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MARXISTISCHE BLÄTTER/515: Woran die Währungsunion scheitert


Marxistische Blätter Heft 2-12

Woran die Währungsunion scheitert

von Lucas Zeise



Wie lange bleibt Griechenland noch in der Eurozone? Wir wissen es nicht. Es kann durchaus sein, dass zu dem Zeitpunkt, wenn dieser Artikel gedruckt vorliegt, der Austritt schon in die Wege geleitet oder erfolgt ist. Unser geschätzter Innenminister von der CSU Hans-Peter Friedrich drückt sich da erfreulich direkt aus. Man müsse den Griechen Angebote für einen Austritt schaffen, "die sie nicht ausschlagen können". Das ist die Sprache der Mafia. Aber Friedrich hat diese Sprache sicher nicht nur von Marlon Brando im Hollywood-Film "Der Pate" gelernt, sondern im politischen Milieu seines bayrischen Heimatlandes. Einige freundliche Angebote an Griechenland sind ja bereits erfolgt, z. B. die Kürzung der Mindestlöhne, die Massenentlassung von Staatsangestellten, die Errichtung eines Sonderkontos zu Bedienung der Schulden, die Verschleuderung des Staatsvermögens. Das Problem bisher ist, dass die griechischen Regierungsparteien diese Zumutungen (fast) komplett akzeptiert haben. Nur die Unterwerfungsgeste, einen Staatskommissar aus Brüssel zu akzeptieren, war ihnen zu viel.

In den zwei Jahren nun akut wirkender Euro- und Staatsschuldenkrise haben die Regierungschefs der Zentrale, auf die es ankommt, also Frau Merkel, der Chef der Zentralbank Mario Draghi und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy gelernt, wie man sich der Zumutungen der Schwachen erwehrt. Was ist die stärkste Waffe des Schuldners? Die Drohung mit Konkurs, im Falle einer Staatspleite also die Drohung mit politischem Selbstmord. Zwar wird keine Regierung die Pleite des eigenen Staates überleben, aber für die Gläubiger ist ein solches Ereignis ebenfalls unangenehm. Die Pleite Griechenlands hätte zur Folge, dass andere Euro-Staaten noch größere Schwierigkeiten hätten als ohnehin, weitere Schulden zu machen. Sie hätte zudem zumindest das Risiko zur Folge, dass das bis zum äußersten angespannte Bankensystem Europas kollabieren würde.

Frau Merkel und Co. setzten also alles daran, um den möglichen selbstmörderischen Erpressungsversuchen Griechenlands mit der eigenen Pleite den Schrecken zu nehmen. Den kleineren Part übernahmen die Regierungen. Die deutsche Regierung ließ sich vom Bundestag die Neueröffnung des Bankenrettungsplans von 2008 im bescheidenen Volumen von 480 Mrd. Euro, also dem Anderthalbfachen eines jährlichen Bundeshaushalts - und zwar wider Geist und Buchstaben der mittlerweile grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse - genehmigen. Andere Regierungen verfuhren ähnlich. Den entscheidenden Part übernahm die Zentralbank. Sie senkte die Anforderungen für die Sicherheiten, die Banken bei der Zentralbank hinterlegen müssen, wenn sie von ihr Kredit erhalten. Sie senkte die Mindestreserve, die die Banken auf die Einlagen ihrer Kunden halten müssen, von zwei auf ein Prozent. Drittens aber offerierte die Zentralbank allen europäischen Banken zum ersten Mal Kredit mit einer Laufzeit von drei Jahren.

Damit scheint sich die Euro- und Staatsschuldenkrise tatsächlich ein wenig entspannt zu haben. Der seit Oktober vorigen Jahres amtierende Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, wählte die einfache und umso erfolgreichere Methode gegen Liquiditätsengpässe. Er gab den Banken noch mehr Geld als zuvor.

Im Dezember 2011 und Ende Februar erhielten die Banken, die das wollten, insgesamt Kredite in Höhe von mehr als einer Billion (1.000.000.000.000) Euro. Nicht nur die Summe war außergewöhnlich. Noch süßer waren die Konditionen, eine Laufzeit von drei Jahren zu einem Zins von 1 Prozent. Die attraktiven Konditionen haben die Banken bewogen, Kredit in dieser Höhe überhaupt aufzunehmen. Da weite Teile Europas bereits in die Rezession gerutscht sind, ist die Kreditnachfrage der privaten Unternehmen eher gering. Der größere Teil des Geldes konnte also zum Kauf italienischer und spanischer Staatsanleihen verwendet werden, die dank der Schuldenkrise dieser Länder attraktiv hoch verzinslich waren. Schon hat die stärkere Nachfrage ihre Rendite wieder gedrückt. Und erstmals seit letztem Sommer scheint die akute Krisengefahr entschärft.


Illiquide, insolvent oder beides

Tatsächlich sind die Liquiditätsspritzen durchaus hilfreich, ja eigentlich unerlässlich, um den Zusammenbruch der Währungsunion zu vermeiden. Es ist ganz wie bei der Behandlung der Unfallopfer. Die Notoperation samt frischer Blutzufuhr hält den Patienten zunächst am Leben. Ob er gesund wird, ist eine ganz andere Frage. Die Betriebswirte unterscheiden bei Unternehmen, ob es illiquide oder insolvent ist. Ersteres ist der Fall, wenn das Unternehmen kurzfristig seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen kann, weil die Kasse leer ist und weil die Bank keinen Kredit mehr gewährt. Das Unternehmen kann dennoch solvent sein, wenn zum Beispiel die Bank nicht in der Lage ist, Kredit zu gewähren, oder wenn ein wichtiger Kunde nicht oder zu spät zahlt. Die Insolvenz ist etwas ganz anderes. Damit ist gemeint, dass das Unternehmen auf Dauer Verluste macht, dass sein Geschäftsmodell nicht funktioniert. Da hilft auch kein Überbrückungskredit. Er hält das Unternehmen für den Augenblick über Wasser, aber er bedeutet keine Sanierung.

Kann es gelingen, die Euro-Währungsunion zu erhalten? Wird das Geschäftsmodell überleben? Ohne Frage hat das deutsche Kapital ein überragendes Interesse an der Währungsunion, weil

- sie den großen Absatzmarkt Europa erst herstellt, - weil sie die Verwertungsbedingungen in vielfältiger Weise verbessert,
- weil sie die Unterordnung anderer Kapitalisten in Europa ermöglicht,
- weil sie die Macht- und Verhandlungsposition gegenüber dem imperialistischen Hauptpartner USA verbessert.

Alle deutsche Regierungen haben seit dem Ende der Dollarbindung in den frühen 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts feste Wechselkurse in Europa angestrebt. Es ist eine Konstante deutscher Außenpolitik, einen Binnenmarkt Europa (unter deutscher Kontrolle und zu deutschen Bedingungen) zu schaffen. Das mit den Bedingungen ist wichtig. Die wichtigste lautet: Die Währungsunion muss billig sein. Sie darf möglichst gar nichts kosten. Sie darf, anders gesagt, nicht wie die Währungsunion mit der DDR organisiert werden mit ihren satten Transferzahlungen. Nebenbei bemerkt wurde sozusagen zum Ausgleich im Fall der DDR nicht nur der Absatzmarkt gesichert, sondern der gesamte Laden übernommen.

In einem wirklich schrankenlosen Binnenmarkt gilt: der Stärke wird stärker, der Schwache schwächer. Es setzt sich der mit den günstigsten Ausgangsbedingungen durch. Und so geschah es. Die leistungsstarken deutschen, niederländischen, zum Teil französischen Kapitalisten profitierten von der Währungsunion. Sie verdrängten die schwachen Kapitalisten auf deren traditionellen, nun ganz offenen Heimatmärkten. Das drückt sich heute im rasant wachsenden Leistungsbilanzüberschuss in Deutschland (und den Niederlanden) sowie in entsprechenden Defiziten in Italien, Spanien, Portugal und Griechenland aus aus.

In einem normalen einheitlichen Währungsraum, der mit einem Staatsgebiet identisch ist, sorgen gemeinsame staatliche Institutionen dafür, dass schwache Regionen nicht völlig ausbluten. Die wichtigste Institution ist das gemeinsame Steuersystem, die zweitwichtigste ein gemeinsames soziales Sicherungssystem, die drittwichtigste eine flächendeckende Verwaltung. Dazu kommen Regionalförderung, Finanzausgleich etc. In der Summe sorgen diese staatlichen Institutionen dafür, dass Transfers von den Überschuss- zu den Defizitregionen fließen. Das bedeutet nicht, dass Vorpommern jetzt wie Württemberg wird. Es bedeutet nur, dass Vorpommern nicht komplett ausblutet oder - anders ausgedrückt, dass der schrankenlose Binnenmarkt auch weiter gut funktioniert.

Die entscheidende Bedingung des deutschen Kapitals für eine europäische Währungsunion lautete: bitte ganz ohne solche staatlichen Institutionen. Das soll nicht heißen, dass nicht auch die Kapitalisten anderer Länder gegen eine Staatlichkeit der EU waren, jedoch zum Teil aus anderen Gründen. Im Vertrag von Maastricht (1992) jedenfalls wurde die staatsarme und transferfreie EWU festgelegt. An die Stelle von staatlicher Regulierung tritt dabei der "Wettbewerb". Und um den Konkurrenz zu befördern, gilt als oberstes und nachgerade heiliges Prinzip die Freiheit des Kapitalverkehrs.

Den damaligen Konstrukteuren des Euro war durchaus bewusst, dass sich in einem einheitlichen Währungsraum ohne den Schutz eigener nationaler Währungen und ohne staatliche Ausgleichsmechanismen das blanke Gesetz des Kapitalismus durchsetzen würde. Die schwächeren Unternehmen und die schwächeren Volkswirtschaften würden geschwächt werden. Die gemeinsame Währung würde nicht zu einem Zusammenwachsen der EU-Länder sondern zu divergierender Entwicklung führen.


Statt Staat Wettbewerb

Deshalb ersannen sie Kriterien, die erfüllt sein müssten, um am Euro teilnehmen zu können. Diese Kriterien wurden von der damaligen Bundesbank-Führung ersonnen und sind als Maßstab für die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ganz ungeeignet. Diese Aufnahmekriterien war zum einen die Höhe der Inflation. Sie durfte über mehrere Jahre hinweg nicht vom Durchschnitt der Inflationsraten abweichen. Es war zum anderen die Stabilität des Wechselkurses gegenüber der damals kalkulierten Rechnungseinheit Ecu. Das dritte Kriterium war die Höhe der laufenden und der akkumulierten Staatsverschuldung, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das ist der Ursprung der "Maastricht-Kriterien", die 1998, kurz vor Inkrafttreten der Währungsunion in den verrückten Stabilitäts- und Wachstumspakt Eingang fanden und heute das Gerüst des noch verrückteren, von Frau Merkel und Herrn Schäuble durchgedrückten Fiskalpaktes bilden.

Es ist für jeden sofort erkennbar, dass weder die Höhe der Inflation, noch die Schwankungsbreite der Wechselkurse, noch das Ausmaß der Staatsverschuldung zuverlässige Indikatoren für die Wirtschaftskraft eines Landes darstellen. Dennoch wurden auf Betreiben der Bundesbank diese Kriterien in den Maastricht-Vertrag geschrieben. Die Höchstgrenze für die Staatsverschuldung wurde damals auf 60 Prozent (am BIP) festgelegt, weil die akkumulierte Staatsschuld der Bundesrepublik just diese Höhe erreicht hatte. In Wirklichkeit wurde willkürlich entschieden, ob ein Land zum Euro-Club dazugehören durfte oder nicht. Die Staatsverschuldung Italiens und Belgiens beispielsweise übertraf die Maastricht-Höchstgrenze drastisch.

Der wichtigste Anreiz für Schwachwährungsländer, am Euro teilzunehmen, waren die massiv verbesserten Finanzierungsbedingungen. Weil das Währungsrisiko der Abwertung verschwunden war, ging das Zinsniveau dramatisch zurück. Spekulationskapital strömte in diese Länder. In ihren ersten Jahren erlebten die Südländer des Euro einen durch die Kapitalzufuhr angeregten Boom. Während der Süden der Eurozone einen durch Kapitalzufluss angeregten Wirtschaftsboom erlebte, ging das Kapital in Deutschland unter der Regierung Schröder auf verschärften Restriktionskurs, Lohnsenkung und Abbau von Sozialleistungen. Die durch die deutsche Einheit und einen etwas zu hohen DM/Euro-Umtauschkurs vorübergehend schwächer gewordenen Verwertungsbedingungen des deutschen Kapitals erholten sich dramatisch. Seine Wettbewerbsfähigkeit, wie die Kapitalisten das selber gern nennen, stieg im Vergleich zur Konkurrenz im Ausland steil an. Die Profite sprangen nach oben. Der Exportüberschuss führte zu einer dramatisch steigenden positiven Leistungsbilanz. Entsprechend stieg die Kapitalausfuhr. Das Kapital floss keineswegs überwiegend in die boomenden Südeuroländer, sondern vielmehr in Subprime Kredite und Collateralized Debt Obligations in den USA. Per Saldo aber finanzierte der deutsche Kapitalexport zu einem Gutteil die steigenden Importüberschüsse in den Südländern und die gleichzeitig damit wachsende Verschuldung der Privaten, aber auch des Staates.

Die internationale Finanzkrise hat also die Schwächen der Währungsunion offengelegt. Das vagabundierende Kapital verließ die Südländer des Euro und meidet sie bis heute. Die Defizite in der Handels- und Leistungsbilanz dieser Länder werden nicht mehr durch billige Finanzierung von außen überdeckt. In der gängigen neoliberalen Theorie, der IWF die EU-Kommission und ausnahmslos alle Regierungen der EU-Nationalstaaten anhängen, dürften die sich ausweitenden Handelsbilanzungleichgewichte gar nicht passieren. Der Markt müsste vielmehr dafür sorgen, dass die Kosten in den Defizitländern so lange sinken, bis die dortigen Kapitalisten gegenüber den Überschussländern wieder wettbewerbsfähig werden. Da die Realität sich anders verhält, muss nachgeholfen werden. Das ist das Prinzip der Griechenland-Programme. Die Löhne in Griechenland und die Ausgaben des griechischen Staates müssen so lange sinken, bis die griechische Industrie so bombenstark ist, dass die im Land produzierten Autos, Computer, Fischkonserven, Medikamente und Panzer auf der ganzen Welt ob ihrer Billigkeit reißenden Absatz finden.


Fiskalpakt statt Fiskalunion

Das funktioniert schon unter den Bedingungen einer abwertenden nationalen Währung, die die Kosten im internationalen Vergleich kräftig sinken lässt, nur schlecht und partiell. In der Währungsunion kann es nicht funktionieren. Dem jetzt verabschiedeten zweiten Griechenland-Programm müssten also, wenn nichts anderes passiert, ein drittes und vielleicht ein viertes folgen. Die politischen Kommentatoren wissen, was die Alternativen sind: die erste ist die Lösung des Innenministers Friedrich, das heißt, Griechenland verlässt, veranlasst durch wen auch immer, die Währungsunion. Die anderen wirtschaftlich schwächeren Länder würden dann über kurz oder lang folgen. Die andere Lösung ist die so genannte "Vertiefung".

Europa-Politiker und Brüsseler Journalisten sprechen gerne von 'Vertiefung'. Sie meinen damit, dass staatliche Funktionen, die bisher von den Nationalstaaten ausgeübt worden waren, auf die europäische Ebene verlagert werden. Tatsächlich haben Frau Merkel und ihre Regierung, mit dem soeben beschlossenen Fiskalpakt scheinbar eine solche Vertiefung erreicht, der Brüsseler Kommission mehr Macht zugestanden und die Rechte der nationalen Parlamente beschnitten. Der Fiskalpakt ist nichts anderes als der alte, vom ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi als "dumm" bezeichnete Stabilitätspakt plus dem festen Vorsatz, die deutsche Schuldenbremse auch in den anderen Ländern gesetzlich zu verankern. Anfangs hat die deutsche Kanzlerin im Überschwang dieser tollen Idee den Pakt sogar als Fiskalunion bezeichnet. Von dieser Ausdrucksweise ist sie später abgerückt. Mit gutem Grund. Denn Fiskalunion hieße ja gemeinsame Steuern oder zumindest ein gemeinsames Steuersystem. Dergleichen wäre tatsächlich 'Vertiefung'. Es wäre etwas völlig anderes, ja das Gegenteil des dummen Paktes.

Es ist auch gerade das Gegenteil dessen, was die deutschen Kapitalisten und ihre Regierungen mit der EU und der Euro-Zone vorhaben. Es würde den Einstieg in eine wirkliche Transferunion bedeuten. Es wäre der erste Schritt weg vom Konkurrenzverhältnis, das die Staaten laut Maastricht- und Lissaboner Grundlagenvertrag untereinander haben sollten. Es wäre der Beginn einer Lösung für die Krise der Währungsunion. Auf Dauer ist die gemeinsame Währung ohne gemeinsame Steuer- und Sozialsysteme, ohne effektive und massive institutionalisierte Transferzahlungen nicht zu erhalten. Wie wir unsere deutschen Kapitalisten und wenigen Kapitalistinnen, wie wir ihre Funktionäre, Lobbyisten und Regierungsvertreter kennen, werden sie sich auf diese Lösung der Krise nicht einlassen. Ein Überleben des Euro ist, gelinde gesagt, eher unwahrscheinlich.


Lucas Zeise
, Frankfurt/Main, MB-Mitherausgeber

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-12, 50. Jahrgang, S. 7-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2012