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MARXISTISCHE BLÄTTER/461: Stuttgart 21 - eine Region steht auf


Marxistische Blätter Heft 5-10

Stuttgart 21 - eine Region steht auf

Von Michael Maercks


Für den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Mappus (CDU) ist Stuttgart 21 mehr als nur die Tieferlegung des Bahnhofes. Es ist ein groß angelegtes Infrastruktur-Projekt für das gesamte Land. So sahen es auch die versammelten CDU-Bürgermeister, als sie sich auf dem baden-württembergischen Gemeinde- und Städtetag noch einmal für umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 und die Schnelltrasse nach Ulm stark machten.

Stuttgart 21 ist die Vision für die Entwicklung einer Stadt mit 600.000 Einwohnern im Südwesten Deutschlands hin zu einer europäischen Metropolregion mit über 5,4 Millionen Menschen und einer Ausdehnung von über 15.400 Quadratkilometern. So beschloss es auch die deutsche Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) im Jahr 1995 aus Antrag des Landes Baden-Württemberg. Ein solcher Beschluss besitzt zwar keine Rechtswirkung, gilt aber als Empfehlungen mit politischer Bindungskraft.

Aber um den Standort Stuttgart auszubauen braucht die Stadt zusätzliche Gewerbeflächen. Auf Grund der Talkessellage kann sich Stuttgart nicht weiter in der Fläche ausdehnen. Da boten sich die Gleisflächen der Bundesbahn im Vorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofes an. Ein unterirdischer Bahnhof sollte die Flächen frei machen. Und das alles zum Nulltarif. Die Stadt kaufte der Bahn die Flächen zum damaligen Preis ab und hoffte auf saftige Gewinne aus der Bodenspekulation. Die Kosten für die Tieferlegung des Bahnhofes und der Gleise sollten über EU-Fördermittel und vom Bund aus den Geldern für den Aufbau-Ost gezahlt werden. Um den Förderkriterien zu entsprechen, entdeckte man die West-Ost-Magistrale Paris-Bratislava. So wurde die Region Stuttgart Teil des von der EU geförderten Trans-European Networks (TEN). Eigentlich dient dieses Projekt der Verbesserung des Güterverkehrs auf der Schiene. Da aber auf der Neubaustrecke wegen der Steigungen keine Güterzüge fahren können, wurde argumentiert, dass die Hochgeschwindigkeitsstrecke für eine zusätzliche Entlastung des Güterverkehrs auf der alten Trasse sorgen wird. Für die Fördermittel aus dem Bundesetat für diese Strecke muss aber auch Güterverkehr erfolgen. Deshalb entwickelte man die Idee von Güterschnellzügen für den Pakettransport. Diese Züge wird es zwar nie geben, damit wurden aber die Bedingungen für die Fördermittelvergabe erfüllt.

Die Bahn selber wollte das Projekt lange nicht. Die Wirtschaftlichkeitsberechnungen waren zu negativ. Da wurden die Zahlen schön gerechnet, um eine politische Entscheidung zu erzwingen. Der neue Bahnhof für den Anschluss des Flughafens an die Neubaustrecke wurde nur noch eingleisig geplant, die Baukosten übernahm die Flughafen AG. Um das regionale Verkehrsaufkommen für die Bilanzen zu steigern, kaufte die Region im Voraus schon mal mehr Bahnkilometer als benötigt. Der wirtschaftliche Nutzen wurde hochgerechnet, die Kosten klein gerechnet. Damit erkaufte man sich die Zustimmung von Gemeinderat, Landtag und dem Bund. Alle Parteien stimmten zu, auch die Grünen, die auch für den Immobiliendeal mit der Bahn stimmten.

Mit dem Hinweis auf blühende Landschaften in BaWü erreichte man auch die Zustimmung der Gewerkschaften, die übliche Standort-Logik eben. Insofern kann man die Äußerung von Bahnchef Grube verstehen, wenn er sich verwundert darüber zeigt, dass die Stuttgarter das Geschenk des neuen Bahnhofs und der Neubaustrecke nicht annehmen wollen.

Seit 1995 gab es in Stuttgart viele Kritiker. Sie wurden als rückwärts gewandt und fortschrittsfeindlich nicht ernst genommen. Die Kritik richtete sich damals in erster Linie gegen die städtebaulichen Aspekte des Projektes. Sie kam v.a. aus der damaligen Mieterbewegung und ist eng verknüpft mit dem Namen Gangolf Stocker der in der Financial Times Deutschland so charakterisiert wird: "Mit Widerstand kennt sich Stocker aus. Als junger Mann verweigerte er den Kriegsdienst, zu einer Zeit, als das noch nicht salonfähig war. Politisch startete er bei der SPD, dann folgten DKP und PDS. Lange hielt er es nirgendwo aus. Heute ist er parteiloser Stadtrat." Weitere Argumente waren schon damals der Umweltschutz, die Gefährdung der Mineralquellen durch die Baumaßnahmen, das Fällen der Bäume im Schlossgarten, aber auch die Fragen der Verquickung mit der örtlichen Industrie, mit den örtlichen Bauunternehmen. Die Frage "Wem nützt es" begleitete die gesamte Zeit den Protest, der in dieser Zeit wohl mehrheitlich getragen wurde vom Wählerpotential der Grünen.

Nun hat sich die Stimmung geändert. Inzwischen ist die Mehrheit der Bürger gegen das Projekt. Dazu haben auch die unmittelbaren Erfahrungen beigetragen: die Errichtung des Bauzaunes und der Abriss des Nordflügels des denkmalgeschützten Bahnhofs, die täglichen Behinderungen der vielen Pendler durch die Baumassnahmen im Gleisvorfeld. Aber es hat sich noch mehr verändert. Im letzten Jahr war Stuttgart die deutsche Hochburg der Kurzarbeit. Anfang 2009 waren von insgesamt knapp 500.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigen, die es in Stuttgart gibt, 45.279 zur Kurzarbeit angemeldet worden. Die FAZ titelte: "Nirgendwo ist besser zu besichtigen, was die Weltwirtschaftskrise in der Industrie anrichtet als in Stuttgart. Gestern waren die Unternehmen hier noch Exportweltmeister. Und morgen? Die Krise hat die Stadt erreicht."

Maßgeblichen Anteil an der Kurzarbeit hat der Automobilkonzern Daimler. In Untertürkheim waren 10.000 der rund 18.000 Beschäftigten von der Kurzarbeit betroffen, in Sindelfingen etwa zwei Drittel von 28.800 Mitarbeitern. Für die Betroffenen bedeutete dies im schlimmsten Fall bis zu 20 Prozent weniger netto. Kurzarbeit auch bei Porsche und den vielen Betrieben der Zulieferindustrie in und um Stuttgart. Nach der Kurzarbeit die Entlassung, das war die große Angst.

Während die neuen gesetzlichen Regelungen verabschiedet wurden, die vorsahen, dass die Arbeitsagenturen, und damit der Bund, künftig den Anteil der Arbeitnehmer an Sozialabgaben übernehmen, den das Unternehmen während der Kurzarbeit bisher selbst bezahlen musste, mussten sich die Bediensteten im öffentlichen Dienst mit einem mageren Tarifabschluss zufrieden geben. Der Staat habe kein Geld und müsse sparen, tönten die öffentlichen Arbeitgeber. Ver.di hat in Stuttgart einen aktiven Arbeitskampf geführt und konnte viele mobilisieren. In der Tarifkommission waren es die Vertreter aus Baden-Württemberg, die gegen den Tarifkompromiss gestimmt haben.

Heute fährt die Automobilindustrie wieder Gewinne ein. Aber Löhne und Gehälter bleiben niedrig. Der Stuttgarter Gemeinderat hat eine Haushaltssperre und einen Einstellungsstopp verabschiedet, mit den Stimmen der Grünen. Vor der Sitzung kam es zu einem gemeinsamen Protest von ver.di und den Gegnern von Stuttgart 21.

Das alles hat dazu geführt, dass heute die Kosten-Nutzen-Frage für das Projekt Stuttgart 21 im Vordergrund steht. Die Kosten für den neuen Bahnhof haben sich von 2,8 Mrd. auf über 5 Mrd. Euro erhöht. Das gesamte Projekt mit der Neubaustrecke wird von unabhängigen Gutachtern auf über 12 Mrd. Euro geschätzt. Wie das mit dem Sparprogramm der Bundesregierung mit den Kürzungen im Sozialbereich und in der Bildungspolitik in Einklang zu bringen ist, das sind heute die Fragen, die zuerst am Bauzaun diskutiert werden. Und dann die Lügen und die Vertuschungen, um die wahren Kosten und Gefährdungen zu verheimlichen.

Man ist nicht mehr bereit, Bürgerbeteiligung nur noch in der Verwaltung des Mangels zu sehen, wie es in vielen Kommunen praktiziert wird. Die Diskussion greift damit die Losung von ver.di für den heißen Herbst auf "Gerecht geht anders!". So ist auch der Wandel der Gewerkschaften in ihrer Haltung zu Stuttgart 21 zu verstehen. Die DGB-Region Nordwürttemberg ist mit über 330.000 Mitgliedern die mitgliederstärkste Region im DGB. Im Oktober 2009 wurde eine Resolution gegen Stuttgart 21 verabschiedet. Es wurde beschlossen, dem Aktionsbündnis beizutreten. Das kann nicht als selbstverständlich angesehen werden, war doch der bisherige DGB-Vorsitzende Mitglied im Unterstützerkreis für Stuttgart 21. Der DGB stellt sich damit gegen die SPD, die weiterhin das Projekt befürwortet. Ähnliche Beschlüsse gibt es von ver.di und von der IG Metall. Die GewerkschafterInnen gegen Stuttgart 21 betreiben eine eigene Web-Seite, sind auf allen Demonstrationen und Aktionen dabei. Die großen Gewerkschaften sind als Teil der Bewegung akzeptiert.

Der Protest wurde breiter, als die Grünen die Frage Stuttgart 21 zum Schwerpunkt im OB-Wahlkampf gemacht hatten. Ihr OB-Kandidat Boris Palmer, derzeit OB in Tübingen, konnte ein gutes Ergebnis erzielen. Bei der Stichwahl verzichtete er und rief seine Wähler auf, den CDU-Kandidaten Schuster zu wählen und nicht die SPD-Kandidatin. Verbunden war dies mit einem politischen Kuhhandel. Schuster versprach, ein Bürgerbegehren durchzuführen, wenn die Kosten für Stuttgart 21 um mehr als 100 Mio steigen. Der Trick dabei: Schuster unterschrieb schnell die Verträge mit der Bahn, und als dann die Kostensteigerungen nicht mehr verheimlicht werden konnten, ließ er sich vom Verwaltungsgericht bestätigen, dass ein Bürgerbegehren wegen der unterschrieben Verträge nun rechtlich nicht mehr möglich ist. Die mittlerweile 67.000 gesammelten Unterschriften landeten im Papierkorb. Bei den letzten Gemeinderatswahlen wurden die Grünen stärkste Fraktion, aber auch Gangolf Stocker bildet nun zusammen mit der Partei Die Linke die Fraktion Linke/SÖS.

In Stuttgart hat sich eine neue Protestform entwickelt. Es sind die Montagskundgebungen vor dem Hauptbahnhof, die wöchentlich stattfinden und jeweils mehr als 10.000 Teilnehmer haben. Mittwochs findet der Kultursommer statt. Freitags wird zu Aktionen an verschiedenen Orten der Stadt aufgerufen mit unterschiedlichen Aktionsformen. Im gesamten Land findet täglich um 19:00 Uhr der sogenannte Schwabenstreich statt: 1 Minute ohrenbetäubender Lärm als unüberhörbarer Protest. Der Bauzaun ist zu einer Kunstgalerie des Protestes umfunktioniert worden.

Die Gruppe "Die Parkschützer" versteht es, mit immer neuen Aktionen in die Medien zu kommen. Hier machen sich die vielfältigen Erfahrungen von Attac, Greenpeace und Robin Wood bemerkbar. So konnte es gelingen, immer mehr Personen in den Protest einzubeziehen. Bei den Großkundgebungen nehmen nun jeweils über 50.000 teil.

Eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung nimmt auch das Internet ein. Es dient einerseits als fundierte Informationsquelle, da hier all die Gutachten und Stellungnahmen nachzulesen sind, die früher nicht veröffentlicht worden, bzw. geheim gehalten worden sind. Andererseits wird das Medium genutzt für aktuelle Berichterstattung, für Diskussion aber auch für die Organisierung des Protestes.

Die Berichterstattung in den örtlichen Zeitungen hat sich geändert. Die Projektbefürworter haben nicht mehr die Meinungshoheit. In Stuttgart berichtet die Stuttgarter Zeitung mit mehr Sympathie für die Gegner, die Stuttgarter Nachrichten geben den Befürwortern mehr Platz. Das Besondere: Beide Zeitungen haben denselben Herausgeber. Aber die Zielgruppe ist gespalten. Nur die Bild-Zeitung polemisiert in hergebrachter Manier gegen die Demonstrationen. Rundfunk und Fernsehen können das Thema nun nicht mehr ignorieren.

Auffällig ist die steigende Teilnahme von Jugendlichen an dem Protest. Ein Teil kommt aus dem Aktionspotential zum Bildungsstreik. In Stuttgart gab es vielfältige Aktionen der Schüler und Studenten. Hinzu kommen die Friedensbewegung, Antifa-Bewegung und die Kampagne gegen das neue Versammlungsgesetz, das die Landesregierung plant, und das noch schärfer als das bayerische werden soll.

Das ist noch nicht der Hauch von Revolution, wie die Junge Welt süffisant schreibt, um dann die Demonstrationsteilnehmer als Revoluzzer, die ihren Müll selber wegräumen, abzuqualifizieren. Aber es ist mehr als ein Kampf des Establishments gegen das Establishment, wie es Jens Berger in seinem linksliberalen Blog "Der Spiegelfechter" formuliert. Diese Bewegung kann nachhaltige Auswirkungen haben im Kampf um mehr Demokratie und sozialen Fortschritt. Stuttgart 21 stellt nicht die Systemfrage, aber die Frage, in was für einem gesellschaftlichen System wir eigentlich leben wollen. Hier kann sich systemkritisches Bewusstsein entwickeln, vor allem auch in der Jugend, die erstmals an einer solchen Vielfalt von Protestformen teilnimmt. Wieweit sich diese politischen Erfahrungen in der Wahlentscheidung zu den Landtagswahlen im März 2011 niederschlagen werden, das ist noch offen.

In der Haushaltsberatung hat sich Bundeskanzlerin Merkel voll hinter das Projekt Stuttgart 21 gestellt. Damit ist die Diskussion nun auch auf der Bundesebene angekommen.


Michael Maercks, Winnenden, Physiker


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-10, 48. Jahrgang, S. 23-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2010