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MARXISTISCHE BLÄTTER/511: Zehn Jahre Euro - und raus bist du...


Marxistische Blätter Heft 1-12

Zehn Jahre Euro - und raus bist du...

von Klaus Wagener


An der Europäischen Zentralbank (EZB) sollte es diesmal nicht liegen. Die sich so gern als strenge Währungshüter verkaufenden Herren hatten sich zum Jahresabschluss wieder einmal nicht knausrig gezeigt und reichlich Geld produziert. Unter dem imposanten Titel Long Term Refinancing Operation (LTRO) wurde eine satte halbe Billion Euro verteilt. Zu ungewöhnlich renditefreundlichen Zinsen von einem Prozent und einer rekordverdächtigen Laufzeit von drei Jahren. Dummerweise nicht an diejenigen, die es am dringendsten brauchen und die eigentlich als Herren ihrer Währung und ihrer Zentralbank hätten vermutet werden könnten: Die Staaten der Euro-Zone. Italien musste zum Jahresende für eine zehnjährige Anleihe 6,98 Prozent Zinsen bieten. Runde 6 Prozent Gewinn also für die gepriesenen "Märkte", für einfaches Weiterreichen der EZB-Milliarden. Trotzdem konnte Italien nur rund 7 Milliarden Euro einsammeln. 8,5 waren geplant. Italien wackelt. Auch den Banken der Euro-Zone ist ihr Hemd näher als ihr Rock. Rund 750 Mrd. EZB-Gelder (HB) sollen mittlerweile an die Finanzhäuser geflossen sein. 209 Mrd. Euro sind ihnen im Gegenzug für Papiere zugeflossen, die mit nicht mehr als einem Staatsstempel besichert waren (WamS). Aber statt die Euro-Schwemme, wie wohl von Herrn Draghi erhofft, (mit Gewinn) an bedürftige Staaten und Unternehmen weiterzureichen, zogen es die Banken vor, den größten Teil des erhaltenen Geldes (zuletzt 463,37 Mrd. Euro) lieber wieder bei der EZB zu "parken" oder zu minus 0,04 Prozent der Bundesrepublik zu leihen. Der EZB-Monetarismus kennt Gewinner und Verlierer.

In Nichtkrisenzeiten war diese "Einlagefazilität" bei der EZB selten größer als 10 Mrd. Euro. Nach dem 15. September 2008 (Lehman) schoss sie steil nach oben. Da jetzt klar war, dass die gepriesenen innovativen, "renditestarken" Finanzprodukte die dubiosen Hypothekenkredite der US-amerikanischen Immobilienblase, über die globalen "Märkte" verteilt hatten, hatte die einsetzende Panik den Interbankenhandel völlig ausgetrocknet. Da ebenso klar war, dass die "Märkte so allweise also gar nicht waren, wurden diese Papiere ab sofort mit dem Pejorativum "toxisch" belegt. Niemand wusste, wer, wie viel dieser Papiere gebunkert hatte und wie viel sie noch wert waren. Die Banken parkten ihr Geld daher lieber bei der Zentralbank, statt es, wie üblich, an andere Banken weiter zu verleihen. Im Sommer 2011, als wieder einmal das Ende der Krise ausgerufen wurde, sank der Angstindikator "Einlagefazilität" auf etwa 25 Mrd. Euro. Um nun, im Januar 2012, den "Lehman-Schock" noch um 37 Prozent zu übertreffen. Die Angst ist zurück. Selbst wenn die Druckerpresse auf Hochtouren läuft.

Aus Sicht der Geldverleiher gibt es gute Gründe für die EZB-Spendierlaune. In 2012 müssen sie, laut Goldman Sachs, "fällig werdende Anleihen von 780 Mrd. Euro tilgen" (FAZ). Aber nicht nur das. Ein "Ausscheiden" von Euro-Peripherie-Staaten wie Griechenland ist zunehmend wahrscheinlich geworden. Das nun bedeutete für die ohnehin drastisch unterkapitalisierten Banken einen Stresstest der etwas anderen Art. Die aufgepumpte Kreditblase (Leverage) würde schrumpfen. Die üblichen Folgen des Deleverage einsetzen: Pleiten, Kapitalflucht, Arbeitslosigkeit. Forderungen werden nicht beizutreiben sein. Es wird Abschreibungen (Haircut) geben. Die Frage ist, wie immer: Bei wem.


Steuern und Schulden

Das oberste und bislang alleinige Ziel der EZB heißt Inflationsbekämpfung. Also Absicherung der Werte des Finanzkapitals. Dieser von der Bundesbank übernommene währungspolitische Fundamentalsatz gilt den Herren des Euro selbst dann, wenn es keine Inflation zu bekämpfen gibt. Wenn endogene Faktoren nicht vorhanden und die exogenen (Energie- und Rohstoffkosten) sich mit den Mitteln der EZB nicht bekämpfen lassen. Die Herren Draghi und Weidmann werden wohl noch wacker die Inflation bekämpfen, wenn die Euro-Zone in weiten Teilen längst in Deflation und Depression abgerutscht ist.

Diese durch monetaristischen Dogmatismus präformierte Weltsicht macht ein problemadäquates Krisenmanagement einigermaßen kompliziert. Umso mehr, da der zweite Fundamentalsatz der EZB lautet: "Du sollst deine Euro-Staaten nicht finanzieren!" Auch das gilt, selbst dann, wenn sie durch die Erpressung der "Finanzmärkte" drohen Pleite zu gehen.

Natürlich hat sich die EZB nicht wirklich aus der Staatsfinanzierung verabschiedet. Zur Debatte steht nur das "Wie". Auch wenn es, propagandistisch als "Entweder-Oder" kostümiert wird. Die Staatsfinanzierung durch die EZB erhält den Persilschein für Inflations-Unbedenklichkeit in dem Moment, in dem die frisch gedruckten Euros den privaten Bankensektor passiert haben. Denn nur der allweise "Markt" kann für optimale Ressourcenallokation sorgen - wie man ja weiß.

Die Finanzierung herrschaftlicher Machtausübung wie sozialer und infrastruktureller Reproduktion kostet einen erheblichen, tendenziell steigenden Teil des Nationalproduktes. Der in Zeiten von Krisen und Außenaggression - ökonomisch wie militärisch - schnell auch die absoluten gesellschaftlichen Finanzierungsmöglichkeiten übersteigen kann. Aber auch ohne derartige Herausforderungen belastet das traditionell eher gespannte, mit der Dauer der Herrschaftsausübung zunehmend distanziertere Verhältnis der besitzenden Klassen zur Finanzierung ihres Herrschaftsapparates das mehr und mehr notleidende Budget. Mit dem sich abzeichnenden (preiswerten) Sieg im Kalten Krieg nahm diese Distanz noch einmal spürbar zu. Der Ausweg aus der staatlichen Unterfinanzierung heißt also notwendig Kredit oder Geldproduktion. Die besitzenden Klassen sind allenfalls geneigt ihrem Machtapparat das Geld gegen Zins zu borgen, es schlicht durch Steuer entzogen zu bekommen, erscheint ihnen in neoliberalen Zeiten als schlichte Zumutung. Der Kredit oder das Drucken von Geld wurde die Regel. Die Staatsverschuldung schoss wieder durch die Decke wie zu Zeiten vor der erzwungenen Bretton-Woods-Kooperation. Und die Zentralbanken bekamen wieder reichlich zu tun.


Die Blase und das Geld

Dieser mit dem nahezu theologischen Begriff "Geldschöpfung" umschriebene Vorgang ist von der Geldverleiherbranche natürlich auch eigenständig zu bewerkstelligen. Mit der Erfindung papierener Wertzeichen ist jener klägliche Missstand beseitigt, der ein zumindest den Anschein von Werthaltigkeit erweckendes Metallstück erforderlich machte, auf den der jeweilige Herrscher sein Hoheitszeichen schlagen konnte. Mit dem Siegeszug von Buchgeld und der "digitalen Revolution" ist auch kein Papier mit Hoheitszeichen mehr erforderlich. Jeder (der eine Bank besitzt) kann es produzieren. Das setzt Phantasie frei. Die "innovativen Finanzprodukte", CDOs von CDOs von CDOs o. ä., sind ja noch gut in Erinnerung. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Leistung der Aktiengesellschaften bei der Blasenproduktion. Das Problem ist bekanntlich spätestens seit der Amsterdamer Tulpenmanie (1633-37) nicht die Produktion, sondern die Überproduktion von Geld und Kredit. Zentralbanken haben, oder besser hätten die Aufgabe, genau das zu verhindern.

Hierbei fährt die EZB traditionell und in lebhaftem Kontrast zu ihrer Selbstdarstellung, einen besonders heißen Reifen. Ihr ohnehin rekordniedriger Mindestreservesatz von zwei Prozent ist von der Draghi-Mannschaft zum 18.1.2012 auf ein Prozent abgesenkt worden. Geschäftsbanken im Euro-Raum können so das Einhundertfache dessen ausreichen, was sie als Reserve bei der EZB hinterlegen müssen. Zusammen mit der von "Basel III" allenfalls in ferner Zukunft marginal verbesserte Eigenkapitalquote von derzeit kläglichen (theoretischen) zwei Prozent und der Flutung der "Märkte" mit billigen EZB-Euros ist kaum etwas erkennbar, was auf so etwas wie Reduktion des Leverage hindeuten könnte. Statt die durch den Crash ins Trudeln geratene Staaten und die Realwirtschaften zu retten, wird das Platzen der Finanz-Blase (wieder entgegen der eigenen Propaganda) mit dem Aufpumpen einer neuen bekämpft. Die Bilanzsumme der EZB, bis 2004 noch unter 800 Mrd. Euro, ist durch die diversen Banken-Rettungsmanöver steil nach oben geschossen. Allein im letzten halben Jahr um 800 Mrd. auf nun 2,74 Bio. Euro.

Die Parallelen zur Greenspan-Strategie nach dem Platzen der Dotcom-Blase (2000) sind unverkennbar. Allerdings ohne realwirtschaftliche Entsprechung. Fußte die Dotcom-Blase noch auf einer realwirtschaftlichen Innovation, so war die Immobilienblase wesentlich ein Vehikel der Kreditaufblähung, während es nun nicht einmal mehr frisch produzierte Geistersiedlungen gibt. Das Aufpumpen des Zentralbank-Kredits findet in einem global immer rezessiveren Umfeld kaum noch die Großstory, die eine realwirtschaftliche (Schein)-Blüte erzeugen könnte. Die Kreditproduktion dient nahezu ausschließlich der Blasenstabilisierung selbst.

Wie kaum anders zu erwarten bedeutet diese Mastkur für das auf Grund gelaufene Zockergewerbe nicht gleichzeitig auch billige Staatskredite. Hier reicht natürlich niemand billiges Geld aus, nur weil es ihm zuvor fast kostenlos in die Tasche gesteckt wurde. Der Währungsfundamentalismus der EZB produziert also die bemerkenswerte Situation, dass die Eurostaaten sich eine mächtige Zentralbank geschaffen haben, die den Privat-Banken haufenweise Geld bereitstellt, mit dem diese dann gegen die Staaten selbst spekulieren können. Nicht gegen alle, versteht sich.


Die Spekulation und die Macht

In 2012 dürfte das Refinanzierungsvolumen der Eurostaaten bei etwa 1,5 Bio. Euro liegen. Allein Italien muss sich in diesem Jahr mit 340 Mrd. Euro, Spanien mit 120 Mrd. Euro refinanzieren. Zwar versucht die EZB mithilfe ihres halbherzigen SMP-Programms (Securities Markets Programme) den Anstieg der Renditen in gewissen Grenzen zu halten. Mittlerweile sind immerhin 212 Mrd. Euro in den Aufkauf von Staatsanleihen investiert. Aber solange die klare Ansage fehlt, dass, koste es was es wolle, die Überschreitung klar definierter, erträglicher Grenzen nicht toleriert wird, also die Rückzahlung der Staatsbonds auf jeden Fall gesichert ist, wird es keine Ruhe an der Renditefront geben. Den Banken das Geld zuzustecken hilft erkennbar wenig: Schon wenige Tage nach der gewaltigen Aufmunitionierung der Euroland-Banken sind die die Renditen wieder dort, wo sie vorher waren.

Erklärtermaßen ist diese tendenziell krisenverstärkende EZB-Strategie weder Unfähigkeit noch monetaristische Verirrung. Das erklärte Ziel ist die sozialökonomische Demontage in den Staaten der Euro-Peripherie über die Haushaltsdisziplinierung (Schuldenbremse) zu erzwingen. Die Logik dahinter: Arm und unterbezahlt gleich wettbewerbsfähig.

Da weder eine währungspolitische Anpassung (Abwertung), noch protektionistische Maßnahmen oder Kapitalverkehrskontrollen möglich sind, gibt es keinerlei Schutzmechanismen der ökonomisch schwächeren Euro-Staaten gegen die Markt- und Finanzmacht der ökonomisch Starken. Dies hat im Effekt die Entwicklung von steigenden Leistungsbilanz-Ungleichgewichten und gegenläufig entsprechende, Kapitalbilanz-Ungleichgewichte zur Folge. Zu steigenden Waren-Exportüberschüssen gehören notwendig steigende Kapitalexportüberschüsse. Es gibt Gewinner und Verlierer der Währungsunion. Die erklärte Strategie des deutschen Finanzkapitals ist, zu den Gewinnern zu gehören. Seine Profite, wie auch seine Marktdominanz, zum einen durch eine drastische Absenkung der Sozialstandards (Agenda-Politik), zum anderen durch die Blockade von Ausgleichstransfers zu maximieren. Die Euro-Konstruktion läuft daher, in einer eurolandspezifischen Ausformung der Ungleichentwicklung im Imperialismus, tendenziell auf eine Überschuldung der schwächeren Euro-Staaten hinaus. Da dieser realwirtschaftliche Prozess 2008 ff. durch den finanzpolitischen Transfer der Zockerschulden in die Staatshaushalte beschleunigt wurde, verschärfte sich die Schuldenlage in einigen Staaten drastisch. Er wäre vermutlich auch so zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Allerdings später.

Die akkumulierten Ungleichgewichte in Eurozonien hatten nach der Sozialisierung der Spekulationsverluste einen derartigen Umfang angenommen, dass sich die Frage nach der Bonität einzelner Euro-Staaten stellte. Normalerweise wird diese über die Zentralbank und den Euro-Staatenverbund garantiert. Da dies aber, nach der entsprechenden Erklärung der Kanzlerin, nicht mehr der Fall ist, war die logische Folge eine Differenzierung der Refinanzierungskosten in der Eurozone. Die ohnehin klammen Staaten werden durch steigende Zinslasten zusätzlich in die Verschuldung getrieben. Diese Verschuldungsdynamik, gekoppelt mit der politischen Bestandsgarantie der Euro-Zone, eröffnet der Spekulation einige Scheunentore. Es darf nun, bei veritablen Chancen, sowohl auf Bonds, wie auch auf den Euro als Ganzes spekuliert werden (Der Euro hat seit Mai 2011 rund 14 Prozent zum nicht minder kriselnden Dollar eingebüßt). Damit ist für eine Reihe von Staaten eine eigenständige Befreiung aus der Zinsfalle nicht mehr möglich. Genau das katapultierte Bundesregierung und EZB binnen weniger Jahre in die komfortable Lage, in Euroland die Bedingungen diktieren zu können. Die Überschuldung ermöglichte ökonomisch eine seit 1943 nicht mehr erreichte Dominanz des deutschen Imperialismus und seines französischen Juniorpartners in Europa.


Beerdigung erster Klasse

Der letzte und auch diesmal wieder endgültig erfolgreiche Euro-Rettungsgipfel im Dezember 2011 glänzte durch die demonstrative Abwesenheit jeglicher konkreter Maßnahmen für die akute Krise. Und ebenso durch die demonstrative Abwesenheit einer Debatte über das offenkundige Scheitern des bisherigen Rettungsansatzes. Dieser bestand im Wesentlichen aus dem Diktat einer drastischen Austeritätspolitik. Nationaler Ausverkauf und die "innere Abwertung" sollten die "Preiswettbewerbsfähigkeit" der taumelnden Euro-Staaten und damit das "Vertrauen der Märkte" wieder herstellen. In der dabei zu überbrückenden (vermutet kurzen) Übergangsfrist sollten von EU, EZB und IWF am Kapitalmarkt organisierte Kredite die Refinanzierung dieser Staaten sicher stellen. Diese Strategie kann mit dem Gipfel Dezember 2011 als beerdigt angesehen werden. Zum einen, weil der Versuch, sich die erforderlichen Summen für den "Rettungsschirm" zusammenzuleihen, kläglich gescheitert ist, zu anderen weil sich das "Sanierungskonzept" als kontraproduktiv und allenfalls langfristig erreichbar heraus gestellt hat

Dieses asoziale Brachialkonzept zu Lasten der arbeitenden Menschen ist, in der engen Betrachtung, nur für Staaten mit hohem industriellem Außenbeitrag begrenzt "erfolgversprechend". Irland schien das Paradebeispiel dieses Konzeptes werden zu wollen. Mittlerweile, mit der globalen Rezession und der entsprechenden Schrumpfung des Exports vor Augen, hat auch diese Euphorie spürbar nachgelassen. In einem Land mit geringer konkurrenzfähiger Industrie und hohen Handelsbilanzdefiziten wirkt die Senkung der Sozialstandards ohnehin eher problemverstärkend. Für Importe und Kredite müssten tendenziell wachsende Teile des BIP aufgewandt werden. Die Austeritätsprogramme sparen zudem, wie in einem Hase-und-Igel-Rennen, einem wirtschaftlichen Niedergang und entsprechend sinkenden Steuereinnahmen hinterher. In der weiteren Betrachtung kann dieses Konzept schon rein logisch nicht funktionieren. Zum einen, weil Austeritätsprogramme ihren (merkantilistischen) Sinn verlieren, wenn sie von allen praktiziert werden. Wenn alle "sparen" sind die Ungleichgewichte auf umsatzschwächendem, niedrigerem Niveau, wieder hergestellt. Zum zweiten, weil nicht alle Exportüberschüsse erzielen können. Überschüssen müssen logisch Defizite gegenüber stehen. Die von der Globalisierungseuphorie verheißene Win-Win-Situation ist im härter werdenden Kampf um Märkte und Profite eine Illusion.

Die Europa-Konzeptionen des Deutschen Kapitals teilten diese Illusionen noch nie. Allenfalls gab es Phasen, nach den verlorenen militärischen Versuchen, die einen demonstrativen, pazifistisch unterlegten Europaaltruismus erforderten. An der Vorstellung, dass es das "Schicksal" Deutschlands sei, als das stärkste europäische Land, geopolitisch berufen, aus der "Mittellage", militärisch oder merkantil, seine Expansion voranzutreiben, gab es in neokonservativen Kreisen nie einen Zweifel. Die heraufziehende vitale Konkurrenz eines von China geführten ostasiatischen Blocks gegen den verwahrlosenden amerikanischen Hegemon hat die Dringlichkeit des deutschen Europa-Projektes in den Augen seiner Protagonisten um einige Stufen herauf geschraubt. Die Angst, wieder einmal bei der Neuaufteilung der Welt zu spät zu kommen, treibt Berlin bei der Formierung seines, sagen wir, Interessengebietes zu immer aggressiverem Vorgehen. Da eine Sanierung des in die Verschuldung getriebenen Teils der Eurozone kostspielig und begrenzt sinnvoll erscheint, ist der Zeitpunkt für eine Neuformierung der Exportstarken gekommen. Wie kaum erhofft, hat die Krise dazu völlig neue Chance eröffnet. Dieses Momentum gilt es zu nutzen. Dazu gibt es in Berlin die große Koalition aller regierungszugelassenen Parteien. (Und wie es momentan scheint, arbeitet die Springer-Presse angestrengt daran, diese große Koalition auch Realität werden zu lassen.)

Dieses angestrebte preiswettbewerbsfähige Europa macht unter den gegenwärtig geltenden Konditionen und dem Diktat der Zeitknappheit eine Differenzierung des Integrationsprozesses notwendig. Einige Staaten werden aus der Währungsunion ausscheiden müssen. Der letzte EU-Gipfel hat dies indirekt und stillschweigend akzeptiert. Damit zeichnet sich analog der Bismarck-Konzeption einer kleindeutschen industriebasierten Lösung durch den preußischen Militärstiefel eine kleineuropäische Lösung der (Export)-Starken, mit Deutschland als Führungsmacht und Frankreich als Juniorpartner, durch die Zinsknute der Finanzspekulation, als angestrebte Variante ab. Mitglied dieses Clubs könnte nur werden, wer die Maastricht-Kriterien zu erfüllen in der Lage ist und dies auch kontrollieren zu lassen bereit ist. Was implizit bedeutet, dass damit das Ziel eines gewissermaßen deutsch gewordenen, aggressiv merkantilistischen Kleineuropa mit einer schlagkräftigen Exportwirtschaft, welche der asiatischen Herausforderung Paroli bieten kann, festgeschrieben ist. Dies ist nicht völlig neu. Das Ziel der Errichtung des "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraums der Welt" ist schon in der "Lissabon-Strategie" (2000) formuliert. Die innere Euro-Dialektik hat, bei Beibehaltung der geltenden Regeln, ein offenliberales "Lissabon" für alle Euro-Staaten aber verunmöglicht. Neu ist nun, die spezifische Ausrichtung am merkantilistischen deutschen Export-Modell und die Akzeptanz und Vorbereitung des Ausscheidens jener Staaten, die diesen Prozess aus eigener Kraft nicht nachvollziehen können (oder wollen).


Deutsch-Europa?

Großbritannien scheint dabei die Rolle Österreichs, die eines Weltreichs im Niedergang, zugedacht, welches, angesichts der überständigen Arroganz seiner herrschenden Klasse bei gleichzeitig erlahmter ökonomische Dynamik, einigen hemdsärmeligen Machern in Berlin, Frankfurt und Paris, trotz seines globalen, nicht einmal scheinregulierten Finanzmonopols, eher entbehrlich vorkommen dürfte. David Cameron scheint diese Sicht akzeptieren zu wollen.

Problematischer könnte sich die Situation Italiens für das Euro-Projekt darstellen. Der Preistreiberei der "Märkte" ausgesetzt, könnten sich Italiens enorme Staatsschulden als Mühlstein erweisen, der in einer durch Montis Austeritätspolitik noch verschärften Rezession, den Untergang schneller herbei führen könnte als sich, selbst bei gutem Willen (wovon nicht auszugehen ist), hinreichende Rettungsprogramme zusammenschustern lassen. Immerhin stehen die drittgrößte Euro-Ökonomie und Schulden von 2 Bio. Euro im Feuer. Die Auswirkungen eines wie auch immer gearteten italienischen Finanzcrashs auf die europäische Finanzstruktur dürften kaum einfach zu begrenzen sein. Inwieweit sich im Zweifelsfall ein wirksames Containment bewerkstelligen lässt, bleibt eine spannende Frage. Bislang hat die EZB den Zins-Gau Italiens und auch Spaniens verhindert. Da dies auf wenig effiziente Weise geschieht, mussten dramatische Summen mobilisiert werden. Mit mäßigem und kurzfristigem Erfolg. Fraglich, wie lange der Marsch entlang des Abgrunds möglich ist.

Diese Vabanque-Strategie zugunsten des Finanzcasinos und der deutschen Europaträume haben die ohnehin schwelende Überakkumulationskrise massiv verstärkt. Statt Abbau der Kreditblase und Schrumpfung des Bankensektors wird versucht die Blase mit weiteren Zentralbank-Billionen wieder aufzupumpen. Kredit, für den es keine andere Verwertungsmöglichkeit gibt als die Hoffnung auf Aufstockung der Pyramide mit weiterem Kredit. Kredite gegen die Überakkumulation. Bei gleichzeitiger Reduktion realwirtschaftlicher Verwertungschancen durch Krise und Austeritätspolitik. Ein todsicheres Konzept.

Nach dem Auslaufen der Stützungs- und Konjunkturprogramme hat mit der Umdeklarierung der Finanz- und Wirtschaftskrise zur Staatsschuldenkrise der prozyklische Rollback begonnen. Mit den entsprechenden Wirkungen für die Weltkonjunktur. Mit Ausnahme der "Schwellenländer" stehen die großen Wirtschaftsräume EU, USA, Japan vor einer Rezession oder befinden sich schon in ihr. Selbst das Wachstum der Volksrepublik verlangsamt sich spürbar. Wenn auch noch auf hohem Niveau. Der Auftragseingang der deutschen Industrie sank im November zum Vormonat um 4,8 Prozent. Die Auslandsaufträge sogar um 7,8 Prozent. Es deutet sich an, dass der europäischen "Wachstumslokomotive" der Dampf ausgeht. Die Inlandsnachfrage ist lohndumpinggemäß, trotz gegenteiliger Propaganda, flach wie ein Brett. Deutsche Exporte werden von Wachstumsoptimismus und dem Statusdenken saturierter Mittelschichten getragen. Fehlt es an der Grundbedingung Wachstum, läuft auch die deutsche Exportoffensive auf Grund. Zeitverzögert, aber, wie sich 2009 zeigte, ziemlich zuverlässig.

Wer eine Antwort auf die Frage nach der Perspektive möchte, die dieses Europa für die arbeitenden Menschen bereithält, sollte vielleicht einen Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit werfen. Für November 2011 meldet Eurostat eine - offizielle - Durchschnittsarbeitslosigkeit U-25 von 21,7 Prozent (EU-17) und 22,3 Prozent (EU-27). Im Fokus die nun entstandenen Peripherie-Staaten: Italien 30,1 Prozent; Portugal 30,7; Litauen 31,1; Slowakei 35,1; Griechenland 46,6 und Spanien 49,6 Prozent. Unsere Jugend - die Zukunft der Gesellschaft.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-12, 49. Jahrgang, S. 11-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012