekte dieser Politik eigentlich hätte anders setzen wollen.


Helmut Peters, Prof. Dr., Berlin, Sinologe


Anmerkungen:

(1) Ausführlichere Übersetzung des Beitrages durch R. Rupp, s. junge Welt vom 31. 7. 2010

(2) Die Rüstungsausgaben der VR China betragen nach Schätzungen im Wert von rd. 100 Mrd. US-Dollar nur ein Zehntel derer der USA

(3) Allgemein als Südchinesisches Meer bekannt. In dieser Region befinden sich über 200 kleine Inseln, Riffe und Sandbänke, die zu diesen beiden Inselgruppen gezählt werden. Strategisch bedeutsam ist dieses Gebiet durch Erdöl- und Erdgasvorkommen und als Wasserstraße, die von etwa einem Drittel aller Handelsschiffe in der Welt durchfahren wird.

(4) Abgesehen von den Auszügen aus der Rede des chinesischen Außenministers auf dem Hanoier Forum haben dem Autor nur offiziöse Stellungnahmen chinesischer Experten und Kommentare Hongkonger, Taiwaner und ausländischer Medien vorgelegen. Die folgenden Ausführungen geben wesentliche Aussagen in diesen Stellungnahmen und Kommentaren wieder.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 78-83
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2010