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MARXISTISCHE BLÄTTER/519: Der Streit um die Arbeitszeit


Marxistische Blätter Heft 2-12

Der Streit um die Arbeitszeit ... ­... und die "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion"

von Achim Bigus



"Was die Beschränkung des Arbeitstags angeht, in England wie in allen andern Ländern, so ist sie nie anders als durch legislative Einmischung erfolgt. Ohne den ständigen Druck der Arbeiter von außen hätte diese Einmischung nie stattgefunden. (...) Eben diese Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion liefert den Beweis, dass in seiner rein ökonomischen Aktion das Kapital der stärkere Teil ist."(1) Mit diesen Worten formulierte Marx 1865 in seinem berühmten Vortrag über "Lohn, Preis und Profit" eine zentrale Erfahrung des Kampfes um die Beschränkung der Arbeitszeit in England und anderen Ländern.

Gilt dies auch heute noch, fast 150 Jahre später? Eine Forderung nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden in der Woche (oder auf 35 Stunden als ersten Schritt dazu) als gesetzliche Regelung trifft heute in den Gewerkschaften auf ähnliche Vorbehalte wie lange Zeit die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Während z. B. in Frankreich Mindestlöhne und Höchstarbeitszeiten traditionell auch Objekte gesetzlicher Regelungen sind, haben wir in der BRD eine lange (und nicht erfolglose!) Tradition tariflicher Regelungen, den Stolz vieler gewerkschaftlich Aktiver auf tariflich "erkämpfte Erfolge"(2) und die "Tarifautonomie" sowie die gewerkschaftliche Argumentation gegenüber umworbenen potentiellen Mitgliedern mit Hinweis auf die gegenüber Gesetzen günstigeren Tarifregelungen, z. B. beim Urlaub.

Wie bewerten wir die Erfahrungen der weitgehend tarifvertraglichen Verkürzung der Arbeitszeiten in der BRD: 40-Stundenwoche in den sechziger, deren Unterschreitung in den achtziger und neunziger Jahren? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Geschichte für einen neuen Anlauf zur Arbeitszeitverkürzung ziehen?


"Kampf um den Normalarbeitstag": die historische Erfahrung

Karl Marx beschreibt im "Kapital" (Erster Band, Achtes Kapitel "Der Arbeitstag", besonders die Abschnitte 1 sowie 5 bis 7,(3) wie sich "in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstages als Kampf um die Schranken des Arbeitstags" darstellt - als "Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse".(4) Er schildert die damals vorliegende Erfahrung dieses Kampfes in England, Frankreich und den USA und schlussfolgert: "Die Geschichte der Reglung des Arbeitstags in einigen Produktionsweisen, in andren der noch fortdauernde Kampf um diese Reglung, beweisen handgreiflich, dass der vereinzelte Arbeiter, der Arbeiter als ,freier' Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos unterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse."(5)

Und weiter: "Man muss gestehn, dass unser Arbeiter anders aus dem Produktionsprozess herauskommt als er in ihn eintrat. Auf dem Markt trat er als Besitzer der Ware ,Arbeitskraft' andren Warenbesitzern gegenüber, Warenbesitzer dem Warenbesitzer. Der Kontrakt, wodurch er dem Kapitalisten seine Arbeitskraft verkaufte, bewies sozusagen schwarz auf weiß, dass er frei über sich selbst verfügt. Nach geschlossenem Handel wird entdeckt, dass er 'kein freier Agent' war, dass die Zeit, wofür es ihm freisteht, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Zeit ist, wofür er gezwungen ist, sie zu verkaufen, dass in der Tat sein Sauger nicht loslässt, 'solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten'. Zum 'Schutz' gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der 'unveräußerlichen Menschenrechte' tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die 'endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt'."(6)


Achtstundentag in Deutschland: ein Kind der Revolution - und seine Beseitigung

In Deutschland erforderte diese "Schöpfung eines Normalarbeitstags" von acht Stunden immerhin die Revolution von November 1918. Vor dem ersten Weltkrieg hatten die Gewerkschaften über viele Jahrzehnte in verschiedenen Branchen tarifpolitische Erfolge bei der Regelung der Arbeitszeit erkämpft. So "erkämpften sich die Buchdrucker 1873 den ersten Zehnstundentag. Und in Statuten und Kongressbeschlüssen der deutschen Gewerkschaften wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt: 'dass Arbeitsniederlegungen, deren Zweck die Verkürzung der Arbeitszeit ist, den Vorrang vor anderen zu erhalten haben'. Auf diesem Wege konnten die Arbeiter in Deutschland bis 1914 den Zehnstundentag durchsetzen - 66 Jahre später als die Arbeiter in England. Und im Gegensatz dazu nicht abgesichert durch das von Marx so bezeichnete 'übermächtige gesellschaftliche Hindernis', das 'staatliche Zwangsgesetz', sondern durch Tarifverträge. Tarifverträge, für die es damals noch keine gesetzliche Grundlage gab und deren Inhalte vor keinem Gericht einklagbar waren."(7)

Der gesetzliche Achtstundentag war dann "unmittelbares Resultat des militärischen und politischen Zusammenbruchs des deutschen Imperialismus in der Novemberrevolution. (...) Angesichts des revolutionären Aufschwungs der Arbeiterbewegung konnten sich die Unternehmer seiner Einführung nicht widersetzen".(8) Deren Beweggründe bei diesem Zugeständnis schildert der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Dr. J. Reichert, so: "Es kam darauf an: Wie kann man die Industrie retten? Wie kann man auch das Unternehmertum vor der drohenden, über alle Wirtschaftszweige hinwegfegenden Sozialisierung, der Verstaatlichung und der drohenden Revolution bewahren? (...) Inmitten der allgemeinen großen Unsicherheit, angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung, gibt es für die Industrie nur auf Seiten der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen, das sind die Gewerkschaften (...) Der Achtstundentag ist eine der ältesten Forderungen der organisierten Arbeiter. Ferner war bei einer Revolutionsregierung, die lediglich aus Arbeiterköpfen besteht, zu befürchten, dass mangels des Entgegenkommens der Unternehmer der Achtstundentag Gesetz werde. Zweifellos ist freiwillig gewährt doppelt soviel wert, als wenn man es auf ein Zwangsgesetz ankommen lässt."(9)

Bei dieser "Rettung der Industrie" vor Sozialisierung und anderem drohenden Ungemach kam den Unternehmern die Gewerkschaftsführung zur Hilfe. Diese hatte vier Jahre lang gemeinsam mit dem SPD-Vorstand den Kriegskrediten und der Kriegspolitik des deutschen Imperialismus den gewerkschaftlichen Segen erteilt.(10) Nun schloss die Generalkommission der Gewerkschaften mit den Unternehmerverbänden die "Zentrale Arbeitsgemeinschaft" (ZAG). In diesem Rahmen war der Achtstundentag eines der Zugeständnisse der Unternehmer, um die Gewerkschaftsvorstände als Verbündete zu gewinnen - "gegen die von den Arbeiterräten geforderte Sozialisierung der Großindustrie"(11), damit auch gegen die revolutionär gesinnten Teile der Arbeiterklasse und für deren blutige Niederschlagung.

Doch wenn die Gewerkschaftsführer dabei auf den Dank der Unternehmer und eine dauerhafte "Partnerschaft" mit diesen gehofft haben sollten, so wurden sie bald enttäuscht. Die wirkliche Haltung der Unternehmer brachte der Industrielle Thyssen am 14.10.1922 in einem Brief an den damaligen Reichskanzler Wirth zum Ausdruck: "Das Unglücklichste, was uns die Revolution bringen konnte, ist die unterschiedslose Einführung des Achtstundentages für alle Arbeiter und Angestellten gewesen (...) Dass wir deshalb (...) nicht länger säumen dürfen, wieder zur alten Arbeitszeit zurückzukehren, ist für mich eine unumstößliche Überzeugung. (...) dass es ohne Kampf nicht abgehen wird, darüber bin ich mir klar. Aber wir müssen den Kampf einmal durchfechten, und je eher es geschieht, um so mehr können wir retten "(12)

Noch Ende 1919 konnten die Bergarbeiter im Ruhrgebiet unter dem Druck eines Generalstreiks für die Sozialisierung des Bergbaus sogar eine Sieben-Stunden-Schicht erreichen (gefordert hatten sie die Sechs-Stunden-Schicht), doch bereits im Februar 1920 wurde dort faktisch die Acht-Stunden-Schicht wieder eingeführt. Die Auswirkungen von Inflation und Arbeitslosigkeit in den Krisenjahren 1922 und 1923 boten den Unternehmern dann bereits günstigere Möglichkeiten für die zunehmende Aushöhlung des zugestandenen Achtstundentages.

Nach der endgültigen Niederlage der revolutionären Nachkriegskämpfe im Oktober 1923 erreichte die Offensive der Unternehmer gegen den Achtstundentag einen entscheidenden Durchbruch: "Nach einem entsprechenden Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923 und einer Verordnung über die Arbeitszeit vom 8.12.1923 konnten die Arbeiter über die Höchstarbeitszeit von acht Stunden hinaus 'an dreißig der Wahl der Arbeitgeber überlassenen Tagen im Jahre mit Mehrarbeit bis zu zwei Stunden' beschäftigt werden; die tägliche Arbeitszeit durfte zehn Stunden täglich nicht überschreiten".(13) Der Grundsatz des Achtstundentages wurde "durch die Zulassung zahlreicher Ausnahmen, insbesondere die Straflosstellung der Duldung oder Annahme freiwilliger Mehrarbeit so durchlöchert, dass bald der Achtstundentag die Ausnahme und der zehnstündige Arbeitstag die Regel wurde.". Im "Arbeitszeitnotgesetz" wurden dann 1927 angesichts steigender Arbeitslosigkeit als kleines Zugeständnis "die Vorschrift über die Duldung freiwilliger Mehrarbeit beseitigt und für über acht Stunden hinausgehende Arbeit ein Lohnzuschlag in Höhe von 25 Prozent festgelegt".(14)

Manche der damaligen Argumente der Fabrikherren erinnern dabei sehr an den "modernen" Ruf nach "Flexibilisierung". So schrieb 1924 der Maschinenbau- und Lokomotivfabrikant Borsig: "Eine schematische Regelung der Arbeitszeit ist nicht zum Segen für die Wirtschaft. Deshalb verlangen wir nichts weiter, als dass in den Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen für jeden Betrieb diejenige Arbeitszeit zugelassen wird, die nach den gegebenen Verhältnissen den höchsten Nutzeffekt in der Produktion gewährleistet."(15)

Während der Weltwirtschaftskrise forderte der ADGB (im Oktober 1930) dann die 40-Stundenwoche: "Die bisherigen Methoden zur Beseitigung der Krise haben versagt. Neue Wege müssen beschritten, neue Entschlüsse gefasst werden. Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit verlangt vor allem eine Verkürzung der Arbeitszeit. (...) Der Bundesausschuss fordert infolgedessen eine gesetzliche 40-Stundenwoche so lange, bis der Arbeitsmarkt entlastet ist, unter gleichzeitiger Einführung eines allgemeinen Zwanges zur Einstellung neuer Arbeitskräfte im Ausmaß der Arbeitszeitverkürzung..."(16)

Dieser richtige Beschluss hatte nur einen "kleinen" Fehler: er blieb auf dem Papier, Kämpfe dafür wurden nicht organisiert. So wurde die Arbeiterbewegung neben ihrer politischen Spaltung durch die zunehmende soziale Spaltung der arbeitenden Klasse in Beschäftigte und Erwerbslose weiter geschwächt, was den Nazis ihre Zerschlagung nochmals erleichterte. Die deutschen Gewerkschaften erwiesen sich somit "gerade in dem Augenblick als unfähig, den Achtstundentag zu verteidigen und die 40-Stundenwoche zu erkämpfen, als dieser Kampf zur Voraussetzung dafür wurde, die Kampfkraft der Arbeiterbewegung zu erhalten und ihre Geschlossenheit im Kampf gegen den Faschismus und für eine sozialistische Lösung der Krise herzustellen. (...) Die deutsche Arbeiterbewegung erreichte die 40-Stundenwoche fast 40 Jahre, nachdem der ADGB diese Forderung aufgestellt hatte. Sie erlitt in der Zwischenzeit den Faschismus und den zweiten Weltkrieg."(17)

Die Nazis übernahmen die Begrenzung der Überstunden auf 30 im Jahr und den Überstundenzuschlag ab der neunten Stunde in ihre 1938 erlassene "Arbeitszeitordnung" (AZO) mit ihren vielen "Ausnahme"-Regelungen, wobei sie natürlich schon 1933 die bis dahin geltenden Rechte der Betriebsvertretungen durch das "Führerprinzip" ersetzt hatten. Die AZO wurde allerdings schon 1939 durch das "Kriegszustandsgesetz" wieder außer Kraft gesetzt. Nach dem Ende des Faschismus wurde sie wieder rechtsgültig(18) und erst 1994 durch das "Arbeitszeitgesetz" (AZG) der Kohl-Regierung ersetzt - und dabei bezeichnenderweise noch verschlechtert, indem gerade diese beiden Punkte (Begrenzung der Überstunden, Überstundenzuschlag) wegfielen, wohl, um "die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern", wie es im § 1 über den "Zweck des Gesetzes" heißt.

Die Geschichte des Achtstundentages in der Weimarer Republik illustriert so eine alte Erfahrung der Arbeiterbewegung: "Gewerkschaftliche Erfolge werden nicht einmal erkämpft und bleiben dann unverrückbar stehen. Wie ein Deich am Wasser müssen sie ständig gewartet werden. Gewerkschaften, die sich bei dem Erreichten allzu sicher fühlen, bleiben bei der nächsten Sturmflut im Wasser stehen."(19)


40 Stundenwoche in der "alten" BRD: die Ausnahme...,

Doch das Denken heutiger Generationen in den Betrieben und Gewerkschaften ist eher bestimmt durch Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in der "alten" BRD. Zwischen 1955 (Aufstellung der Forderung im "DGB-Aktionsprogramm") und 1967 wurde in der Metallindustrie (und bis Anfang der siebziger Jahre für die große Mehrheit aller Beschäftigten) die Arbeitszeit von 48 Stunden an sechs Tagen auf 40 Stunden an fünf Tagen verkürzt und damit das freie Wochenende durchgesetzt, auf tariflichem Wege und ohne entsprechende Änderung der seit 1938 gültigen Arbeitszeitordnung (AZO).

Diese Verkürzung erfolgte darüber hinaus ohne Arbeitskämpfe - die großen Streiks der MetallerInnen in diesem Zeitraum 1956/57 und 1963 bezogen sich nicht auf die Arbeitszeit, sondern auf andere Fragen.(20) Allerdings dürfte vor allem der lange, zähe und erfolgreiche Streik 1956/57 um die sechs Wochen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall die Bereitschaft der Unternehmer gefördert haben, auch auf weitere Forderungen des "Aktionsprogramms" einzugehen, ohne dass dazu ähnliche Kämpfe nötig wurden.

Dabei gilt es allerdings zu beachten, was der Sozialwissenschaftler Peter Bartelheimer 1982 so formulierte: "Die 40-Stundenwoche wurde in der Bundesrepublik unter Umständen durchgesetzt, die in der Geschichte des deutschen wie des internationalen Kapitalismus eine Ausnahmeerscheinung darstellen und deren Wiederholung selbst von den eifrigsten Verteidigern der "marktwirtschaftlichen Ordnung" für die absehbare Zukunft ausgeschlossen wird."(21)

Als zentralen dieser "Umstände" beschreibt er die enormen Wachstumsraten der Nachkriegsjahrzehnte mit der Folge rapide steigender Beschäftigung - und weist für die achtziger Jahre darauf hin, dass sich dies radikal verändert hat. Der zweite dieser "Umstände", die Existenz der sozialistischen Länder und die Systemkonkurrenz, taucht bei Bartelheimer zwar nicht auf, darf aber auch nicht ausgeblendet werden. Beide "Umstände" gehören zwar einer heute schon relativ fernen Vergangenheit an. Dennoch wirken die Erfahrungen dieser Periode bis heute weiter in den Köpfen.

Der Stuttgarter ver.di-Funktionär Bernd Riexinger schrieb dazu 2009: "In der Aufschwungphase der 60er und 70er Jahre konzentrierten sich die deutschen Gewerkschaften auf die Tarifpolitik. Für die Betriebspolitik waren weitgehend die Betriebsräte zuständig und als politischer Arm des DGB agierte die SPD in den Parlamenten. (...) In den letzten 25 Jahren (...) erwies sich diese "Arbeitsteilung" als hinderlich und ist mit dafür verantwortlich, dass die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt wurden, aus der sie sich bis heute nur zeitweise befreien konnten. Die Gewerkschaften kommen in Krisenzeiten doppelt unter Druck, einerseits durch die Betriebsräte, (...) die bei wirtschaftlicher Bedrohung oder Erpressung durch das Management schnell zu Konzessionspolitik bereit sind. (...) Andererseits führt die Deregulierungs- und Umverteilungspolitik dazu, dass die tarifpolitischen Handlungsmöglichkeiten eingeengt werden."(22)

Dazu kommt die Abnahme der Tarifbindung in vielen Wirtschaftsbereichen. Die "Umstände ..., in der Geschichte des deutschen wie des internationalen Kapitalismus eine Ausnahmeerscheinung darstellen", sind damit in den letzten drei Jahrzehnten einem gründlich "normalisierten" Kapitalismus gewichen. Bernd Riexinger folgert aus dieser Entwicklung, m. E. zutreffend, die Notwendigkeit, dass die Gewerkschaften sich ein "politisches Mandat" erkämpfen und als Mittel zur Einflussnahme auf die Gesetzgebung den "politischen Streik etappenweise vorbereiten"(23)


...die die Regel bestätigt: die unvollendete 35-Stundenwoche

Die Geschichte der weiteren Arbeitszeitverkürzung unter 40 Stunden, ihrer Halbheiten und Rückschläge bestätigt eindrücklich diese "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion".

Als die Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden in der Woche zunächst von der IG Metall, dann auch von anderen Einzelgewerkschaften und vom DGB als Forderung aufgestellt wurden, "setzten und setzen die Arbeitgeber dagegen ihren geschlossenen und hartnäckigen Widerstand"(24). Eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit war (und ist) ein zentraler Punkt in ihrem "Tabukatalog". Ein erster Anlauf zur Durchsetzung in der Eisen- und Stahlindustrie an der Jahreswende 1978/79 wurde mit massiver Aussperrung beantwortet. Dieser Arbeitskampf brachte zwar den Durchbruch zur (stufenweisen) Durchsetzung von sechs Wochen Jahresurlaub, dann auch in anderen Wirtschaftsbereichen, also eines weiteren alten Ziels aus dem "DGB-Aktionsprogramm" von 1955, sowie einiger Freischichten, aber nicht zur 35-Stundenwoche. Erst in einem zweiten Anlauf 1984 konnten die IG Metall und die damalige IG Druck und Papier (Drupa) in einem langen und harten Arbeitskampf den ersten Schritt zu einer weiteren allgemeinen Verkürzung der Wochenarbeitszeit in der metallverarbeitenden und der Druckindustrie durchsetzen.

Dieser Schritt und die weiteren Schritte bis zur Durchsetzung der 35-Stundenwoche in der Metall- und Druckindustrie im Jahre 1995 erfolgten zwar auch nicht per Gesetz, sondern per Tarifvertrag. Sie erforderten aber schon eine gesellschaftliche Mobilisierung, die weit über eine "normale" Tarifauseinandersetzung in einer oder einigen Branchen hinausging. Den kämpfenden Gewerkschaften stand dabei eine geschlossene Front von Unternehmerverbänden und Regierung gegenüber. Zudem war dieser Tarifkonflikt auch in viel höherem Maße von einem "Kampf um die Köpfe" in der Öffentlichkeit begleitet als "normale" Lohnkonflikte, wo es eher "nur" um einen mehr oder weniger hohen "Anteil" der abhängig Beschäftigten am (allerdings ausschließlich von ihnen selbst erarbeiteten ...) Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtum geht.

Besonders deutlich wird die "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion" im Kampf um die Arbeitszeit aber an der weiteren Entwicklung. Denn, wie der Arbeitszeitforscher Steffen Lehndorff es 2001 in einem Gutachten für die PDS-Fraktion formulierte: die deutschen Gewerkschaften sind "auf dem Weg zur 35-Stunden-Woche steckengeblieben"! Es lohnt sich, seine Bilanz etwas ausführlicher zu zitieren: "...auch in Westdeutschland geriet der gewerkschaftliche Zug tarifvertraglicher Arbeitszeitverkürzung bald wieder ins Stocken. Den beiden Lokomotiven kamen immer mehr Waggons abhanden, und der Zielbahnhof, die 35-Stunden-Woche, wurde im Jahre 1995 schließlich nur noch in der Metall- und der Druckindustrie erreicht. Der Höhepunkt dieses Zyklus der Wochenarbeitszeitverkürzung war bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre überschritten. Danach gab es in Westdeutschland nur noch geringfügige kollektive Verkürzungen der Wochenarbeitszeit. (...) Konnte die tarifliche Wochenarbeitszeit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt immerhin um eineinviertel Stunden verkürzt werden, waren es in der zweiten Hälfte der 90er Jahre noch ganze zehn Minuten. Der scheidende Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie stellte (...) denn auch im Rückblick fest, man habe bei der Arbeitszeit 'die Uhren anhalten können' (Kölner Stadt-Anzeiger, 13. Mai 2000)

Durch die Entwicklung in Ostdeutschland wird dieses Bild bestätigt. Betrug 1991 die Schere der tariflichen Wochenarbeitszeit zwischen Ost und West 2,2 Stunden, so waren es 1995 1,7 und sind es im Jahre 2000 immer noch 1,6 Stunden. Auch der anfänglich eingeleitete Angleichungsprozess zwischen Ost und West ist also rasch verebbt, so dass die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit in Deutschland bei gegenwärtig rund 37,8 Stunden stagniert (...)

Im Ergebnis dieser Prozesse ist die deutsche Arbeitszeitlandschaft heute zerklüftet: Die Lücke zwischen Ost und West überkreuzt sich mit dem Gefälle der tarifvertraglichen Arbeitszeiten zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen, das sich von 35 Wochenstunden in der Metall- und der Druckindustrie über 37,5 Stunden im Öffentlichen Dienst und 39 Stunden in der Bauindustrie und bei den Banken erstreckt..."(25) Soweit Steffen Lehndorffs Bilanz im Jahre 2001, vor elf Jahren. Inzwischen muss man sogar feststellen, dass die tatsächliche durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten seit einigen Jahren wieder steigt, so z. B. von 2003 um 3,3 Stunden auf 41,1 Stunden in 2007.(26)

Eine besondere Zwischenstation auf dem Weg des "Zuges der 35-Stundenwoche" war dabei sein "Entgleisen" bei dem Versuch der IG Metall im Jahre 2003, die Angleichung der Metallindustrie Ost an die West-Tarife durchzusetzen. Dieser traf sofort auf den erbitterten Widerstand vor allem der (west-)deutschen Großkonzerne. Sie wollten und wollen nach dem Anschluss der DDR das ostdeutsche Territorium als Experimentierfeld für Lohn- und Sozialdumping, als ständige Konkurrenz der westdeutschen Beschäftigten erhalten. Dieser Widerstand hätte nur gebrochen werden können durch die geballte Kraft zumindest der gesamten IG Metall, wenn nicht der gesamten Gewerkschaftsbewegung. Als auf Branche und Region beschränkter "normaler" Tarifkonflikt war diese Runde jedenfalls nicht zu gewinnen. Gerade die westdeutschen Großkonzerne vor allem der Autoindustrie hätten dabei als Hauptscharfmacher gegen die Angleichung der Osttarife getroffen werden müssen.

Dass es grundsätzlich möglich gewesen wäre, diese Notwendigkeit auch den westdeutschen Beschäftigten klar zu machen, bewiesen "ansatzweise auch erfolgreiche Solidaritätsaktionen in westdeutschen Betrieben, wie die Verhinderung von Streikbrucharbeiten in Salzgitter".(27) Dass dieses dann doch nicht in breitem Maße passierte, dafür sorgten auch die Widerstände in den eigenen Reihen der IG Metall. Der ehemals langjährige, kampferprobte Betriebsratsvorsitzende von Honeywell Maintal in Hanau, Rolf Knecht, kommentierte dies damals in dieser Zeitschrift so: "... dass die innergewerkschaftlichen Gegner einer Kampfaktion nach dem Beginn der Auseinandersetzung mit Hilfe und auf Anregung gewerkschaftsfeindlicher Medien über die Führung des Streiks herfallen, habe ich in dem halben Jahrhundert, die ich nun aktiver IG Metaller bin, noch nicht erlebt. (...) In einer Situation, in der notorische Gewerkschaftshasser die Entmachtung der Gewerkschaften fordern, läuft es auf Komplizentum hinaus, wenn Konzernbetriebsratsvorsitzende wie Klemm (Daimler) und Franz (Opel) den Abbruch des durch demokratische Urabstimmung beschlossenen Streiks fordern und den Streikverantwortlichen Peters als 'tarifpolitischen Geisterfahrer' diffamieren."(28)

Der Streikniederlage folgten postwendend massive Angriffe des Kapitals auf die 35-Stundenwoche, zunächst durch den Siemenskonzern, dann auch in vielen anderen Betrieben. Damit war die Wende eingeleitet: vom Kampf um allgemeine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden als neuen "gesellschaftlichen Standard" (Lehndorff) zum (allzu oft erfolglosen) "Häuserkampf" um die Verteidigung des in der Vergangenheit erkämpften. Besonders dieser gesamte Vorgang beweist die Unmöglichkeit der Erkämpfung einer neuen "Normalarbeitszeit" durch regional und/oder branchenmäßig beschränkte Aktionen und damit die "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion", zumindest unter "normalen" (normalisierten ...) kapitalistischen Verhältnissen außerhalb solch außergewöhnlicher "Umstände" wie zur Zeit der Durchsetzung der 40-Stundenwoche.


Es geht ums "Prinzip"!

Karl Marx hat diese Notwendigkeit am Beispiel der englischen "Zehnstundenbill" nicht nur festgestellt, er nannte auch die Gründe dafür: "Der Kampf über die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete um so heftiger, je mehr er, abgesehen von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große Streitfrage traf, die Streitfrage zwischen der blinden Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie der Mittelklasse bildet, und der Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht, welche die politische Ökonomie der Arbeiterklasse bildet. Die Zehnstundenbill war daher nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum ersten mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse."(29)

Die Frage der "Normalarbeitszeit" ist für beide Seiten, Arbeit wie Kapital, eine so grundlegende Frage, eine Frage des "Prinzips", dass die Auseinandersetzung darum auch heute wieder die "Notwendigkeit allgemeiner politischer Aktion" und damit auch den Kampf um eine gesetzliche Regelung auf die Tagesordnung setzt. Diese kann offensichtlich nicht durch Appelle an "die Politik" oder durch Hoffen auf "befreundete politische Parteien" durchgesetzt werden, sondern nur durch autonomes politisches Handeln der Gewerkschaften mit gewerkschaftlichen Mitteln.

Die Frage eines neuen Schrittes allgemeiner Arbeitszeitverkürzung ist so eng verbunden mit der Frage, wie sich Gewerkschaften verändern müssen, um die Fähigkeit zu diesem veränderten politischen Auftreten zu erlangen. Das Ringen um tarifliche Regelungen zu eigentlich politischen Fragen wie der Arbeitszeit (oder, vielen Beschäftigten heute näherliegend, der gleichen Bezahlung für Leiharbeitskräfte) kann offensichtlich den Kampf um Gesetze zum Schutze der Arbeitenden nicht ersetzen, sondern muss auf den Kampf um politische Einflussnahme auf die Gesetzgebung orientiert werden. Damit aber gewinnt auch eine andere Feststellung von Marx neue Aktualität: "Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen. (...) Ein Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet."


Achim Bigus,
Osnabrück, IG Metall-Vertrauensmann


Anmerkungen

(1) MEW 16, S. 149: Marx/Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden (MEAW (6)), Bd. III., S. 124; Marx/Engels "Über die Gewerkschaften" (MEÜG), S. 202

(2) Titel eines Werbeflyers der IG Metall

(3) MEW 23, S. 245-320; die beiden wichtigsten Abschnitte 1 und 7 auch in: MEAW (6), Bd. III, S. 262-272

(4) MEW 23, S. 249; MEAW (6), Bd. III, S. 267

(5) MEW 23, S. 316; MEAW (6) Bd. III, S. 268; MEÜG, S. 222

(6) MEW 23, S. 319; MEAW (6) Bd. III. S. 271 f.; MEÜG, S. 225 f.

(7) "Arbeitszeitverkürzung für alle! warum der Kampf um den Normalarbeitstag wieder aufgenommen werden muss"; in-. "Kommunistische Arbeiterzeitung" (KAZ) Nr. 327, S. 28-36; hier: S. 33

(8) Peter Bartelheimer, "35 Stunden sind genug", Vorwort: Jakob Moneta, Frankfurt 1982, S. 12; Teile dieses Textes stehen auf der Homepage der Bremer Arbeitszeitinitiative:
http://www.bremer-arbeitszeitinitiative.de/cms/index.php?menuid=12

(9) Nach Richard Müller, Die Novemherrevolution, Wien 1925 (Nachdr. Berlin 1979), S. 111/112; zitiert bei: 11 Bartelheimer, a.a.O., S. 13

(10) So schrieb die "Deutsche Metallarbeiter-Zeitung" am 27. Mai 1916: "Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man annehmen, nur für die Kapitalisten habe der Kampf auf dem Weltmarkt Bedeutung. (...) Besonders hei dem Kampf um den Weltmarkt kommt es wesentlich darauf an, dass die Arbeiter Deutschlands ihre Sache vertreten, die allerdings in gewisser Beziehung mit dem Allgemeinwohl unsres Landes zusammenfällt. Es kann dem deutschen Proletariat nicht gleichgültig sein, welchen Ausgang dieser Kampf nimmt, ob er für Deutschland günstig oder ungünstig verläuft." Zitiert nach: Arno Klönne/Hartmut Reese, Kurze Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Frankfurt am Main, Olten, Wien 1986, S. 107

(11) P. Bartelheimer, a.a.O., S. 12

(12) Ebenda, S. 15

(13) Ebenda, S. 16

(14) Michael Kittner, Arbeits- und Sozialordnung, 36. Auflage 2011, Einleitung zum Arbeitszeitgesetz, S. 324

(15) Schriften der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V., Heft 4, Berlin 1924; zit. nach: "Arbeitszeitverkürzung...", a.a.O., S. 31

(16) Th. Leipart, Die 40-Stundenwoche, Berlin 1931: zit. bei: P. Bartelheimer, a.a.O., S. 19

(17) P. Bartelheimer, a.a.O., S. 21 - Übrigens: in der gleichen Zeit gelang der geeinten Arbeiterklasse in Frankreich die Durchsetzung der 40-Stundenwoche als ein Ergebnis des großen Generalstreiks von 1936, vgl. ebenda, S. 9

(18) Vgl. hierzu ebenda, S. 18, sowie Udo Achten, "... denn was uns fehlt ist Zeit", Geschichte des arbeitsfreien Wochenendes, Köln 1988, S. 29-31

(19) U. Achten, a.a.O., S. 19

(20) Vgl.: P. Bartelheimer, a.a.O., S. 22-29

(21) P. Bartelheimer, a.a.O., S. 22

(22) B. Riexinger, Krisenproteste: "Für eine gewerkschaftliche Neuorientierung", isw-Report Nr. 78, September 2009, S. 26

(23) Ebenda, S. 27

(24) M. Kittner, a.a.O., S. 327

(25) Steffen Lehndorff, Weniger ist mehr. Arbeitszeitverkürzung als Gesellschaftspolitik. Hamburg 2001. S. 19-21

(26) "Welt Online" 15. September 2008. zit. nach: "Arbeitszeitverkürzung...", a.a.O., S. 34

(27) Rolf Knecht, "IG Metall: Der Streik und der Streit"; in: Marxistische Blätter 4-03, Juli/August 2003, S. 8

(28) Ebenda, S. 9

(29) Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, MEW 16, S. 11; MEAW (6) Bd. III, S. 14; MEÜG. S. 170 f.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-12, 50. Jahrgang, S. 57-64
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2012